Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat - Pierre Bayard - E-Book

Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat E-Book

Pierre Bayard

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Beschreibung

Sie haben neulich Proust zitiert, ohne sein Werk zu kennen, über den neuen Nobelpreisträger geplaudert, obwohl Sie sich nicht mal an den Buchtitel erinnern konnten? Kein Problem, sagt der französische Literaturprofessor Pierre Bayard. Wie man auf hohem Niveau und schamfrei über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat, zeigt uns dieses wunderbare Buch. Der versierte Nichtleser unterscheidet vier Haupttypen: unbekannte Bücher, Bücher, die man quergelesen hat, Bücher, die man nur vom Hörensagen kennt, und solche, deren Inhalt wir schon wieder vergessen haben - über alle lässt sich hervorragend reden. Dass Bayard seine Einladung zum unverfrorenen Umgang mit Büchern mit einer Fülle literarischer Beispiele untermauert, versteht sich von selbst: von Musils Bibliothekar, der kein Buch durch Lektüre bevorzugen will und deshalb gar nicht liest, über Ecos scharfsinnigen William von Baskerville bis zu David Lodge.

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Pierre Bayard

WIE MAN ÜBERBÜCHER SPRICHT,DIE MAN NICHTGELESEN HAT

Aus dem Französischenvon Lis Künzli

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlag Antje Kunstmann

TABELLE DER ABKÜRZUNGEN

op.cit.

opere citato, im angeführten Werk

ibid.

ibidem

UB

unbekanntes Buch

QB

quergelesenes Buch

EB

erwähntes Buch

VB

vergessenes Buch

++

sehr positive Einschätzung

+

positive Einschätzung

-

negative Einschätzung

sehr negative Einschätzung

INHALT

      Vorwort

ARTEN DES NICHTLESENS

   I. Bücher, die man nicht kennt

  II. Bücher, die man quergelesen hat

III. Bücher, die man vom Hörensagen kennt

IV. Bücher, die man vergessen hat

GESPRÄCHSSITUATIONEN

   I. Im Gesellschaftsleben

  II. Einem Lehrer gegenüber

III. Dem Schriftsteller gegenüber

IV. Der oder dem Liebsten gegenüber

EMPFOHLENE HALTUNGEN

   I. Sich nicht schämen

  II. Sich durchsetzen

III. Bücher erfinden

IV. Von sich sprechen

      Nachwort

VORWORT

DA ICH IN EIN MILIEU HINEINGEBOREN WURDE, in dem kaum jemand las, da ich außerdem nur wenig für diese Beschäftigung übrig hatte und mir ohnehin die Zeit dafür fehlte, bin ich durch ein Zusammentreffen von Umständen, die das Leben so mit sich bringt, oft in heikle Situationen geraten, in denen ich mich gezwungen sah, über Bücher zu sprechen, die ich nicht gelesen hatte.

Als jemand, der an der Universität Literatur unterrichtet, kann ich mich der Verpflichtung, Bücher zu kommentieren, die ich in den meisten Fällen gar nicht aufgeschlagen habe, nur schwer entziehen. Das Gleiche trifft zwar auch für die Mehrheit meiner Studenten zu, doch es muss nur ein Einziger von ihnen den Text, über den ich rede, gelesen haben, schon hat das Auswirkungen auf meine Vorlesung, und ich kann von einem Moment auf den andern in Verlegenheit geraten.

Darüber hinaus bin ich im Rahmen meiner Bücher und Artikel, die sich im Wesentlichen auf die Bücher und Artikel anderer beziehen, regelmäßig gehalten, über Publikationen zu berichten. Das bringt noch mehr Probleme mit sich, da schriftliche Kommentare im Gegensatz zu mündlichen Äußerungen, die bedenkenlos Ungenauigkeiten aufweisen dürfen, Spuren hinterlassen und überprüft werden können.

Da solche Situationen für mich zum Alltag gehören, fühle ich mich einigermaßen in der Lage, vielleicht nicht unbedingt Lehren zu erteilen, aber doch wenigstens meine fundierte Erfahrung als Nichtleser weiterzugeben und damit eine Auseinandersetzung über ein Tabuthema in Gang zu bringen, die aufgrund der vielen ungeschriebenen Gesetze, die sie unweigerlich verletzt, bisher kaum möglich war.

