Wie man in Japan Go-go-Girl wird - Anna Sanner - E-Book

Wie man in Japan Go-go-Girl wird E-Book

Anna Sanner

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Beschreibung

Wie man in Japan Go-go-Girl wird Mein Weg durch Japans neonbunte Nächte – ein autobiografischer Erfahrungsbericht von Anna Sanner Lehrerin am Morgen. Ninja im Innern. Go-go-Girl bei Nacht. Was wie ein skurriler Filmtitel klingt, ist das echte Leben von Anna Sanner – mitten in Japan. In ihrem neuen Buch erzählt sie von einem ungewöhnlichen Doppelleben zwischen Schulalltag und Nachtclub, von absurden Begegnungen, mutigen Entscheidungen und einem Land, das sie ebenso fasziniert wie herausfordert. Mit trockenem Humor und großer Offenheit taucht Anna ein in eine Welt, die vielen verborgen bleibt: Japans leuchtendes, widersprüchliches Nachtleben. Während sie tagsüber Englisch unterrichtet, steht sie nachts auf der Bühne – als Go-go-Girl in Osaka. Ein Job, den man nicht googeln kann. Und ein Abenteuer, das alles infrage stellt: Rollenbilder, Grenzen, Selbstbild. "Wie man in Japan Go-go-Girl wird" ist eine persönliche Geschichte über Mut, weibliche Selbstbestimmung und das Abenteuer, den eigenen Weg zu finden – selbst wenn er auf die Bühne eines Nachtclubs führt. Fortsetzung des erfolgreichen Debüts: Nach dem gefeierten ersten Band "Wie man in Japan Ninja wird" – von Leser:innen als humorvoll, ehrlich und berührend gelobt – kehrt Anna Sanner mit einem noch tiefergehenden, überraschenden Einblick in ihre Zeit in Japan zurück. Wer ihren ersten Reisebericht mochte, wird diese Fortsetzung lieben: schärfer im Ton, mutiger in der Perspektive und voller leuchtender Kontraste. Für alle, die … ehrliche Reiseberichte mit Tiefgang suchen Japan abseits touristischer Klischees erleben möchten sich für weibliche Selbstbestimmung und kulturelle Grenzgänge interessieren persönliche Geschichten über Aufbruch, Identität und Neuanfang schätzen Ein mutiges Buch über das Spiel mit Rollenbildern, das Loslassen von Erwartungen – und die Freiheit, sich immer wieder neu zu erfinden. Für alle, die das Leben lieben, wenn es ein bisschen lauter, heller und ehrlicher wird.

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Seitenzahl: 442

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Reisedepeschen

Außergewöhnliche Reisebücher seit 2018

Originalausgabe

1. Auflage, BerlinSeptember 2025, im Jahr der Schlange

Alle Rechte vorbehalten

© 2025 Reisedepeschen GmbH, Berlin

Reisedepeschen GmbHGrunewaldstr. 14-1510823 [email protected]

www.reisedepeschen.de

ISBN 978-3-96348-992-1

Gestaltung, Herstellung und die Karte lagen in den Händen von Johannes Klaus. Das Portrait auf dem Umschlag basiert auf einem Foto von Stefan Knaak, das Autorinnenfoto auf Seite 368 ist von Evelyn Meinecke. Das Lektorat führte Christoph Karrasch aus. Das Buch wurde in der der Brandon Grotesque sowie Brandon Text von Hannes von Döhren und der Franziska Pro von Jakob Runge gesetzt.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

hototogisu hototogisu tote akenikeri

kuckuck kuckuck und das die liebe lange nacht schließlich dämmert es

verfasst von Haiku-Dichterin Kaga no Chiyo-jo um 1695

übersetzt von Anna, die 2025 den gleichen Kuckuck hört

浮世絵

Ukiyoe

Bilder der fließenden Welt

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Japonismus

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Wie man japanische Wörter ausspricht

j wie in Jazz

z wie in Jazz

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w wie in Wild Wild West

f nicht zwischen den oberen Schneidezähnen und Lippen, sondern nur zwischen den Lippen durchpusten

t nach dem t kein h sprechen, man denke an ein hartes d

r wie der erste zarte Anfang vom Zungen-r; wer das r im Japanischen richtig rollt, klingt wie ein Mafia-Grobian

n - wie in Mandel - vor m, b und p wie das m in Hamburg - vor g und k und gelegentlich am Wortende wie in Hang

hi wie die erste Silbe oder manchmal auch nur der erste Laut von China

ch wie in Cheesecake

sh wie in Shiitakepilz

ai wie in Mai; es heißt nicht Hokka-ih-do

ei wie Ey!

ō wie in Tokyo

ū wie in Mut

u - wie in Umleitung

- am Wortende bei -desu und -masu gar nicht oder wie ü

- am Wortende nach s bei anderen Wörtern wie -dasu oder -arawasu wie ü

ha wenn ha alleine zwischen anderen Wörtern steht, wird es meistens wa ausgesprochen, das w wie in Wild Wild West, auch am Ende von Konnichiha und Konbanha (Guten Tag und Guten Abend)

shita bei den Wortendungen -deshita und -mashita wird das i nicht ausgesprochen, also deschda und maschda

ō und ū

Die lang ausgesprochenen Buchstaben ō und ū habe ich in diesem Buch nur benutzt, wo ich japanische Begriffe und Aussprüche einführe, nicht jedoch für Personen-, Orts- und andere Eigennamen oder japanische Wörter wie Dojo, dem Trainingsraum für Kampfkunst, die bereits ohne sie in den deutschen Sprachgebrauch eingegangen sind.

Englische Begriffe

Bezeichnungen wie Salary Man und Career Woman sind in ihrer englischen Form eins zu eins ins Japanische übernommen worden. Um das widerzuspiegeln, verwende ich auch im Deutschen die englischen Begriffe.

Japanische Respektsprache und Hierarchie

Im Japanischen gibt es eine spezielle Respektsprache, genannt Keigo, die dazu dient, sich innerhalb des Gesellschaftssystems höflich und angemessen ausdrücken zu können. Wie vieles in Japan basiert sie auf dem Hierarchieprinzip. Während wir im Deutschen nur zwischen »Sie« und »Du« unterscheiden, sind die Abstufungen in der japanischen Hierarchie vielfältiger und komplexer. Je nach Position kann man sich besonders demütig ausdrücken, beispielsweise einem Lehrer oder Abteilungsleiter gegenüber, oder besonders förmlich, beispielsweise dem unbekannten Mitarbeiter einer anderen Firma gegenüber, den man mit einer Bitte anschreibt. Gleichzeitig wird von Höhergestellten nicht erwartet, die Respektsprache bei Niedrigergestellten anzuwenden. Sie dürfen sich zuweilen auch etwas grob ausdrücken.

浮世絵

Ukiyoe

Ukiyoe sind die »Bilder der fließenden Welt«, die in Japan zwischen dem 17. und dem 19. Jahrhundert entstanden.

Die große Welle vor Kanagawa zum Beispiel, mit dem winzigen Berg Fuji im Hintergrund, oder die nackte Frau, die unter dem Titel Der Traum der Fischersfrau von einer Riesenkrake liebkost wird – beide von Katsushika Hokusai.

Prolog

Während ich in Tokyo studierte, verpasste ich einmal den letzten Zug und konnte abends nicht mehr nach Hause fahren. Ich befand mich in Shinjuku, und der Campus der Universität in Mitaka war ungefähr zwanzig Kilometer entfernt, ohne Zug also am Ende der Welt. Ein Taxi war ausgeschlossen – zu teuer.

Zuerst hatte ich die aufregende Idee, bei der Gelegenheit ein Kapselhotel auszuprobieren, eines dieser haushohen Wabenregale, in denen man sich für schmales Geld eine winzige Wabe zum Übernachten mieten konnte. Also begab ich mich in die Straßen des Rotlicht- und Vergnügungsviertels Kabukicho und steuerte das erste Kapselhotel an.

»Nur für Männer«, sagte ein alter, leichenblasser Portier.

»Oh«, fragte ich, »gibt es auch Kapselhotels für Frauen?«

»Nicht in dieser Gegend«, entgegnete er unwirsch.

Ich ging hinaus und überlegte weiter. Ein normales Hotel war ausgeschlossen – auch zu teuer. Ich stellte mich also langsam darauf ein, die Nacht in einem Café zu verbringen, zu lesen und zu schreiben und dabei sparsam ein paar Getränke zu konsumieren. Der Gedanke, in Ruhe Zeit mit diesen Aktivitäten verbringen zu können, war nicht übel. Leider stellte ich fest, dass Starbucks und Co. zu dieser Zeit bereits geschlossen hatten. Also begann ich, mich nach einem McDonald’s oder einem erschwinglichen Internetcafé umzusehen.

Ich floss mit den Menschenmassen durch die bunt blinkenden Straßenzüge und suchte nach einem geeigneten Ort, die Nacht zu verbringen. Als ich an einer riesigen Kreuzung wartete, an der alle Fußgänger gleichzeitig Rot hatten, sprach mich ein schmächtiger, etwa fünfzigjähriger Mann mit Brille und dünner werdendem Haar an.

