Wie Melodien im Wind - Alicia Zett - E-Book

Wie Melodien im Wind E-Book

Alicia Zett

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Beschreibung

Band 2 der YA-Trilogie von Spiegel-Bestseller-Autorin Alicia Zett

Toni und Lukas sind schon lange ineinander verliebt. Das wissen alle auf Schloss Mare, dem Elite-Internat an der Nordseeküste. Doch die beiden kommen aus unterschiedlichen Welten, was ihre Liebe eigentlich unmöglich macht: Lukas ist ein Spross des dänischen Königshauses. Toni hingegen spricht selbst mit ihren besten Freundinnen nicht über ihre schwierigen familiären Verhältnisse und versteckt sich hinter einer sorgfältig errichteten Fassade. Wenn ihr zu Hause alles zu viel wird, flüchtet sie sich in ihre Liebe zum Fußball oder in die Musik. Als der Schlagzeuger der Internatsband ausfällt, bietet Lukas Toni den Platz an. Und von jetzt auf gleich verbringen die beiden immer mehr Zeit zusammen.


In dieser Geschichte geht es unter anderem um: Friends-to-Lovers, royale Vibes, ganz viel Musik sowie Mental-Health-Themen

Alle Bände sind unabhängig lesbar und handeln von einer Freund*innen-Clique

Die Autorin auf Social Media: @aliciazett


Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
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Seitenzahl: 556

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumHinweisWidmungPlaylistWappenAuftakt [engl. »Upbeat«]Low-Budget-SommerferienDer perfekte ScheinBruder und SchwesterTage in MollJeder braucht eine YukiBühne frei für Hyper Wave!BerufsorientierungOuvertüre – 3 Jahre zuvorDu denkst, ich bin stark?FrischlingeSollten wir drüber reden?Das Schlossgespenst – 3 Jahre zuvorAbtauchenSweet SeventeenVerhängnisvoller UnfallZwei im Ginsterbusch – 2 Jahre zuvorPrinzenkuss – 2 Jahre zuvorImmer im Takt bleibenDer erste BriefEin schicksalhaftes AngebotDie Profi-SchlagzeugerinTanz mit mirDas Traumpaar – 18 Monate zuvorHyper WaveDer zweite BriefEin Raum voller FarbenIch bin nicht okayDer dritte BriefViele kleine SiegePompons, Medaillen und EifersuchtHerzemojiWinterferien in DänemarkEine königliche FamilieEin verführerischer GrashalmGüldenes AbendmahlWas zählt ist, wer du bistSusi, die RennschneckeKopenhagenIrgendwann ein WirHinter verschlossenen TürenPancakes am MorgenWeihnachten mit der KöniginMerry CrisisSchwäche ist StärkeDas hier bin ichGefängnisgesprächeDie Mauer fälltFreier FallWir sind hier6 Monate später – OutroDanksagungTRIGGERWARNUNG

Über dieses Buch

Toni und Lukas sind schon lange ineinander verliebt. Das wissen alle auf Schloss Mare, dem Elite-Internat an der Nordseeküste. Doch die beiden kommen aus unterschiedlichen Welten, was ihre Liebe eigentlich unmöglich macht: Lukas ist ein Spross des dänischen Königshauses. Toni hingegen spricht selbst mit ihren besten Freundinnen nicht über ihre schwierigen familiären Verhältnisse und versteckt sich hinter einer sorgfältig errichteten Fassade. Wenn ihr zu Hause alles zu viel wird, flüchtet sie sich in ihre Liebe zum Fußball oder in die Musik. Als der Schlagzeuger der Internatsband ausfällt, bietet Lukas Toni den Platz an. Und von jetzt auf gleich verbringen die beiden immer mehr Zeit zusammen.

Über die Autorin

Alicia Zett wurde 1996 geboren, hat Film studiert und arbeitet bei einem lokalen Fernsehsender. Wenn sie nicht gerade auf ihren Social-Media-Kanälen (@aliciazett) über queere Bücher, Filme und Serien spricht, verbringt sie ihre Tage am liebsten mit ihrem Mann und ihren drei Katzen. Alicia schreibt Bücher, die sie selbst in ihrer Jugend gebraucht hätte. Nun nutzt sie ihre Geschichten, um zu zeigen, dass Liebe in allen Formen und Farben existiert.

A L I C I AZ E T T

Band 2

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Dieses Werk wurde vermittelt durch dieLangenbuch & Weiß Literaturagentur.

Copyright 2023 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6  – 20, 51063 Köln

Textredaktion: Silvana Schmidt

Umschlaggestaltung: Kristin Pang

unter Verwendung von Illustrationen von Mi Ha, Guter Punkt, München

Illustration: © Mi Ha, Guter Punkt, München

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-4364-8

luebbe.de

lesejury.de

Liebe Leser:innen,dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Dazu findet ihr eine Triggerwarnung auf S. 479.Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis.Euer Team vom ONE-Verlag

Für all die Musiker*innen auf dieser Welt.Ohne eure Melodien und Texte wäre ich ein anderer Mensch.

PLAYLIST

I think I’m Okay – Machine Gun Kelly, Yungblud

High Hopes – Panic! at the Disco

Lonely Ones – LOVA

Still Waiting – Sum 41

Hollywood – Benne, Revelle

Too Good To Be True – Hanniou

Drüber reden – Luca Pfeiffer

Good Things Take Time – Aidan Martin

It’s My Life – Bon Jovi

We’re Not Friends – Ingrid Andress

20s – Bow Anderson

Fall Into Me – Forest Blakk

Irgendwann ein Wir – Luca Pfeiffer

Just A Girl – Kiddo

The Heat – Moody Joody

Take Me Away – New Medicine

Parade Rain – Hedley

Here I Am – Breakaway

Freier Fall – Luca Pfeiffer, Alicia Zett

LA Devotee – Panic! at the Disco

Holiday – Green Day

Die vollständige Playlist findet ihr auf Spotify unter:

Wie Melodien im Wind – Official Book Playlist

Achtet genau auf die Schlagzeugparts in den Liedern und stellt euch vor, wie Toni sie spielt, denn das habe ich auch während des Schreibens gemacht.

AUFTAKT [ENGL. »UPBEAT«]

Am letzten Tag der Sommerferien klingelt die Polizei an unserer Haustür und verhaftet meinen Bruder.

Ich hätte es nicht verhindern können, und doch fühle ich mich schuldig. Acht Wochen lang ist nichts passiert, alles lief gut. Ich hätte merken müssen, dass etwas nicht stimmt, aber das habe ich nicht. Weil ich immer noch nicht gelernt habe, dass mein Leben kein beschissener Hollywood-Film ist.

Eine Woche zuvor

Schweiß rinnt mir über die Stirn. Einzelne Staubpartikel fliegen durch die Luft und glänzen in der hereinfallenden Nachmittagssonne. Es sind gefühlt vierzig Grad hier drin, aber das ist egal. Was zählt, sind die zwei hölzernen Stöcke in meinen Händen und das vertraute Vibrieren in meiner Brust.

»Fünf, sechs, sieben, acht. Dein Einsatz, Toni!«, ruft Aaron und beugt sich so weit nach vorn, dass ihm seine langen Haare in die Stirn fallen, während seine Finger über die stählernen Saiten der E-Gitarre fliegen. Auch Aaron atmet schwer, doch an eine Pause denkt keiner von uns beiden.

Um uns herum ist Musik. Laute, dröhnende, vibrierende Musik. In mir drin ist alles ruhig. Meine Hände zittern nicht, sie schlagen konzentriert und bestimmt auf die Snare und das Becken. Mein Herz pocht im Takt, und ich will nicht, dass es jemals endet.

Doch das tut es. Aaron singt die letzte Zeile, ich lasse die Bassdrum ausklingen und wische mir danach über die schweißbedeckte Stirn. Aarons verklärter Blick trifft meinen. Es ist dieser süchtig machende Rausch, der uns alles andere vergessen lässt. Wenn wir zusammen spielen sind wir nicht mehr Toni und Aaron, die Kinder der Hausmeisterin und des verurteilten Steuerbetrügers. Während wir spielen, können wir alles sein.

Aarons Atem geht schwer, er nimmt sich das Bandana vom Kopf, verstrubbelt seine braunen Haare und zieht es wieder über.

»Scheiße, ich liebe Holiday. Dieses Lied ist auf allen Ebenen genial!«

»Schreib Green Day doch ’nen Fanbrief«, meine ich und versuche meine losen Strähnen wieder in einem Zopf zusammenzufassen.

»Klar doch. Wenn du mir ’ne Seite von deinem Diddl-Block leihst.«

Ich strecke ihm die Zunge raus, und er löst den Gitarrengurt von seinen Schultern.

»Ich vertrockne hier drin gleich. Hast du Wasser dabei, Tones?«

Seine Stimme klingt rauer als sonst, immerhin hat er seit fast zwei Stunden ununterbrochen gesungen. Ich mag das Kratzige, das sich dann in seine Worte legt.

»Ich hab dich vorhin noch gefragt, da meintest du, wir brauchen nichts zu trinken«, erinnere ich ihn.

»Ja, ja, ich bin mal wieder schuld.« Er grinst. »Na dann los, besorgen wir uns was Eisgekühltes. Gott, für ’ne Cola würde ich jetzt töten!«

»Wir müssen noch aufräumen«, erinnere ich ihn. Immerhin darf niemand wissen, dass wir hier waren.