Tatsächlich gehört ein gewisser Mut dazu, von solchen Erfahrungen zu berichten, und so ist es nicht verwunderlich, dass nur wenige Texte die Vorzüge des Nichtlesens rühmen. Denn dieses stößt auf eine ganze Reihe verinnerlichter gesellschaftlicher Zwänge, die verhindern, dass die Frage so schonungslos angegangen wird, wie ich es hier versuchen möchte. Mindestens drei davon sind entscheidend.

Den ersten dieser Zwänge könnte man als den Zwang zu lesen bezeichnen. Wir leben in einer – allerdings im Verschwinden begriffenen – Gesellschaft, in der die Lektüre noch immer Gegenstand einer Form von Sakralisierung ist. Diese Sakralisierung bezieht sich vorzugsweise auf eine bestimmte Anzahl kanonischer Texte – die Liste variiert je nach Milieu –, die nicht gelesen zu haben praktisch verboten ist, wenn man sich nicht blamieren will.

Den zweiten Zwang, eng mit dem ersten verbunden, aber doch von ihm unterschieden, könnten wir als die Verpflichtung bezeichnen, alles zu lesen. Wenn es verpönt ist, nicht zu lesen, so gilt es als fast ebenso anstößig, flüchtig oder quer zu lesen, und vor allem, das auch noch einzugestehen. Für einen Literaturprofessor ist es zum Beispiel undenkbar zuzugeben – auch wenn es für die meisten zutrifft –, dass er Prousts Werk nicht in seiner Gänze gelesen, sondern nur darin geblättert hat.

Der dritte Zwang betrifft das Reden über Bücher. Ein stillschweigendes Postulat unserer Kultur besagt, dass man ein Buch gelesen haben muss, um etwas darüber auszusagen. Nun aber ist es meiner Erfahrung nach absolut möglich, ein spannendes Gespräch über ein ungelesenes Buch zu führen, auch und vielleicht erst recht mit jemandem, der es ebenfalls nicht gelesen hat.

Mehr noch, es ist, wie sich im Laufe dieses Essays herausstellen wird, manchmal sogar wünschenswert, dass man ein Buch, über das man sich zutreffend äußern möchte, nicht vollständig gelesen, ja, es gar nicht erst aufgeschlagen hat. Ich kann gar nicht eindringlich genug auf die oft unterschätzten Risiken hinweisen, die mit dem Lesen verbunden sind, insbesondere für jemanden, der über ein Buch reden oder es sogar besprechen möchte.

Dieses Zwangssystem aus Pflichten und Verboten hat zu einer allgemeinen Scheinheiligkeit in Bezug auf die angeblich gelesenen Bücher geführt. Ich kenne nur wenige Bereiche des Privatlebens, von Geld und Sexualität einmal abgesehen, über die man so schwer verlässliche Informationen bekommt wie über Bücher.

In Fachkreisen ist das Lügen aufgrund der drei Zwänge, von denen ich eben sprach, allgemein verbreitet, was die Wichtigkeit bestätigt, die dem Buch in diesem Milieu zugemessen wird. Wenn ich auch selbst wenig gelesen habe, so kenne ich doch einige Bücher hinreichend – auch hier wieder denke ich an Proust –, um in Diskussionen mit meinen Kollegen einschätzen zu können, ob sie die Wahrheit sagen oder nicht, wenn sie über ihn reden, und auch, um zu wissen, dass dies nur selten der Fall ist.

Man belügt die anderen, aber auch und wahrscheinlich in erster Linie sich selbst, weil es manchmal äußerst schwerfällt, sich einzugestehen, dass man ein bestimmtes, in den Kreisen, in denen man verkehrt, als wesentlich eingestuftes Buch nicht gelesen hat. Und dementsprechend groß ist in diesem wie in vielen anderen Bereichen unsere Fähigkeit, die Vergangenheit unseren Wünschen entsprechend etwas zurechtzurücken.

Dieses allgemeine Lügen, sobald man über Bücher spricht, ist ein weiterer Aspekt des Tabus, das auf dem Nichtlesen lastet und mit Ängsten zu tun hat, die wahrscheinlich aus unserer Kindheit stammen. Es besteht kaum Hoffnung, unbeschadet aus Situationen dieser Art hervorzugehen, wenn man nicht das unbewusste Schuldgefühl analysiert, das mit dem Geständnis einhergeht, gewisse Bücher nicht gelesen zu haben. Dieser Essay möchte sich zur Aufgabe machen, unser Gewissen wenigstens etwas zu entlasten.