»Where are you from?«, leitete er das Gespräch ein. Das kam häufig vor, ein Japaner, der Englisch sprechen wollte. Der Salary Man1 sah nett aus, und ich sagte bereitwillig: »Hi, I’m from Germany. How about you?«

»I’m from Japan«, sagte er und wurde dabei mehrere Zentimeter größer, so stolz war er, dass er das Gespräch so fließend fortsetzen konnte. »My name is Tadashi Inamura. What’s your name?«

»My name is Anna Sanner. Your English is very good.«

»Not very good«, gab er zu. »Do you speak Japanese?«

Wir wechselten ins Japanische, was ich seit gut zwei Jahren studierte und durch mein derzeitiges Studienjahr in Tokyo vertiefen wollte. Die Ampel wurde grün.

»Wohin gehst du?«, fragte er.

»Ich weiß noch nicht«, sagte ich. »Ich habe den letzten Zug verpasst.«

»Ich auch«, strahlte er. »Zu lange gearbeitet.«

»Fahren Sie mit dem Taxi nach Hause?«, fragte ich.

»Nein«, erwiderte er. »Das ist mir zu weit. Wollen wir etwas essen gehen?«

»Warum nicht«, sagte ich.

Wir setzten uns in eine Kneipe und bestellten Cola und Limo.

»Was essen wir?«, fragte Herr Inamura, schob seine Brille auf die Nase und las darüber hinweg mit hochgezogenen Au­gen­brauen die Karte. »Nehmen wir Nankotsu. Die esse ich sehr gerne.«

Nankotsu waren frittierte Hühnerknorpel. Ich aß sie nicht so gerne, aber um nicht unhöflich zu sein, sagte ich: »Nankotsu, sehr lecker! Muss man die nicht eigentlich zu Bier essen?«

»Jaaa!«, sagte Herr Inamura. »Das sagen alle, nicht wahr? Aber ich vertrage nun mal keinen Alkohol.«

»Das macht doch nichts«, sagte ich. »Ich trinke auch nicht so gern Alkohol. Ich bin sicher, Nankotsu passen ebenso hervorragend zu Cola und Lemon Squash.«

»Anna-san, ich freue mich sehr, dass du mit mir isst. Los, such dir auch noch was zu essen aus.«

»Ich bitte vielmals um Entschuldigung, Ihnen zur Last zu fallen«, sagte ich. Dann wählte ich einen Rettichsalat.

Wir tranken unsere Softdrinks, knackten dünne Rettichstreifen und goldene Hühnerknorpel zwischen unseren Zähnen und unterhielten uns über dies und das. Allmählich forderte mein Körper Schlaf, und obwohl ich eifrig den Tipp aus dem Samurai-Handbuch Hagakure befolgte und mir immer wieder über die Lippen leckte, hatte ich zunehmend Mühe, mir das Gähnen zu verkneifen.

»Sind Sie nicht müde, wenn Sie den ganzen Tag gearbeitet haben?«, fragte ich.

»Nein, nein«, winkte er ab. »Geht schon.« Es war erst kurz nach Mitternacht. Bis die ersten Züge fuhren, dauerte es noch über fünf Stunden.

»Nehmen Sie sich ruhig ein Hotel und schlafen Sie ein bisschen«, ermunterte ich ihn. »Ich setze mich noch ein paar Stunden ins Internetcafé.«

»Kommst du mit ins Hotel?«, fragte er.

»Ausgeschlossen«, sagte ich.

»Nein, nein, so meine ich das nicht«, erschrak Herr Inamura. »Keine Sorge, Anna-san. Ich bin alt.«

»Nein, ich meinte es auch nicht so«, sagte ich. »Mir ist ein Hotel zu teuer, und ich lasse Sie auf keinen Fall für mich bezahlen.«

»Ich habe heute meinen Bonus bekommen«, erzählte er. »Ich bin allein und weiß gar nicht, wofür ich das ganze Geld benutzen soll.« Wir stritten uns ein bisschen, dann einigten wir uns darauf, dass er mich zu einem Internetcafé bringen und sich danach ein Hotel suchen würde.

Herr Inamura rief den Kellner. Ich reichte ihm vorsorglich 1.000 Yen, damit er nicht auf die Idee kam, für uns beide zu bezahlen. Wieder stritten wir eine Weile. Diesmal gewann er und zahlte. Ich verbeugte mich und sagte: »Gochisō-sama deshita!« – »Vielen Dank für Speis und Trank!«

Herr Inamura lachte. »Anna-san, du bist ja eine richtige Japanerin!«

Wir gingen hinaus und schlenderten die Straße entlang. In einer Art Schaufenster weiter oben erblickte ich ein rosarotes Licht, das sehr gemütlich aussah.

»Sehen Sie mal«, sagte ich. »Das Licht da oben sieht nett aus, finden Sie nicht?«

»Wollen wir reingehen?«, fragte Herr Inamura. »Ist aber ein Stripclub.« Plötzlich war meine Abenteuerlust geweckt. Ich dachte an die Abfuhr, die ich im Kapselhotel erhalten hatte. Allein würde ich als Mädchen wahrscheinlich nie in so einen Laden kommen. Das war die Gelegenheit.

»Wollen Sie?«, fragte ich.

»Gehen wir!«, beschloss Herr Inamura.

Wir fuhren in den dritten Stock. Eine ältere Dame in einem eleganten, chinesisch anmutenden Kleid strahlte uns an wie ein roter Lampion. Herr Inamura tauschte 5.000 Yen in Spielgeld um. Wir bekamen zwei Getränkechips und einen Tisch in einer Nische, von dem aus man die Bühne gut sehen konnte. Der Laden war nicht besonders voll. Die Sitze waren gepolstert und mit Plüsch bezogen. Das rosarote Licht hatte nicht zu viel versprochen. Man fühlte sich geborgen wie ein Baby am Busen seiner Mutter.

Wir tauschten unsere Getränkechips gegen Cola und Lemon Squash ein und sahen gespannt zur Bühne. Zwei große, kurvige Gaijin2-Mädchen schwangen ihre Hüften rhythmisch zur Musik, gingen in die Hocke und streckten sich wieder, strichen über ihre langen Beine wie über wertvolle Stoffe und präsentierten ihre Brüste wie Wackelpudding aus Champagner. Das eine Mädchen war weiß, das andere schwarz. Das weiße Mädchen hatte dickes, dunkelblondes Haar und große, eindrucksvolle Brüste, die trotz ihres erstaunlichen Volumens durch ihre natürliche Form überzeugten, das schwarze Mädchen besaß einen Kussmund wie helles Nougat und ellenlange, gerade Beine, deren Oberfläche an die glatt-glänzende Glasur auf einem Toffee-Eclair erinnerte.

»Wollen wir sie zu uns rufen?«, fragte Herr Inamura.

»Wie Sie wollen«, sagte ich.

»Ich fand sie sexy«, argumentierte er schlüssig. »Rufen wir sie zu uns.« Die Mädchen setzten sich an unseren Tisch.

Wie sich herausstellte, kamen die beiden aus den USA, weshalb wir uns direkt auf Englisch unterhielten. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, aber sie sprechen zu hören wie meine Kommilitonen an der Uni war für mich eine Offenbarung. Sie waren freundlich und umgänglich. Wir verstanden uns auf Anhieb bestens. Herr Inamura hingegen blickte verständnislos drein. Um ihn mit einzubeziehen, dolmetschte ich für ihn, und er lehnte sich dankbar zwischen unsere Mädchengesichter.

Die jungen Frauen studierten Wirtschaft und hatten sich von ihrem Studium eine Auszeit gegönnt, um etwas von der Welt zu sehen. Zur Finanzierung ihrer Vergnügungsreise arbeiteten sie in diesem Laden. Work and Travel einmal anders.

»Ihr macht das sehr gut«, lobte Herr Inamura. »Ihr seht aus wie Profis.«

»Danke«, sagte die eine.

»Wie heißt ihr eigentlich?«, fragte ich.

»Ich bin Faith«, sagte das weiße Mädchen.

»Und ich Hope«, sagte das schwarze. Ich blickte von einer zur anderen.

»Wow!«, sagte ich. Ich fühlte mich wie im Märchenland.

Nachdem der Club zugemacht hatte, gingen Herr Inamura und ich im Nudelrestaurant unter dem Stripclub etwas essen. Nach wenigen Minuten kamen Faith und Hope in Privatgar­derobe herunter. Sie hatten ihre Schicht beendet.

»Frag sie doch, ob sie noch mit uns essen wollen«, schlug Herr Inamura vor.

»Wollt ihr mit uns noch was essen?«, fragte ich. Hope setzte sich neben mich.

»Sowas machen wir eigentlich nicht«, sagte sie. »Aber weil du’s bist.«

»Sie setzen sich gerne zu uns«, erklärte ich Herrn Inamura.

Faith kam von der Toilette zurück.

»Ah, Faith«, sagte ich. »Komm zu uns!«

»Ich heiße eigentlich Katie«, flüsterte sie mir ins Ohr. Einerseits freute ich mich über ihr Vertrauen. Andererseits war ich ein wenig enttäuscht, dass sie nicht wirklich Faith hieß. Jetzt waren wir nicht mehr im Märchenland.