Aaron sieht sich in dem kleinen Musikzimmer um. Das Klavier haben wir an die Seite geschoben, neben die Bänke und Stühle, die dort vor den Ferien schon aufgereiht wurden.

»Okay, Miss Perfect, aber dann pack mit an. Ich habe keine Lust, hier drinnen zu verdursten.«

»Weißt du, der menschliche Körper hält bis zu drei Tage ohne Flüssigkeit aus.«

Aaron zeigt mir den Mittelfinger, räumt aber die E-Gitarre zurück in den Koffer und verstaut sie ordentlich im Schrank. Danach hilft er mir, die schwarze Plane über das Schlagzeug zu wuchten.

Vor drei Jahren hat er mich das erste Mal hier hineingeschmuggelt. Es war der Sommer vor meinem ersten Schuljahr. Mama hatte bereits in den Ferien mit ihrer Tätigkeit als Hausmeisterin begonnen, und Aaron hat eines Abends ihren Schlüssel geklaut. Ich weiß noch, wie viel Angst ich hatte, entdeckt zu werden. Aber wir hatten Glück. Seitdem haben wir die meisten unserer Ferientage hier verbracht. Weil es wenige Orte gab, die wir sonst hätten besuchen können.

In diesen drei Jahren hat Aaron mir das Schlagzeug spielen beigebracht. Wenn ich daran denke, dass ich früher nicht einmal wusste, was der Unterschied zwischen einer Viertel- und einer Achtelnote ist …

»Tones, was ist denn? Komm schon, ehrlich jetzt, ich halte es nicht mehr lange aus!« Er sieht mich leidend an und legt sogar seine Handflächen aneinander, um eine betende Geste nachzustellen.

Lachend schüttle ich den Kopf.

»Ich komm ja schon, meine Güte.«

Ich schließe die Tür hinter mir, drehe den Schlüssel im Schloss und beeile mich, Aaron durch die Gänge zu folgen.

Die Alarmanlage am Haupteingang umgehen wir, indem wir uns aus einem kleinen Fenster in der Internatsküche zwängen, auf das Dach der danebenliegenden Garage springen und entlang der Efeuranke nach unten klettern.

Erst als unsere Füße das ausgetrocknete Gras berühren, atme ich aus.

»Du hast echt immer noch Schiss, dass wir erwischt werden, oder?« Aaron sieht mich belustigt an.

Ich erwidere nichts, denn ich weiß nur zu gut, was passieren würde, wenn sie Aaron auf dem Gelände entdecken würden, und er weiß das auch.

Er seufzt. »Sag mir, dass dir das heute keinen Spaß gemacht hat.«

»Ich will nur nicht, dass sie dich erwischen«, gebe ich zu. Aaron tritt zu mir und legt mir seine Hand auf die Schulter. Seine Finger sind durch das viele Spielen ganz rau. »Mich erwischt keiner, Schwesterherz. Mach dir keine Sorgen.«

Ich schenke ihm ein halbes Lächeln, weil ich weiß, dass das unmöglich ist.

LOW-BUDGET-SOMMERFERIEN

Im Gegensatz zu jedem anderen Teenie in diesem Land, sehne ich das Ende der Sommerferien herbei. Während meine Freundinnen durch ferne Länder reisen und an den schönsten Orten dieser Welt Urlaub machen, bin ich hier.

Mein Blick flackert zu den hohen Internatsmauern, die von der Mittagssonne beschienen werden. Es gibt schlimmere Orte, um seine Ferien zu verbringen: Das alte Schloss mit den hohen Türmen und den vielen Fenstern ragt anmutig in die Höhe. In seinem Schatten befinden sich kleine Gärten und die Sportplätze. Nicht zu vergessen: Der private Strandabschnitt, der ebenfalls zum Schloss gehört und den ich über alles liebe.

Dennoch ist es immer das Gleiche. Seit drei Jahren leben wir in dem kleinen Hausmeisterinnenhaus auf dem Gelände, und während ich auf Instagram sehe, wie meine Freundinnen Fünf-Gänge-Menüs essen, jeden Tag eine neue Stadt erkunden und in den teuersten Läden shoppen gehen, wärme ich mir die Reste von gestern auf und schaue Reisevlogs auf YouTube oder Netflix. Ich könnte auch Bilder vom Strand posten, immerhin befindet sich das Internat Schloss Mare direkt an der Nordsee. Doch diese Dünen würden meine Freundinnen auf den Bildern sofort erkennen.

An ebendiesem Strand liegen Aaron und ich und lassen uns die Augustsonne ins Gesicht scheinen. Mein Bruder ist in ein Buch vertieft, während ich die Möwen über uns am Himmel beobachte und immer wieder auf den Countdown auf meinem Handy blicke. Noch fünf Tage und zwanzig Stunden, ehe ich meine beste Freundin Yuki und all die anderen wiedersehe. Diesmal haben sich die Sommerferien endlos gezogen.

Vielleicht ist es seltsam, sich auf die Schule zu freuen, aber es ist nicht der Unterricht, den ich vermisse, sondern die langen Gespräche mit Yuki, das Fußballtraining mit meinen Freundinnen und die ein oder andere nächtliche Party auf dem Internatsgelände.

»Und was erzählst du deinen Freundinnen dieses Mal, was wir in den Ferien gemacht haben?«, fragt Aaron und blinzelt mir über seine Sonnenbrille hinweg zu.

»Kamelreiten in Ägypten? Tiefseetauchen auf Bali?«

»Kamele sind nicht dafür gemacht, Menschen herumzutragen. Auch wenn das viele denken«, erwidere ich, weil ich mich an eine Doku erinnere, die Caro uns letzten Herbst gezeigt hat.

»Weiß ich doch. Selbst wenn ich steinreich wäre, würde ich mich mit dem Hintern auf kein Kamel setzen, keine Sorge.«

Doch Aarons Frage lässt mich nicht los, denn natürlich werden alle fragen, wie meine Ferien waren und was ich gemacht habe. Tja, bis auf Haushalt, Musik, Netflix und Chill – ohne den sexuellen Aspekt – war nicht viel los. Dabei gibt es durchaus Dinge, die ich hätte angehen können. Mir Gedanken um meine Zukunft machen, zum Beispiel. Vor meinem inneren Auge sehe ich Mamas vorwurfsvollen Blick, der mir Magenschmerzen bereitet. Ja, ich hätte mich mit möglichen Studiengängen und Ausbildungsplätzen auseinandersetzen können. Ja, ich hätte mich um einen Praktikumsplatz kümmern, oder mich über mögliche Stipendien informieren können. Aber ich komme erst in die Zwölfte. Ich habe noch zwei Jahre Zeit, um zu entscheiden, was ich für den Rest meines Lebens machen möchte. Bloß kein Druck oder so.

»Wirf mal die Sonnencreme rüber.«

»Hol sie dir doch selbst.«

Aaron erhebt sich stöhnend und wischt sich den Sand von den Knien. »Ich bin ein alter Mann, Tones. Jetzt zwingst du mich auch noch, mich zu bewegen!« Während er die zwei Schritte zu mir läuft, hält er sich mit schmerzverzerrtem Gesicht den Rücken und humpelt über den Sand.

»Soll ich dir deinen Stock bringen?«

»Nein, danke, es geht gerade noch.«

Lachend lässt er sich neben mich aufs Handtuch fallen und befördert eine Ladung Sand auf meine frisch eingecremten Beine.

»Danke für die Sanddusche.«

»Immer wieder gerne.« Er greift nach der Tube Sonnencreme, die neben mir liegt.

Während er sein kantiges Gesicht mit der weißen Creme einschmiert, sieht er mich unablässig an.

»Was?«, frage ich leicht genervt.

»Nichts.«

Ich schnaube.

»Ich sag doch gar nichts.«

»Oh doch. Dein Blick sagt alles.«

Er lacht. »Komm schon, willst du echt den ganzen Tag hier rumliegen? Ich verbrenne schon.«

Die Sache ist die: Aaron kann nicht lange still sitzen. Das konnte er noch nie. Wir liegen erst seit einer Stunde hier am Strand und doch hat er schon wieder Hummeln im Hintern. Ich hingegen genieße es, einmal nicht zu Hause bei unseren Eltern zu sein. In der kleinen Wohnung ist es viel zu stickig.

»Was willst du denn machen?«, frage ich schließlich, obwohl ich gerne noch etwas länger hier gelegen hätte.

Aaron springt auf und grinst mich an.

»Lass uns in die Stadt fahren.«

»In diesem Outfit?«

Aaron trägt nur seine hellblaue Badehose und das bunte Bandana. Ich mein Bikini-Oberteil und eine kurze Jeansshorts.

»Wieso eigentlich nicht? Ich hab nichts zu verbergen.« Er wackelt mit seinen Hüften und schmiert sich etwas Sonnencreme auf die nackte Brust.

»Du bist unmöglich.«

»Nein, ich bin gelangweilt. In sechs Tagen verschwindest du wieder hinter diesen Mauern, und ich sitze in der Berufsschule. Komm schon, Tones.«

Er beugt sich noch weiter zu mir und setzt seinen perfekten Bambi-Blick auf.