Das Nachdenken über nicht gelesene Bücher und die Gespräche, die sich daraus ergeben, gestalten sich umso schwieriger, als sich der Begriff des Nichtlesens nicht klar definieren lässt und es also gelegentlich gar nicht so einfach ist zu wissen, ob man mit der Behauptung, ein Buch gelesen zu haben, lügt oder die Wahrheit sagt. Denn dies würde voraussetzen, dass man klar zwischen Lesen und Nichtlesen unterscheiden kann, während sich doch zahlreiche Begegnungsformen mit Texten in Wirklichkeit in einem Zwischenbereich abspielen.

Zwischen einem aufmerksam gelesenen Buch und einem Buch, das man noch nie in der Hand gehabt hat, ja, von dem man noch nie gehört hat, gibt es zahlreiche Stufen, die sorgfältig zu untersuchen sind. Bei den angeblich gelesenen Büchern müssen wir uns fragen, was genau man unter Lektüre versteht, kann diese doch in Wirklichkeit sehr unterschiedliche Praktiken bezeichnen. Umgekehrt können viele dem Anschein nach nicht gelesene Bücher durch das Echo, das zu uns gelangt, spürbaren Einfluss auf uns ausüben.

Das Problem der Grenzziehung zwischen Lesen und Nichtlesen zwingt mich, etwas allgemeiner über die Formen unseres Umgangs mit Büchern nachzudenken. Mein Ziel ist im Folgenden nicht nur, Methoden zu entwickeln, mit denen schwierige Kommunikationssituationen vermieden werden können, sondern durch eine Analyse dieser Situationen zugleich die Elemente einer echten Theorie des Lesens auszuarbeiten – einer Theorie des Lesens, die ihr Augenmerk – entgegen dem Idealbild, das von dieser Tätigkeit kursiert – auf die Schwachstellen, Lücken und Ungenauigkeiten richtet, also auf seine Diskontinuität.

Diese wenigen Vorbemerkungen führen uns folgerichtig zum Aufbau dieses Essays. Ich werde in einem ersten Teil die Haupttypen des Nichtlesens darlegen, das sich also keineswegs auf die simple Tatsache beschränkt, die Buchdeckel geschlossen zu halten. Auch Bücher, die man quergelesen hat, Bücher, von denen man gehört oder die man vergessen hat, gehören, in unterschiedlichen Graden, zu dieser äußerst vielgestaltigen Kategorie des Nichtlesens.

Ein zweiter Teil ist der Analyse konkreter Situationen gewidmet, in denen von uns erwartet wird, über Bücher zu sprechen, die wir nicht gelesen haben. Wenn es hier auch nicht darum gehen kann, die vielen Möglichkeiten, mit denen das Leben uns so grausam konfrontiert, erschöpfend darzustellen, so will ich doch anhand einiger bezeichnender Beispiele – die gelegentlich in verdeckter Form meiner persönlichen Erfahrung entlehnt sind – Ähnlichkeiten aufdecken, auf die sich meine weiteren Ausführungen dann stützen können.

Der dritte und wichtigste Teil ist derjenige, der mich zum Schreiben dieses Essays angeregt hat. Er besteht aus einer Reihe einfacher Ratschläge, erworben im Laufe eines langen Lebens als Nichtleser. Mit diesen Ratschlägen möchte ich den Betroffenen helfen, so gut wie möglich mit diesem Kommunikationsproblem umzugehen – es sich vielleicht sogar zunutze zu machen – und dabei grundlegend über die Tätigkeit des Lesens nachzudenken.

Mit diesen Bemerkungen aber möchte ich nicht nur die allgemeine Struktur dieses Essays umreißen, sondern auch hellhörig machen für das eigenartige Verhältnis zur Wahrheit, das mit den Gesprächen über Bücher verbunden ist, und für den seltsamen Raum, den es eröffnet. Will man die Sache grundsätzlich angehen, so muss man, wie mir scheint, auch die Art und Weise ändern, wie über Bücher gesprochen wird, bis hin zu den Wörtern, die dabei verwendet werden.