Herr Inamura sah mich an.

»Sie hat gesagt, sie findet Sie sehr nett«, sagte ich. Herr In­a­mura sagte, die beiden sollten sich etwas aussuchen. Sie bestellten Spaghetti Carbonara und Spaghetti Bolognese.

Schließlich war es kurz vor fünf. Die Bahnen würden um kurz nach fünf wieder ihren Betrieb aufnehmen. Der Abschied stand bevor. Herr Inamura verbeugte sich, bedankte sich für unsere Gesellschaft, erklärte, er habe eine überaus erfreuliche Zeit mit uns gehabt und gab jedem von uns 10.000 Yen. Katie blickte misstrauisch drein.

»Wofür ist das denn jetzt?«, fragte sie auf Englisch.

»Wofür ist das?«, gab ich die Frage weiter.

»Ich habe gerade meinen Bonus bekommen«, erklärte Herr Inamura. »Ich bin allein und weiß nicht, wohin damit. Ihr könnt das Geld bestimmt besser gebrauchen.« Die beiden Mädchen sagten »Thank you!« und beeilten sich zu verschwinden.

Herr Inamura und ich gingen Richtung Bahnhof. Als wir vor der Station in Shinjuku ankamen, sagte er: »Anna-san, ich muss da drüben hin. Vielen Dank für die schöne Zeit.«

»Ich habe zu danken, Herr Inamura«, sagte ich und verbeugte mich tief. Dann drehte ich mich um und ging los.

»Pass auf dich auf«, sagte er und sah mir hinterher, bis ich aus seinem Blickfeld verschwand. Wohin ich gehen sollte, wusste ich noch immer nicht. Aber ich war mir sicher, ich hatte nicht umsonst den letzten Zug verpasst. Faith, Hope und Herr Inamura hatten mich auf einen neuen Weg geführt, und ich konnte es kaum erwarten, ihm zu folgen.

1Salary Man ist ein japanischer Schlipsträger. Jemand, der einen Anzug trägt und jeden Tag in die Firma fährt, häufig mit der Bahn. Man sieht die Salary Men in Scharen morgens zur Arbeit fahren und nach abendlichen Besäufnissen mit ihren Kollegen scharenweise zurückfahren oder auf Bahnhöfen herumliegen. Sie sind dabei stets friedlich, auch wenn sie noch so besoffen sind.

2Gaijin ist das japanische Wort für Ausländer oder Nicht-Japaner. Es wird mit den Schriftzeichen für außen und Mensch geschrieben und ist wegen der daraus resultierenden Außenseiter-Assoziation in seiner politischen Korrektheit umstritten. Es gibt auch das Wort 外国人Gaikokujin, das mit den Schriftzeichen für außen, Land und Mensch geschrieben wird. Durch das Land in der Mitte wird in dieser Version der reine Außenseiter-Aspekt gemildert, aber in der Praxis hört man sie eher selten. Nach meiner Erfahrung ist das Wort Gaijin meist nicht böse gemeint. Außer jemand verallgemeinert Dinge wie laut, unkultiviert oder unzuverlässig sein als typisches Gaijin-Verhalten, was hin und wieder vorkommt. Die meisten Japaner meinen mit einem Gaijin jedoch einfach einen Nicht-Japaner. Manchmal fügen sie sogar ein höfliches -san hinzu und sagen: Gaijin-san, also etwa Herr Ausländer oder Frau Ausländerin.

Go, go, girl!

Sieben Jahre später.

Dave drehte die aufgeschlagene Kansai Scene zu mir um. Die kleine schwarz-weiße Poledancerin auf der Seite rutschte in einer eleganten Spirale die Stange hinunter, landete verführerisch vor mir und sah mir in die Augen. Mit Wimpernklimpern unterstrich sie den Wow-Effekt der Kombination aus exotischem Tanz und kalligrafischem Pinselschwung, die sie gerade hingelegt hatte, und Dave benutzte seinen Daumen als Scheinwerfer, um sie zu beleuchten. Ich bekam eine Gänsehaut.

»Hier, wäre das nicht was für dich?«, fragte er. Poledancer gesucht für neuen Club in Shinsaibashi, stand neben der kleinen Tänzerin. 300.000 Yen im Monat garantiert, bis zu 1 Million möglich.

Wir hatten erst kürzlich darüber gesprochen. Dave hatte als Kleinkünstler mit mehreren Shows bei großen Firmenevents einen guten Monat gehabt und war auf knapp über eine Million Yen gekommen.

»Eine Million«, hatte ich gestaunt. »Das will ich auch mal schaffen!«

Und hier präsentierte er mir mit seinem hinreißenden Daumen ganz nebenbei beim Frühstück eine verwegene Möglichkeit, es zu schaffen. Meine Pupillen verwandelten sich kurz in Yen-Zeichen.

»Hm«, nickte ich. Es klang nicht uninteressant.

»Du würdest viel Bühnenerfahrung sammeln«, sagte Dave und lächelte sein Million Dollar Smile. Er war Showman mit Leib und Seele und fand, ich gehörte auch auf die Bühne. Zwar fühlte ich mich eher mit Tinte und Papier oder auf dem Regiestuhl zu Hause, aber in mir wohnte auch eine kleine Rampensau, und Dave verstand es, sie immer wieder hervorzulocken. Wenn er auf eine bestimmte Art sprach und strahlte, roch sie sofort Trüffel und kam fröhlich quiekend aus ihrem Versteck gerannt.

»Ich glaube, deine Zähne werden langsam gelb«, neckte ich ihn. »Vielleicht sollte ich den Job machen, damit ich dir endlich ein Bleaching bezahlen kann.« Daves Lächeln war so weiß und perfekt, es hätte ohne Weiteres in einer Zahnpastawerbung mitspielen können. Kaum hob sich sein Lippenvorhang, sprang ein strahlender, kleiner Diamant aus seinem Eckzahn hervor und sauste auf einen zu. »Pling!«, machte es. Trotzdem quengelte er immer, er würde sich gerne die Zähne weißen lassen.

»Yeah, baby!« Dave lachte. Meine Rampensau sprang freudig in die leere Papiermanschette seines Schokoladenmuffins und suhlte sich wohlig in der klebrigen Krümelschicht herum.

Unweigerlich landete mein Blick wieder auf der kleinen Poledancerin. Hatte sie mir gerade zugezwinkert? Der Gedanke, im Rotlichtmilieu zu arbeiten, riss mich in einen Strudel. Einerseits wurde mir dabei ganz schlecht, und der zerkaute Kinako3-Donut in meinem Magen drückte sich erschrocken an dessen Schleimhautwände. Andererseits konnte ich mich dem Sog des Strudels nicht entziehen. Und ich wusste genau, welche Kraft hier am Werk war. Sicher, eine Minute vorher hatte ich eine moderate Geldgier verspürt. Und dann war meine Rampensau erschienen, die sich immer noch ungeniert in Schokoladenkrümeln suhlte. Jetzt aber war es um mich geschehen. Die Triebkraft meines Lebens war aufgetaucht. Diesmal in Form einer kleinen Poledancerin. Die Neugier, die Göttliche. Die Verfluchte. Halb zog sie mich, halb sank ich hin. Ich kannte das schon.

Es war die Erfahrung, die mich reizte. Erfahrungen waren Begegnungen mit Menschen und Rohmaterial für Geschichten, und für diese Dinge lebte ich. Je fremder mir die Menschen waren, desto stärker war mein Verlangen, sie kennenzulernen. Je exotischer und verwegener das Rohmaterial, desto faszinierender waren die Geschichten, die sich daraus spinnen ließen. Das Rotlichtmilieu war eine mir gänzlich unbekannte Welt, von Menschen gemacht und bevölkert, von deren Lebenswandel, Motivationen und Hintergründen ich keine Ahnung hatte. Was Menschen machten und dachten und warum, wie sie lebten und sich dabei fühlten, das war es, wofür ich brannte. Ich wollte es herausfinden, sie kennenlernen, mich mit ihnen verbinden, von Mensch zu Mensch, und ihre Geschichte zu meiner Geschichte machen.

Beim puren Gedanken an dieses potenzielle neue Kapitel in meinem Leben stieg mir ein Lächeln ins Gesicht.

