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Jeder fragt nach seiner Identität. Schwul? Muslim? Franzose? Marokkaner? Anstatt sich für eine Seite zu entscheiden, schreibt er ein Buch. Ein Buch über den Wald und die Stadt, Paris und Tanger, Scham und Vergebung, Dating-Apps und spirituelle Entdeckungen. Ein Buch über das Aufwachsen als Kind der Diaspora im ländlichen Frankreich, mit Wünschen, die sich nicht für immer unterdrücken lassen. Da ist sein strenger marokkanischer Vater, der von ihm verlangt, sich wie ein Junge zu verhalten. Also färbt er sich die Haare, um ihn zu provozieren. Der Streit eskaliert und er hat endlich einen Grund, von daheim zu verschwinden. Auf den Dating-Apps suchen Männer nach »frischem arabischen Fleisch«, was ihn anwidert. Und dennoch verschwindet er begierig in ihrer Lust. Als der Vater seines Vaters stirbt, muss er sich seiner Familie erneut stellen. In dichter, bildhafter Prosa liefert uns Marouane Bakhti mit ›Wie man aus der Welt verschwindet‹ eine wunderschöne Nicht-Antwort auf die Frage nach seiner Identität.
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Seitenzahl: 157
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Wie man aus der Welt
verschwindet
Marouane Bakhti
Aus dem Französischen von Arabel Summent
Unter den Weiden
Das Freudenfeuer
Mitten im Nebel
Der Tod von Jeddi
Eine offene Frucht
Full of lust wollte ich um jeden Preis fortgehen. Die Hässlichkeit hinter mir lassen, die tristen grünen Flecken auf den großen grauen Ebenen. Ich wollte alles zerstören, meine Provinzialität und die erotische Wüste ausmerzen, in der ich dort so lange umherirrte.
In dieser Gegend lernte mein jugendliches Ich jedoch die Namen der einzelnen Baumarten und wie man ein neugeborenes Tier in den Händen hält.
Voller Abscheu für sie alle sehe ich mich auf der ebenen Busstrecke. Die Tragödie, nirgendwo ein menschliches Wesen zu sehen, das mir ähnelt.
Die gewaltige Ausbreitung des Stadtrands, verdammt zu einer verrückten Disharmonie, bleibt ein Erinnerungsort.
Am Rand eines mit Vieh übersäten Feldes der Stacheldraht an meinen Kinderbeinen.
Mein Herz ist eine Heckenlandschaft, in die schwarze Steine eingefasst sind, ich trage diese riesenhafte Angst in mir, auf frischer Tat beim Begehren ertappt zu werden. Mein Herz ist eine Heckenlandschaft, in die Haizähne eingefasst sind, die mein Vater mir aus der Wüste mitgebracht hat.
Und unter der Haut der Blindschleiche erahne ich Eier, die reif sind zum Schlüpfen.
Das lange Wohnzimmersofa und sein vom Mittagsschlaf zerknautschtes Leder, das mein endloses inneres Geschrei aufnimmt. Das langgestreckte Haus liegt gegenüber von den Weiden und Birken, die im feuchten Wind singen. Vom Esszimmertisch kann man den Kräutergarten, Disteln und Maulwurfshügel sehen.
Meine Lippe blutet von seiner trockenen Hand. Der Dattelgeschmack versüßt all das. Am Nachmittag träume ich auf den weißen eiskalten Fliesen vor mich hin. Durch die Fenster gehen die Katzen ein und aus. Das ganze Haus ist von hellem Licht durchflutet.
Ich glaube an Meteoriten und suche sie in der weichen Erde des Unterholzes. Ich glaube an das Wunder Gottes und suche es in der weichen Erde des Unterholzes.
Andere Erinnerungen als diese gibt es in meinem Kopf nicht, sie schreiben sich von selbst. Ich weiß nicht, warum ich all das vor meinem inneren Auge sehe. Ich lebe nur im Wunder und Unglück kindlicher Heimlichkeiten.
Ich denke wieder an den von den Straßen umschlossenen Wald, in dem eine Tierwelt lebt, mit der ich mich gern unterhalten würde. Schafskadaver für Eid al-Fitr durch die Zweige und die Flügel von Insekten, die an Feen glauben lassen.