Getreu der grundlegenden These dieses Essays, die besagt, dass der Begriff des gelesenen Buches mehrdeutig ist, werde ich von nun an in den Anmerkungen zu allen Büchern, die ich anführe oder kommentiere, in Abkürzungen auf den Grad der Kenntnis hinweisen, den ich persönlich von ihnen habe.[1] Diese Hinweise, die im Folgenden genauer erläutert werden, sollen die Literaturangaben ergänzen, die man gewöhnlich in Fußnoten antrifft und durch die der Autor auf die Bücher hinweist, die er angeblich gelesen hat (op.cit., ibid. usw.). Wie ich ausgehend von meiner persönlichen Erfahrung zeigen werde, sprechen wir sehr oft über Bücher, die wir nur schlecht kennen, und es heißt, mit einer falschen Vorstellung über das Lesen aufzuräumen, wenn wir jedes Mal angeben, was wir über sie wissen.

Die genannten Angaben werden durch weitere Abkürzungen ergänzt, die der Meinung Ausdruck geben sollen, die ich über die zitierten Bücher habe, ob ich sie nun in der Hand gehabt habe oder nicht.[2] Denn da ich davon ausgehe, dass die Einschätzung eines Buches seine vorherige Lektüre nicht voraussetzt, sehe ich keinen Grund, mit meiner Meinung über die Bücher, die hier genannt werden, hinter dem Berg zu halten, auch wenn ich sie schlecht kenne oder noch nie von ihnen gehört habe.[3]

Dieses neue Anmerkungssystem – von dem ich hoffe, dass es sich eines Tages in weiteren Kreisen durchsetzen wird – hat zum Ziel, stets daran zu erinnern, dass unsere Beziehung zu Büchern kein kontinuierlicher, homogener Prozess ist, wie uns manche Kritiker glauben machen möchten, auch nicht der Ort einer luziden Kenntnis unserer selbst, sondern ein obskurer, von Bruchstücken der Erinnerung heimgesuchter Raum, dessen – auch schöpferischer – Reiz mit den nebelhaften Phantomen zusammenhängt, die darin umgehen.

 

 

 

  1 Die vier benutzten Abkürzungen werden in den ersten vier Kapiteln weiter ausgeführt. UB bedeutet mir unbekannte Bücher, QB von mir quergelesene Bücher, EB Bücher, die man in meiner Anwesenheit erwähnt hat, VB Bücher, die ich vergessen habe (siehe Tabelle der Abkürzungen). Diese Kategorien schließen sich gegenseitig nicht aus. Die Angaben werden für jeden Titel und nur bei seiner ersten Erwähnung gemacht.

  2 Die benutzten Abkürzungen sind: ++ (sehr positive Einschätzung), + (positive Einschätzung), – (negative Einschätzung) und — (sehr negative Einschätzung). Siehe Tabelle der Abkürzungen.

  3 Halten wir fest, dass dieses Anmerkungssystem trotz nicht vorhandener Anmerkungen wie GB (gelesenes Buch) und NGB (nicht gelesenes Buch) – die man eigentlich erwarten könnte, die aber nie verwendet werden – nichts an Aussagekraft verliert. Tatsächlich richtet sich dieses Buch weitgehend gegen diese Art künstlicher Unterscheidung, die ein Bild des Lesens befördert, das es schwierig macht, es so zu denken, wie wir es wirklich erleben.

 

ARTEN DES NICHTLESENS

Erstes Kapitel

BÜCHER, DIE MAN NICHT KENNT

in dem der Leser sehen wird, dass es nicht so sehr darauf ankommt, ein bestimmtes Buch zu lesen, was reiner Zeitverlust wäre, sondern darauf, über die Gesamtheit der Bücher das zu haben, was eine Figur Musils den »Überblick« nennt.

ES GIBT MEHRERE ARTEN des Nichtlesens. Die radikalste von ihnen besteht darin, überhaupt kein Buch aufzuschlagen. Ein solch absoluter Verzicht betrifft für jeden auch noch so eifrigen Leser im Grunde nahezu die Gesamtheit aller Publikationen und macht somit unsere Hauptbeziehung zum Geschriebenen aus. Denn man darf nicht vergessen, dass selbst ein passionierter Leser immer nur Zugang zu einem winzigen Teil aller existierenden Bücher hat. Und sich daher, will er nicht ganz auf jede Form von Reden und Schreiben verzichten, permanent gezwungen sieht, sich über Bücher zu äußern, die er nicht gelesen hat.

Treibt man diese Haltung auf die Spitze, so landen wir beim absoluten Nichtleser, der nie ein einziges Buch aufschlägt, es sich aber deswegen nicht nehmen lässt, sie zu kennen und über sie zu reden. Genau dies ist der Fall des Bibliothekars aus Musils Der Mann ohne Eigenschaften[1], einer Nebenfigur des Romans, die aber durch die Radikalität ihrer Position und die Unerschrockenheit, mit der sie sie theoretisch unterlegt, für unser Thema wesentlich ist.

