WIE SCHATTEN ÜBER TOTEM LAND - S. Craig Zahler - E-Book

WIE SCHATTEN ÜBER TOTEM LAND E-Book

S. Craig Zahler

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Beschreibung

"Zahler ist ein herausragender Geschichtenerzähler, dessen geradezu grausamer Sinn für Authentizität den Leser regelrecht in den Wilden Westen um die Jahrhundertwende hinein katapultiert." [Kurt Russel – Schauspieler, bekannt aus Bone Tomahawk, Die Klapperschlange, Hateful Eight, Dark Blue und Death Proof] "Wenn Sie nach einem Westernroman in der Art suchen, die sie schon kennen, dann liegen Sie hier falsch. Wenn Sie etwas Angenehmes und Vorhersehbares lesen wollen, liegen sie hier erst recht falsch. Aber wenn Sie eine mutige Geschichte lesen wollen, aus einem ungewöhnlichen Blickwinkel und mit einer unvergesslichen Erzählstimme, dann suchen Sie das Gleiche wie ich, und dann suchen Sie genau dieses Buch." [Joe R. Lansdale] Inhalt: Bei ihrem verzweifelten Versuch, zwei entführte Schwestern zu befreien, die man in die Prostitution gezwungen hat, stürmt eine Gruppe wild zusammengewürfelter Charaktere durch das Mexiko des Jahres 1899. Ihre Reise ist dabei nicht nur ein Ritt in die Hölle, sondern auch in die tiefsten Abgründe menschlicher Existenzen. Diese Geschichte zerrt Sie von Anfang bis Ende erbarmungslos durch Staub, Dreck und Blut. Ähnlich wie in seinem Film "Bone Tomahawk" schuf S. Craig Zahler mit diesem Buch eine außergewöhnliche Western-Erfahrung, die Elemente des Horrors mit der brachialen Gewalt des Asiatischen Kinos vereint. Sagen Sie nicht, wir hätten Sie nicht gewarnt … WIE SCHATTEN ÜBER TOTEM LAND ist roh, brutal und unnachgiebig. Ein Roman, der an vielen Stellen bekannte Stoffe der großen Leinwand oder der Pulp-Literatur zitiert, und trotzdem ein Western ist, der seinesgleichen sucht.

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Wie Schatten über totem Land

S. Craig Zahler

übersetzt von Madeleine Seither

This Translation is published by arrangement with Raw Dog Screaming Press Title: WRAITHS OF THE BROKEN LAND. All rights reserved. First Published by Raw Dog Screaming Press, 2015.

Wie Schatten über totem Land

Impressum

zweite überarbeitete Ausgabe Originaltitel: WRAITHS OF THE BROKEN LAND Copyright Gesamtausgabe © 2020 LUZIFER-Verlag Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Cover: Michael Schubert Übersetzung: Madeleine Seither Lektorat: Johannes Laumann

Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2020) lektoriert.

ISBN E-Book: 978-3-95835-278-0

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Inhaltsverzeichnis

Wie Schatten über totem Land
Impressum
Sommer 1902
Teil I
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Teil II
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Teil III
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Teil IV
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Teil V
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48

Sommer 1902

Teil I

Keine Vergnügungsreise

Kapitel 1

Händeschütteln

Die Frau, die ihren Namen vergessen hatte, rührte sich auf der klammen Matratze. Die offenen Wunden auf ihrem Rücken, ihren Pobacken und ihren Armen stimmten einen lauten Schmerzenschor an. Sie rollte sich auf ihre linke Seite, um ihre Qualen zu lindern. Als sie die Beine schloss, drückte etwas Hartes und Unbekanntes gegen ihre Scheidenwand und sie sagte: »Herr …« Die Frau schob ihre rechte Hand zu ihrem Schoß, steckte ihre Fingerspitzen hinein, berührte einen halbrunden Klumpen und zog ihn heraus wie eine Perle aus einer Auster. Nach einem Moment der Benommenheit öffnete sie ihre Augen, um das Ding zu betrachten, das sie zwischen Daumen und Zeigefinger hielt, und erkannte, dass es eine tote Babyschildkröte war.

Der Anblick der verstorbenen Kreatur hätte sie schockieren sollen, aber die Frau, die ihren Namen vergessen hatte, verspürte lediglich eine unbeteiligte Neugierde für den entnommenen Bewohner, als ob sie Fremde in der Nähe ein Thema von mäßigem Interesse diskutieren hörte.

In kleine Nischen neben ihrem Bett geschmiegt standen zwei Kerzen, die den überreifen Geruch von Blumen, Zimt und Vanille und ein wenig bernsteinfarbenes Licht verströmten. In dieser übersättigten Beleuchtung musterte die Frau die tote Babyschildkröte, die ihr von einem Mann, an den sie sich glücklicherweise nicht erinnern konnte, zu einem zweifelhaften Zweck eingeführt worden war. Kopf und Beine in den Panzer eingezogen war die Kreatur gestorben, vollständig von der Welt isoliert, und die Frau beneidete sie.

Weit abscheulichere Dinge waren während der vergangenen acht Monate, die sie in ihrer unterirdischen Hölle verbracht hatte, in sie eingedrungen.

Aus keinem ihr verständlichen Grund legte die Frau den runden Leichnam auf ihr Kissen, neben wirre Locken ihrer langen, blonden Haare, und fuhr sanft mit einer Fingerspitze über den fein gekerbten Panzer. Der Kopf der Babyschildkröte rutschte aus seiner Öffnung und baumelte schlaff heraus.

»¡Reina!« Die Stimme gehörte einem Mann und drang durch Holz und Stein.

Die Frau löste ihren Blick von der winzigen Kreatur und richtete ihn auf die dicke, eisenbeschlagene Tür am anderen Ende des Raumes.

»Essen«, kündigte der Mann an.

Unfähig, ihr Nachthemd zu finden, zog sich die Frau eine von getrocknetem Sperma raue Decke über ihren nackten Körper.

Eine Linie gelben Lichts erschien am Rand der Tür und wuchs zu einem zwei Yard großen Rechteck an. In diesem Rechteck der Helligkeit stand der Mann mit der Holznase, der Hombre, der den Behälter brachte. Die Kerzenflammen flackerten über seinen Gummiregenmantel.

Die Frau sagte: »Keinen Hunger«, und schüttelte den Kopf. »Kein Essen. No comida para mi.«

Der Mann mit der Holznase ignorierte ihre Äußerung. Mithilfe des Hebels, der am oberen Ende des Behälters herausragte, rollte er ihn ins Zimmer. Die Räder unter dem Gefäß quietschten wie gequälte Nagetiere und die misshandelte Frau spürte die schrillen Töne in der Flüssigkeit ihrer Augäpfel.

»Essen«, verkündete der Mann mit der Holznase, während er den Behälter neben ihrem Bett abstellte. Er beugte sich darüber und wickelte einen fleischartigen Schlauch von der Seite des Gefäßes ab.

Vom Gedanken an Nahrung angewidert sagte die Frau: »Kein Essen.« Ihr zitternder Körper verlangte etwas anderes.

Der Mann mit der Holznase führte das triefende Ende des Schweinedarms zum Mund der Frau, aber sie presste die Lippen zusammen und drehte den Kopf zur Seite. Der Schlauch kleckerte grünliche Tropfen auf die Decke.

»Reina muss essen und schön bleiben.« Luft pfiff durch die Nasenlöcher, die in die falsche Nase des Mannes gebohrt worden waren, und seine kleinen, obisidianschwarzen Augen starrten sie an. Er hob das Ende des Schweinedarms an seinen Mund, leckte einen Tropfen Suppe von der Spitze, lächelte und nickte. »Bueno. Ist gut.«

Die Frau deutete auf die dunklen Flecken auf ihren knochigen Armen und sagte: »Ich brauche noch etwas.«

»Keine Medizin mehr.«

Angst verzehrte ihre Eingeweide wie ein Feuer ausgedörrte Wälder. »Ich … ich brauche mehr.« Ihr Mund wurde trocken. »Ich brauche mehr Medizin. Es ist Tage her, seit ich …«

»Nichts mehr.« Der Mann mit der Holznase hielt das tropfende Ende des Schweinedarms in die Höhe. »Reina, por favor, tu …«

»Ich werde nichts essen, solange ich keine Medizin bekomme.«

Eine Faust krachte in den Bauch der Frau. Sie schnappte nach Luft und der Schweinedarm drang in ihren Mund ein. Der Mann mit der Holznase drückte ihr den Kiefer zusammen und betätigte die Pumpe des Behälters mit seinem rechten Fuß. Suppe, die nach Knoblauch, Schimmel und verrottetem Hühnchen schmeckte, floss der Frau über die Kehle und in den Magen. Sie wollte aufschreien, aber stattdessen spritzte sie saure Brühe durch ihre Nasenlöcher.

»Bueno.«

Der Mann mit der Holznase pumpte einen weiteren Schwall Suppe in sie, sah ihr beim Schlucken zu, zog den Schlauch aus ihr heraus und begann, ihn um den Behälter herum aufzuwickeln. »Du brauchst schlafen. In drei Tagen ist große Fiesta. Du hast muy wichtige Kunden und Boss will …«

»Besorg mir Medizin«, verlangte die Frau.