»Bitte.«

Ich kann nicht länger ernst bleiben und erhebe mich. Heute früh hat Yuki mir Bilder von ihrer Aussicht aus einem Hotel in Madrid geschickt. Ich kann hier sitzen und mich darüber aufregen, dass ich allein in diesem Kaff zurückgeblieben bin, oder ich kann Zeit mit meinem Bruder verbringen.

»Na schön.«

Aaron strahlt mir entgegen und beginnt dann, sein Handtuch auszuklopfen.

Ich werfe einen letzten Blick auf mein Handy. Meinen Freundinnen habe ich erzählt, dass ich mit meinen Eltern auf einer entlegenen Insel Urlaub mache und schlechten Empfang habe. Das ist meine Ausrede, wieso ich ihnen keine Bilder schicken kann. Ich will sie nicht anlügen, aber diese Lüge ist schon so alt, dass es fast unmöglich scheint, ihnen jetzt die Wahrheit zu sagen.

Nur ganz kurz klicke ich auf den Chat mit Lukas. Er hat ein neues Profilbild, auf dem er in die Kamera strahlt. Im Hintergrund ist ein unscharfes Gebäude zu sehen. Fast niemand am Internat weiß um seine Herkunft, doch ich erkenne das Schloss. Ich weiß, wie die Sommerresidenz seiner Eltern aussieht.

Lukas’ Lachen hat sich nicht verändert. Das kleine Grübchen auf der linken Wange, die warmen Augen. Der Stich in meinem Herzen ist dumpf, und doch ist er nach zwei Jahren immer noch da.

»Schmachtest du mal wieder deinem Prinzen hinterher?«

Ich zucke zusammen, als ich bemerke, dass Aaron neben mir steht und auf meinen Bildschirm schaut.

Wieder einmal verfluche ich, dass ich ihm damals alles von Lukas und mir erzählt habe.

»Man wird ja wohl noch ein Bild anschauen dürfen.«

»Du quälst dich damit selbst, das weißt du?«

Ich erwidere nichts darauf, sondern fahre fort, meine Sachen in die Tasche zu stopfen, und Aaron versteht, dass ich nicht länger darüber reden möchte. Dass er nicht weiterbohrt, ist einer der Gründe, wieso ich ihn gerne um mich habe. Sicher, wir streiten uns auch mal und gehen uns gegenseitig auf die Nerven, aber wir kennen die Grenzen des anderen.

Zu Hause ist es still. Mama ist arbeiten und Papa hat sich wie immer in seinem Zimmer verkrochen. Wir ziehen uns nur schnell um und sind kurz darauf schon wieder draußen und auf dem Weg zur nächsten Bushaltestelle.

Rund um das Internat gibt es so gut wie nichts. Nur ein Küstendorf, in dem Jahr für Jahr mehr Menschen Urlaub machen. Einen Großeinkauf kann man dort allerdings nicht machen, dafür muss man eine halbe Stunde in die nächstgrößere Stadt fahren.

Aaron und ich setzen uns nebeneinander, und er reicht mir seinen linken Kopfhörer.

»Was willst du hören?«, fragt er und holt sein Handy hervor.

»Etwas, das zu diesem Moment passt.«

Er lächelt, als er beginnt, auf sein Handy zu tippen. Aaron besitzt das Talent, immer das perfekte Lied zu finden. Du weinst, weil du eine schlechte Note geschrieben hast? Er weiß, welcher Song dich aufmuntert. Du verbringst einen tollen Tag mit deinen Freundinnen und suchst nach der perfekten Playlist? Er stellt sie dir zusammen. Du schließt dich in deinem Zimmer ein und heulst dich in den Schlaf, weil du deinen ersten großen Liebeskummer hast? Er schiebt einen Zettel unter deiner Tür hindurch, auf dem ein Lied steht, das genau ausdrückt, wie du dich fühlst und das dir dennoch sagt: Es wird besser.

Aaron und ich sind vielleicht nicht immer gut darin, über unsere Gefühle zu sprechen, aber wenn es um Musik geht, brauchen wir keine Worte.

Auch heute wählt er ein Lied aus, das zu diesem schönen Sommertag passt. Ich kenne es bereits, immerhin ist es ein Klassiker meiner Lieblingsband Panic! at the Disco, aber das macht es fast noch besser. Das Lied versprüht eine Leichtigkeit, die beinahe greifbar ist. Ich trommle den Takt auf meinem Oberschenkel und sehe die trockenen Wiesen und Felder vor dem Fenster vorbeiziehen.

Als wir die Endhaltestelle erreichen, bin ich fast traurig, dass dieser ganz persönliche Soundtrack zu meinem Leben nun vorbei ist. Wenn es ginge, würde ich immer Musik hören. Weil ich mich dadurch sicherer fühle und verstanden. Ohne Musik bin ich schutzlos der Außenwelt ausgeliefert. Deswegen saß ich früher oft mit Kopfhörern am Tisch und habe die lauten Gespräche zwischen meinen Eltern ausgeblendet. Das mache ich auch heute noch, obwohl ich ganz genau weiß, dass Mama es hasst.

Seit ich auf das Internat gehe, höre ich weniger Musik. Weil es dort Menschen gibt, mit denen ich gerne rede. Wenn ich mit meinen Freundinnen zusammen bin, dann brauche ich keine Melodien, die mich vor der Realität beschützen.

Ich reiche Aaron seinen Kopfhörer und folge ihm aus dem Bus.

»Also, was wollen wir machen?« Aaron dreht sich einmal im Kreis und scheint überfordert von all unseren Optionen. Die nächstgrößere Stadt besitzt eine richtige Einkaufsstraße, ein kleines Kino und jede Menge Restaurants und Cafès. Wir kommen nicht oft hierher, weil die meisten Aktivitäten mit Geld verbunden sind und wir beide nicht gerade viel besitzen, aber ich weiß, an welchem Ort Aaron am glücklichsten ist, also schlage ich den großen Musikladen in einer der Parallelstraßen vor. Dort kann man auf den teuersten Instrumenten Probespielen. Mittlerweile kennt uns der Besitzer und weiß, dass wir uns niemals eine seiner Gitarren oder Pianos leisten können, dennoch hat er uns noch nie hinausgeworfen.

Aaron strahlt, als wir durch die große Schwingtür gehen und den klimatisierten Empfangsbereich betreten. Ich atme die kühle Luft ein und lasse den Blick über die glänzenden Flügel gleiten.

Aaron jedoch ist schon auf halbem Weg nach oben in den ersten Stock und dreht sich auf der Treppe zu mir um.

»Kommst du?«, fragt er aufgeregt wie ein kleiner Junge, dann rennt er die letzten Stufen nach oben und verschwindet aus meinem Sichtfeld.

Der Metallgriff der Treppe fühlt sich kühl und vertraut an, als ich meinem Bruder in den ersten Stock folge. Er steht bereits vor einem Podest, auf dem die neuesten Modelle vorgestellt werden, und berührt ehrfürchtig den schlanken Hals einer E-Gitarre.

»Schau dir diese Schönheit an, Tones.«

Ich bewundere das Instrument ebenfalls. Ich habe nie gelernt, Gitarre zu spielen, aber ich weiß, welche Töne Aaron ihr entlocken kann, und erkenne auch den Unterschied, den die verschiedenen Holzarten mit sich bringen.

»Wenn du einmal Probespielen möchtest, bisher sind alle Räume frei.« Eine Verkäuferin ist zu uns getreten und zeigt auf die schalldichten Räume, die mit Plexiglas versehen sind. Man kann hineinsehen, hört aber nicht, wenn darin gespielt wird.

Aarons Hand berührt die Gitarre, dann hebt er sie vorsichtig vom Podest.

»Danke, ich weiß jetzt schon, dass sie wunderbar klingen wird.«

»Spielst du auch?«, fragt die Verkäuferin, woraufhin ich den Kopf schüttele.

»Keine Gitarre, nein.«

»Sie spielt Schlagzeug«, erklärt Aaron und klingt dabei besonders stolz.

»Aber nur so zum Spaß«, werfe ich schnell hinterher. Ich will nicht, dass mir die Verkäuferin ihre neuesten Schlagzeuge zeigt. Ich kann sie mir sowieso nicht leisten und hätte Angst, mich in eins davon zu verlieben.

Aaron öffnet die Tür zu einem der Räume und winkt mir, ihm zu folgen. Ich lasse mich auf dem Drehstuhl nieder und beobachte, wie er die Gitarre zu stimmen beginnt.

»Irgendwelche besonderen Wünsche, Schwesterherz?«, fragt er und sieht zu mir.

Dabei weiß er ganz genau, welches Lied ich jedes Mal von ihm hören möchte: In Too Deep von Sum 41. Das erste Mal hat er ihn mir vorgespielt, als ich zwei Tage lang nicht aus meinem Zimmer kam, weil einfach alles zu viel war. Er stand vor meiner Tür und spielte den Song so lange und so laut, bis ich aus meinem Bett kroch und die Tür öffnete. Seitdem spielt er ihn jedes Mal, wenn es mir schlecht geht, springt dabei in die Höhe und wirft seine Haare durch die Luft. So auch dieses Mal. Nur ist er mit der Gitarre etwas vorsichtiger, immerhin will er sie nicht kaputt machen.