Musils Roman spielt zu Beginn des letzten Jahrhunderts in einem Land namens Kakanien – eine humoristische Umsetzung des österreichisch-ungarischen Reichs. Dort wird die »Parallelaktion« gegründet, eine »vaterländische Bewegung«, die den bevorstehenden Geburtstag des Kaisers würdig begehen und die Feier gleichzeitig dazu nutzen soll, der restlichen Welt ein erlösendes Vorbild zu geben.

Die Verantwortlichen dieser Parallelaktion, von Musil als lächerliche Hampelmänner dargestellt, sind also alle auf der Suche nach einem »erlösenden Gedanken«, den sie unablässig in einem Stil heraufbeschwören, der umso vager bleibt, als sie nicht die leiseste Ahnung haben, wie er aussehen könnte, noch was ihn auszeichnen soll, außerhalb des Landes eine Heilsfunktion auszuüben.

Eine der lächerlichsten Figuren unter den Initiatoren der Parallelaktion ist General Stumm. Dieser hat sich vorgenommen, den erlösenden Gedanken vor allen anderen zu finden und ihn der Frau, die er liebt, zu schenken, Diotima, eine weitere Persönlichkeit im Umfeld der Parallelaktion:

»›Du erinnerst Dich‹, sagte er, ›daß ich mir in den Kopf gesetzt habe, den erlösenden Gedanken, den Diotima sucht, ihr zu Füßen zu legen. Es gibt, wie sich zeigt, sehr viele bedeutende Gedanken, aber einer muß schließlich der bedeutendste sein; das ist doch nur logisch? Es handelt sich also bloß darum, Ordnung in sie zu bringen.‹«[2]

Wenig vertraut mit Gedanken und ihrer Handhabung, noch weniger mit der Technik, neue zu entwickeln, beschließt der General, sich in die Hofbibliothek zu begeben, ein grundsätzlich idealer Ort, um sich mit ungewöhnlichen Gedanken auszustatten, wo er sich »über die Stärke des Gegners Klarheit zu verschaffen« und auf eine möglichst organisierte Weise zu der originellen Idee zu gelangen hofft, nach der er sucht.

Der Besuch in der Bibliothek jedoch versetzt den General, der unter Büchern nicht zu Hause ist, in große Angst, da er mit einem Wissen konfrontiert wird, das ihm keinerlei Orientierung bietet und über das er nicht die vollständige Befehlsgewalt hat, die er als Militär gewohnt ist:

»Wir sind den kolossalen Bücherschatz abgeschritten, und ich kann sagen, es hat mich weiter nicht erschüttert, diese Bücherreihen sind nicht schlimmer als eine Garnisonsparade. Nur habe ich nach einer Weile anfangen müssen, im Kopf zu rechnen, und das hatte ein unerwartetes Ergebnis. Siehst du, ich hatte mir vorher gedacht, wenn ich jeden Tag da ein Buch lese, so müßte das zwar sehr anstrengend sein, aber irgendwann müßte ich damit zu Ende kommen und dürfte dann eine gewisse Position im Geistesleben beanspruchen, selbst wenn ich ein oder das andere auslasse. Aber was glaubst du, antwortet mir der Bibliothekar, wie unser Spaziergang kein Ende nimmt und ich ihn frage, wieviel Bände denn eigentlich diese verrückte Bibliothek enthält? Dreieinhalb Millionen Bände, antwortet er!! Wir sind da, wie er das sagte, ungefähr beim siebenhunderttausendsten Buch gewesen, aber ich habe von dem Augenblick an ununterbrochen gerechnet; – ich will es dir ersparen, ich habe es im Ministerium noch einmal mit Bleistift und Papier nachgerechnet: Zehntausend Jahre würde ich auf diese Weise gebraucht haben, um mich mit meinem Vorsatz durchzusetzen!«[3]

Von dieser Konfrontation mit der Unendlichkeit der Lektüremöglichkeiten ist es nicht mehr weit bis zu dem Gedanken der Ermutigung zum Nichtlesen. Denn wie sollte man angesichts der unermesslichen Zahl von veröffentlichten Büchern nicht zum Schluss kommen, dass jedes Leseunterfangen, selbst wenn es auf ein ganzes Leben verteilt wird, vergebliche Liebesmüh ist im Hinblick auf all die Bücher, die für immer unbeachtet bleiben müssen?