»Wow!«, sagte Dave, als er es sah. »Du hast da was im Gesicht. Ich glaube, es ist ein Million Yen Smile.« Ich rutschte vom Barhocker hinunter und probierte dabei, den kalligrafischen Pinselschwung der kleinen Tänzerin nachzuahmen. Dave pfiff anerkennend. Liebevoll nahm er die kleine Rampensau aus der Muffinmanschette auf die Hand, küsste ihren Rücken und ließ sie auf die Küchentheke laufen. Er lehnte die Schläfe in den aufgestützten Unterarm, beobachtete, wie sie auf mich zu galoppierte und sagte ermutigend: »Go, go, girl!«

3Kinako ist ein süßes Mehl aus gerösteten Sojabohnen, das in vielen traditionellen japanischen Süßspeisen Verwendung findet. Aber auch in der Verknüpfung japanischer und westlicher kulinarischer Elemente sind die Japaner wahre Meister. Bei der japanischen Kette Mister Donut, auch Misudo genannt, von deren vielfältigen, saisonal wechselnden Produkten selbst ich, die sonst Fettgebäck verabscheut, beim ersten Bissen süchtig geworden bin, gibt es zum Beispiel mit weißgoldenem Kinako bestäubte, blütenkranzförmige Donuts, deren Konsistenz sich dem Abbeißvorgang aufs Charmanteste widersetzt und deren pulvriges Außenschichtaroma an eine erstklassige Crunchy Peanut Butter erinnert. In Japan esse ich sie zu jeder Gelegenheit und Tageszeit, außerhalb Japans vermisse ich sie mindestens ebenso häufig.

Freundin im Kopf

In all den Jahren, die ich alleine in der Ferne verbrachte, hatte ich mir mit der Zeit angewöhnt, in Gedanken mit einer Freundin zu sprechen, wenn ich einen Rat brauchte. Meinen Freundinnen lag mein Wohlergehen am Herzen. Und mit ihnen konnte man auch Dinge besprechen, die man bei seinen Eltern lieber unerwähnt ließ. Zum Beispiel die Frage, ob man einen Job als Go-go-Girl annehmen sollte.

Inzwischen waren die Stimmen einiger Freundinnen so etabliert in meinem Hirn, dass sie mir manchmal Ratschläge erteilten, ohne dass ich darum gebeten hatte. Sie waren zu einer Art unabhängiger Über-Ich-Instanz avanciert.

Als Dave mir die Anzeige vorgelegt und ich interessiert nickend angefangen hatte, darüber nachzudenken, meldete sich sofort Margo zu Wort.

»Was ist denn mit dem los?«, fragte sie. »Ist der Zuhälter oder was? Ich denke, er ist dein Freund und liebt dich. Wie kann dir ein Mann, der dich liebt, vorschlagen, jede Nacht anderen Männern halbnackt auf dem Schoß rumzutanzen? Das ist doch krank!«

Margo sorgte sich um mich. Das wusste ich. Trotzdem ärgerte es mich, dass sie ungefragt in meinen Tatendrang hineinplatzte und ich mich nun vor ihr rechtfertigen musste.

»Wieso?«, sagte ich. »Der Vorschlag ist Ausdruck seiner Begeisterung für mich. Er findet mich so schön, dass er mich auf die Bühne stellen will. Er legt mir keine Fesseln an. Er schenkt mir Flügel. Außerdem war ich diejenige, die gesagt hat, sie würde auch gern mal eine Million Yen im Monat verdienen. Er ist mein Komplize. Weißt du, was die Leute sagen, wenn sie uns sehen? Sie sagen ›Naka ii ne!‹ – ›Ihr versteht euch aber gut!‹ – und schütteln ungläubig den Kopf. Vor allem die Verheirateten. Und sie haben recht.«

Margo zog eine Augenbraue hoch, wirkte jedoch einigermaßen beschwichtigt.

»Na gut«, sagte sie. »Wie du meinst.« Sie brachte ein schiefes Lächeln zustande und schüttelte den Kopf. Dass ich nicht immer auf den naheliegendsten Wegen mein Glück fand, hatte sie schließlich auch schon mitbekommen.

Dave Rave

Dave Rave hatte sich als junger Straßenkünstler bereits am Pier 39 in San Francisco etabliert, als er 1992 von einem Freund nach Japan eingeladen wurde, um am Tempozan World Performance Festival in Osaka teilzunehmen. Viele junge, hoffnungsvolle Straßenkünstler nahmen daran teil, unter ihnen auch Hattori Hanzo aus Iga, der Sicheln um seinen Oberkörper wirbelte und bei dem ich ein Jahr früher versucht hatte zu lernen, wie man in Japan Ninja wird4.

Dave Rave aus San Francisco verwendete als Requisite das Diabolo, einen sanduhrförmigen Gummikreisel, den man mit einer Schnur an zwei Stäben drehen und hochwerfen konnte. Er setzte zielsicher ein paar Krümel Japanisch ein, die er unterwegs aufgelesen hatte, verband sie mit seiner Superkraft, Menschenmengen zu vereinnahmen, schmiss – von lauter werdendem Johlen angetrieben – das fallende Diabolo immer und immer wieder in den Himmel, fing es heldenhaft auf und eroberte die Herzen des Publikums im Flug. Mit seiner Superkraft walzte er die Sprachbarrieren platt wie ein Bulldozer und gewann den Grand Prix.

Japan war ihm wohlgesonnen. Er lernte eine Frau kennen, heiratete und blieb. Als einer der ersten ausländischen Straßenkünstler brachte er eine neue Kultur ins Land. Er setzte sich dafür ein, dass er und seine Kollegen sich organisieren, legal auf öffentlichen Plätzen auftreten und ihren Hut herumgehen lassen durften, und hatte mit seiner Strategie Erfolg. Das war kein Wunder. Daves Daumen hatte Zauberkräfte, die in knisternden Wellen durch die Luft zuckten und für alle Anwesenden zeitweise, oder auch anhaltend, die Welt veränderten. Er etablierte seine Dave Rave Show und eroberte damit Japans Plätze, Einkaufszentren, Bühnen und Festivals.

Eine Band in Osaka war so begeistert von ihm, dass sie ihm eines Tages eine Kassette in den Hut warf. Darauf befand sich ein selbstgeschriebenes Lied über ihn. Schmissig und humorvoll, ein Ohrwurm. Eine Titelmelodie. »Dave Rave, Dave Rave trägt eine Riesenbrille. Dave Rave, Dave Rave ist ein miserabler Jongleur …« Von da an spielte er den Song jedes Mal vor seiner Show. Dann schnipste er aus dem Nichts ein kleines Licht in seinen linken Daumen. Er warf es zu seinem anderen Daumen hinüber wie einen Jonglierball und wieder zurück. Hin und her flog es, bis er es schließlich in seinen Mund warf und verschluckte.

Dave Rave holte sich aus der Menge einen Freiwilligen.

»Mach mal so«, sagte er zu ihm. Der Freiwillige streckte den Daumen in die Luft. »Ganz schön klein!«, sagte Dave abfällig und hielt seinen inzwischen durch Gummiaufsatz absurd vergrößerten Riesendaumen neben den des Freiwilligen. Die Menge johlte. Am Ende der Show stahl er dem Freiwilligen von seinem zwei Meter hohen Einrad aus die Armbanduhr und fragte ihn auf dem Rückweg zu seinem Platz im Publikum, wie spät es war. Der Freiwillige bemerkte verdutzt, dass seine Uhr nicht mehr da war. Dave ließ sie vom Einrad aus hin- und herbaumeln. »Immer schön aufpassen«, sagte er. »Ich bin schließlich Amerikaner!«

Die Leute schütteten ihr Lachen, ihre Herzen und den Inhalt ihrer Portemonnaies in den dreilagigen Filzhut des kleinen Mannes mit der großen Brille, dem Zauberdaumen und der karierten Krawatte, die sich ungeniert aufrichtete, wenn er sich freute. Als ich ihn kennenlernte, war Dave Rave in Japan schon lange ein Markenname.

4Wie man in Japan Ninja wird – Erlebnisbericht über meine Ninja-Lehre in Japan, erschienen 2022 bei Reisedepeschen (ISBN 978-3-96348-023-2).

Was wir hatten

Dave und ich lebten in einer garagenartigen Unterkunft in Ni­shinomiya. Früher hatte er darin mit seiner damaligen Frau einen Laden für Jonglierzubehör betrieben. Dann zogen wir ein.

Nishinomiya war halb so groß wie meine Heimatstadt Hannover, hatte aber fast genauso viele Einwohner. Die Stadt war bekannt als Heimat der Hanshin Tigers und des Koshien-Stadions, dessen alljährliche High-School-Baseball-Meisterschaften ein landesweites Highlight waren und ein wichtiger Talent-Scouting-Event der Baseball-Welt. Es gab die Universität Kangaku und einen großen Schrein, an dem Ebisu, der Gott des Wohlstands, verehrt wurde. Jedes Jahr am 10. Januar pilgerten wir inmitten von Menschenströmen dorthin, huldigten dem ewig lächelnden, pausbackigen Gott Ebisu, klebten Münzen auf einen von der Fischereigesellschaft gespendeten eisgekühlten Riesenthunfisch und kauften uns einen Rechen, um das Jahr über Wohlstand einzufahren. Im nächsten Jahr brachten wir den Rechen dann wieder mit, warfen ihn auf einen Haufen gebrauchter Rechen, der später verbrannt wurde, und kauften uns einen neuen.

Ebisus Stadt fügte sich unmerklich in den westjapanischen Betondschungel zwischen Osaka und Kobe ein. Sagte man »Ich wohne in Nishinomiya«, hoben die Leute respektvoll die Augenbrauen und antworteten: »Eine gute Gegend!« Vielleicht waren sie nur höflich. Vielleicht kam es drauf an.