»Keine Medizin mehr. Sie macht dich krank. Kunden beschweren sich, du hast kalte Hände und Haare fallen dir aus.«

Ohne den Schutz der Opiate konnte die Frau keine weitere Fiesta ertragen. »Ich mache Ärger, wenn du mir keine Medizin besorgst. Ich mache wieder ins Bett.«

»No.« Der Mann mit der Holznase runzelte die Stirn. »Nicht das machen.«

»Besorg mir Medizin oder ich mach ins Bett, wenn ein Kunde da ist. Mache allen großen Ärger.«

Der Mann mit der Holznase pfiff durch seine Nasenlöcher, wandte sich von der liegenden Frau ab, rollte den Behälter aus dem Raum, schloss die Tür und drehte den Schlüssel um.

Allein und mit fauligem Essen im Magen wurde die Gefangene müde und schlief ein. In ihrem Traum war sie eine glücklich verheiratete Chorleiterin, die in San Francisco lebte. Ihr Name war Yvette.

Yvette erwachte. Ihr Negligé, das angezogen zu haben, sie sich nicht erinnern konnte, Gesicht und Haar waren feucht vom Schweiß des Entzugs. Sie öffnete die Augen und sah noch weniger als zuvor. Die Kerzen am Bett waren verloschen, während sie geschlafen hatte, und der Raum lag in Dunkelheit, abgesehen von dem wenigen Licht, das unter der Eichentür hereinkroch. Am Fußende ihres Bettes entdeckte sie eine ungefähr rechteckige Form, wie die einer verhüllten Person, und verspürte Furcht.

Der Eindringling keuchte.

»Wer ist da?«, fragte Yvette.

Der Eindringling atmete aus, schnalzte mit der Zunge und nieste explosionsartig. Yvette stockte der Atem und sie schied ein wenig Urin aus.

Eine nasse Zunge glitt über ihre rechte Fußsohle und sie zog den Fuß hastig zurück. Die rechteckige Form schnaubte drei Mal, umkreiste das Bett, blieb neben dem Kissen stehen und hechelte. Die Gerüche, die der Frau in die Nase stiegen, waren die von Fleisch und Knochenmark.

Yvette legte ihre rechte Hand auf eine feuchtkalte Schnauze. Der Hund fiepte vor Freude über ihre Berührung, entrollte seine fleischige Zunge und leckte das Salz ab, das auf ihrem Handgelenk getrocknet war.

Nachdem sie ihre Blase in den Metalltopf entleert hatte, den sie unter ihrer Matratze aufbewahrte, entzündete Yvette ein Streichholz, teilte die Flamme mit einem Kerzendocht und löschte die phosphorhaltige Spitze in einem Riss in der Wand.

Der Hund war ein rotbrauner, zwanzig Kilo schwerer Mischlingsrüde mit spitzen Ohren, klugen Augen und einem Bart, der in alle Richtungen von seiner langen Schnauze wuchs. Das arglose Tier starrte sie geradewegs an, so wie es ein unschuldiges Kind oder ein Liebhaber täte.

Es war viele Monate her, seit Yvette jemandem in die Augen gesehen hatte, den sie nicht verachtete, und sie spürte, wie Tränen ihre Wangen hinunterliefen. Die Tropfen verweilten am Rand ihres Kinns und perlten auf die durchnässte Matratze.

Von seiner Umgebung unbeeindruckt kratzte sich der kultivierte Hund an der Seite und inspizierte einen Zehennagel.

»Howdy«, sagte Yvette zu der Kreatur.

Die Schnauze des Hundes öffnete und schloss sich, als hätte das Tier beabsichtigt, zu sprechen, sich dann aber dagegen entschieden. Er hockte sich hin und hob seine rechte Pfote in die Höhe.

»Kannst du Hände schütteln?«

Das Tier betrachtete sie gebieterisch.

Yvette beugte sich vor, um die ausgestreckte Pfote zu ergreifen, wurde aber von einer schrecklichen Flut von Übelkeit dank des Entzugs überwältigt. Sie griff unter ihr Bett, holte den Metalltopf hervor und spie den größten Teil der Suppe, die ihr früher am Abend eingeflößt worden war, gewaltsam aus. Schweiß bedeckte ihr gerötetes, nach unten gerichtetes Gesicht und sie würgte noch einmal.

Einen schwerfälligen und kraftlosen Moment lang floss alles aus ihr heraus.

Yvette zog wirre Haarknäuel aus ihrem Mund, spuckte saure Reste in die gesammelten Ausscheidungen und gab sich alle Mühe, die übel riechenden Gerüche nicht einzuatmen, die mit Sicherheit einen weiteren Brechreiz auslösen würden.

Sie stellte den Topf zurück, legte sich auf den Rücken und starrte zur rissigen Decke hinauf. Wenn Fremde auf ihre Brüste sabberten, als wäre sie ihre Mutter und könne sie irgendwie wieder in einen Zustand extatischer Kindheit zurückversetzen, oder wenn sie in sie eindrangen, dann sah sie zum gespaltenen Stein hinauf und stellte sich vor, sie sei ein Käfer, der über seine raue Oberfläche krabbelte. Manche Kerle verlangten, dass sie sie ansah und ihnen Zuneigung vorspielte, aber erst nachdem der Mann mit der Holznase ihr ihre Medizin gegeben hatte, war sie in der Lage gewesen, derartige Dienste anzubieten.

Die Hoffnung, dass man sie aus ihrem furchtbaren Unglück erretten würde, war mit jedem Monat geschrumpft, und obwohl sie noch nicht ganz verschwunden war, war sie zu einem unbedeutenden Staubpartikel geworden. Wann immer sie zum Herrn sprach, bat Yvette ihn darum, Rettung zu schicken oder sie an seine Seite zu rufen. Sie hatte viel zu lange gelitten. Vielleicht war der Hund ein von ihm entsendeter Freund, der ihr Trost spenden sollte, während ihr elendes Leben zu einem Ende kam?

Yvette richtete sich auf, verspürte eine Welle von Schmerz, zog ihre dürren Fußknöchel übers Bett und setzte ihre Fußsohlen auf dem Teppich auf. Zitternd streckte sie ihren Arm aus und sagte: »Gib mir die Hand.«

Der Hund nieste und gähnte, bot ihr aber keine Pfote an.

Yvette dachte über die Zurückhaltung des Tieres nach und sagte: »Mano«, was das spanische Wort für »Hand« war.

Als ob er im Begriff wäre einen feierlichen Eid zu schwören, hob der kultivierte Hund seine rechte Pfote.

Die eingesperrte Frau schüttelte sie und ließ dann los. »Dann bist du also Mexikaner?«

Der Hund nieste.

»Ich werd es dir nicht übel nehmen.« Yvette dachte einen Moment lang nach und erinnerte sich an das spanische Wort für »sprechen«. »Habla.«

Der Hund bellte und der laute Luftstoß ließ seinen Bart flattern.

Metall kreischte am anderen Ende des Raumes. Yvette und ihr kultivierter Zimmergenosse sahen zur Tür. Jenseits des offenen Eingangs und von einer Fackel umrissen, die sich im Korridor verbarg, stand der Mann mit der Holznase. Anstelle seines üblichen Regenmantels trug er eine braune Hose und ein schickes, burgunderrotes Hemd. Seine kleinen Augen fingen die Kerzenflammen ein und funkelten wie zwei weit entfernte Sterne.

»Du magst Henry?«, fragte der Mann mit der Holznase.

Yvette spürte, wie das Böse in den Raum kroch.

Der Mann kratzte sich am Hals und richtete seinen Zeigefinger auf den Hund. »Sein Name ist Henry. Du magst ihn?«

»Ich hab das Essen erbrochen, das du mir gegeben hast.« Yvette beugte sich vor, um den mit ihren Ausscheidungen gefüllten Metalltopf zu holen. »Hier rein. Kannst du …«

»Henry ist Zirkushund aus Mexiko-Stadt«, sagte der Mann mit der Holznase. »Zirkusdirektor stirbt und seine Tochter verkauft Tiere, um ihm ein Sarg zu kaufen.«

»Ich habe Hunger«, versuchte Yvette, das Thema zu wechseln. »Tengo hambre. Würdest du …«

»Henry.« Der Hund sah zu den winzigen Nadelspitzen, die die Augen des Mannes waren. »¡Vengaqui!« Yvette wusste, dass das »Komm her« bedeutete.

Der Hund lief auf den Mann mit der Holznase zu.

»¡Alto!«

Der Hund blieb stehen.

»¡Sientate!«

Der Hund setzte sich.

Yvette drehte sich der Magen um. »Nicht!«

Der Mann warf die Tür zu. Holz und Stein prallten gegen den Schädel des Hundes und das Tier heulte auf.

»Lass ihn in Ruhe!« Yvette erhob sich von ihrem Bett, doch ihr wurde schwindelig und sie brach auf der Matratze zusammen. »Tu ihm nicht weh!«

Der Mann mit der Holznase öffnete die Tür wieder. Das Tier winselte kläglich, taumelte einen Schritt nach hinten, fand wieder festen Stand und schüttelte seinen Kopf.

»¡Vengaqui!«

Der Hund trottete vorwärts. Die Tür schlug gegen seine Schnauze und etwas knackte.