Aarons Stimme erfüllt den Raum. Er selbst sagt von sich, dass er wesentlich besser spielen als singen könne. Ich sehe das nicht so.

Aaron spielt insgesamt drei Songs, dann stellt er die Gitarre wieder an ihren Platz und kommt mit einer hellbraunen Akustikgitarre mit silbernen Applikationen wieder.

Ich höre zu, wie er ein Lied spielt, das ich mit der Zeit unseres Umzugs verbinde, und lasse meinen Blick durch den Laden schweifen. Vor vier Jahren wohnten wir noch in einem kleinen Wohnwagen östlich von hier. Es waren nur sechs Monate, doch ich werde diesen kalten Winter und meinen zugigen Schlafplatz nicht vergessen. Damals fühlte es sich an wie das Ende der Welt. Mama schien am Boden zerstört, Aaron wie erstarrt und ich … Ich fühlte irgendwann gar nichts mehr.

Dann kam Aarons Stimme zurück und irgendwie brachte sie Wärme in unseren Wohnwagen. Sie sorgte dafür, dass Mama morgens wieder aufstand und sich auf die Suche nach einem Job machte. Seine Musik schenkte uns Hoffnung.

»Tones, wieso weinst du?« Aaron klingt bestürzt.

»Ist sehr staubig hier drin«, murmle ich und blinzle die Tränen fort.

Aaron versteht sofort was los ist und legt die Gitarre zur Seite, dann greift er nach meiner Hand.

»Du warst wieder da, oder? Wieso gehst du immer zu diesem blöden Wohnwagen zurück?«

»Will ich doch gar nicht!«

Aaron sieht mich an. »Du weißt, was wir uns geschworen haben.«

Ich nicke. »Wir gehen nie wieder dorthin.«

»Nie wieder. Unser Leben wird großartig, Tones! Sieh uns nur an. Ich werde der erste Bootsbauer, der später als Gitarrist durchstartet, und du machst deinen Abschluss an einem Elite-Internat. Ich mein, besser kann’s doch echt nicht laufen.« Er legt mir die Hand auf die Schulter, und ich rieche sein Axe-Deo. An anderen Jungs mag ich diesen Geruch nicht, aber zu Aaron passt er.

»Okay, ich hab Hunger. Bock auf Burger?«

Überrumpelt von diesem schnellen Themenwechsel, nicke ich nur und frage mich insgeheim, ob mein Taschengeld reicht, um essen zu gehen. Doch da wir die letzten Wochen über fast immer zu Hause gegessen haben, sollte das drin sein.

»Geh schon mal vor, Schwesterherz«, sagt er, als wir bereits vor dem Ausgang stehen.

»Wieso das denn?«, frage ich.

»Geh einfach schon mal raus, ich hatte gerade eine Idee für dein Geburtstagsgeschenk.« Er zwinkert mir zu, also ergebe ich mich und verlasse den Laden.

Kurz darauf sitzen wir uns in einem kleinen Restaurant gegenüber, das es sich offenbar zum Ziel gesetzt hat, so amerikanisch wie möglich auszusehen. Die knallroten Ledersitze, die Metalltische und die rot-weiß gestreiften Wände könnten genauso gut in San Francisco oder Los Angeles stehen.

Aaron holt uns eine große Tüte Pommes und zwei Burger. Wir teilen uns die Fritten, ich esse seine Gurken und er meine Tomate.

Schöne Tage wie diese vergehen immer viel zu schnell. Für ein paar Stunden vergesse ich, dass ich schon bald wieder so tun werde, als ob es Aaron gar nicht gäbe.

DER PERFEKTE SCHEIN

Noch drei Tage bis zum Ferienende. Das verrät mir mein Handy-Countdown, als ich an diesem Donnerstagmorgen aufwache. Am Sonntag kehren alle ans Internat zurück, und ab Montag startet das neue Schuljahr. Die letzten Tage mit Aaron waren wunderschön. Wir haben uns im Internatskino die Langfassung von Der Herr der Ringe angesehen, dabei selbstgemachtes Popcorn gegessen und später den ganzen Abend den Soundtrack gehört. So lange, bis Mama sich beschwert hat, dass sie morgen früh rausmüsse. Also haben wir am nächsten Tag Pizza gebacken, um ihr etwas Arbeit abzunehmen, und sogar unsere Wäsche gemacht. Etwas, das sonst gerne einmal liegen bleibt. Allein dieser Fakt zeigt, dass uns langweilig wurde.

Nur spätabends ist Aaron meistens verschwunden, um sich mit seinen Freunden zu treffen. Er sagt, sie seien schlechter Umgang für mich, aber was soll das bitte heißen? Wieso verbringt er denn dann Zeit mit ihnen? Aber gut, ich darf mich nicht beschweren, immerhin halte ich meine Freundinnen genauso geheim vor ihm. Fast niemand am Internat weiß, wer meine Eltern sind, deswegen kennen sie auch Aaron nicht. In ihren Augen bin ich die einzige Tochter eines reichen Ärztepaares.

Als ich vor drei Jahren ans Internat kam, hat Mama mir zu dieser Lüge geraten. Sie meinte, so sei es einfacher, schnell Anschluss zu finden. Außerdem wollte sie nicht, dass ich sie auf dem Gang mit »Mama« ansprach. »Niemand soll wissen, dass deine Mutter als Hausmeisterin arbeitet, Antonia.« Das waren damals ihre Worte.

Gestern war wieder einer dieser Abende, an denen Aaron nach dem Essen mit seinem Longboard weggefahren ist. Ich lag ewig wach und habe mir ausgemalt, mit was für Menschen er seine Zeit verbringt. Auf unserer alten Schule hatte er einen großen Freundeskreis und war sehr beliebt. Ab und zu brachte er sogar jemanden mit nach Hause, aber das hörte schlagartig auf, als wir in den Wohnwagen zogen. So wie sich auch alles andere mit diesem Umzug verändert hat.

Aaron kam heute Nacht erst um kurz nach zwei heim, doch da war ich immer noch wach und sah mir alte Bilder auf meinem Handy an. Keine gute Idee. Denn natürlich war auch Lukas auf einigen zu sehen. Er ist Ricks bester Freund, und Rick ist der feste Freund meiner besten Freundin. Alles sehr verzwickt. Man sollte meinen, ich hätte mich daran gewöhnt, in seiner Nähe zu sein und ihn als Kumpel anzusehen. Aber so einfach ist das nicht.

Irgendwann muss ich doch eingeschlafen sein, denn mein Handy liegt direkt neben meinem Kopfkissen, als ich aufwache und die heiße Sonne bereits in mein Zimmer scheint.

»Toni, bist du wach?«, höre ich die Stimme meiner Mutter von unten.

»Komme gleich«, rufe ich und rolle mich langsam aus dem Bett. Wieso ist es schon so warm?

Irgendwie schaffe ich es dennoch aufzustehen und zu meinem Kleiderschrank zu gehen. Die Klamotten vor mir erinnern mich daran, dass ich endlich anfangen sollte, meine Sachen für das Internat zu packen, doch der leere Koffer steht noch immer neben meinem Bett.

Ich entscheide mich für meine Standard-Kombi an heißen Tagen: Shorts und weites T-Shirt. Meine Haare machen mich auch schon wieder wahnsinnig, weil sie viel zu lang sind und mir im Nacken kleben, also fasse ich sie in einem hohen Zopf zusammen und laufe dann nach unten in die Küche.

»Morgen, Schatz.«

Mama steht in Arbeitsklamotten an der Theke und trinkt eine Tasse Kaffee. Ihre Haare haben den gleichen dunkelblonden Ton wie meine, sind aber nur kinnlang.

Ich sehe sie überrascht an. Normalerweise ist Donnerstag ihr freier Tag. Meistens werden die Ferien genutzt, um anstehende Reparaturen am Internat durchzuführen. Dieses Jahr wurde die Cafeteria renoviert, und Mama und die anderen aus ihrem Team hatten alle Hände voll zu tun. Mittlerweile sollten die Renovierungen allerdings abgeschlossen sein.

»Musst du arbeiten?«

»Ich springe für eine Kollegin ein. Wir haben ein Leck in der Sporthalle. So kurz vor Schulbeginn muss immer etwas kaputtgehen. Sei so lieb und weck Aaron. Ihr beide müsst den Wocheneinkauf übernehmen, das schaffe ich einfach nicht.«

»Klar, kein Problem.«

Früher haben Mama und ich viel miteinander geredet und gelacht. Hatten Mutter-Tochter-Tage, an denen wir uns riesige Eisbecher bestellten und stundenlang durch die Stadt bummelten. Die Zeit im Wohnwagen hat unsere Beziehung verändert. Natürlich liegt es auch daran, dass wir jetzt deutlich weniger Geld haben, aber das ist nicht der einzige Grund. Unser Verhältnis ist kühler geworden, auch wenn ich weiß, dass sie mich liebt.

Vielleicht gehört das zum Erwachsenwerden dazu, aber manchmal wünsche ich mir unsere Gespräche zurück. Die, bei denen wir nicht über ihre Arbeit, den Haushalt oder meine Zukunft reden. Doch ich tue nichts, um etwas an der Situation zu ändern. Ich halte sie auf Abstand. Wie alle anderen auch.