Weiter südlich, wo Dave früher mit seiner Familie gewohnt hatte und wir immer noch oft hinfuhren, um mit Holzschwertern und Peitschen zu trainieren oder mit seinem Chihuahua spazieren zu gehen, lag Nishinomiyahama, direkt an der Bucht von Osaka. Dort gab es viel Rasen, große, weiße Apartmentblöcke und einige teure Penthouse-Residenzen. Segelboote schaukelten am Pier auf und ab, und man konnte in einem schicken Yachtclub zu Mittag essen. Wo wir jetzt wohnten, mitten in einer von vielen legoartig zusammengesetzten Wohnsiedlungen, genau zwischen den beiden Bahnhöfen der Stadt, war es nicht besonders hübsch. Wir liebten das Leben dort trotzdem.

Gleich um die Ecke, Richtung JR-Nishinomiya-Bahnhof, gab es Chibi, das kleinste und beste Restaurant weit und breit. Höchstens fünfzehn Leute hatten darin Platz, die meisten an der Theke, der Rest an zwei kleinen Tischen. Mittags gab es ein Lunch-Set mit Reisgericht, eingelegtem Gemüse und Miso-Suppe für 500 Yen, abends konnte man à la carte bestellen. Chibi wurde von einem Ehepaar betrieben, das jeden Tag frische Zutaten kaufte und darauf basierend eine immer neue, handgeschriebene Karte von unüberschaubarem Umfang und speicheltreibendem Inhalt auf die Tafelwand hinter dem Tresen zauberte. Sie machten alles zu zweit und waren immer freundlich. Am JR-Bahnhof befanden sich außerdem ein Kaufhaus mit Supermarkt und 100-Yen-Shop, das Kulturzentrum der Stadt Nishinomiya und Mos Burger, wo die Burger ziemlich frisch und lecker schmeckten.

Neben Hankyu Imazu, dem anderen Bahnhof, kauerte eine Kneipe voller nostalgischer Werbeplakate, in der alles 280 Yen kostete. Man konnte dort unglaubliche Kartoffel-Käse-Mochi5 mampfen, an gegrillten Maiskolben, Tsukune-Hühnerhackspießen und Salzgurken knabbern. Das Bier war kalt und köstlich. Auf dem Weg dorthin hörten wir in der Hanshin-Tigers-Kneipe die Fans grölen. Zehn Minuten weiter lag das Onsen-Bad Ebisu-no-yu mit Sauna, Dampfbad, Massagestühlen, Restaurant und einem idyllischen Außenpool, das unter 1.000 Yen Eintritt kostete. Wir hatten eine Mitgliedskarte und zahlten nicht mal 700 Yen.

Lief man fünfzehn Minuten zum Hanshin-Nishinomiya-Bahnhof, konnte man in der Bäckerei Vie de France Gebäckspezialitäten von gedämpftem Joghurtkuchen über Milchbrötchen mit roter Bohnenpaste bis hin zu Curry-Donuts genießen, oben bei Starbucks Matcha Latte schlürfen oder in der kleinen Ladenstraße im Bahnhof shoppen gehen.

Zu Hause hatten wir einen Hängeboden, auf dem wir schlafen und Sachen lagern konnten. Wir hatten eine selbst eingebaute Küchenzeile mit Waschbecken und Frühstückstheke und eine kleine Büronische, wo ich meine Schreibtischarbeit erledigte und wir uns abends die Smothers Brothers, Donald O’Connor, Hans Klok oder den jungen japanischen Magier Cyril mit seinem Hamburger-Trick ansahen, den Dave bewunderte. Wir hatten einen eigenen Parkplatz vor der Tür. Dave brauchte für seine Requisiten und seine Arbeitswege ein Auto. Er hatte einen Mazda CX-7. An unserer Zimmerdecke waren fachgerechte Schienenvorrichtungen zum Aufhängen von Jonglierkeulen befestigt, an den Wänden Haken für Hüte und Holzschwerter. Wir hatten einen mit gummibezogenen Tatami-Matten ausgelegten Trainingsbereich, der einen Großteil unserer Wohnfläche einnahm, und einen Spiegel, der sich über die gesamte Rückwand erstreckte und zum Üben von Hut- und Zaubertricks, Jonglieren oder Tanzen hilfreich war.

Wir hatten einen Ninja, eine winzige, schwarz vermummte Stoffpuppe, nicht größer als mein kleiner Finger, mit einem spitzen, kleinen Schwert. Den versteckten wir abwechselnd immer so, dass der andere ihn früher oder später finden musste. Das war dann ein Ninja-Angriff. Wir beobachteten uns gegenseitig und dachten uns immer wieder neue Verstecke für den Ninja aus, an denen der andere ihn nicht erwartete, aber zweifellos finden würde. Eine Zeit lang ging Dave jeden Morgen an die kleine Holzschublade, in der er sein Gras aufbewahrte, und zog erst mal einen durch, bevor er sein Tagewerk begann. Eines Abends legte ich den Ninja hinein, und schon am nächsten Morgen hatte ich ihn erwischt. Einen Tag später schlug er zurück: Dave schlief noch, als ich zur Arbeit aufbrechen wollte und in meine Schuhe schlüpfte. Mein linker Fuß war gerade halb drin, als ich aufschrie. Ein winziges Schwert hatte unverfroren meine Hornhaut durchbohrt. Der Ninja war unermüdlich. Immer wieder ließ er uns aufschreien vor Schreck und Freude, Schmerz und Glück.

In einem kleinen, zwischen die Gebäude gequetschten Wellblechkabuff war in eine Stufe im Boden eine längliche Kloschüssel eingelassen. Wir hatten eine Toilette! Die teilten wir uns mit den Elektrikern nebenan.

Eine Dusche oder eine Badewanne hatten wir nicht.

5Mochi ist zu einer feinen, klebrigen Masse geklopfter Reis, der von süß bis deftig kulinarisch vielfältig Verwendung findet. Zu festlichen Anlässen wird der Reis in ein Holzfass gefüllt und in einer 餅付きMochitsuki genannten Zeremonie von zwei Leuten bearbeitet, bis die gewünschte Konsistenz entsteht: Einer hämmert, der andere fügt Wasser hinzu. Dabei ist es eine Kunst, einen gemeinsamen Rhythmus zu finden, damit man sich nicht gegenseitig verletzt. Besonders zu Neujahr gehört Mochi traditionell auf den Speiseplan. Aufgrund der klebrigen Konsistenz und der schweren Kaubarkeit verschlucken sich alljährlich viele alte Menschen daran, was zuweilen leider tödlich endet.

Kosten

Drei Tage die Woche arbeitete ich als Lehrerin an der Deutsch-Europäischen Schule Kobe. Den Rest der Zeit nahm ich jeden Dolmetsch-, Übersetzungs- und Schreibjob an, den ich kriegen konnte. Meine verbleibende Freizeit verbrachte ich mit Aikido, Karate, Tanzen, Jonglieren, Huttricksüben, Peitscheknallen und Luftballontieremachen. Außerdem arbeitete ich mit Dave an einem neuen Projekt. Er versuchte sich seit Kurzem im Rakugo, einer traditionellen darstellenden Kunst, bei der ein Erzähler im Kimono von einem Kissen erhöht auf der Bühne kniet, Geschichten erzählt und alle Figuren selbst spielt, unter Einsatz von nur zwei Requisiten: einem Stofftaschentuch und einem Fächer. Seit einiger Zeit war English Rakugo in Mode gekommen. Dafür war Dave prädestiniert. Ich schrieb und bearbeitete Rakugo-Geschichten und unterstützte ihn mit Regiearbeit.

Zusätzlich zu all diesen Aktivitäten nachts so viel in einem Club zu arbeiten, dass ich damit eine Million Yen im Monat verdiente, schien schwierig. Aber darüber hatte ich angesichts der unwiderstehlichen kleinen Poledancerin vor meiner Nase in jenem Moment keine Sekunde lang nachgedacht. Geld um des Geldes willen interessierte mich nicht. Aber es war ein bewährtes Mittel zum Zweck, und ich konnte definitiv etwas mehr davon gebrauchen. Nicht nur zum Reisen.

Das Leben in Japan war teuer. 80.000 Yen Miete zahlten wir im Monat für unsere Garage mit Toilettennutzung. Meine Fitnessstudiomitgliedschaft kostete monatlich 11.000 Yen. Das war es wert. Dort konnte ich mich nicht nur wöchentlich in sieben verschiedenen Tanz-, Yoga- und Pilateskursen austoben, sondern auch nach Herzenslust duschen und baden. Meine Dojo-Mitgliedschaft kostete 4.000 Yen im Monat. Aikido war meine ideologische Stütze, Shimamoto Shihan mein geliebter Meister, die Menschen, mit denen ich dort trainierte, meine Gemeinde. Der Betrag, den ich ans Shosenji-Dojo entrichtete, war also eine Art Kirchensteuer. Die war indiskutabel und erschwinglich. Essen konnte so oder so ausfallen. In der japanweit bekannten und geschätzten Gourmetmetropole Osaka aß man häufig auswärts und meistens gut, egal wie viel man dafür ausgab, aber je nach sozialen Verpflichtungen konnte die Rechnung von günstig bis astronomisch ausfallen. Hinzu kam, dass man in dem riesigen Großstadtdschungel, in dem wir lebten, ständig mit öffentlichen Verkehrsmitteln hin- und hergurken musste, und das war auch nicht gerade billig. Die Ein- und Ausgangsschranken an den Bahnhöfen ließen einen nicht durch, wenn man ihnen kein gültiges Ticket zum Einsaugen und Auffressen anbot. Einmal von Nishinomiya nach Shinsaibashi und wieder zurück: 1.080 Yen.