»Hör auf!«, schrie Yvette. »Hör auf! Hör auf!«

Der Mann mit der Holznase öffnete die Tür. Den Kopf seltsam verdrehend, als beobachte er den Flug einer betrunkenen Hummel, hinkte der Hund ins Zimmer zurück. Blut floss ihm aus dem Nasenloch und dem rechten Ohr und ein Knochensplitter, weiß und glänzend, ragte aus seiner krummen Schnauze.

Der Mann mit der Holznase ging auf die Gefangene zu. Auf seinen Mokassins klickten kunstvolle Glasperlen wie Würfel.

Der Hund fiel auf die Seite, erhob sich auf die Füße, beschrieb einen Kreis und schüttelte seinen erschütterten, triefenden Kopf.

Einen Yard vom Bett entfernt blieb der Mann stehen. »Reina. Mirame. Sieh mich an!«

Yvette wischte sich die Tränen aus den Augen und sah auf.

»Du wirst ordentlich Liebe mit den Kunden machen, oder ich werde Henry sehr schlimm wehtun.«

»Ich werde brav sein.«

»Nicht ins Bett machen?«

»Das werde ich nicht«, bestätigte Yvette.

»Bueno.« Der Mann mit der Holznase drehte sich um und ging am umherstolpernden Hund vorbei. »Jetzt können wir gute Freunde sein.«

Kapitel 2

Ein ruhiger Streit

Nathaniel Stromler schritt vom Stall auf das Haus der Footmans zu und dachte über das Streiten nach, die Form von Kommunikation, die er am wenigsten mochte. Seine Mutter und sein Vater hatten sich während seiner gesamten Kindheit damals in Michigan gezankt, besonders zur Winterzeit, als die Hitze ihrer Wortgefechte oft die glühend heißen Ausdünstungen des Herdes überflüssig machten, und als er zehn war, hatte er entschieden, dass solche Gespräche nur stattfanden, wenn Menschen nicht in der Lage waren, klar zu denken, sich präzise zu äußern und rational zu bleiben, wenn sie mit widersprüchlichen Meinungen konfrontiert wurden.

Kathleen O'Corley, Nathaniels Verlobte, hatte eine andere Auffassung vom Streiten. Sie glaubte, dass derartige Interaktionen normal und reinigend waren und bewiesen, dass eine Person ein leidenschaftliches Wesen war. 

Er hatte ihrer Position höflich widersprochen.

Nathaniel lief über den Kiespfad auf das schwarze Quadrat des Hauses zu, in welchem er und seine Verlobte wohnten. Die frostigen Nachtwinde des New-Mexico-Territoriums ließen seine Haut kribbeln. Er fürchtete, dass die zusammengefaltete Annonce, die er in seiner Weste trug, Kathleen dazu anregen würde, ihre Liebe zu ihm argumentativ zu demonstrieren, und aus diesem Grund hatte er klugerweise auf die Stunde gewartet, in der alle Footmans im Haus und somit in der Lage waren, erhobene Stimmen zu hören.

»'n Abend, Mister Stromler«, sagte der weißhaarige Neger namens Sir und winkte freundlich mit seiner vierfingrigen rechten Hand.

Nathaniel erwiderte die Geste abwesend, aber sein Verstand war so damit beschäftigt, die Worte für die bevorstehende Diskussion zurechtzulegen, dass er vergaß, eine Antwort auszusprechen.

An der Fassade informierten ihn die dunklen Wohnzimmervorhänge, dass die Kleinen schon gegessen hatten und zu Bett geschickt worden waren. Kathleen würde ihre Stimme nicht erheben können.

Nathaniel stieg zwei Stufen hinauf und kam auf der ungestrichenen Holzveranda an, die die Süd- und Westseite des Gebäudes begrenzte.

Die Haustür verschwand und das Fliegengitter schwang nach außen. Aus dem bernsteinfarbenen Inneren des Hauses trat dessen Besitzer heraus, ein untersetzter Viehzüchter, der Arbeitshosen und einen roten Longjohn trug. »Sie haben das Abendessen verpasst«, erklärte Ezekiel Footman mit geringem Interesse. Der Neunundvierzigjährige steckte sich eine uralte Pfeife in den Mund und stopfte den kratzigen Inhalt der Kammer mit abgespreiztem Daumen nach unten. »Harriet hat Ihnen was übrig gelassen«, fügte er hinzu, während er auf den westlichen Verandaabsatz verschwand, wo zwei Bänke von stabilen Eisenketten hingen, sodass fünf oder sechs Menschen bequem vor und zurück schaukeln konnten, während sie beobachteten, wie die Sonne hinter den weit entfernten Bergen unterging.

»Danke«, sagte Nathaniel.

»Mmhm.«

Das Zischen und Aufleuchten eines Streichholzes von der anderen Hausseite schreckte einen Nachtfalter auf, der zuvor unbemerkt direkt neben Nathaniels linkem Ohr umhergeflattert war. Die schillernde Kreatur hatte die Größe einer kleinen Fledermaus. Nathaniel blies das Phantominsekt an und lenkte es sanft in Richtung Sterne.

Nathaniel trat durch die Fliegengittertür, ging über einen karierten Läufer, den Schmutz und Abnutzung nur noch verbesserten, und hielt vor einem gediegenen Spiegel an, den ein geschmackvolles Rankenmotiv und goldenes Filigran zierten. Dieser Spiegel war genau die Art von Ausstattung, welche er in jede Luxussuite von »Stromlers Äußerst Hochqualitativem Hotel« zu hängen gehofft hatte.

Aus dem Spiegelglas heraus starrte ihn ein großer, blonder, vollschnauzbärtiger Mann von sechsundzwanzig Jahren an, der recht gut aussah, aber dank seiner langen Nase, seiner Geheimratsecken, die in den letzten zwei Jahren zwei Zentimeter Raum gewonnen hatten, und seiner gequälten, blauen Augen vorzeitig gealtert war.

Nathaniel Stromler hatte nicht gut geschlafen oder sich hoffnungsfroh gefühlt oder herzhaft gegessen seit dem Tag, an dem der Sturm die Ostwand seines halb gebauten Hotels umgerissen und einen Arbeiter getötet hatte, einen jungen Komantschen, der in der angrenzenden Gasse nach einem langen Tag am Bau eingeschlafen war. Nach dem Vorfall hatten sich sämtliche angestellte Ureinwohner geweigert, am Gebäude weiterzuarbeiten – sie hielten den Todesfall für ein schlechtes Omen –, und alle verfügbaren Mexikaner hatten höhere Löhne verlangt. Nathaniel hatte beinahe all seine Ersparnisse erschöpft, um zu bauen, was bereits gestanden hatte, und der Verlust war zu groß, um ihn mit den ihm verbliebenen Mitteln auszugleichen. Der Bau wurde unterbrochen.

Der Gentleman und angehende Hotelier aus Michigan wischte sich Staub vom Revers, gab einen Klecks Öl in seine Handflächen und strich sein dünnes Haar zurück. Er überprüfte seine Zähne auf Maisreste – zwei salzige Kolben waren alles, was er an diesem Tag gegessen hatte –, stellte verärgert fest, wie viele Falten ein einfaches Grinsen in sein Gesicht malte, und brachte seine Lippen wieder in horizontale Ambivalenz.

Nathaniel wandte sich von sich selbst ab und schritt die Treppe hinauf, über einen hässlich fleckigen Läufer und auf das kleine Zimmer zu, das er und seine Verlobte sich wie Gefangene für sechzehn Monate geteilt hatten, seit dem Tag, an dem die Winde der Katastrophe gewütet hatten. Weil sich kein Bewohner je weiter als drei Yard von diesem »Babyzimmer« entfernt aufhalten konnte, klopfte er sehr sachte gegen das Holz.

»Bist du das, Nathan?«

»Ich bin es. Bist du bekleidet?«

»Ich trage mein Nachthemd.«

Nathaniel dachte an Orton, den ältesten Footman-Jungen, der Kathleen mehr als einmal unschicklich beäugt hatte, aber gutmütig war, wann immer der Hund der Pubertät nicht in seinen Lenden bellte, und blickte über seine Schulter. Ein funkelnd weißes Auge spähte aus dem verdunkelten Schlafzimmer des Dreizehnjährigen heraus.

»Orton Footman«, sagte Nathaniel.

Die Tür schloss sich, langsam und leise, als ob eine jähe Bewegung oder ein verräterisches Knarren bestätigen würden, dass er in der Tat versuchte, einen Blick auf Kathleen zu erhaschen.

Nathaniel drehte sich wieder zum Babyzimmer um, schob seinen Schlüssel ins Schloss, drehte ihn herum und presste seine freie Handfläche gegen das Holz. Auf dem erhöhten Bett, das den Großteil der Kammer ausfüllte, saß Kathleen O'Corley in einem rosafarbenen Nachthemd, eine große, vierundzwanzigjährige Frau mit grazilen Zügen, widerspenstigen Sommersprossen, smaragdgrünen Augen und offenem schwarzen Haar.

Der Gentleman zog seinen Schlüssel aus dem Außenschloss, betrat das Zimmer und schloss die Tür.

Sie küssten sich. Kathleen schmeckte nach Harriet Footmans Apfelauflauf, der gut war, aber entschieden zuviel Muskat beinhaltete. Nathaniel löste sich von seiner Verlobten und machte sich für das unangenehme Gespräch bereit, das eine Notwenigkeit war.