So ist das in meinem Kopf, ich werde von Scham und Waldgespenstern verfolgt.
Gestern sprach ich lange mit einer Freundin und sie sagte: »Die eigene Vergangenheit nicht zu hassen, ist auch gut.«
Dann erzähle ich ihr das: »Die Gegend, in der ich geboren bin, schafft es nicht, uns in die Welt hinauszuschleudern. Die Gegend, aus der ich komme, tötet die Träume, frisst die Hoffnungen. Es ist eine ebene, triste, doch stellenweise sattgrüne Region.«
Ich sehe die Jungsclique mit ihren Synthetik-Klamotten (und meine Mutter wollte mich in Cord und khakifarbene Baumwolle stecken) noch mal vor mir. Sie blickten mich an und mit ihren hellen Augen in ihren bereits von der Müdigkeit aufgedunsenen Gesichtern sagten sie: »Wir wissen nicht genau warum, aber du bist unser Feind. Du bist aus tausend Gründen, die nicht mehr wahr sind, unser Feind. Aus Gründen, die weder für uns noch für unsere Eltern noch wahr sind.«
Lange Zeit habe ich ihren Anblick verachtet. In meinen Erinnerungen spucke ich auf sie. Sie setzen mir zu und ich sehe meine Eltern an, einen Araber und ein Mädchen von hier, und ich kann ihre Entscheidung nicht verstehen, uns das aufzubürden.
Zum Glück gibt es die Landschaft und ihre Sanftheit. Da sind die Wäldchen und die Sümpfe, die sie miteinander verbinden. Doch immer begegnet man den Jungs auf ihren Mopeds: vor der Schule, am Hafen, in den Straßen der Siedlungen, durch die ich allein auf meinem leuchtend roten BMX-Rad fahre.
Meine Freundin hört mir zu. Ich sage ihr, wie es mir gelungen ist, ihnen zu vergeben. All das erzähle ich ihr. Der Ort meiner Jugend ist ein Sumpfgebiet.
Es ist wahr, es ist ein See, der von Sümpfen umgeben ist. Es ist eine Welt sich vermischender, unklarer Rivalitäten. Ich wusste nie, wo sich meine Verbündeten befanden. Ich verstand nicht, wo dieses Misstrauen und diese Blicke herkamen, die meinem Vater zugeworfen wurden. Und in den kindischen, von Geschrei und Freude erfüllten Rivalitäten eine Lektion: Wie man hier die Araber hasst, so hasst man auch die Schwulen.
Auf diesen cremefarbenen und ziegelroten Grundstücken befinden sich Löcher, die durch die Felder entstanden sind, auf denen beige, mit getrocknetem Dung verschmutzte Kühe weiden.
Die Leute hier verstehen nicht, warum ausgerechnet die Araber der Stadt das schönste Auto haben.
Die Leute hier wollen auf keinen Fall, dass man glaubt, sie würden den Boden bearbeiten wie diese Familie am Ende der Straße.
Es ist ein See, der von Sümpfen umgeben ist, aber auch eine große, von schwarzen und grauen Asphaltstraßen zerrissene Feuchtebene, die tonnenweise Autos in die Gewerbegebiete mit ihren Parkplätzen strömen lässt.
Riesige Parkplätze, all die kräftezehrende Arbeit, die es gekostet hat, dem Grün den Garaus zu machen und es mit Teer zu überziehen. Diese ganze Kraft hätte meisterhafte Schönheiten erschaffen können, große Schulgebäude, prächtige Obstgärten und weitläufige Paläste zum Tanzen, Heineken trinken, um Kronkorken-Schnipsen zu spielen und mit dem Moped eine Runde zu drehen.