Dave und ich teilten uns die gemeinsamen Kosten. Den Rest unserer Finanzen managten wir unabhängig voneinander. Dave verdiente ziemlich gut. Zu den Firmenauftritten kamen regelmäßige Straßenshows. Seine Jagdgründe waren der Universal City Walk, der große Platz in Tempozan hinter dem Riesenrad zwischen Aquarium und Einkaufszentrum, und die Dachterrasse von Namba Parks, einem schicken, wellenförmig gebauten Shoppingcenter kurz hinter Shinsaibashi.

In Shinsaibashi befand sich auch der Club, in dem sie Go-go-Girls suchten. Die Station lag zwei, Namba drei Stationen südlich von Umeda, dem zentralen Bahnhof Osakas. Shinsaibashi war das größte Vergnügungsviertel der Stadt, verdunkelt von Samtvorhängen, halbkriminellen Strukturen und unmoralischen Trieben, schmeichelhaft beleuchtet von Rotlicht und zappelnden, bunten Leuchtreklamen. Die Ausläufer des Vergnügungsviertels erstreckten sich bis nach Namba hinein, wo Cosplay-Freaks und Maid-Café-Besucher, Exzentriker in Secondhand-Kimonos und elegant gekleidete Shopaholics, Einheimische und Touristen sich im Vorbeigehen am Ärmel streiften. Wo gehobene und zwielichtige Kultur sich Gebäude, Straßenzüge und Kunden teilten. Bald vielleicht auch Dave und ich.

Wir saßen zwischen zwei Shows auf den Bühnenstufen von Namba Parks. Dave hielt mir ein Stück Matcha-and-White-Chocolate-Bagel von Bagel and Bagel im Erdgeschoss hin.

»Hier, willst du mal kosten?« Ich griff… ins Leere. Plötzlich war der Leckerbissen verschwunden. Mein Mund fiel auf. Prompt stopfte Dave ihn hintenrum wieder zu. Mit dem verschwundenen Bagelstück. »Gut, hm?«, sagte er kauend. Ich kaute und schluckte. Dann sprang ich auf, nahm mir einen weiteren Bagel aus der Tüte (6 Stück für 1.200 Yen), riss ihn entzwei und attackierte ihn mit den Zähnen wie ein Räuber eine Hühnerkeule.

Dave guckte.

»Was?«, sagte ich. »Ich koste!«

In der Schule

Etwas über ein Jahr, nachdem ich meinen Dienst an der Deutsch-Europäischen Schule Kobe begonnen hatte, hatte Direktor Müller sein Amt niedergelegt. Plötzlich war er dem Schuldienst ferngeblieben und hatte erklärt, er habe nicht die Absicht, wieder zurückzukommen. Der Grund dafür wurde nicht öffentlich gemacht, war jedoch den Umständen entsprechend unschwer zu erraten.

Die Schule wurde vollständig durch Schulgebühren finanziert. Folglich durften die Eltern alles bestimmen, und der Elternrat war das mächtigste Organ der Schule. Während Direktor Müller von Amts wegen versuchte, für Schüler und Lehrkräfte einen möglichst sinnvoll und konstant gestalteten Schulalltag zu garantieren, setzten sich die in Schulverwaltung und Pädagogik unqualifizierten Eltern während ihrer Amtszeit jeweils für das ein, was sie für die Interessen ihrer eigenen Kinder hielten.

In einem Jahr erreichte eine bayerische Mutter, dass im Sportunterricht kein Yoga mehr enthalten sein durfte. Yoga stand in ihren Augen der guten katholischen Erziehung ihrer Töchter im Wege. Die Sportlehrerin hatte eine Kinderyoga-Ausbildung und gestaltete ihren Unterricht normalerweise als bei den Kindern höchst beliebte Fantasiereisen mit integrierten Spielen und Körperübungen. Als sie in der gefürchteten Konferenz nach der jährlichen Elternratssitzung die Hiobsbotschaft bekam, atmete sie tief ein und aus und schloss einen Moment die Augen, bevor sie friedlich und frisch inspiriert vorschlug: »Wie wäre es, wenn ich die Begriffe ›Yoga‹ und ›Namaste‹ ab jetzt weglasse und ansonsten mit meinem Unterricht weitermache wie bisher?«

»Brillant, Frau Thomas, machen Sie das!«, sagte Direktor Müller. Mit Frau Stadl als Elternratsvorsitzender waren wir noch einmal glimpflich davongekommen.

Im nächsten Jahr wollte eine indische Mutter durchsetzen, dass bei Schulveranstaltungen kein Fleisch, keine Zwiebeln und kein Knoblauch mehr serviert werden durften. Da dies eine Katastrophe für unser Oktoberfest, die größte, beliebteste und ertragreichste Veranstaltung des Schuljahres, gewesen wäre, gab es einen riesigen Streit um das Thema, bis eine andere Mutter der unerbittlichen Frau Hatwal vorschlug, das Oktoberfest in seiner ursprünglichen Form zu belassen und zusätzlich eine Veranstaltung zu organisieren, auf der Eltern aus anderen Ländern ihre Kulturen präsentieren konnten. Daraus erwuchs ein weiterer Streit, da Frau Hatwal in ihrer tiefreligiösen Sensibilität nicht bereit war, mit den Koreanern zusammen eine Veranstaltung zu planen, da diese hauptsächlich Rindfleisch und Knoblauch aßen. Als daraufhin vorgeschlagen wurde, separate Kulturtage einzurichten, merkten Direktor Müller und andere Lehrer an, dass, wenn von nun an alle Eltern ihren eigenen Kulturpräsentationstag bekämen, bald keine Zeit mehr für regulären Unterricht sein würde. Letzten Endes verlief sich die Sache im Sand, und Frau Hatwal machte sich für den Rest ihrer Amtszeit als Vorstand des Elternrates unsichtbar.

Als mein Schüler Kaimon eines Tages zu seinem Geburtstag in meinem Unterricht Chips verteilte, fragte Pihu Hatwal, ob sie Fleisch, Zwiebeln oder Knoblauch enthielten. Ich studierte die Zutatenliste.

»Nein, kein Fleisch, keine Zwiebeln und kein Knoblauch«, sagte ich. Die übergewichtige Pihu knabberte erleichtert drauflos. »Warum isst du eigentlich keine Zwiebeln und keinen Knoblauch?«, fragte ich.

»Eines Tages ging eine Kuh fliegen«, sagte Pihu wie aus der Pistole geschossen. »Jemand schoss auf sie. Da fiel ein Blutstropfen auf die Knoblauchpflanze und einer auf die Zwiebelpflanze. Deswegen dürfen wir keinen Knoblauch und keine Zwiebeln essen.«

Pihus Geschichte von der fliegenden Kuh habe ich in ihrer schlichten und sachlichen Präsentation nie wieder vergessen. Auch wenn meine späteren Nachforschungen ergaben, dass sie sie nicht ganz korrekt wiedergegeben hatte. Entweder ihre Mutter hatte sie absichtlich vereinfacht oder sie hatte sich die Details nicht gemerkt. Beides war gut vorstellbar, denn in Wirklichkeit verhielt es sich etwas komplizierter, und Pihus Geschichte speiste sich aus zwei verschiedenen Ursprüngen:

Ursprung I Ein erleuchteter Rishi bereitete sich auf die Durchführung einer Gomedha-Opferzeremonie vor. Seine Frau war schwanger und hatte großen Appetit auf Fleisch. Sie hatte gehört, dass, wenn man während der Schwangerschaft nicht aß, worauf man Appetit hatte, das Kind mit einem ewigen Spuckefaden vor dem Mund geboren würde. Bei der Gomedha-Opferzeremonie wurde eine Kuh zerlegt und mit Mantras beschworen, bis eine neue, junge Kuh daraus zum Leben erwachte. Nachdem der Rishi die alte Kuh zerlegt hatte, stahl seine Frau heimlich ein Stück davon und plante, es später zu essen. Als der Rishi mit den Mantras fertig war und die neue, junge Kuh zum Leben erwachte, bemerkte er jedoch, dass ein Stück ihres Körpers fehlte, und fand durch Meditieren heraus, dass seine Frau es genommen hatte. Seine Frau spürte es, bekam Angst und warf das Stück Fleisch weit weg, um nicht ertappt zu werden. Durch die Mantras des Rishi füllte sich das Stück Fleisch mit neuem Leben, allerdings in anderer Form: Die Knochen wurden zu Knoblauch, das Fleisch zu Zwiebeln. Aufgrund ihres Ursprungs sind Zwiebeln und Knoblauch also nicht vegetarisch.