Von der Lampe an der gegenüberliegenden Wand erhellt glühten die Augen und Zähne der Frau, ebenso wie der Stapel handgeschriebener Papiere, der in ihrem Schoß lag.

»Ein Brief von deinem Onkel erreichte uns heute«, verkündete Kathleen.

Nathaniels Puls beschleunigte sich – möglicherweise könnte die gefaltete Annonce, die in seiner Westentasche steckte, ohne Diskussion oder Streit weggeworfen werden. »Machte er Investoren ausfindig?« Der Gedanke, sich wieder ihrem verwaisten Kind zuzuwenden, dem halbgebauten Hotel, ließ das Herz des Gentlemans schneller schlagen.

»Gut möglich. Er schickte uns die Namen von drei Männern, die Interesse haben könnten, zu investieren, derzeit aber unentschlossen sind. Dein Onkel empfahl uns, Bittbriefe zu schreiben, um sie zu beeinflussen.« Kathleen hob den Papierstapel von ihrem Schoß. »Ich habe die Sendschreiben schon verfasst – was noch fehlt, ist deine Unterschrift.« Ihre Züge nahmen einen verwunderten Ausdruck an. »Freust du dich nicht?«

»Doch, sicher.«

»Dein Gesicht besitzt eine merkwürdige Art, dieses Gefühl zu vermitteln.«

»Ich freue mich – wirklich, das tue ich –, aber als du einen Brief von meinem Onkel erwähntest, hatte ich auf etwas Greifbareres gehofft … etwas … Unmittelbareres.« Nathaniel dachte einen Moment nach. »Wo befinden sich diese Investoren?«

»Zwei sind in Connecticut. Einer in New York.«

In der Brust des Gentlemans sanken die aufgestiegenen Hoffnungen. »Dann wird es Tage dauern – möglicherweise Wochen –, bis wir Antworten von ihnen erhalten.«

»Wir waren über ein Jahr lang Untermieter.« Ein Quäntchen Ärger schärfte Kathleens Stimme. »Dies ist die beste Gelegenheit, die sich uns seit Langem bietet.«

»Das ist sie. Allerdings.« Nathaniel drückte die Schulter seiner Verlobten und küsste sie auf die Wange. »Ich weiß es zu schätzen, dass du die Initiative ergriffen hast und jene Bittbriefe verfasstest.«

»Prüfe sie, damit wir sie sogleich verschicken können.«

Nathaniel nickte, setzte sich auf die Fußbank, las den ersten Brief – das Ersuchen war fehlerfrei –, und sagte: »Perfekt.« Er unterschrieb ihn am unteren Rand mit dem goldenen Füllfederhalter, den er an der Rezeption von »Stromlers Äußerst Hochqualitativem Hotel« hatte platzieren wollen, damit die Gäste ihn zum Registrieren verwenden könnten. Rasch schrieb er seinen Namen auf zwei weitere einwandfreie Dokumente, legte sie zum Trocknen auf den Boden und drehte sich zu seiner Verlobten um.

»Ich fand eine Anstellung.«

»Du hast eine Anstellung.« Kathleens Stimme war ausdruckslos.

»Ich fand eine andere Anstellung. Eine, die weit bessere Bezahlung bietet, als die eines Schustergehilfen.« Seine bescheidene Arbeit in Worte zu fassen bescherte dem Gentleman eine Schamesröte im Gesicht, doch das Argument musste vorgebracht werden.

»Was ist diese neue Anstellung, von der du mit so viel Zögern und Umschweif sprichst?«

Nathaniel zog die zusammengefaltete Annonce aus seiner Weste und Kathleen nahm sie ihm aus der Hand.

»Es wäre mir lieber, wenn ich es dir vorläse.«

»Ich bin eine recht fähige Leserin.«

Nathaniel widersprach der Aussage seiner Verlobten nicht.

Kathleen entfaltete das Dokument und las es drei Mal. Sie sah nicht vom Papier auf, als sie mit kühler, leiser Stimme fragte: »Wer sind diese Männer?«

»Ich weiß es nicht.« Lügen führten oftmals Streit herbei und Nathaniel war ein schlechter Lügner, wann immer er mit jemandem sprach, der ihm etwas bedeutete.

»Zu welchem Zweck benötigen sie die Dienste eines ›Gentlemans mit schicker Kleidung, der lange Tage reiten kann und fließend Spanisch spricht‹?«

»Ich weiß es nicht.«

»Wie hat diese wunderbare Gelegenheit deine Aufmerksamkeit erregt?« Kathleens Sarkasmus war giftig.

»Miss Barlone bediente gerade den Telegrafen und …«

»Sie ist aufdringlich.«

»Miss Barlone kennt unsere Notlage und letzten Monat reparierte ich die Schuhe ihres Sohnes umsonst, als ihr Geldbeutel leer war. Sie zeigte mir die Annonce, bevor sie sie aushing, damit ich die Gelegenheit ergreifen könnte.« Nathaniel zögerte einen Moment. »Sie telegrafierte meine Zusage bereits.«

»Du hast schon zugesagt?« Unglaube leuchtete in Kathleens grünen Augen auf und wurde rasch von etwas Leidenschaftlicherem ersetzt. »Du hast zugestimmt, für Männer zu arbeiten, über die du nichts weißt, weit fort, an irgendeinem abgelegenen Ort?«

»Du wirst laut. Und weder du noch ich wissen, ob sich die Arbeitstelle an einem abgelegenen Ort befindet.«

»Die Annonce bestimmt, dass der Gentleman mit schicker Kleidung in der Lage sein muss, ›lange Tage zu reiten‹. Was, glaubst du, bedeutet das? In großen Kreisen umher reiten?« Jeder wache Mensch im ersten Stock würde Kathleens Stimme hören können.

Nachdem sein Herz zehnmal gepocht hatte, erwiderte Nathaniel ruhig: »Der lange Ritt könnte zu einem abgelegenen Ort führen, wie du vorgeschlagen hast, oder fort zu einem nähergelegenen und dann jeden Abend bei Sonnuntergang zurück.«

»Es erscheint weit wahrscheinlicher, dass du nach Mexiko reiten wirst, da verlangt wurde, dass der vornehme Reiter ›fließend Spanisch‹ sprechen muss.«

»Das ist eine realistische Möglichkeit«, gab Nathaniel zu. »Ich weiß es nicht.«

»Dennoch beabsichtigst du, mich hier zu lassen und mit Fremden fortzureiten, wo immer sie dich hinführen mögen.«

»Ich beabsichtige, vierhundertfünfzig Dollar in einer Woche zu verdienen.«

Kathleen spitzte die Lippen, als wäre sie im Begriff, ihrem Verlobten Gift in die Augen zu spucken. »Der angebotene Lohn ist beträchtlich genug, um die Sicherheit bei dieser Anstellung in Zweifel zu ziehen … und ihre Legalität.«

»Sofern es nichts Ungesetzliches oder Unmoralisches ist, werde ich tun, was man von mir verlangt.«

Ungläubig schüttelte Kathleen ihren Kopf. »Und ich werde keinen Einfluss auf diese Entscheidung haben?«

»Du hast deine Meinung geäußert.«

»Zu einem Zeitpunkt, an dem du für gegenteilige Meinungen taub warst – du hattest die Angelegenheit lange vor unserem Gespräch entschieden.«

»Das hatte ich«, stimmte Nathaniel zu. »Das ist etwas, das ich tun muss.«

Die Frau schnaubte durch die Nasenlöcher. »Was, wenn ich dir sage, dass ich das New-Mexico-Territorium verlassen und zu meiner Familie in den Osten zurückgehen werde, wenn du diese Arbeit annimmst?«

»Ich liebe dich innig, aber wenn du nicht länger sicher bist, dass ich ein angemessener Ehemann bin – wenn du nicht länger glaubst, dass meine Handlungen uns zu einem größeren Lebensglück verhelfen können –, dann steht es dir frei, ein besseres Leben mit jemand anderem zu suchen. Wir sind noch nicht verheiratet.«

Kathleen war fassungslos.

Nathaniels Magen verkrampfte sich angstvoll. Er glaubte nicht, dass Kathleen ihn verlassen würde, aber die Möglichkeit bestand – sie war eine kluge, gebildete und attraktive Frau, und sie hatte den Zug zur Grenze nicht bestiegen, damit sie als Dienstmädchen für die Footman-Familie arbeiten konnte, während ihr Verlobter Schuhe flickte. Wie jedes Paar waren sie zwei unabhängige, von einem Band mit unbestimmbarer Belastungsgrenze zusammengehaltene Menschen, und dieses Gespräch setzte jenes Band zweifellos unter Spannung.

Entfernte Tiergeräusche und nähergelegenes Knarren im Haus durchdrangen das bleierne Schweigen.

Unfähig, die dicker werdende Luft zu atmen, sagte der Gentleman: »Es würde fünf Monate dauern, um so viel in der Werkstatt zu verdienen.«

»Vier Monate.« Der Tonfall der Frau war scharf.

»Kathleen. Wenn die Arbeit gefährlich oder gesetzeswidrig ist, werde ich nicht gehen.« Mit einem Blick ins zweifelnde Gesicht seiner Verlobten fügte er hinzu: »Es ist eine sehr beträchtliche Summe.«

»Das ist es.« Ihr Ton wurde sanfter.