Davon träume ich, während ich darauf warte, dass meine Mutter mit ihrem vollen Einkaufswagen den Geschäftsturm verlässt, der inmitten des ganzen Asphalts errichtet wurde. Sie verlässt den Leclerc mit Sonnenbrille auf der Nase und kommt näher. Manchmal warte ich nicht draußen. Ich begleite sie hinein und bleibe auf den kalten fleckigen Fliesen vor der Zeitschriftenabteilung sitzen. Ich blättere in einer Ausgabe der National Geographic, Schneeleoparden und eine Lautsprecheransage, ein Sonderangebot für die Brioches von Bonnin. Ich denke mir fremde Welten aus. Ich liebe es, zur Kühlung beim Anglerbedarf zu gehen und mir die rosafarbenen und gelben Maden in der Plastikschachtel anzusehen. Da sie von der Kälte ganz steif sind, winden sie sich in Zeitlupe. Ich suche das Leben in der Fischabteilung. Mit dem Finger berühre ich die reglosen Tiere, die auf einem Bett aus Eis ausgelegt sind, hinter dem eine Dame mit Häubchen steht, die niemals lächelt. Ich stelle mir vor, wie ich die Krabben im Aquarium hinter ihr stehle und sie in die Bäche freilasse, die den Garten des Hauses und das Gestrüpp voneinander abgrenzen. Ich suche etwas zum Retten.
Ich erinnere mich noch sehr gut an den Rückweg vom Einkaufen, still, den Kopf an die Autotür gelehnt.
Es gibt einen Weg, der vom oberen Ende der Straße abzweigt und mitten in die Wiesen hineinführt. Der Beton geht in Lehm über und verschmilzt mit den zu Boden gefallenen Blättern und den Wurzeln.
In der Straße, die vor unserem Eingangstor entlangführt, reiht sich ein Einfamilienhaus ans andere. Am Ende dieser großen Straße befindet sich die Ecke zum Angeln.
Dort sind die Katzenwelse meiner Kindheit.
Ihr Todeskampf voll von Auswurf, Schlamm und Luftblasen auf dem steinigen Boden ist dort.
Die Fußtritte der Angler auf ihre Schädel sind dort.
Mein Schmerz und die wenigen plattköpfigen Fische, die ich wieder in den Tümpel setzen konnte, während sie ihre Bartfäden in meine Handfläche bohrten, sind dort.
Ein leuchtend grüner Faden taucht in das braune Wasser ein und die Sonne knallt auf mich, den Hund und die Weiden hinunter.
Mein Vater versucht, es so wie die Männer hier zu tun: Sonntags geht er angeln. Ich beobachte ihn und langweile mich.
Das einzige Wunder geschieht, wenn ich den dickbäuchigen, mit Schleim bedeckten Fisch zu fassen bekomme, der sich unter meinen Fingern spannt.
Ein scheußlicher Gestank, aber meine krankhafte Faszination für ihren erbitterten Kampf an der freien Luft hält mich auf der Steinbank wach.
Fisch- und Silberreiher flogen dort durch den stets wolkenverhangenen Himmel.
Meine Angst bekam dort Aufwind: die Angst, mit anderen zusammen zu sein, aber auch, mit ihnen irgendwo hingehen zu müssen, mit ihnen zu reden, mit ihnen zu lachen.
Als Jugendlicher setze ich mich noch mal probeweise auf die weiße Steinbank, aber es ist kein Zufluchtsort mehr für mich. Es ist feucht und stinkt nach totem Fisch.
Überall um mich herum sehe ich Tiere, alle möglichen Tiere. Ich denke an ihre Höhlen am Fuß der Bäume. Ich fange sie und halte sie zwischen beiden Händen fest.
Sie zittern und fühlen sich wie geschmeidige, mit Knochen gefüllte Ledertaschen an.
Die Kaninchen haben Augen voller harter Murmeln, die ihnen aus dem Schädel fallen könnten, diese Augen, die unter ihren beiden von blauen und roten Gefäßen durchzogenen Ohren hervorlugen.
Meine Mutter versucht uns davon abzuhalten, aber für meinen Bruder und mich ist die Gelegenheit günstig, sie fangen und anfassen zu können. Wenn wir uns langweilen, fallen uns immer irgendwelche Dummheiten ein, und manchmal sind die Dummheiten ein bisschen grausam.
Eines Tages sagte meine Mutter: »Das ist Myxomatose …«
Ich glaube, ich habe nicht verstanden, dass es für die Kaninchen eine Tragödie war, eine Krankheit. Ich spüre wieder die Angst in mir aufsteigen, den Ekel.