Ursprung IIDie gütigen Devas tranken mit dem Gott Vishnu den Unsterblichkeitsnektar Amrita, als sich ein böser Asura in einen alten Brahmin verwandelte und heimlich mittrank. Sonne und Mond hatten ihn beobachtet und informierten unverzüglich den Gott Vishnu über sein Fehlverhalten. Vishnu schnitt dem falschen Brahmin erzürnt die Kehle durch. Dabei fielen zwei Tropfen Blut auf die Erde. Der eine wurde zur Zwiebel-, der andere zur Knoblauchpflanze. Beide Pflanzen sind folglich aus dem Blut eines Dämons entstanden, und ihr Genuss führt zu dämonischer Ignoranz.

Man musste keine Details kennen, um zu erraten, dass bei der letzten Elternratssitzung etwas geschehen war, das Direktor Müllers dünn gescheuerten Geduldsfaden endgültig hatte reißen lassen. Melanie McNab, eine junge, ehrgeizige Kollegin aus Kanada, wäre liebend gern an seine Stelle gerückt, aber die Satzung der Schule besagte, dass nur eine Person deutscher Nationalität für diese Position infrage kam. Die Schule war Anfang des 20. Jahrhunderts von deutschen Siedlern in Kobe gegründet worden, und der englischsprachige, missverständlich als »europäisch« geführte Zweig war aufgrund des steigenden Bedarfs für englischsprachigen Grundschulunterricht erst vor wenigen Jahren hinzugefügt worden. So fiel die Wahl letztendlich auf die wesentlich ältere und erfahrenere Kollegin Gesine, die fortan Direktor Müllers Aufgaben übernahm und ab dem nächsten Schuljahr offiziell ins Direktorinnenamt erhoben wurde.

Gesine und ich verstanden uns bereits seit Langem gut, gingen gemeinsam Mittag essen, arbeiteten fachlich gut zusammen und unternahmen hin und wieder privat etwas. Jetzt, da sie zusätzlich zum Lehrdienst auch Verwaltungsaufgaben und viel interne wie externe Kommunikation zu erledigen hatte, ergänzten sich ihre Führungsqualitäten ideal mit meinen Sprach- und Schreibfähigkeiten. Ihre Englischkenntnisse waren nicht schlechter als die von Direktor Müller, aber sie war selbstkritischer und legte mehr Wert auf guten Sprachgebrauch in der offiziellen schulischen Kommunikation. Abgesehen davon lag ihr – im Gegensatz zu vielen anderen – hauptsächlich das gute Lernumfeld der Kinder am Herzen. Das fand ich unterstützenswert, und so wurde ich im Nullkommanichts zur rechten Hand der Direktorin.

Ich entwarf Texte für Schulbroschüren und die Website, korrigierte und übersetzte Briefe, schrieb sie schon bald anhand mündlicher Anweisungen oder schriftlicher Stichpunkte selbst und wohnte Gesprächen mit japanischen oder englischsprachigen Eltern bei, um die flüssige Kommunikation sicherzustellen, wenn es um Fragen zu Schulgebühren, Lernentwicklung, Unterrichtsinhalten, Schulablauf und Lehrmaterialien ging. Ich hatte etwas mehr zu tun als vorher, aber das meiste schaffte ich in den Pausen und Freistunden, und da es für einen guten Zweck war und ich gern mit Gesine zusammenarbeitete, machte es mir nichts aus.

So eine

»Carpe diem et noctem« hatte ich schon als Abiturientin mit Edding auf meinen Ranzen geschrieben. Und auch heute war ich noch der Meinung, dass sowohl der Tag als auch die Nacht faszinierende Lebensräume voller unerforschter Flecken waren. In der Hoffnung, zukünftig auch meine Nächte gründlicher erforschen und gewinnbringend nutzen zu können, wählte ich die Nummer neben der kleinen Poledancerin.

»Moshi, moshi?« Der Mann am anderen Ende klang frisch und freundlich.

»Hallo«, entgegnete ich. »Ich habe Ihre Stellenanzeige in der Kansai Scene gesehen und wäre an dem Job als Go-go-Girl interessiert.«

»Wunderbar«, sagte er. »Vielen Dank für Ihr Interesse. Wenn Sie gestatten, leite ich Ihre Nummer an den Verantwortlichen weiter. Er meldet sich dann bei Ihnen.«

Na bitte, dachte ich. Menschen wie du und ich. Menschen, die höflich am Telefon sind. Mein Herz klopfte.

Am nächsten Tag meldete sich der Verantwortliche. Als ich von der Arbeit kam, hatte er eine Sprachnachricht hinterlassen. Ein Ausländer. »Brasilianer«, sagte Dave. Ich rief zurück. Er hieß Claudio. Sein Englisch war dickflüssig wie Honig. Wir verabredeten uns für Montagabend.

Nach dem Aikido-Training fuhr Dave mich nach Shinsaibashi. Er ließ mich vor dem Club raus und sagte, er würde im Zerro um die Ecke warten. Ich ging rein und fuhr in den sechsten Stock. Der Platz vor dem Fahrstuhl schimmerte violett. In geschwungener, weißer Leuchtschrift stand auf einem Spiegel »GO GO BAR«. Daneben erkannte ich, ebenso leuchtend, die Kurven der kleinen Poledancerin wieder. Gleich hinterm Eingang war der Schalter zum Eintrittzahlen und Geldumtauschen. Ab hier brauchte man Spielgeld.

Man kam zum Spielen. Asobu hieß »spielen«. Nicht nur mit Puppen oder Bällen. »Spielen« bedeutete »Spaß haben«. Häufig hieß es auch »Ausgehen«. »Lass uns mal wieder zusammen spielen«, sagten meine Freunde, wenn sie Party machen wollten. »Au ja«, sagte ich. »Spielen!«

Der Ticketschalter war unbesetzt. Ich ging vorbei. Die Bar fing gleich vorne vor dem Eingang an und schlängelte sich bis zur Wand. Die Barhocker hatten kleine, halbrunde Lehnen, die blitzten und glitzerten. Links davon lag der Club, riesig und dunkel wie das Mittelschiff einer Kirche. Ich verstand nicht, wie er in den sechsten Stock eines Hochhauses passen konnte. In der Mitte lag eine längliche, sanduhrförmige Bühne. Aus ihrem Nabel reichte eine riesige Stange bis an die Decke. Zehn Meter hoch, mindestens. Ich sah hinauf und dachte an das Märchen vom armen Jack, der die Bohnenstange in den Himmel hinaufklettert und dem schaurigen Riesen, der dort wohnt, seine Schätze unter der menschenfleischwitternden Nase wegschnappt. Ich wollte es ihm gleichtun und mein Glück da oben versuchen – auch wenn es gefährlich war. Auf sechs Metern Höhe verlief eine Balustrade um die Außenwände herum, unterbrochen von einem großen Menschenkäfig. Unten in den Ecken des Raumes gab es weitere Stangen auf kleinen Spiegelbühnen. An den Wänden standen Tische und Stühle. Gold blinkte auf, roter Samt schmiegte sich an Möbel und Wände. An einigen Stellen werkelten Männer in weißen Overalls und Ninja-Schuhen mit Werkzeugen herum. Weiter hinten saßen Leute, schweigend ins Gespräch vertieft. Ich ging auf sie zu. Ein junger Mann im Anzug watschelte gerade Richtung Bar. Er sah mich und machte im Vorbeigehen eine kurze, duckende Verbeugung. Er war klein und gedrungen, in die pausbackige Geometrie seines Gesichts war die Andeutung eines Lächelns eingebaut. Hamster, dachte ich und lächelte ebenfalls. Menschen und Hamster wie du und ich. Hamster, die im Vorbeigehen höflich grüßen.

Aus der Gruppe weiter hinten im Raum löste sich ein dicker Mann mit Lederjacke, die untere Hälfte des Haupthaars abrasiert, die obere zu einem Pferdeschwanz gegelt, der eher einem Rattenschwanz glich. Er kam auf mich zu und reichte mir die Pranke. Sein zärtlicher Händedruck schockierte mich, als wäre ich auf Stein getreten und dann in matschigen Boden eingesunken.

»Anna?«, fragte er.

»Ja, ich bin Anna. Hallo.«

»Ich bin Claudio. Gut, dass du da bist.« Er klang merkwürdig erleichtert. »Das hier ist Vanilla«, sagte er und deutete auf ein Goth-Girl.

Ihre schwarzen Haare waren an den Seiten zu Fledermausohren hochfrisiert, der Rest fiel umhangartig Richtung Boden. Die schwarze Schminke um ihre Augen sah aus wie eine Maske. Sie nickte mir zu und sagte: »Yoroshiku onegai shimasu!«, die übliche japanische Begrüßungsformel für Erstbegegnungen. Ihre Stimme war schwarz-violetter Samt. Sie trug einen glänzenden Latexrock, der kaum ihre Pobacken bedeckte, und sah nicht gerade nach »Vanilla« aus. Eher nach »Lakritza«.