Sie lächelt müde. »Danke dir. Wir sehen uns heute Abend.«

Sie stellt die leere Tasse in die Spüle und sucht dann nach ihren Schlüsseln, die heute auf dem Kühlschrank liegen. Ehe sie aus der Tür tritt, dreht sie sich noch einmal zu mir um.

»Ach, Antonia?«

»Ja?«

»Dein Vater kann euch zum Supermarkt fahren.«

Ich höre auf, mein Toast zu schmieren und sehe sie an.

»Muss das sein?«

»Antonia, bitte.«

Allein, dass sie diesen Vorschlag gemacht hat, bedeutet, dass er heute einen seiner guten Tage hat.

»Alles klar, ich geh Aaron wecken.«

»Danke! Hab einen schönen Tag.«

Sie winkt mir zu, und wenig später höre ich die Haustür ins Schloss fallen.

»Wir sollen was?« Aaron ist noch viel zu verschlafen, um mich zu verstehen. Seine Augen sind verquollen, und seine Haare riechen nach Rauch. Ich frage mich, ob er und seine Freunde gestern ein Lagerfeuer gemacht haben, denn von Zigaretten hält er sich normalerweise fern.

»Papa soll uns zum Supermarkt fahren.«

Aaron stöhnt und lässt sich zurück ins Bett fallen. Heute trägt er ein ausgewaschenes Shirt, auf dem die vier Teletubbies abgebildet sind. Das wäre nicht meine erste Wahl, aber an Aaron sieht irgendwie alles cool aus.

»Das schafft er schon«, fahre ich fort.

»Um ihn mache ich mir auch keine Sorgen. Wir müssen die Fahrt mit ihm überleben.« Ich weiß genau, was er meint.

»Komm, zieh dich an. Je eher wir fahren, desto schneller haben wir es hinter uns. Als Belohnung können wir nachher auf jeden Fall noch eine Folge Türkisch für Anfänger gucken.«

Damit habe ich ihn. Bei Serien aus unserer Kindheit wird er immer schwach. Er krabbelt aus dem Bett und verschwindet wenig später im Bad.

Jetzt muss ich nur noch unseren Vater dazu bringen, sich anzuziehen, das könnte deutlich schwerer werden.

Doch ich täusche mich. Mama hat ihm wohl bereits Anziehsachen rausgelegt, denn als ich die Tür zum Schlafzimmer öffne, ist es leer. Stattdessen entdecke ich ihn unten am Esszimmertisch. Das Radio läuft, und er schält sich gerade eine Orange. Kurz bin ich überrascht von diesem Anblick, dann reiße ich mich zusammen.

»Guten Morgen.«

Sein Blick flackert zu mir. »Hallo.« Seine Stimme klingt neutral. Er hat sich rasiert, und sein Hemd ist richtig geknöpft, doch der Ausdruck in seinen Augen hat sich nicht verändert, und seine Haut sieht fahl und kränklich aus, was daran liegt, dass er so selten das Haus verlässt.

Manchmal erinnere ich mich daran, wie es früher war. Wie sein Lachen klang, wenn er Aaron oder mich durch die Luft gewirbelt hat. Ich sehe das Funkeln in seinen Augen und vergleiche es mit dem toten Ausdruck von jetzt. Früher war ich wütend auf ihn, wegen alldem, was passiert ist, heute empfinde ich nur Mitleid. Und ich vermisse ihn. Ich vermisse den Vater, den ich vor vielen Jahren einmal hatte.

»Mama hat gesagt, du fährst uns heute zum Supermarkt?«

»So sieht’s wohl aus. Ist Aaron wach?«

Ich nicke, und dann weiß ich nicht, was ich noch sagen soll. Weil es so selten passiert, dass wir miteinander reden. Wir sind zwei Fremde, die unter einem Dach leben und die gleiche Blutgruppe teilen.

Als Aaron in die Küche tritt, atme ich auf.

»Wollen wir?«, fragt er. Seine Haare sind noch feucht vom Duschen, und sein Bandana sitzt perfekt.

Er strahlt so viel Positivität aus, dass sie fast auf Papa und mich überschwappt.

Wir verlassen das Haus und sitzen kurze Zeit später im Auto. Aaron auf dem Beifahrersitz, ich hinter ihm auf der Rückbank. Ich beobachte Papas routinierte Griffe. Wie er den Schalthebel betätigt und um die Kurven fährt. Autofahren kann er immer noch. Das ist eines der wenigen Dinge, die ihm keine Probleme bereiten. Manchmal frage ich mich, ob Aaron deswegen noch nicht seinen Führerschein gemacht hat. Damit Papa etwas hat, in dem er der Beste ist.

Aaron dreht das Autoradio lauter und stellt dann eine Frage zu den Nachrichten. Irgendein politisches Thema, von dem ich keine Ahnung habe. Papa antwortet jedoch, und es entsteht sogar ein abgehackter Dialog. Aaron weiß immer, wie er mit ihm sprechen kann. Darum beneide ich ihn.

Wir parken vor dem Laden, und Papa begleitet uns sogar mit hinein. Er schiebt den Wagen, während wir Mamas Liste abarbeiten und die wichtigsten Lebensmittel einladen. Dabei reden wir nicht viel. Ich will nur nicht zu lange hierbleiben. Unterbewusst habe ich immer Angst, auf Personen aus dem Internat zu treffen, die früher aus den Ferien zurückgekommen sind und mich und meine Familie entdecken könnten. Dabei ist dieser Supermarkt nicht einmal in der Nähe des Internats, und doch … Was, wenn Papas gute Phase endet und er sich wieder seltsam verhält?

»So, nur noch eine Tüte Salzbrezeln, dann haben wir alles.« Aaron hakt den vorletzten Punkt auf Mamas Liste ab.

»Nur eine Tüte? Eure Mutter verputzt die doch an einem Abend.«

Aaron und ich sehen uns an. Hat er gerade einen Witz gemacht? Und dann lacht er tatsächlich kurz auf und sieht uns an.

»Lasst uns zwei Packungen kaufen.«

»Ich hole sie sofort!« Aaron strahlt und läuft in den nächsten Gang zu den Snacks.

Im Nachhinein betrachtet hätte ich wissen müssen, dass dieses kurze Lachen unseres Vaters der Höhepunkt des Tages sein würde. Es hätte mir klar sein müssen, aber in diesem Moment mache ich denselben Fehler wie Aaron: Ich freue mich zu sehr darüber.

Es passiert, als wir bereits an der Kasse stehen. Papa und Aaron laden die Sachen auf das Band, und ich suche in meiner Tasche nach dem Pfandbon. Als wir an der Reihe sind, mustert mich der Kassierer einen Moment zu lange. Dann fliegt sein Blick zurück zu Papa.

»Paul?« Die Stimme des Mannes klingt überrascht, und da liegt definitiv so etwas wie Erkenntnis in seinem Blick.

»Bist du das?«

Ich drehe mich zu Papa, der mitten in der Bewegung innegehalten hat und wie versteinert zum Kassierer sieht.

»Mann, wusste ich doch, dass ich die Stimme irgendwoher kenne. Sind das deine Kinder?«

Der Kassierer mustert Aaron und mich, und mir wird eiskalt. Er sieht jünger aus als Papa, aber seine Augen wirken ebenfalls müde.

Papa sagt kein Wort. Stattdessen schiebt er mich vorwärts.

»Sie müssen mich verwechseln«, sagt er mit eiskalter Stimme.

Der Kassierer zuckt unmerklich zusammen, dann nickt er, so als verstünde er etwas, das ich beim besten Willen nicht verstehe.

»Alles klärchen. Ich wünsch dir alles Gute.«

Er nennt uns den Preis, wir bezahlen und laufen schweigend zum Auto.

Aaron und ich laden den Einkauf in den Kofferraum, während sich unser Vater einfach auf den Fahrersitz setzt und kein Wort sagt.

Im letzten Jahr gab es schon einmal eine ähnliche Begegnung mit einem Mitarbeiter an einer Tankstelle. Mir hätte klar sein müssen, dass solche Situationen immer wieder passieren können. Immerhin gibt es für das ganze Gebiet hier nur ein Gefängnis.

Wir schweigen den ganzen Weg bis nach Hause. Es ist die Art von Stille, die sich über alles andere legt, auf deinen Magen drückt und dich frösteln lässt, obwohl es draußen über dreißig Grad hat.

Sobald wir zu Hause sind, zieht Papa sich in sein Zimmer zurück. Aaron und ich verstauen die Einkäufe im Kühlschrank, und als ich nach der letzten Packung Milch greife, nimmt Aaron sie mir ab.

»Ich mach das schon.«

»Danke.«

Später liege ich in meinem Bett und frage mich, ob das jemals aufhört. Ob es irgendwann einmal wieder so wird wie früher. Vor Papas Verhaftung. Langsam verliere ich die Hoffnung.

Ein leises Klopfen lässt mich aufschrecken. Hoffentlich ist das nicht Mama. Sie kam vorhin von der Arbeit nach Hause und hat sich nur schnell eine Dosensuppe warm gemacht. Ich bin extra nicht runtergegangen, um nicht mit ihr über den heutigen Tag sprechen zu müssen.

Als sich die Tür öffnet, ist es jedoch Aaron, der seinen Kopf hereinsteckt. Er trägt bereits sein Teletubbies-Shirt und balanciert einen großen Teller in seiner Hand.