Und im Morgengrauen durchbohren die winterlichen Baumskelette den Garten und die Nebelwand: Völlig abgemagerte Kaninchen auf der Wiese, sie kommen näher und knabbern am bereiften Gras …
Sie nähern sich wie Erscheinungen aus der Hölle. Sie sehen aus wie die Dschinns, von denen man mir abends erzählt, körperlose Tiere, die über dem weißen frostigen Boden schweben.
Eines Tages sah man ihre kleinen, schwächlichen, kranken Nagetierkörper nicht mehr im Morgenlicht.
Meine Mutter sagte: »Es ist geschafft, die Krankheit hat endlich gesiegt …«
Da sind tote Kaninchen und Libellen, deren Flügel ich mit zwei Fingern greife. Sie sind rot und blau, sie sehen aus wie Roboter mit schimmernden und gelenkigen Körpern.
Da ist die Erde, mit der ich spiele. Ich forme Figuren aus ihr. Ich forme, ich modelliere Köpfe und Tierschädel aus dem Schlamm. Auf dem Moos des Baumstumpfes errichte ich seltsame Installationen: entstellte Gesichter und verdrehte Körper. Große Hörner und spitze Schnäbel, so habe ich ein kleines Pantheon der Skurrilitäten ganz für mich allein.
Ich lasse meine Monster in der Oktobersonne trocknen und lege sie anschließend am Fuße der Bäume nieder, ich gebe sie dem Wald zurück.
Und die Stimme meiner Mutter dringt durch die Baumstämme, um mich aus meiner runden Hütte aus Weiden- und Haselnusszweigen zu holen. Sie sieht aus wie eine große Knolle aus Baumrinde. Hier halte ich meinen Mittagsschlaf und höre, wie meine Mutter nach mir ruft.
An diesem Ort verbringe ich meine ganze Zeit, unterbrochen nur vom Mittag- und Abendessen.
Versteckt im Geäst lauere ich den Blaumeisen, Kohlmeisen, den Haubenmeisen und Drosseln auf. Mithilfe eines Schuhkartons locke ich sie in die Falle und beobachte, wie rote Läuse durch ihr Gefieder krabbeln. Ich berühre ihre Augen, um zu spüren, wie sie ihre zarthäutigen Augenlider schließen. Schnell lasse ich sie los, bevor ihr kleines Herz durch die zu große Nähe zu meinem menschlichen Gesicht, meinem menschlichen Geruch, all meinen Fingern und meiner menschlichen Riesenhaftigkeit explodiert.
Da ist die Schafherde mit ihren Geburten.
Einmal im Jahr kommen aus den dickbäuchigen Leibern der Mutterschafe in einem Schwall von gelben und roten Flüssigkeiten die Lämmer.
Die Lammsaison mit ihrem kleinen Sprung hinaus in die Welt.
Manche bleiben im Gras liegen und geben nie ein Blöken von sich. Die Mütter sind hilflos: Die Lämmer sind tot.
Es stimmt, da ist die Herde und der Tod der Tiere.
Es ist Zeit für die Opferung, ich habe den apfelgrünen Beyblade-Kreisel in der Hand und bin schlecht gelaunt.
Als Kind sehe ich nie zu, wie die Kehle durchtrennt wird, denn das Blut flößt mir eine Heidenangst ein.
Die anschließende Zeremonie habe ich mir eingeprägt.
Große Klingen durchschneiden die Sehnen und trennen die Nägel ab.
Es hallt in der Garage und ich schiebe den Kopf durch die spaltbreit geöffnete Tür.
Ich sehe: einen herabhängenden Körper, es ist das Lamm, das ich so mochte.
Ich sehe: ihre Münder, die mittels eines Schlauchs Luft unter die Wolle blasen, sodass das Tier aufgebläht wird.
Ich sehe: ihre Hände, die das Schaffell nach unten hin abziehen, und es hat den Anschein, als wäre eine Häutung im Gange.