Die Last fiel von Nathaniels Schultern ab – der Streit war beendet. »Und«, fügte der Gentleman hinzu, »die Möglichkeit besteht, dass diese Arbeitgeber schlicht wohlhabende Männer sind, denen vierhundertfünfzig Dollar wenig bedeuten.«

»Der in der Annonce verwandte Schreibstil deutet nicht auf eine gute Kinderstube hin«, antwortete die Frau, »aber ich nehme an, es ist möglich.«

Nathaniel durchquerte den Raum mit einem kleinen Schritt, setzte sich auf die Matratze und küsste Kathleen. Für einen Moment ließ sie ihn gewähren, dann löste sie sich, hastig, als wären sie turtelnde Jugendliche und der verurteilende Kopf eines Elternteils hätte sich gerade in einem Fenster materialisiert.

»Schau nicht so bestürzt.«

»Du hast dich mir verschlossen«, erklärte Nathaniel, der äußerst selten zurückgewiesen wurde. Erneut drückte er seine Lippen auf die seiner Verlobten, doch sie hielt ihren Mund in entschiedener Weigerung geschlossen. Als er sich zurückzog, sagte der Gentleman: »Beim ersten Mal erging es mir besser.«

»Nicht heute«, erklärte die Frau. »Mein Kopf ist zu sehr voller Sorgen, als dass ich mit dir romantisch sein könnte.«

Nathaniel legte seine rechte Hand auf die Leinwand aus nackter Haut, die von einem Spitzendekolleté eingerahmt war, und übte leichten Druck aus, drängte Kathleen sanft dazu, sich hinzulegen.

Die Frau widerstand. »Ich bin zu sehr mit deiner Abreise beschäftigt.«

Mit einem Lächeln sagte der Gentleman: »Bitte leg dich hin.«

»Nathan, ich habe keine Lust …«

»Ich verstehe. Und ich verspreche, dass ich voll bekleidet bleiben werde.« Nathaniel sah in Kathleens smaragdgrüne Augen und spürte ihren Herzschlag deutlich unter seiner rechten Handfläche. »Es dient ausschließlich deinem Vorteil.«

Auf den Wangen der Frau zeigten sich einige verstohlene Sommersprossen und sie nickte.

»Leg dich hin.«

Kathleen legte sich zurück, in die Locken ihres langen, schwarzen Haars und den changierenden Stoff ihres rosafarbenen Nachthemds, und wurde sanft von der heugefüllten Matratze empfangen. Nathaniel berührte die weiche Haut direkt über ihrem linken Knie mit den Lippen und platzierte einen zweiten Kuss unter ihrem Nachthemd, genau dort, wo Bein und Becken sich verbanden. Er blies warme Luft über den Nexus der Frau und ihr gesamter Körper erbebte.

Während er seine Fingerspitzen über den Innenschenkel seiner Verlobten gleiten ließ, fragte der Gentleman: »Wirst du mir erlauben, deine Stimmung zu heben?«

Kathleen machte ein Zugeständnis.

Der Blick des angehenden Hoteliers und zukünftigen reisenden, zweisprachigen Gentlemans glitt über den ruhenden Körper seiner Verlobten und zum Fenster hinaus, zum glänzend grauen Himmel, den weder Sonne noch Mond betraten. In den Wachphasen seiner dreieinhalb Stunden unterbrochenen Schlafes hatte Nathaniel über die Investoren an der Ostküste nachgedacht, über die neue Arbeitsstelle und den Fortschritt, den er mit vierhundertfünfzig Dollar – plus den sechshundertvierundzwanzig Scheinen, die er in den letzten dreizehn Monate zusammengespart hatte – an seinem zerstörten Hotel würde machen können, und war aufgewühlt. Obwohl er noch immer müde war, wusste er, dass er nicht wieder einschlafen würde, und entschied sich darum, seinen Tag zu beginnen.

Nathaniel kletterte über Kathleens lange Beine, setzte seine nackten Fußsohlen sachte auf dem Boden auf – betrat man sie ohne Zartgefühl, imitierten die Holzdielen die Babys, die früher hier gewohnt hatten – und lehnte sich vor. Langsam verlagerte er sein Gewicht, bis er aufrecht stand.

Er zog gelbe Reitkleidung über seine Hemdhose, hob seine Schuhe auf, machte einen Schritt ostwärts, streckte seine freie Hand aus, drehte den Schlüssel herum, verließ das Zimmer, schloss die Tür und machte sich auf den Weg zum Dachboden, wo sein Reisegepäck aufbewahrt wurde, solange er und seine Verlobte als Untermieter in einem Zimmer wohnten, das für Menschen gebaut worden war, die nichts bedeutenderes besaßen als Windeln, Schnuller und Zähne von Reiskorngröße.

Leise gähnend schritt Nathaniel durch den Flur im Obergeschoss, am Hauptschlafzimmer vorbei und auf die Holzleiter zu, die zum Dachboden führte. Hinter dem schleichenden Gentleman öffnete sich eine Tür und er drehte sich um.

Aus dem verdunkelten Schlafzimmer erschien Ezekiel, der sich seinen behaarten Nacken kratzte – eine Stelle, die immerwährend zu jucken schien –, während sein gesunder Bauch sich zwischen den beiden Hälften seines offenen Morgenrocks aufblähte. Der untersetzte Mann gähnte eine Begrüßung.

»Guten Morgen«, antwortete Nathaniel.

»Ziemlich kühl für den Sommer.« Ezekiel sah über die Schulter des Untermieters und sagte: »Geh'n Sie zum Dachboden hoch?«

»Ich muss mein Gepäck und einige Kleidungsstücke holen. Ich werde für eine Woche fortgehen.«

Der Viehzüchter neigte seinen Kopf zur Seite, möglicherweise, um der Hand, die seinen Nacken kratzte, neue Möglichkeiten zu eröffnen, und fragte: »Geschäfte?«

»In der Tat.«

»Kathleen bleibt hier?«

»Sie wird hierbleiben und ihren Pflichten nachkommen.«

Die Mitte der buschigen Ansammlung aus Augenbrauen und Backenbart, aus der Ezekiels Gesicht bestand, verengte sich merkwürdig. »Warum schleichen Sie so herum?«

»Ich wollte niemanden aufwecken.«

»Wir haben Sie beide gestern Nacht streiten gehört.« Die missbilligend zusammengekniffenen Furchen, die Ezekiels Augen verdunkelten, taxierten Nathaniel in unverblümter und aufdringlicher Manier.

Die Anspielung verärgerte den Gentleman, aber er schluckte die Beleidigung hinunter. »Ich laufe nicht davon.«

»Sie werden keine bessere Frau finden.« Ezekiel senkte eine kratzende Hand von seinem Nacken und benutzte die andere. »Ich hab sie mit meinen Kindern gesehen und ich hab gesehen, wie sie mit Ladenbesitzern handelt oder sie zurechtweist, wenn sie versuchen, sie zu betrügen. Sie ist ein guter Fang – vollkommen und schön – und sie hat sogar zu Ihnen gehalten, als dieser Sturm Ihr Hotel zerstört hat.«

»Ich liebe Kathleen und habe nicht die geringste Absicht, sie im Stich zu lassen. Es tut mir leid, Sie letzte Nacht gestört zu haben, aber wir legten unsere Differenzen gütlich bei.«

Nicht überzeugt verzog der Viehzüchter seinen Mund.

»Sie können sie wecken, wenn Sie die Richtigkeit meiner Worte überprüfen wollen«, schlug Nathaniel vor. Es fiel ihm schwer, die Bitterkeit aus dieser Bemerkung herauszuhalten.

»Das ist nicht nötig.« Ezekiel brachte die ursprüngliche Hand zu seinem Nacken zurück, zog den klaffenden Morgenrock über seinem Bauch zusammen, drehte sich um und ging in sein Schlafzimmer. »Es gibt genug erfolgreiche Kerle in Leesville, die ihr den Hof machen würden, wenn Sie allzu lang herumtrödeln oder sie hintergehen.«

Die aufeinandergepressten Lippen des Gentlemans lieferten keine Antwort.

Die Schlafzimmertür schloss sich.

Beschämung und Wut standen heiß in Nathaniels Gesicht geschrieben, als er sich umdrehte, zum Ende des Flurs ging, die Leiter erklomm, den Dachboden betrat und einen großen, grünen Mantelsack ausfindig machte. Dahinein packte er Wasserschläuche, einen Flachmann, Unterkleidung, Stofftaschentücher, Handschuhe, einen zweireihigen, königsblauen Dreiteiler, ein langschößiges, schwarzes Smokingjackett, zwei weiße Hemden, Manschettenknöpfe, italienische Schuhe, Schuhcreme, zwei Fliegen – königsblau und schwarz –, eine rote Krawatte, eine königsblaue Melone, einen schwarzen Zylinder und einen Roman mit dem Titel La Playa de Sangre, anhand dessen er seine Spanischkenntnisse verdeutlichen konnte.

Anschließend stieg er vom Dachboden herab und schritt durch den Flur im Obergeschoss. Als der Gentleman ein klagendes Geräusch von jenseits der geschlossenen Tür des Babyzimmers vernahm, blieb er stehen.