Lesen bedeutet in erster Linie nicht lesen, und selbst bei den großen Lesern, die ihr ganzes Leben dieser Tätigkeit verschrieben haben, verbirgt die Geste des Ergreifens und Öffnens eines Buches stets die ihr entgegengesetzte, die darin enthalten ist und demzufolge unbemerkt bleibt: die unfreiwillige Geste des Nichtergreifens oder Zuklappens sämtlicher Bücher, die bei einer anderen Organisation der Welt an die Stelle des glücklich auserwählten hätten treten können.

Der Mann ohne Eigenschaften greift zwar das alte Problem von Kultur und Unendlichkeit auf, doch stellt er auch eine mögliche Lösung vor, jene nämlich, die sich General Stumms Bibliothekar zu eigen macht. Denn dieser hat ein Mittel gefunden, sich, wenn auch nicht unter sämtlichen Büchern der Welt, so doch zumindest unter den Millionen von Büchern seiner Bibliothek zurechtzufinden. Seine Methode, die von großer Schlichtheit ist, ist ebenso einfach in der Anwendung:

»Wie ich ihn nicht gleich loslasse, richtet er sich plötzlich auf, er ist förmlich aus seinen schwankenden Hosen herausgewachsen, und sagt mit einer Stimme, die jedes Wort bedeutungsvoll gedehnt hat, als ob er jetzt das Geheimnis dieser Wände aussprechen müßte: ›Herr General‹, sagt er, ›Sie wollen wissen, wieso ich jedes Buch kenne? Das kann ich Ihnen nun allerdings sagen: Weil ich keines lese!‹«[4]

Daher die Überraschung des Generals, als er mit diesem ziemlich speziellen Bibliothekar konfrontiert wird, der sorgsam darauf achtet, nichts zu lesen, und zwar nicht etwa aus Ignoranz, sondern im Gegenteil, um seine Bücher besser zu kennen:

»Weißt du, das war mir nun beinah wirklich zuviel! Aber er hat es mir, wie er meine Bestürzung gesehen hat, auseinandergesetzt. Es ist das Geheimnis aller guten Bibliothekare, dass sie von der ihnen anvertrauten Literatur niemals mehr als die Büchertitel und das Inhaltsverzeichnis lesen. ›Wer sich auf den Inhalt einlässt, ist als Bibliothekar verloren!‹ hat er mich belehrt. ›Er wird niemals einen Überblick gewinnen!‹

Ich frage ihn atemlos: ›Sie lesen also niemals eines von den Büchern?‹

›Nie; mit Ausnahme der Kataloge.‹

›Aber Sie sind doch Doktor?‹

›Gewiß. Sogar Universitätsdozent; Privatdozent für Bibliothekswesen. Die Bibliothekswissenschaft ist eine Wissenschaft auch allein und für sich‹, erklärte er. ›Wieviele Systeme, glauben Sie, Herr General‹, frägt er, ›gibt es, nach denen man Bücher aufstellt, konserviert, ihre Titel ordnet, die Druckfehler und falschen Angaben auf ihren Titelseiten richtig stellt uns so weiter?‹«[5]

Musils Bibliothekar hütet sich streng davor, sich in die Bücher zu vertiefen, doch steht er ihnen keineswegs, wie vielleicht anzunehmen wäre, gleichgültig und schon gar nicht feindselig gegenüber. Es ist ganz im Gegenteil seine Liebe zu den Büchern – allerdings zu allen Büchern –, die ihn veranlasst, sich wohlweislich an der Peripherie aufzuhalten, aus Angst, ein allzu ausgeprägtes Interesse für eines unter ihnen könnte die Vernachlässigung der anderen zur Folge haben.

Wenn Musils Bibliothekar mir weise erscheint, dann durch diese Vorstellung des »Überblicks«, und ich bin versucht, seine Ansichten über die Bibliotheken auf die gesamte Kultur anzuwenden: Wer seine Nase in die Bücher steckt, ist für die Kultur verloren, sogar für das Lesen. Denn bei der immensen Anzahl aller existierenden Werke muss notgedrungen eine Entscheidung getroffen werden zwischen dieser Gesamtsicht und dem einzelnen Buch, und jedes Lesen bedeutet angesichts des schwierigen und zeitraubenden Versuchs, das Ganze in den Griff zu bekommen, einen Energieverlust.