Im Anschluss muss die Fettschicht mit einem anderen großen Messer entfernt werden, das diesen hübschen Klang produziert, wenn die Haut sich ablöst und das ganz rosafarbene Fleisch zum Vorschein kommt, das im Muskelinneren von Spuren weißen Fetts durchzogen ist. In einem ekeligen Arbeitsschritt werden die Eingeweide ausgeleert. Zum ersten Mal sehe ich eine Lunge, ein Herz und nehme eine Niere in Augenschein.
Jedes Mal, wenn mir heute jemand von einem gesundheitlichen Problem an diesem oder jenem Körperteil erzählt, sehe ich die Organe vor mir, die aus den Schafen herausgetrennt wurden, als ich fünf Jahre alt war.
Dann lässt man das Tier ruhen, das immer noch an seinen Hinterbeinen aufgehängt ist.
Dragon Metal Fusion zwischen den Fingern und blaue Nikes aus Marokko, Jacke aus Synthetik und am Knie zerrissene Cordhose.
Die Libellenlarven im Bach hinterlassen Stiche an meinen Fingerspitzen.
Ich gehe tief ins Wäldchen hinein, sie sind zu dritt.
Ein bisschen Blut, kaum eine Pfütze, unter der mit einem Haken zwischen Sehne und Knochen befestigten Masse.
Zwischen den Stämmen hindurch sehe ich die herabhängenden Lammgerippe. Sie sind in Bettlaken gewickelt, die mein Vater mitgenommen hat, ohne nachzudenken. Es sind meine mit aufgedruckten Monstern. Wenn man die Baumwolle berührt, fühlt sie sich warm an, und manche meiner Muskeln zucken leicht und erinnern sich an das Leben darin. Es ist wie ein Phantom.
Es riecht nach Angst und nach dem gelblichen Fett der Schafswolle.
Lange Zeit bleibe ich und lausche der Stille, die auf die Schlachtung folgt, während meine Onkel auf der Terrasse Kaffee trinken.
Sie lassen das Fleisch ruhen.
Die Namen, die ich den Schafen gegeben habe, sind immer noch in meinem Kopf.
»Es ist der schönste Tag des Jahres.«
Ich bin mir nicht sicher. Jedenfalls ist es das, was Gott von uns erwartet.
Am nächsten Tag, als es Zeit wird, den gekühlten Tierkörper auszulegen und zu beginnen, die Knochen zu brechen, bin ich noch da. Ich schaue zu.
Fast immer antworte ich, wenn meine Mutter nach mir ruft, der Hunger in meinem Bauch drängt mich dazu. Sie reißt mich aus meinen Betrachtungen und meiner Versunkenheit.
Abends will ich nicht rechts von meinem Vater Platz nehmen, doch ich möchte auf jeden Fall ein Stück von diesem dampfenden Gratin essen. Ich laufe nach Hause und springe dabei über tote Bäume und zahlreiche Brombeersträucher, sodass ich Erde und Blätter ins Haus trage. Die Stimme meiner Mutter wird dieses Mal strenger, da sie es satthat, die Spuren von draußen zu beseitigen, die ich überall im Haus hinterlasse. Zweige in meinem Bett, Disteln auf meinen Socken.
Die Bäume um mich herum mag ich genauso gern, wie mein Jeddi sie mochte. Er veredelte sie. Er kombinierte die Pflaumen- mit den Birnbäumen, und es war schön und funktionierte gut. Der Frühling war eine Zeit der Freude für ihn, er ging von Baumstamm zu Baumstamm, von Steckling zu Steckling, um zu prüfen, ob seine kleinen Projekte Früchte trugen. Er hinkte an seinem Krückstock. Mit einem Lächeln oder mit hochgezogenen Augenbrauen rief er nach uns: »Aji! Schau, das ist die Knospe eines Feigenbaums« oder »Chouf, die Pflanze hier ist krank, sie wird nicht überleben.«
Einmal brachte ich ihm eine kleine Feldmaus mit gelähmten Hinterläufen. Ich hatte gehofft, er würde mir helfen und wir würden sie gemeinsam retten. Er sagte zu mir: »Das Tier ist schon tot.« Ich fand ihn grausam. Der kleine Nager verließ uns innerhalb weniger Tage, dehydriert und mit einer Infektion. Ich konnte nichts tun. Er tröstete mich nicht, obwohl ich mich, klein wie ich war, so machtlos fühlte. Er wusste nicht, wie man so etwas macht.