»Hunger?«, fragt er.

Ich rieche den gebackenen Camembert, ehe ich ihn sehe.

»Ein wenig«, antworte ich nur, um meinen knurrenden Magen zu übertönen. Aaron lächelt und schließt die Tür hinter sich.

Wir reden nicht darüber, was heute passiert ist. Stattdessen setzt Aaron sich neben mich aufs Bett, ich hole meinen Laptop heraus und starte die erste Staffel Türkisch für Anfänger, während er den Camembert in kleine Stückchen schneidet und die frischen Brotscheiben mit Butter bestreicht.

»Du hast die Preiselbeeren vergessen«, beschwere ich mich, doch er greift in seine Hosentasche und holt das Glas hervor. Was hat es nur mit diesen Männerhosen auf sich, in die einfach alles hineinpasst?

Die erste Folge der Serie startet, und wir essen Butterbrot mit warmem Camembert und Preiselbeeren. Jedes schlechte Erlebnis mit unserem Vater kratzt alte Wunden auf, doch Aaron schafft es jedes Mal, sie zu verarzten. Er beschmiert sie mit warmer Butter, dem vertrauten Axe-Deo-Geruch und seiner Anwesenheit.

Ich weiß nicht, was ich ohne ihn tun würde.

Viele Folgen später geht Aaron noch einmal in sein Zimmer und kommt kurz darauf mit seinem Kissen und einer Wasserflasche zurück.

»Darf ich heute bei dir schlafen?«, fragt er, und ich klopfe einladend auf mein Bett.

Es ist viel zu warm, um zu zweit unter der Decke zu liegen, doch ohne ihr Gewicht auf mir kann ich auch nicht schlafen.

»Tones?«, fragt Aaron, als der Abspann der letzten Folge über den Bildschirm läuft und es draußen vor dem Fenster schon wieder hell wird.

»Hm?«

»Ich will nicht, dass deine Ferien enden.«

Und erst da wird mir klar, wie egoistisch ich die ganze Zeit war. Ich freue mich darauf, meine Freundinnen wiederzusehen und endlich dem bedrückenden Gefühl zu entfliehen, das sich in unseren Wänden eingenistet hat, dabei lasse ich Aaron hier zurück. Auf mich wirkt es zwar immer so, als komme er mit alldem besser klar, aber was, wenn nicht? In wenigen Tagen ziehe ich in mein schönes Zimmer im Internat, und er bleibt hier.

»Ich wünschte, du könntest auch dort zur Schule gehen.«

»Schon okay. Ich könnte niemals so gut das reiche Arztkind mimen, wie du es tust.«

Schweigen.

»Spielen wir vorher noch mal zusammen?«, fragt er dann.

Ich drehe mich zu ihm. Seine Augen sind kleine Lichtpunkte in der Dunkelheit.

»Natürlich.«

Irgendwann im Morgengrauen schlafen wir beide ein.

BRUDER UND SCHWESTER

Es ist Samstagmittag. Wir sind vor der Hitze in den dunklen Musikraum geflüchtet, doch nun legt Aaron die Gitarre beiseite und sieht mich an.

»Lass uns ins Dorf fahren, wir müssen doch den letzten Ferientag feiern. Was hältst du von einem großen Eisbecher bei La Cremeria?«

Ich bin nicht bestechlich, aber wenn es um mein Lieblings-Eiscafè geht, mache ich eine Ausnahme.

»Okay, aber danach fahren wir direkt nach Hause, ich muss noch packen.«

Aaron salutiert. »Zu Befehl. Dann los, holen wir nur schnell unsere Boards.«

Wir verlassen das Internat und laufen entlang der Schlossmauer zurück nach Hause. Dort angekommen öffnet Aaron den kleinen Schuppen und kommt kurz darauf mit seinem lädiert aussehenden Long- und meinem Skateboard zurück. Auch zwei Wasserflaschen hat er besorgt. Er wirft mir eine davon zu, und ich fange sie noch im Flug.

»Reflexe wie eh und je«, Aaron lächelt, und dann fahren wir die Straße hinunter ins nahegelegene Dorf. Der kühle Fahrtwind fühlt sich fantastisch an, nach den Stunden in meinem stickigen Zimmer. Ich breite die Arme aus und lehne mich zurück, um das Gleichgewicht halten zu können. Aaron macht es mir nach.

»Das werde ich vermissen, Tones«, meint er, als wir nur noch wenige Hundert Meter vom Dorf entfernt sind.

»Longboard fahren?«, frage ich.

»Das kann ich doch auch ohne dich.« Er streckt mir die Zunge raus. »Nein, mit dir zusammen Musik zu machen. Ich könnte nach der Arbeit zu euch ins Internat schleichen, die Wege kenne ich ja …«

»Kommt nicht infrage.«

»Niemand würde mich sehen.«

»Dort wimmelt es ab morgen nur so von Menschen.«

Aaron sieht niedergeschlagen aus, doch ich kann ihm nicht helfen. Unser Internatsleiter ist nicht streng, aber wenn es um Vorstrafen geht, bleibt er hart.

»Ich komme jedes zweite Wochenende nach Hause«, versuche ich ihn zu trösten.

»Na schön, dann los, beeilen wir uns, sonst ist am Ende das Erdbeereis alle.« Er beschleunigt so schnell, dass ich Mühe habe, ihm zu folgen.

Als wir später unter einem Sonnenschirm der Eisdiele sitzen und gemeinsam aus einem großen Erdbeereisbecher löffeln, ist Aaron wieder bester Laune. Diesen schönen Sommertag will er uns beiden nicht vermiesen.

»Und, freust du dich, all die Bonzenkids wieder zu treffen?«, fragt er.

»Sag das nicht so. Sie sind echt in Ordnung«, verteidige ich Yuki und die anderen.

»Und wieso weiß dann keiner von ihnen, wo du wohnst?«

Ich wechsle schnell das Thema. »Das ist meine Sache. Freust du dich denn auf dein letztes Ausbildungsjahr?«

Erstaunlicherweise wird Aarons Lächeln noch breiter. »Ja, doch, ich freue mich.«

Ich starre ihn mit offenem Mund an. »Ich dachte, du hasst es da?«

Okay, hassen ist vielleicht übertrieben, aber in den ersten Monaten hatte Aaron durchgehend schlechte Laune und hat ständig über seinen Chef geschimpft. Er macht eine Ausbildung zum Bootsbauer, was ich mir spannend vorgestellt habe, doch in seinen Erzählungen klang es nach sehr viel Theorie. Aber mit seinen Vorstrafen war es nicht einfach, überhaupt einen Ausbildungsplatz zu finden, deswegen bin ich froh, dass sie ihn dort genommen haben, und ich glaube, Aaron ist das auch.

»Ach, weißt du, es ist eigentlich ganz okay.« Wieder dieses seltsame Lächeln. Was hat das zu bedeuten?

»Das freut mich. Übrigens sollten wir langsam wieder nach Hause«, meine ich, obwohl ich liebend gerne den ganzen Abend hier sitzen würde. Mittlerweile ist es nicht mehr drückend heiß, sondern angenehm warm, das goldene Licht der untergehenden Sonne liegt über der kleinen Dorfstraße, und der letzte Rest Erdbeereis tropft von meinem Löffel.

Eigentlich ein schöner Abschluss der Sommerferien, wenn da nicht noch das Abendessen mit unseren Eltern auf uns warten würde.

Aaron steht auf, legt der Bedienung das Geld auf den Tisch und schnappt sich dann sein Longboard.

»Da seid ihr ja. Wo habt ihr euch den ganzen Tag herumgetrieben? Aaron, dein Wäschekorb steht immer noch vor der Zimmertür. Er räumt sich nicht von alleine aus, und Antonia, ich hätte wirklich Hilfe beim Kochen gebrauchen können.«

»Tschuldige«, murmeln wir beide und drücken uns an unserer Mutter vorbei in den kühlen Flur.

»Was gibt es denn?«, fragt Aaron, nachdem er sich die Schuhe von den Füßen gestreift hat. Als er Mamas sauren Blick bemerkt, fügt er an: »Ich räume die Wäsche gleich ein, heiliges Oberehrenwort!« Er salutiert vor ihr und entlockt ihr damit sogar ein halbes Lächeln. Sie kann ihm nie lange böse sein.

»Na schön, wascht euch die Hände, dann wird gegessen.«

Später sitzen wir zu dritt am Tisch und essen stumm Mamas leckere Ofenkartoffeln mit Frikadellen und Salat. Allein für die selbstgemachten Frikadellen stand sie sicher ewig in der Küche. Mit ein Grund, wieso ich es nicht übers Herz bringe, ihr zu sagen, dass ich eigentlich kein Fleisch mehr esse. Am Internat ist es leicht, hier zu Hause nicht.

»Schön, dass wir mal wieder alle gemeinsam am Tisch sitzen.« Mama lächelt uns an, doch mein Blick ruht auf dem leeren Stuhl neben ihr. Weder Aaron noch ich fragen, wo unser Vater ist, stattdessen erzählt Aaron von unserem Tag im Dorf. Natürlich erwähnt er mit keinem Wort, dass wir eigentlich ins Internat eingebrochen sind, sondern schmückt seine Erzählungen mit vielen witzigen Anekdoten aus und sorgt dafür, dass Mama sich halbwegs entspannt und ihr Rücken gegen die Stuhllehne fällt. Heute wirkt sie müde, aber okay, was für ihre Verhältnisse schon sehr gut ist.