Die Weisheit dieser Haltung liegt in erster Linie in der Bedeutung, die sie dem Gedanken der Gesamtheit einräumt, weil sie damit zu verstehen gibt, dass die wahre Bildung so umfassend wie möglich sein muss und sich nicht auf das Anhäufen von Einzelwissen beschränken darf. Und darüber hinaus führt die Suche nach dieser Ganzheit zu einem anderen Blick auf das einzelne Buch, denn man lässt dabei dessen Individualität hinter sich, um sich für die Beziehungen zu interessieren, die es zu den anderen unterhält.

Und genau diese Beziehungen muss der wahre Leser zu erfassen suchen, wie es Musils Bibliothekar richtig verstanden hat. So interessiert er sich wie viele seiner Berufskollegen weniger für die Bücher als für die Bücher über die Bücher:

»… ich sage noch etwas von etwas wie von Eisenbahnfahrplänen, die es gestatten müssen, zwischen den Gedanken jede beliebige Verbindung und jeden Anschluß herzustellen, da wird er geradezu unheimlich höflich und bietet mir an, mich ins Katalogzimmer zu führen und dort allein zu lassen, obgleich das eigentlich verboten ist, weil es nur von den Bibliothekaren benützt werden darf. Da war ich dann also wirklich im Allerheiligsten der Bibliothek. Ich kann dir sagen, ich habe die Empfindung gehabt, in das Innere eines Schädels eingetreten zu sein; rings herum nichts wie diese Regale mit ihren Bücherzellen, und überall Leitern zum Herumsteigen, und auf den Gestellen und den Tischen nichts wie Kataloge und Bibliographien, so der ganze Succus des Wissens, und nirgends ein vernünftiges Buch zum Lesen, sondern nur Bücher über Bücher… «[6]

Verbindungen und Anschlüsse, das muss der gebildete Mensch zu begreifen suchen, und nicht das eine oder andere Buch im Besonderen, so wie ein Verantwortlicher des Schienenverkehrs auf die Zugverbindungen achten muss, das heißt auf die Kreuzungspunkte und Anschlüsse, und nicht auf den Inhalt des einen oder anderen Waggons. Mit dem Bild des Schädels wird diese Theorie, nach der im Bereich der Kultur die Beziehungen unter den Gedanken wichtiger sind als die Gedanken selbst, noch weiter verdeutlicht.

Natürlich ist die Behauptung des Bibliothekars, kein einziges Buch zu lesen, mit Vorsicht zu genießen, denn schließlich interessiert er sich sehr genau für die Bücher über die Bücher, für die Kataloge. Diese aber haben einen ganz besonderen Status und sind eigentlich nicht viel mehr als Listen. Doch sie haben das Verdienst, diese Beziehung zwischen den Büchern visuell zu veranschaulichen, für die jeder empfänglich sein muss, der, gerade weil er sie leidenschaftlich liebt, in der Lage sein möchte, gleichzeitig eine große Anzahl von ihnen in den Griff zu bekommen.

Dieser Gedanke des »Überblicks«, der dem Vorgehen des Bibliothekars zugrunde liegt, ist von großer praktischer Bedeutung, denn seine intuitive Erkenntnis ist es, die einigen Privilegierten die Mittel in die Hand gibt, sich relativ unbeschadet aus der Affäre zu ziehen, wenn sie in bestimmten Situationen auf frischer Tat der Unwissenheit überführt werden könnten.

Die Gebildeten wissen es – vor allem aber wissen es die Ungebildeten zu ihrem Unglück nicht –, dass Bildung in erster Linie eine Sache der Orientierung ist. Gebildet zu sein bedeutet nicht, das eine oder andere Buch gelesen zu haben, es bedeutet, sich in der Ganzheit aller Bücher zurechtzufinden, also als Erstes zu wissen, dass sie eine Ganzheit bilden, und dann in der Lage zu sein, jedes einzelne Element im Zusammenhang mit den anderen einzuordnen. Auf das Innere kommt es hier weniger an als auf das Äußere, oder, wenn man will, das Innen eines Buches ist sein Außen, da es bei jedem Buch auf die Bücher neben ihm ankommt.