»Vanilla ist letztes Jahr Miss Pole Dance Japan geworden«, sagte Claudio stolz, als sei sie eine Hauskatze, die kürzlich den wichtigsten japanischen Rassekatzenwettbewerb gewonnen hatte.

Andächtig verbeugte ich mich vor ihr und sagte: »Vanilla-san, bitte unterrichte mich im Poledance. Ich würde ihn sehr gern erlernen.« Ich hatte Respekt vor den zirkustauglichen Akrobatikkünsten, die seit einiger Zeit neben der erotischen Schiene die Welt des Poledance prägten. Vanilla lächelte. Bescheidenheit, Würde und Stolz strahlten durch dunkelblaue Kontaktlinsen und dicke weiße Schminke und erleuchteten ihr edles Gesicht.

»Gut«, sagte sie mit einer weiteren nickenden Verbeugung und wandte sich wieder ihren vorigen Gesprächspartnern zu.

Außer uns waren nur Männer da. Männer, die am Aufbau und Betrieb der Go-go-Bar beteiligt waren und einen geschäftigen Eindruck machten. Männer, die Frauen brauchten, um Geschäfte zu machen. Ganz normale Männer. Männer wie du und ich.

Claudio nahm mich mit in eine abgetrennte gepolsterte Sitzecke für VIP-Gäste.

»Anna«, sagte er und lächelte. »Wir bauen hier einen neuen Club auf. Wir suchen Mädchen, die kellnern, mit den Kunden reden, gute Stimmung machen und tanzen. Wir zahlen 2.000 Yen die Stunde.«

»Klingt gut«, fand ich. »Könnte ich machen.«

»Welche Sprachen sprichst du?«

»Englisch, Japanisch und Deutsch. Bisschen Spanisch.«

»Ah. Wenn du Japanisch sprichst, kannst du auch erst mal als Hostess anfangen. Mit den Kunden sitzen, sie ein bisschen unterhalten, zum Getränkekaufen motivieren, und wenn’s geht, auch für sie tanzen. Aber ich weiß nicht. Manche Mädchen sind vielleicht ein bisschen schüchtern.« Er zuckte mit seinen runden Bärenschultern.

»Ich glaube schon, dass ich tanzen könnte«, sagte ich. »Ich müsste vielleicht ein bisschen üben.«

»Klar«, sagte Claudio. »Klingt gut. Wenn du willst, rufe ich dich an und gebe dir Bescheid, wann es losgeht. Noch sind wir nicht ganz fertig.« Er deutete auf die Stellen, an denen noch geschraubt und gewerkelt wurde. Wir gaben uns die Hand. Ich ging los. Er sah mir hinterher und hob zum Abschied noch einmal die Tatze. Vanilla war ins Gespräch vertieft. Als ich in den Fahrstuhl stieg, nickte Hamster mir von der Bar aus zu.

Am nächsten Tag rief Claudio an. Dave und ich waren gerade auf dem Weg zum Aikido. Claudio wollte, dass ich sechs Nächte die Woche arbeitete, Montag bis Donnerstag von 21 Uhr bis 3 Uhr, Freitag und Samstag von 21 Uhr bis 5 Uhr.

»So viel schaffe ich nicht«, erklärte ich entschieden. »Wenn du jemanden für drei Nächte brauchst, mache ich es gerne.«

Claudio schwieg und atmete ein paar Mal. Dann sagte er: »Okay.« Da ich montags, dienstags und mittwochs in der Schule arbeitete, einigten wir uns auf Donnerstag, Freitag und Samstag. Freitag sollte es losgehen. Es war Mittwoch.

»Morgen kannst du kommen und etwas üben«, sagte er.

»Morgen kann ich nicht«, sagte ich. »Aikido.«

»Oh mein Gott«, seufzte er, als hätte ich ihm seinen letzten Funken Hoffnung geraubt. Dave flüsterte: »Geh lieber hin. Sonst weißt du am Freitag nicht, wohin mit dir.«

»Na gut«, sagte ich zu Claudio. »Ich komme.« Er klang erleichtert.

»Okay, Anna. Wir sehen uns um sieben.«

Den nächsten Tag verbrachte ich zwischen Nervosität, Angst, Neugier und Aufregung. »Vielleicht will ich es doch nicht machen«, presste ich hervor.

»Geh heute Abend hin«, sagte Dave. »Danach weißt du’s.«

Ich ging hin.

Wie Uhrzeiten saßen wir zu zwölft auf den Plüschbänken um den Tisch der VIP-Ecke herum. Alle anderen waren Brasilianerinnen, vielen von ihnen sah man an, dass auch japanisches Blut durch ihre Adern floss. Das Meeting wurde auf Portugiesisch abgehalten. Die Worte flossen wie Honig. Der Wiegenliedsingsang des brasilianischen Portugiesisch katapultierte mich in meine Capoeira-Zeit zurück. Gute Gelegenheit, endlich Portugiesisch zu lernen, dachte ich. Ich konzentrierte mich auf die einzelnen Tropfen des Honigflusses. Mit dem großen Latinum und einem Jahr Spanisch aus meiner Lehrerinnenzeit in La Rioja im Werkzeugkasten konnte ich ein bisschen was anfangen. Aber so schnell ging es nicht. Ich musste nachfragen. Claudio erklärte in Halbsätzen, was besprochen wurde.

Die Mädchen stellten sich nacheinander vor. Das erste hieß Lenir und hatte ein zauberhaftes kleines Gesicht. »Du hast ein kleines Gesicht«, sagten die Japaner und meinten damit: »Du bist hübsch.« Mit ihrem glänzenden, kastanienbraunen Zopf und ihrem atemberaubenden Profil erinnerte sie an Lara Croft. Andererseits war sie klein, jung, warm und rundlich. Ihre Stimme klang neugierig und unbekümmert.

Das nächste Mädchen war zu dünn und sah ein bisschen billig aus. Sie trug Plateauschuhe und enge, weiße Hosen, lange, blondierte Haare und dunkle Schatten unter entschlossenen, dunkelbraunen Augen. Sie wollte Laura genannt werden. In Wirklichkeit hieß sie Ana, aber das ging in Japan nicht, schon gar nicht in diesem Gewerbe. Das Wort Ana bedeutete nämlich »Loch«. Mich schrieb man mit zwei n, das war etwas anderes. Anna mit zwei n hieß »So eine … – du weißt schon, was für eine«. Klar, man wusste es. Aber während man es wusste, konnte man es sich trotzdem aussuchen. Ich fand, das passte zu einem Go-go-Girl, einem Platzhalter für Fantasien.

Laura redete viel. Aus Nervosität dominierte sie das Meeting. Sie und Diana hatten beide einen Boyfriend und jeweils zwei Töchter in Shiga. Sie wollten als Kellnerinnen anfangen. Diana war 24. Ihre Töchter waren sechs und vier. Sie hatte ein schön geschnittenes Gesicht mit rehbraunen Augen, umrahmt von langen, schwarzen Haaren, und sah ziemlich müde aus. Kein Wunder.

Mit jedem Mädchen, das sich vorstellte, schoss mir Demut in die Magenkuhle. Meine Privilegien machten mich dankbar, gleichzeitig stießen sie mir sauer auf. Womit hatte ich das verdient? Ich krümmte mich und musste mich zusammenreißen, wieder gerade zu sitzen.

Wir bekamen Ledertaschen an Gürteln, in denen Notizblöcke und Kugelschreiber steckten. Dann sagte Claudio etwas, das klang wie: »Ach so, ja!«, und nahm einen Stapel Karten vom Tisch. Hatte er eine Schulungsaktivität für uns vorbereitet? Mussten wir bestimmte Kartenspiele beherrschen, um die Kunden vernünftig unterhalten zu können? Als er die Karten jedoch verteilte und ich in seinem brasilianischen Singsang wiederholt das Wort »Zeit« erkannte, dämmerte es mir: Es handelte sich um Stempelkarten zur Arbeitszeiterfassung. Claudio führte uns in eine Nische hinter dem Eingang und zeigte uns das Stempelgerät. Wie brave Japanerinnen, die auf einen Bus warteten, stellten wir uns an. Nur Laura bewegte sich für einen kurzen Moment schneller, wie ein zuckender Fisch, und landete als Erste in der Schlange. Als ich meine Karte in den Schlitz schob und spürte, wie sie darin kurz und kräftig gedrückt wurde, durchfuhr mich ein Schauer. Dann betrachtete ich mit einer Mischung aus Stolz und Ungläubigkeit den offiziellen Anfang meiner ersten Schicht als Go-go-Girl.

Claudio wies jeder von uns ein paar Tische zu. Schon tröpfelten die ersten Kunden herein. Zuerst eine Dreiergruppe: ein attraktiver, hochgewachsener Kerl, der aussah wie ein koreanischer Popstar in Begleitung eines kleinen Glatzkopfs und einer dünnen, blassen Frau mit Pfennigabsätzen und violettem Kunstpelzmantel. »Für Sie beide macht das jeweils 3.000 Yen«, hörte ich eine Männerstimme aus dem Verkaufsschalter sagen. »Für die Dame 1.500. Jeweils zwei Freigetränke inbegriffen. Möchten Sie auch Spielgeld haben?«