Ich lausche Aarons Stimme und dem Klang von Mamas Lachen, das seltsam klingt in der kleinen Küche mit der angegrauten Tapete.

Manchmal wünschte ich, ich könnte all die Last von ihren Schultern nehmen. Mit ihr und Aaron für ein paar Tage wegfahren und all die Sorgen zurücklassen. Doch ich weiß, dass sie dem niemals zustimmen würde. »Ich werde hier gebraucht, Antonia«, wäre ihre Antwort. »Aber wir brauchen dich auch«, würde ich gerne erwidern. Doch ich weiß, dass kein Wort über meine Lippen kommen würde, weil ich sie nicht mit meinen Gefühlen belasten will.

»Ich bringe eurem Vater schnell sein Abendessen nach oben«, sagt sie und holt mich zurück in die Realität. Aaron verstummt und nickt, während sie an ihm vorbei nach dem Topf greift und Kartoffeln und Frikadellen auf einen Teller häuft. Als sie im Besteckkasten keine frische Gabel findet, spült sie ihre eigene ab und verlässt die Küche. Ich atme aus.

»Keine Sorge, ich pass schon auf sie auf.« Aarons Blick ist weich und warm.

»Danke«, sage ich.

Und dann klingelt es an der Tür.

Es geht ganz schnell. Aaron öffnet die Haustür, und ich kann nicht erkennen, wer draußen steht. Ich sehe nur seinen Rücken im Flur. Aber ich höre genau, was die Person vor der Tür sagt.

»Aaron Müller?«

»Der bin ich.«

»Machen Sie eine Ausbildung beim Dehler Boots- und Schiffbau?«

»Ja, mache ich. Wieso?«

Kurz denke ich, dass sein Chef gestorben ist. Ein aberwitziger Gedanke, aber vielleicht sind sie hier, um ihn darüber zu informieren. Das wäre zwar etwas ungewöhnlich, würde aber den seltsamen Unterton des Beamten erklären.

»Heute früh wurde in Ihrem Spind Marihuana sichergestellt. Können Sie sich erklären, wie dies dort hingelangt ist?«

»Nein, das kann ich nicht.« Aarons Stimme klingt fest, aber kratzig. Beim letzten Wort springt sie leicht in die Höhe, und ich weiß, dass er lügt.

»Wir müssen Sie bitten, uns auf die Wache zu begleiten.«

In der heißen Küche wird mir schlagartig eiskalt. Wie in Trance erhebe ich mich von dem Stuhl und laufe in unseren schmalen Flur.

Aaron hört mich, weil der Boden unter meinen Füßen knarzt. Er dreht sich zu mir und sieht mir fest in die Augen.

»Mach dir keine Sorgen, Tones.«

Mach dir keine Sorgen. Diesen Satz sagt er so oft zu mir. Wie all die Male zuvor habe ich keine Ahnung, wie das funktionieren soll.

Aaron greift nach seinen Schuhen und zieht sie an, so als wäre es das Normalste der Welt. Dann steckt er sein Portemonnaie mit seinem Personalausweis ein und tritt mit den zwei Beamten aus der Tür.

Er sieht nicht noch einmal zu mir zurück.

TAGE IN MOLL

»Toni, wieso ist die Tür offen?« Mama kommt hinter mir die Treppe herunter. Ich höre ihre Schritte auf den alten Stufen, doch ich will mich nicht umdrehen. Denn wenn ich das tue, muss ich ihr erklären, dass ihr Sohn gerade verhaftet wurde. Zum zweiten Mal. Wenn ich mich umdrehe, werde ich den Schmerz in ihren Augen sehen und die unendliche Müdigkeit, weil sie nicht einmal mehr die Kraft hat, wütend zu sein.

Ich kann mich nicht umdrehen, also renne ich. Ich renne durch die offene Haustür in den warmen Sommerabend hinein, das trockene Gras sticht mir in die nackten Füße, und mein Zopf schlägt mir gegen den Hals. Ich renne einmal quer über das Gelände bis zu unserem Fußballplatz. Die letzten Schritte laufe ich langsamer, spüre meinen Brustkorb, der sich schnell hebt und senkt, dann lasse ich mich in der Mitte des Platzes auf den warmen Rasen fallen und starre in den graublauen Himmel, der jede Sekunde dunkler zu werden scheint.

Langsamer atmen, Toni, höre ich die Stimme meiner Trainerin und versuche mich darauf zu konzentrieren. Weil meine Atmung etwas ist, das ich kontrollieren kann. Kontrolle fühlt sich gut an, sicher.

Aaron ist unschuldig. Er wird der Polizei erklären, dass es sich um eine Verwechslung handelt. Zumindest versuche ich mir das einzureden, doch die Wahrheit ist: Ich kenne meinen Bruder. Ich kenne ihn sehr gut, und ich weiß, wie seine Stimme klingt, wenn er lügt.

Mit der flachen Hand schlage ich auf den Rasen. Das alles wäre niemals passiert, wenn unser Vater nicht wäre. Es ist seine Schuld, dass Aaron damals verhaftet wurde. Es fühlt sich gut an, das zu denken. Die Schuld auf einen Menschen abzuladen, der sich nicht mehr verteidigen kann.

»Toni? Antonia, wo steckst du?« Mama bemüht sich, ihre Stimme gefasst klingen zu lassen, doch ich höre die Angst darin.

»Ich bin hier«, antworte ich viel zu leise, doch sie sieht meine erhobene Hand und läuft auf mich zu. Blonde Strähnen kleben an ihrer Stirn, und ihre Wangen sind fleckig.

Immerzu versuche ich, meine Probleme von ihr fernzuhalten, ihr keinen Kummer zu bereiten, doch egal, was ich gleich sagen werde, es wird sie zerstören.

»Wieso rennst du einfach weg? Was um Himmels willen ist hier los, Antonia? Wo ist Aaron?«

Ja, wo ist Aaron? Ich schlucke. Und dann erzähle ich ihr, was passiert ist.

Es ist seltsam, dass man große Veränderungen nie kommen sieht. Man lebt sein Leben, und dann passiert etwas und wirft dich völlig aus der Bahn. Genauso fühlte es sich an, als Papa vor vier Jahren nach Hause kam und Aaron und mich aus dem Wohnzimmer schickte. Er müsse allein mit unserer Mutter reden, hieß es nur. Sein Gesicht hatte einen seltsamen Grauton angenommen, und seine Augen wirkten leer.

Zwei Wochen später kam dann der Brief mit der Post. Amtliche Vorladung, wegen schwerer Steuerhinterziehung.

Ich erinnere mich daran, dass Papa früher oft Scherze darüber gemacht hat, dass er als Steuerberater immer mit einem Bein im Gefängnis stünde. Aaron und ich haben mit ihm gelacht. Weil wir nicht dachten, dass er wirklich etwas Kriminelles machen würde. Wir lachten mit ihm bis zu dem Tag, an dem er nach dem Gerichtstermin nicht mehr nach Hause kam.

Es macht etwas mit dir, wenn ein Elternteil von jetzt auf gleich verschwindet. Wenn das Konto gesperrt und das Haus gepfändet wird. Ich habe nicht verstanden, was Papas Wegbleiben wirklich bedeutete. Bis Mama es mir erklärte. Sie setzte sich mit Aaron und mir an den Esstisch in der Wohnung meiner Großeltern, in die wir für den Übergang gezogen waren, und sagte, dass wir die nächsten Monate weniger Geld haben würden. Sie könne uns kein Taschengeld mehr zahlen und müsse sich nach einer neuen Wohnung und einem Job umsehen. Und genau das hat sie getan. Fast ein Jahr hat es gedauert, ehe sie die Stelle am Internat antreten konnte. Ein Jahr voller Magenschmerzen und Wut. Auf das böse Gericht, das Papa weggeholt hat, auf Papa selbst, der einen Fehler gemacht hatte, und auf mich, weil ich nicht half, um unsere Situation irgendwie zu verbessern.

Aaron hat geholfen. Er kam über Kumpel an ein paar Tüten Gras und dachte, es wäre ein Leichtes, diese zu verkaufen. Blöd nur, dass Aaron viel zu gutmütig für diese Welt ist. Er ist kein Drogendealer oder Krimineller. Sie haben ihn direkt beim dritten Verkauf geschnappt.

Aaron war damals wütend auf alles und jeden. Das entschuldigt sein Verhalten nicht, aber so hat er mir seinen Ausraster gegenüber dem Polizeikommissar erklärt. Vielleicht wäre er mit einer Verwarnung davongekommen, wenn er sich reumütig gezeigt hätte. So bekam er nicht nur einen Eintrag, sondern durfte auch noch vier Wochen lang Sozialstunden ableisten.

In diesen Wochen bekam ich ihn kaum zu Gesicht, und meistens saß ich allein mit meiner Mutter zu Hause. Meine Mutter, unsere Angst und ich. Drei Komponenten, die die Stille füllten.