Das Paar hatte sich am Abend zuvor verabschiedet und Kathleen hatte Nathaniel ausdrücklich darum gebeten, am Morgen abzureisen, ohne sie zu wecken, sodass sie ein banges Lebewohl vermeiden konnten.

Mit seinem schweren Mantelsack in der linken Hand im Flur stehend lauschte der große, blonde Gentleman aus Michigan dem leisen Schluchzen seiner Verlobten. Das Geräusch zog ihm die Eingeweide zusammen und ließ sein Sichtfeld verschwimmen.

Und dann ging er.

Kapitel 3

Die Plugfords

Brent Plugford atmete tief ein, und mit der für die Jahreszeit unangemessen kühlen Morgenluft kamen die Gerüche, die die Hotelwohnung erfüllten: feuchte Unterkleidung, Seife, schimmelndes Holz, geöltes Leder, Eisen, kalter Zigarettenrauch und billiger Bourbon. Der neunundzwanzigjährige Cowboy öffnete die Augen und sah Long Clay, dessen hochgewachsener, schlanker Körper mit einem schwarzen Hemd und passenden Hosen bekleidet war, am Fuß seines Bettes stehen wie den Spätnachmittagsschatten einer Vogelscheuche.

Der silberhaarige Mann zeigte auf die Person, die neben Brent schlief. »Weck ihn auf.«

»Okay.«

Long Clay ging zum Fenster.

Brent setzte sich auf, streckte seine steifen Muskeln, fuhr sich mit einer Hand durch sein lockiges, braunes Haar und blickte nach links. Auf dem Bett ausgestreckt lag sein jüngerer Bruder, Stevie Plugford, im Tiefschlaf – und im Longjohn von letzter Woche. »Stevie, du musst aufsteh'n. Wir zieh'n los.«

Der Einundzwanzigjährige grunzte.

»Aufwachen«, befahl Brent. »Jetzt.« Der Cowboy schüttelte seinen Bruder an der linken Schulter.

Stevie schlug die Hand seines Bruders weg und zog sich eine Decke über den Kopf.

»Du hättest nicht so viel Bourbon trinken sollen«, schimpfte Brent. »Ich hab dir gesagt, das sollst du nicht.«

»Schmor in der Hölle.«

Long Clay zog eine schwarze Pistole, packte sie beim Lauf und ging aufs Bett zu.

Zu dem hochgewachsenen, schlanken Mann sagte Brent: »Ich krieg ihn schon …«

Der Griff der Waffe traf auf den Klumpen, der Stevies Kopf war.

Der junge Mann schrie auf, zog die Decke nach unten und rieb sich sein tomatenfarbenes Ohr. »Gottverdammt, das hat wehgetan.« Stevie sah zu Long Clays dreieckigem Gesicht hinauf, in dem kalte, blaue Augen saßen, ein dünner, grauer Schnurrbart und ein lippenloser Mund, und entschied sich dagegen, direkte Kritik zu äußern.

Der Revolverheld wandte sich von dem jungen Mann ab, steckte seine schwarze, sechsschüssige Pistole, die eine von zweien an seiner Hüfte war, ins Holster und durchquerte das Zimmer.

Auf der Fensterbank und vom trostlosen, grauen Himmel umrissen, saß John Lawrence Plugford, ein riesiger Mann von sechsundfünfzig Jahren mit einem wilden Bart und einer abgetragenen, grauen Latzhose. »Du trinkst nichts mehr, bis wir daheim sind.« Es klang, als ob die Kehle des Mannes voller trockenem Herbstlaub wäre.

»Ich hatte gar nicht so viel«, verteidigte sich Stevie. »Nur …«

»Zwing Pa nicht, sich zu wiederholen«, sagte Brent. »Wir sind hier nicht auf Vergnügungsfahrt.«

»Weiß ich.«

Brent verspürte einen schrecklichen Schmerz in seiner Brust, als er über den Grund ihrer Reise nachdachte.

Eine Faust klopfte dreimal an die Tür. Zwei Feuersterne, die gezogene Pistolen waren, beschrieben einen Bogen vor Long Clays schwarzem Hemd.

Ein Schlüssel kitzelte klagende Schließzylinder und die Tür öffnete sich. Im Flur, mit zwei Lammkoteletts in der linken Hand, stand Patch-Up, ein kleiner und rundlicher, grauhaariger Neger in einem kastanienbraunen Anzug, der viel feiner war als sämtliche Kleidungsstücke der weißen Männer. Er beäugte die Mündungen von Long Clays Revolvern – eine war auf sein Gesicht gerichtet, die andere zeigte auf sein Herz – und kaute furchtlos. Mit dem Mund voller Essen sagte der Neger: »Wenn es um die Lammkoteletts geht, dann bin ich gewillt, einen Handel einzugehen.«

Der hochgewachsene, schlanke Revolverheld steckte seine Waffen in die Holster und wandte sich ab.

Patch-Up schluckte, betrat das Zimmer und schloss die Tür. »Guten Morgen, Leute.«

»Morgen«, antwortete Brent.

»Morgen«, krächzte Stevie.

Der Neger ging zum Fenster und streckte dem riesigen Patriarchen das zweite Lammkotelett entgegen. »Deine Leibspeise.«

John Lawrence Plugford schüttelte den Kopf und richtete seinen Blick wieder auf den grauen Sonnenaufgang vor dem Fenster. Der wilde Bart, der in seinem Gesicht und auf seinem Hals wuchs, wirkte wie eine Explosion der Entrüstung.

»Es ist gut durch«, fügte der Neger hinzu.

Der riesige Mann blieb desinteressiert.

»Pa«, sagte Brent, »du musst was essen. Wir haben heute einen langen Ritt vor uns.«

John Lawrence Plugford nahm das angebotene Fleisch, flüsterte: »Danke«, und drehte sich wieder zum grauen Fenster um. Das Lammkotelett lag in seinen starken Händen wie ein Musikinstrument, das er nicht zu spielen wusste.

Brent streckte sich, setzte seine Fußsohlen auf dem ausgetretenen Teppich auf und ging zu der gelben Kommode, auf der gewaschene Unterkleider ausgestreckt dalagen wie flache, graue Männer.

»Wo steckt dieser Indianer?«, fragte Stevie.

»Hast du seinen Namen vergessen?«

»Nein.«

»Es gibt einen Grund, warum Menschen Namen haben. Sogar Nigger und Indianer.«

»Wo steckt Deep Lake?«, fragte Stevie.

»Er heißt Deep Lakes«, erklärte Patch-Up. »Da ist ein ›s‹ am Ende.«

»Aber es gibt nur einen von seiner Sorte.«

»Er heißt eben so.«

Stevie stand vom Bett auf und streckte sich. »Willst du mich reizen?«

»Du solltest respektieren, wie die Menschen genannt werden wollen. Willst du etwa, dass ich dich Stovie nenne?«

»Will ich nicht. Wo ist Deep Lakes?«

»Weiß nicht.«

Brent sah von seinen feuchten langen Unterhosen auf und fragte: »Hat er nicht mit dir im Gesindehaus übernachtet?«

»Die Köche haben sich geweigert, mit einem Indianer im selben Zimmer schlafen«, sagte Patch-Up. »Ich hab ihnen gesagt, dass er zivilisiert ist, aber das sind argwöhnische Neger. Deep Lakes meinte, er würde irgendwo ein Lager aufschlagen und die Stadt zeitgleich mit uns verlassen.«

Unglücklich darüber, dass der Ureinwohner ausgegrenzt worden war, sagte Brent: »Er hätte mit diesem Problem zu mir kommen sollen.«

»Er will seine Gesellschaft nicht aufzwingen, wenn er unerwünscht ist.«

»Okay.«

Brent legte feuchte Socken, die noch immer nach Seife rochen, in seinen Koffer. Neben ihm begann Stevie, seine Habseligkeiten zusammenzusuchen.

Aus dem Wandschrank ertönte ein dumpfer Schlag, dem ein kaum hörbares Stöhnen folgte. Brents Gesicht verfinsterte sich vor Wut.

»Gott verdamme diesen dummen Idioten«, sagte Stevie.

Long Clay durchquerte das Zimmer und öffnete die Schranktür. In der Kammer stand eine riesige, schwarze Reisetruhe aufrecht und wackelte.

Der Revolverheld schlug mit dem Griff seiner Pistole aufs Holz. »Halt's Maul oder ich werd böse.«

Der Mann in der Truhe wurde still.

Brent sah zu seinem Vater. John Lawrence Plugfords hasserfüllter Blick versengte die Luft. Das ungegessene Lammkotelett fiel in die Sägespäne und die rechte Hand des riesigen Mannes landete klatschend auf dem Griff seiner abgesägten Schrotflinte.

»J.L.«, warnte Patch-Up.

Brent eilte zum Fenster, packte das rechte Handgelenk seines Vaters und sagte: »Lass los.«

Long Clay stellte sich zwischen John Lawrence Plugford und die Truhe und zog einen Flachmann voll Bourbon aus seiner Gesäßtasche. Licht fiel auf das silberne Behältnis und funkelte in den wilden Augen des Patriarchen.

»Beruhige dich«, sagte der Revolverheld.