Daher ist es für einen gebildeten Menschen unwichtig, ob er ein bestimmtes Buch gelesen hat oder nicht, da er, auch ohne über seinen Inhalt genau unterrichtet zu sein, oft fähig ist, seine Stellung zu erfassen, das heißt die Art und Weise, wie es sich im Verhältnis zu den andern situiert. Diese Unterscheidung zwischen Inhalt eines Buches und seiner Stellung ist ganz entscheidend, ist sie es doch, die es jemandem, den Bildung nicht schreckt, erlaubt, sich problemlos zu jedem beliebigen Thema zu äußern.

So habe ich zum Beispiel den Ulysses[7] von Joyce nie »gelesen« und werde ihn wahrscheinlich auch nie lesen. Der »Inhalt« des Buches ist mir also weitgehend unbekannt. Sein Inhalt, nicht aber seine Stellung. Nun aber ist der Inhalt eines Buches weitgehend seine Stellung. Damit meine ich, dass ich durchaus nicht dumm dastehe, wenn in einem Gespräch die Rede auf Ulysses kommt, da ich in der Lage bin, ihn mit relativer Präzision in Bezug auf die anderen Bücher einzuordnen. So weiß ich, dass es sich dabei um eine Wiederaufnahme der Odyssee[8] handelt, dass er dem Stil des Bewusstseinsstroms verpflichtet ist, dass seine Handlung an einem einzigen Tag in Dublin spielt usw. Und so kann es geschehen, dass ich in meinen Vorlesungen, ohne mit der Wimper zu zucken, auf Joyce verweise.

Mehr noch, wie wir weiter unten bei der Analyse der Machtverhältnisse sehen werden, die beim Sprechen über unsere Lektüre im Spiel sind, sehe ich mich durchaus in der Lage, ohne jede Scham über mein Nichtlesen von Joyce zu reden. Tatsächlich besteht meine geistige Bibliothek eines Intellektuellen wie jede andere aus Löchern und Lücken, was aber im Grunde keine Bedeutung hat, da sie so ausreichend bestückt ist, dass eine bestimmte leere Stelle nicht auffällt, geht doch jeder Diskurs ohnehin sehr schnell von einem Buch zum nächsten über.

Die meisten Gespräche über ein Buch haben, auch wenn es anders scheinen mag, weniger mit ihm selbst als mit einem weit größeren Ganzen zu tun, mit der Gesamtheit aller wichtigen Bücher, auf der eine bestimmte Kultur zu einem bestimmten Zeitpunkt beruht. Diese Gesamtheit werde ich von nun an kollektive Bibliothek nennen, und auf sie kommt es in Wirklichkeit an, denn ihre Beherrschung ist in einem Gespräch über Bücher gefragt. Diese Beherrschung aber ist eine Beherrschung der Beziehungen und nicht eines bestimmten isolierten Elements und verträgt sich wunderbar mit dem Unwissen über einen bestimmten Teil des Ganzen.

Somit hört ein Buch, sobald es in unser Wahrnehmungsfeld tritt, auf, unbekannt zu sein, und nichts über es zu wissen bedeutet absolut kein Hindernis, von ihm zu träumen oder zu reden. Noch bevor ein gebildeter, neugieriger Mensch ein Buch aufgeschlagen hat, kann schon sein Titel oder ein kurzer Blick auf den Umschlag eine Reihe von Bildern und Eindrücken bei ihm hervorrufen, die nur darauf warten, in eine erste Meinung verwandelt zu werden, die noch befördert wird durch die Vorstellung, welche die Allgemeinbildung über das Ganze der Bücher bietet. So kann eine noch so flüchtige Begegnung mit einem von ihnen, selbst wenn er es nie aufschlagen wird, für den Nichtleser der Anfang einer authentischen persönlichen Annäherung sein – und gibt es nicht unter Umständen unbekannte Bücher, die diesen Status bereits bei der ersten Begegnung verlieren?

Das Besondere am Nichtlesen von Musils Bibliothekar besteht im Grunde darin, dass seine Haltung nicht passiv, sondern aktiv ist. Zahlreiche gebildete Menschen sind Nichtleser, und umgekehrt sind zahlreiche Nichtleser gebildete Menschen, da das Nichtlesen nicht einfach die Abwesenheit des Lesens bedeutet. Es stellt eine aktive Tätigkeit dar, die darin besteht, sich in Bezug auf die Unermesslichkeit der Bücher zu organisieren, um sich nicht von ihnen überwältigen zu lassen. In diesem Sinne verdient das Nichtlesen verteidigt und gar unterrichtet zu werden.