Wir zogen raus aus der Stadt, und auch wenn ich die Schule nicht wechselte, verlor ich meinen gesamten Freundeskreis. Niemand erkundigte sich mehr nach mir. Papas Straftat kam groß in der Zeitung, und als dann auch noch Aaron verhaftet wurde, verboten viele Eltern ihren Kindern den Umgang mit mir. Als könne ich sie auf die schiefe Bahn ziehen, wenn sie zu viel Zeit mit mir verbrachten. War ich bis dahin ein beliebtes Mädchen gewesen, das sich jeden Tag nach der Schule mit Freundinnen traf, hatte ich von jetzt auf gleich niemanden mehr.

Sechs Monate lang wohnten wir in einem zugigen Wohnwagen auf einem abgelegenen Campingplatz. Mama versuchte sich die Situation schönzureden. Wir würden jetzt doch so nah am See wohnen, und die Luft wäre hier draußen auch viel frischer. Doch ich wusste es besser: Das hier war alles andere als ein toller Urlaub, das hier war der absolute Super-GAU.

Mama bekam keinen Job, zog sich immer mehr zurück, Aaron kam fast gar nicht mehr nach Hause, streifte nachts mit wildfremden Menschen durch die Gegend, und ich? Ich versuchte, alles irgendwie zusammenzuhalten, doch es fühlte sich so an, als würde Mama mich mit sich unter Wasser ziehen.

Und dann kam Aaron zurück. Ich weiß nicht, wieso, aber eines Tages saß er wieder mit uns am Frühstückstisch und schlief nachts in seinem Bett. Dass er sich verändert hatte, schien Mama nicht zu bemerken. Er überspielte es ziemlich gut, doch ich hörte es in seinem Lachen, sah es in seinen Augen.

Aaron war meine Konstante gewesen. Der eine Mensch, der immer an meiner Seite war. Kurz hatte ich geglaubt, ihn verloren zu haben, doch jetzt war er wieder da. Verändert ja, aber er füllte den Wohnwagen nach wie vor mit Leben und Musik. Er zog uns beide aus der Tiefe.

Irgendwie hat Mama es geschafft, einen Job am Internat zu bekommen. Nach etlichen Monaten, in denen ich in der Schule von allen gemieden wurde, als wäre ich die Verbrecherin, zogen wir in das kleine Holzhaus hinter dem Schulgelände. Hausmeisterbüro stand in verblassten Lettern über der Tür, doch nach all den Wochen auf kleinster Fläche kam mir das Haus vor wie ein riesiger Palast.

Aaron war bereits zu alt, um das Internat zu besuchen, aber mich wollte meine Mutter unbedingt dorthin schicken. Wie sie mir den Platz besorgt hat, weiß ich nicht. Denn eigentlich ist es nicht üblich, dass die Kinder der Internatsangestellten die Schule kostenlos besuchen dürfen. Aber Mama redet nicht über solche Dinge, und ich habe mich nie getraut, nachzufragen. Fakt ist: Sie besorgte mir diesen Platz, und ich wehrte mich hart dagegen, denn ich wollte nicht schon wieder von Aaron getrennt werden. Meine Mutter blieb standhaft, und so betrat ich mit dreizehn Jahren zum ersten Mal die heiligen Schlossmauern.

»Toni, du kommst zu spät zum Willkommenstag, ich müsste auch schon längst dort sein.«

Ich schrecke hoch und sehe meine Mutter durch verquollene Augen an. Gestern Abend habe ich ihr gesagt, dass Aaron von der Polizei abgeholt wurde, und heute macht sie schon wieder weiter, so als sei nichts gewesen. Woher sie diese Kraft nimmt, weiß ich nicht.

Erst jetzt dringen ihre Worte zu mir durch. Willkommenstag … Scheiße, ich habe nicht einmal fertig gepackt! Die Sache mit Aaron und das aufwühlende Gespräch mit Mama gestern haben die Tatsache, dass ich heute zurück ans Internat gehe, komplett aus meinem Gehirn gelöscht.

Ich springe aus dem Bett und werfe wahllos Dinge in meinen halbvollen Koffer.

»Hat Aaron sich gemeldet?«, frage ich hoffnungsvoll. Er muss unschuldig sein. Es gibt ganz sicher eine Erklärung für all das.

»Nein«, Mamas Stimme klingt dumpf. »Aber seine Bewährungshelferin hat vorhin angerufen.«

»Und?«, frage ich und bin genervt, dass ich ihr alles aus der Nase ziehen muss. »Was hat sie gesagt?«

»Dass ich ihn heute Nachmittag besuchen darf und … dass Aaron gestanden hat.«

Die Schienbeinschoner gleiten aus meiner Hand und landen mit einem lauten Klacken auf dem Boden. Wieso überrascht es mich? Ich wusste doch bereits, dass er schuldig ist. Aber ein Teil von mir hat gehofft, dass ich mich irre.

»Nein.«

»Doch. Und zwar alles. Offenbar ging das Ganze schon länger.«

Mamas Stimme klingt so, als würde sie ihren Worten selbst nicht glauben.

»Das kann nicht sein. Wieso tut er so was?« Ich will nicht weinen. Ich hasse es zu weinen. Und doch kann ich es nicht verhindern.

Ich sinke zurück auf mein Bett und presse mir das Kissen an die schmerzende Brust. Erst jetzt fällt mir auf, dass ich Aarons Schlafshirt trage. Das mit den Teletubbies.

Ein winziger Teil in mir wünscht sich, dass Mama mich in ihre Arme zieht. Mich tröstet, so wie früher, als ich ein kleines Kind war und Albträume hatte. Doch sie kommt nicht zu mir.

»Sie behalten ihn bis zum Gerichtsprozess in Untersuchungshaft, weil sie Angst haben, dass er noch weitere Drogen hier in seiner Umgebung gelagert hat und diese verschwinden lassen will.«

»Das ist doch bescheuert! So organisiert ist er niemals.« Meine Stimme bebt.

»Sie sind da anderer Meinung … Wir können ihn besuchen, wenn wir wollen.«

Meine Hände zittern, mein Mund fühlt sich klebrig an, und ich weiß nicht, was ich fühlen oder denken soll.

»Ich überlege es mir«, presse ich hervor. Ich will, dass sie geht, und nach ein paar Sekunden tut sie mir den Gefallen.

Ehe sie die Tür hinter sich schließt, dreht sie sich allerdings noch einmal zu mir und versucht es doch tatsächlich mit einem Lächeln: »Dein Vater und ich wünschen dir einen guten Schulstart.«

Als sie endlich die Tür hinter sich schließt, presse ich mein Gesicht in die Bettdecke und schreie lautlos auf.

Es ist erschreckend, dass ich nur eine Stunde brauche, um die verheulte Toni in meinem Zimmer zurückzulassen. Ein wenig Make-up, mein typischer Pferdeschwanz und ein gezwungenes Lächeln wirken wahre Wunder. Ich versuche mich darauf zu konzentrieren, dass ich gleich auf Yuki treffen werde, die beste Mitbewohnerin, die es gibt, und auf den Rest meines Fußballteams. Auf Lou, Mika, Caro, Fayola, Sam und all die anderen. Ich liebe sie und habe sie in den letzten Wochen unglaublich vermisst, dennoch würde ich mich am liebsten im Musikraum verbarrikadieren und den Tag damit verbringen, Songs von Panic! at the Disco zu spielen und mich am Schlagzeug völlig zu verausgaben.

Aber es hilft alles nichts. Ich muss zur Willkommensfeier, und davor muss ich meine Sachen auf mein Internatszimmer bringen. Also nehme ich den Schleichweg von unserer Hausmeisterinnenwohnung rüber zum Haupttor und achte dabei peinlichst genau darauf, dass mich keiner sieht. Sobald ich die Kieselsteine unter meinen Rollen spüre, weiß ich, dass das Schlimmste überstanden ist. Ab jetzt kann ich einfach sagen, dass mich mein Taxi weiter vorne abgesetzt hat.

Der runde Platz vor dem Haupttor wird von beiden Seiten von Buchsbäumen flankiert. Limousinen, teure Autos und Taxen parken auf dem Kies.

Ich entdecke Caro und Sam, die sich nach der langen Trennung in den Armen liegen. Weiter vorn wuchtet Fayola gerade ihre Gitarrentasche aus dem Taxi und winkt mir zu. Ich erwidere das Lächeln, beeile mich aber, weiter Richtung Internat zu laufen. Ich weiß nicht, ob ich es jetzt schon schaffe, ein Gespräch darüber zu führen, wie meine Ferien waren.

Die Internatsmauern wirken weniger riesig, wenn man sie jeden Tag sieht. Normalerweise fühlt es sich an wie Nachhausekommen, wenn ich nach den Ferien durch das große Eingangstor trete, doch dieses Jahr ist es anders. Immer wieder sehe ich Aarons entschuldigenden Blick vor mir, Mamas Resignation und Papas leeren Platz an unserem Tisch. Ich weiß nicht, wie ich es schaffen soll, heute fröhlich zu sein. Es ist unmöglich.

»Toni!« Yuki wirft mich fast um, so überschwänglich umarmt sie mich. Ich rieche ihr leichtes Parfüm, werde von ihren kinnlangen Haaren gekitzelt und erwidere das Lächeln meiner besten Freundin so gut ich kann.

»Hi.« Wir grinsen uns an.