Doch ich erinnere mich, wie wir die riesigen schwarzen Früchte von seinem Kirschbaum aßen. Ich erinnere mich, wie wir seinen Gemüsegarten in der Abenddämmerung reichlich bewässerten und die Schafe im Stall fütterten.
Das war sein Heilmittel, das war das Pflaster für meinen Schmerz, eine einfache Idee: das, was man erlebt, als das zu verstehen, was es ist, nämlich ein langsamer Kreislauf, der stets damit endet, dass man zurückbekommt, was genommen wurde.
Ich verbrachte viel Zeit in den Bäumen, ließ mich von den Ästen herabbaumeln oder saß weit oben in den Baumkronen, um dem Lärm und Eifer der Feierlichkeiten und der endlosen Abendessen zu entgehen.
Nun, da Bäume politisch sind, habe ich mich heimlich mit ihnen verbündet. Über die Obsession der Städte für ihre künstliche, in Beton gepflanzte Version kann ich nur lachen. Bäume sind nun Teil einer Ideologie, die sie nicht verstehen können, und das amüsiert mich.
Andererseits ist es nicht von der Hand zu weisen, dass nichts dadurch gewonnen ist, keine echten Wälder in der Stadt zu pflanzen. Wurzeln und Äste, wohin das Auge reicht, die mich jedes Mal an diese Jahre zurückdenken lassen.
Wenn man tagsüber den Weg nimmt, der hinter dem Haus entlangführt und in die Natur übergeht, trifft man Spaziergänger. Ihre verrückten Hunde lassen ihre lange Zunge vor Freude hechelnd aus dem Maul hängen.
Und die Nacht: Ihr gezieltes Licht in umgekehrter Richtung zu den Bäumen erleuchtet nur die braune Straße und die Leere ringsherum.
Ich sehe seine schlammverschmierte Airness-Jacke auf dem Boden liegen. Seinen Geschmack und Geruch behielt ich lange Zeit an mir. Seine Sommersprossen und sein dichtes rotes Barthaar. Wir trafen uns mehrmals einfach so hinter dem brandneuen Moped. Das ging höchstens ein paar Wochen. Er war der Erste, der mit seinem Glied tief in mich eindrang.
Im Schutz der Nacht, die uns ein Gefühl des Unwirklichen gab, kam er auf seinem glänzend schwarzen Moped angefahren. Niemand wusste, dass wir uns häufig in der Jagdhütte trafen, um geklaute Zigaretten zu rauchen. Sie bestand aus Brettern und einem Betondach. Er hatte immer Sekt in Dosen im kleinen Koffer seines Mopeds dabei. Seine Hände waren von Brandmalen gezeichnet. Wenn er seine Jogginghose herunterließ, waren unsere Synthetik-Boxershorts schon feucht, noch bevor sein Verlangen auf mich strömte. Er verschaffte mir Vergnügen und fuhr wieder weg. Er sprach ein bisschen mit mir. Er erzählte mir, woher die tiefe violette Narbe stammte, die sich vom oberen Teil seiner Stirn bis zum Mundwinkel hinunterzog und über das linke Auge hinwegsprang. Sie stammte von den Zähnen eines Hundes, der sich von seiner Kette losgerissen hatte, obwohl sie dreimal um das Rad des Wohnwagens geschlungen worden war. Er weiß nicht, was aus dem Hund geworden ist. Ich erzähle ihm von den Schafen, die ich liebgewonnen hatte und die zu Fleischhaufen geworden sind.
Unsere Sneakers sind in dem von Zweigen und Gewehrpatronen bedeckten Boden eingesunken. Haken, um die Tiere daran aufzuhängen, ein großer flacher Tisch, um uns dort der Länge nach auszustrecken.
In dieser kleinen Welt baute die Stille ihre hohen Mauern um das Verlangen herum. Wir waren ganz in der Nähe des Hauses meiner Familie. Unser Zufluchtsort ist Teil dieses Ökosystems: das Wäldchen, die belebte Straße, die verlassene Straße, der See und seine Sümpfe.