John Lawrence Plugford löste den Griff um seine abgesägte Schrotflinte, nahm den Flachmann von Long Clay, drehte den Verschluss auf und steckte die Öffnung in das Dickicht, das seinen verschwundenen Mund umgab. Er trank drei große Schlucke und richtete seinen Blick kurzerhand wieder auf den grauen Morgen. Wie es im letzten halben Jahr so oft der Fall gewesen war, hatte der riesige Patriarch nichts zu sagen.

Patch-Up hob das heruntergefallene Lammkotelett auf, wischte die Sägespäne von seiner Oberfläche und wickelte es in ein Stück Wachspapier.

Long Clay sah zu Brent und Stevie. »Leert die Truhe aus und bringt sie in den Wagen. Sofort.«

Kapitel 4

Eine Ballade für das treue Volk

Humberto Calles ging auf den Galgen zu, der vor zwei Sommern in Nueva Vida errichtet worden war, mehr als fünfzig Jahre, nachdem das treue Volk des Landes den bleichen Texanern wertvolle mexikanische Morgen Land abgetreten hatte. Die Strafkonstruktion war ein sichtlich eindrucksvolles Symbol der Gerechtigkeit, das Schaulustige regelmäßig mit einem unterhaltsamen Spektakel versorgte, besonders wenn der erhängte Mann übermäßig lange zappelte oder aus Versehen von der Schlinge geköpft wurde.

Der einsame Wanderer erreichte den Galgen, wischte sich Schweißperlen von der Stirn, bedecke seine kahle Kopfhaut mit einem Sombrero, erklomm die mit kunstvollen Fliesen dekorierten Stufen, die mit Sicherheit dem Auge eines jeden zum Tode verurteilten Ästheten schmeichelten, und stieg zu einem leeren, grauen Himmel hinauf. Von seiner Kletterpartie außer Atem schritt der vierundfünfzigjährige Mexikaner über die Plattform zum Geländer.

Von der Bühne des Todes aus fragte Humberto die Schaulustigen, ob sie ein Lied hören wollten.

»¡Por favor!«, riefen acht der vierundzwanzig Menschen unter ihm. Humberto betrachtete die Versammlung, um zu sehen, ob Stadtbedienstete zugegen waren – sie mochten es nicht, wenn ihr seriöses Bauwerk für nicht tödliche Unterhaltung genutzt wurde –, entdeckte aber niemanden, der ihm Schwierigkeiten bereiten könnte.

Während er die vier über die edelsteinverzierten Bünde seiner blauen Guitarrita gespannten Saiten stimmte, musterte der Balladensänger die Menge. Die Versammlung bestand aus gemächlichen Menschen – Näherinnen, Bauern und alten Männern –, und so beschloss Humberto, ein langes und melancholisches Lied zu spielen, das an ihrem Mitgefühl rühren würde. Er griff einen Akkord auf dem glasierten Gitarrenhals und zupfte die Saiten kräftig mit den dicken Nägeln, die aus den Fingerspitzen seiner rechten Hand ragten. Über diesem steten Arpeggio musikalischer Regentropfen stellte Humberto die Komposition vor, eine Ballade namens »Unter den Kieselsteinen«, die die wahre Geschichte eines Mannes erzählte, der vor mehr als fünfzig Jahren im Krieg gegen die bleichen Texaner gekämpft hatte. Einen satten, übermäßigen Akkord anstimmend begann Humberto zu singen.

Schwarze Wolken ergossen sich auf ein kleines Bauerndorf in Mexiko. In einem Adobenhaus, das erst drei Jahreszeiten alt war, verabschiedete sich ein Mann namens Alexzander von seiner Frau, Gabrielle, die mit ihrem ersten Kind schwanger war. Der Fünfundzwanzigjährige bedauerte es zutiefst, seine Liebste verlassen zu müssen, aber der Krieg gegen die bleichen Texaner lief schlecht und er musste dafür sorgen, dass das treue Volk des Landes behielt, was ihm rechtmäßig gehörte. Gabrielle weinte.

Humberto spiele vereinzelte, hohe Noten im pizzicato auf der dünnsten Saite seiner Guitarrita.

Trotz ihrer Traurigkeit protestierte die selbstlose Mexikanerin nicht gegen die Abreise ihres Ehemannes, denn sie wusste, dass er seine Pflicht erfüllen musste. Sie küssten sich.

Humberto bildete zwei Melodien, die zu einer einheitlichen Tonfolge wurden – der Refrain ihrer Liebe.

Von vier seiner Jugendfreunde begleitet verließ Alexzander die kleine Stadt, reiste nach Norden und schloss sich einem angeschlagenen Regiment an, das sein Lager auf einer Hacienda in Tejas errichtet hatte, die vor Kurzem von der mexikanischen Armee eingenommen worden war. Die Gringos hatten zwei entscheidende Schlachten in der umliegenden Gegend gewonnen und Alexzanders Vorgesetzter, El Capitán Jesus Garcia, wusste, dass ein unorthodoxes Manöver vonnöten war, um die Texaner zu besiegen.

Der Plan des Offiziers war einfach. Alexzander und seine Jugendfreunde sollten sich in einem Bergpass verstecken, durch den die feindlichen Boten ritten, und die Nachrichtenüberbringer abschlachten, bevor sie je das texanische Fort erreichten. Alexzander, ein gebildeter Mann, der sowohl Englisch als auch Spanisch lesen und schreiben konnte, würde die Dokumente so abändern, dass es dem treuen Volk des Landes zugutekam, und die überarbeiteten Sendschreiben wieder den Leichen der Gringos zustecken, damit das Fort sie fand. Die Soldaten bezweifelten, dass sie es schaffen würden, ihre Mission zu erfüllen, aber der Krieg neigte sich dem Ende zu und solche verzweifelten Schachzüge waren alltäglich.

Humberto spielte zweimal eine langsam absteigende Melodie, die den sinkenden Mut Mexikos darstellte.

Am Tag bevor die Einheit aufbrechen sollte, erhielt Alexzander einen eine Woche alten Brief von Gabrielle, in dem sie ihn davon in Kenntnis setzte, dass sie eine Fehlgeburt erlitten hatte. Sie hatte den winzigen Jungen in einen Schal gewickelt, hinten im Garten neben dem Teich begraben und das Grab mit glatten Kieselsteinen geschmückt, die sie vom Grund des Baches geholt hatte, in dem sie und Alexzander einst im Halbdunkel gestanden und ihren ersten Kuss geteilt hatten.

Humberto spielte die Melodie ihrer Liebe.

Alexzander bat Capitán Jesus Garcia, ihm einen zweitägigen Fronturlaub zu gewähren. Der betrübte Soldat hoffte, nach Süden in sein Dorf zu reiten, seine trauernde Ehefrau zu trösten und ein weiteres Kind zu zeugen, ehe er seine verzweifelte und aussichtslose Mission antrat. Der hochrangigere Offizier erwartete, dass ein Trupp texanischer Boten in naher Zukunft durch den Pass kommen würde, und lehnte das Ersuchen ab.

Der Balladensänger schlug heftig in die Saiten seiner Guitarrita und dämpfte sie dann. Unter der Galgenplattform standen siebenundzwanzig Zuschauer, von denen sich jeder eine persönliche und eindeutige Version der Geschichte, die er erzählte, ausmalte.

Alexzander schickte seiner Frau einen Brief, in welchem er sie darum bat, nach Norden zu reiten und sich in der verlassenen Scheune zu verstecken, die am östlichsten Rand der Hacienda stand. Er wusste, dass sie dieses Schreiben frühestens in sechs Tagen erhalten würde.

Humberto schwang seine langen Fingernägel und beschleunigte das Lied.

Alexzander und seine vier Freunde begaben sich zu dem Pass, in dem sie den texanischen Boten auflauern würden. In einem primitiven Unterstand versteckte sich das Quintett und wartete. Zwei Wochen später kamen die texanischen Boten durch den Hohlweg – eine Gruppe von dreißig bleichen Gringos.

Der Balladensänger schlug wilde Triolen an; die Menge der einunddreißig Menschen war reglos und still.

Obwohl zahlenmäßig sechs zu eins unterlegen, griff Alexzanders Einheit, mit alten Pistolen und Messern bewaffnet, den Feind an. Die Hälfte der bleichen Texaner wurde im Kampf erschlagen, und vier der Mexikaner fielen tot auf die Erde, die ihnen rechtmäßig gehörte. Alexzander wurde in den Bauch gestochen und ins linke Bein geschossen.

Humberto zupfte seine Guitarrita heftig und legte eine Pause ein. Ohne Begleitung durch sein Instrument sprach er weiter.

Die Mission war ein Fehlschlag.

Der Balladensänger zupfte eine langsame und zarte Melodie in Moll.

Alexzander erhob sich auf seine Hände und Knie und kroch auf die Hacienda zu. Ihm war kalt und er hatte Durst, aber er gab nicht auf.

Die langsame und zarte Mollmelodie wurde wiederholt.

Alexzander erreichte die Hacienda und kroch durchs Gras, auf die Scheune zu, in der er hoffte, sich mit seiner Liebsten, Gabrielle, zu treffen. Die Nacht senkte sich herab, während er sich vorwärts kämpfte, langsam und unter großen Schmerzen, doch der Mexikaner blieb unerbittlich.

Im Morgengrauen betrat Alexzander die Scheune. Er kroch durch das Heu, vorbei an Kühen mit zerrissenen Eutern und blutigen Ziegen, die ihresgleichen gefressen hatten. Gabrielle rief seinen Namen, stieg von ihrem Versteck herab und eilte an seine Seite.

Humberto spielte die Melodie ihrer Liebe.

Kurz nachdem sie das Baby gezeugt hatten, das heranwachsen würde, um dieses Lied zu schreiben und zu singen, starb Alexzander in Gabrielles Armen.

Die Zuschauer unter dem Galgen applaudierten und riefen anerkennende Worte, während der letzte Akkord verklang.

»Gracias«, sagte Humberto. »Gracias.«

Durch seine Ballade lebte Alexzander weiter und die Mexikaner kannten seinen Namen und dachten an die vielen rühmlichen Opfer, die über fünf Jahrzehnte zuvor vom treuen Volk des Landes im Kampf gegen die bleichen Texaner erbracht worden waren. Dem Künstler wurde warm ums Herz, als er sah, wie sich zwei Achtzigjährige feuchte Spuren von ihren runzligen Wangen wischten.

»Bonita cantando«, lobte eine faltige Siebzigjährige, die die langgezogenen Hälse zweier schwarzer Hennen in ihrer gebräunten Faust gepackt hielt.

Gold- und Silberpesos klimperten und bedeckten das blaue Filzfutter des Guitarritakoffers, den Humberto zuvor am Fuß des Galgens aufgestellt hatte. Zu seinen Wohltätern sagte der Balladensänger: »Gracias. Amigos, gracias.«

Die Menge war nicht groß genug, um eine bedeutende Geldsumme zusammenzubringen, aber Humberto machte sich nicht allzu viele Sorgen. Die Reiter aus Amerika würden seinen finanziellen Problemen bald ein Ende bereiten.

Kapitel 5

Gringa Madre

Der Mann, der nach Fischinnereien roch, drückte die Nasenlöcher der Frau zu und verschloss ihren Mund mit der Handfläche seiner anderen Hand. Sein nackter Bauch schleifte nach Norden und Süden über ihren Unterleib wie eine haarige Nacktschnecke, die eine Spur aus saurem Schweiß hinterließ. Zwischen den Beinen der Frau brannte ein Feuer.

Im Bemühen, den Mann, der nach Fischinnereien roch, zu einem schnellen Höhepunkt zu bringen, bäumte sie sich auf. Sie war sicher: Sobald er einmal seine Körperflüssigkeiten vergossen hatte, würde er sie loslassen, sich entschuldigen und reumütig werden. Es war nicht das erste Mal, dass er sie würgte. Der Mann sah zu, wie ihre gebissenen Brüste wogten, und murmelte: »Madre.« Die Frau, eine Gringa, die zehn Jahre jünger war als er, wusste, dass es das spanische Wort für »Mutter« war.

Eine volle Minute ohne Luft verstrich.

Der Schmerz zwischen den Beinen der Frau wurde stärker und die Wunden auf ihrem Rücken schrien auf. Im Inneren ihrer misshandelten Hülle erstickte sie. Ihr Herz hämmerte gegen ihre Rippen, während der Mann in sie hinein hämmerte.

Obwohl nichts Reizvolles an dem Leben war, das sie jetzt führte, wollte die Frau nicht unter einem stinkenden Mistkerl sterben, der ihr Dahinscheiden erst bemerken würde, wenn ihre Körpertemperatur der Kälte des unterirdischen Raumes entspräche. Ihr Tod sollte eine größere Bedeutung haben.

»Gringa madre.«

Der ganze Körper der Frau pulsierte im Einklang mit ihrem verzweifelten Herzen und ihre sauerstoffhungrige Lunge brannte.

»Madre.« Der Atem des Mannes ging schneller und sein fettiger Bauch quietschte über ihren Unterleib, schwang von Nord nach Süd.

Die Frau spürte, wie ihr das Herz im Hals schlug.

»Gringa madre.« Der haarige Bauch quietschte.

Die Frau verlor das Sehvermögen und schlug dem Mann ins Gesicht, so hart sie konnte.

Heiße Flüssigkeit ergoss sich in sie.

Die Hände, die ihren Mund und ihre Nase verschlossen, zogen sich zurück.

Sie schnappte nach Atem. Kalte Luft strömte in ihre brennende Lunge. Nach zwei tiefen Zügen konnte die Frau wieder sehen, verschwommen und mit aufblitzenden Lichtkugeln vor den Augen.

»Entschuldigung«, sagte der Mann, der nach Fischinnereien roch.

Die Frau begann zu husten.

»Keine Keime.« Um seine Sicherheit besorgt zog der Mann sein abschwellendes Glied aus ihr und stand vom Bett auf.

»Gottverdammt.« Die Frau presste ihre zerschrammten Beine zusammen.

Der Mann zog seine rote Hose an, band sich einen Seilgürtel um die Taille, schlüpfte mit den Füßen in ein Paar Sandalen aus Leder und Holz, ging zu einer Nische hinüber, griff hinein, durchwühlte seine Habseligkeiten, zog eine flache Flasche heraus und brachte sie der Frau. »Bebes.« Er stellte ihr das Gefäß auf den Bauch. »Gutes Getränk.«

Die Frau begutachtete den hölzernen Flachmann, in den das Wort oder der Name »Coco« eingraviert war, zog seinen Stopfen heraus und nahm einen Schluck. Die Spirituose schmeckte nach fruchtigem Lampenöl, aber sie trank sie, begierig, alles erträglicher zu machen.

Nach ihrem vierten Schluck zog sie eine klamme Decke über ihre wunden Extremitäten und sah in Cocos hässliches Gesicht. »No sofocarse.« Sie wusste nicht, wie man: »Schön, Sie kennenzulernen«, auf Spanisch sagte, aber sie kannte: »Nicht ersticken.«

»Entschuldigung.« Am anderen Ende des Holzbettes ließ Coco seinen plumpen Kopf hängen und starrte seine schrecklichen Zehen an, die wie in zwei Fünfergruppen arrangiertes Wurzelgemüse aussahen. Sein Ausdruck war voller Reue.

Die Frau erkannte ihre Chance.

»Ich werde dem großen Jefe sagen, dass du sofocarse gemacht hast.«

Eine tote Hure besaß noch weniger Wert als ein Kojotenkadaver, weswegen Atemkontrolle ein verbotenes Vergnügen war.

Der plumpe Kopf drehte sich der Frau zu. »Es war Unfall.« Das Wurzelgemüse in den Sandalen bewegte sich ängstlich. »Ich habe gesagt, tut mir leid.« Coco schluckte trocken. »Nicht Gris sagen.«

»Wenn ich Gris erzähle, dass du sofocarse gemacht hast, wird er dich nicht zur großen Fiesta kommen lassen. Und es gibt keine Gringa Madre mehr für dich.«

Unter Gebrauch des wie auch immer gearteten Gedankendunsts, der in seinem Schädel gefangen war, beschäftigte sich Coco mit seiner misslichen Lage. »Ich nur spielen. Ich nie Gringa Madre wirklich wehtun – ich habe gespielt.«

»Tu was für mich, dann werde ich Gris nicht sagen, was du getan hast.«

»Was willst du?«, fragte Coco. »Ich kann dich nicht von hier verschwinden machen.«

»Ich will Informationen. Ich will wissen, ob jemand noch am Leben ist.«

»Wer?«

»Die blonde Frau, die sie mit mir zusammen hierher gebracht haben.«

»Wie heißt sie?«, erkundigte sich Coco.

»Yvette.«

»¿Ella es tu hermanita?«

»Si«, antwortete Dolores, »sie ist meine kleine Schwester.«

Kapitel 6

Unsichere und sichere Unterfangen

In seiner gelben Reitkleidung ritt Nathaniel Stromler auf seiner hellbraunen Stute über die Hauptstraße von Leesville, auf die Schmiede zu, wo er seine künftigen Arbeitgeber treffen sollte. Eine gleichförmige, graue Wolkendecke hing an Firmament, zerstreute die Sonne und warf die Welt in eine trostlose Vorhölle, in welcher kein Mensch die Tageszeit erahnen konnte. Unter dem glänzenden Blaugrau schafften es der Gentleman und sein Pferd nicht, Schatten zu werfen.

Ein Kruzifix, das nur wenig dunkler als seine trübe Umgebung war, glitt über den aschgrauen Himmel auf die Straße zu. Augenblicklich entschied Nathaniel, ein Anfänger in Sachen Vogelbeobachtung, dass es sich um eine Art Falken handelte.

Eine dünne, schwarze Linie entwuchs dem Hals der Kreatur. Geräuschlos stürzte der Vogel aus dem Himmel und landete auf der Straße. Ein kleiner Mann mit dunkler Haut, schulterlangem, grauschwarzem Haar, blauer Jeanskleidung, einem merkwürdigen Bogen und einem schiefen Gang lief auf den niedergestreckten Falken zu.

Nathaniel näherte sich dem Bogenschützen und eine dritte Person, ein beleibter Kerl mit einem grünen Anzug und einem Halbmond weißer Haare um seinen ansonsten kahlen Kopf, löste sich von einer nahegelegenen Fassade und klatschte in die Hände. »Sie können wirklich gut mit diesem Ding umgehen«, lobte der Ältere. »Kann ich mal kurz damit hantieren?«