Wien! - Till Angersbrecht - E-Book

Wien! E-Book

Till Angersbrecht

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Beschreibung

Die Hauptrolle in diesem Liebesroman spielt eine Stadt: Wien mit seinen Menschen, Caféhäusern, Clubs und Palästen. Carsten Reddlich ist allerdings auch noch da, ein erfolgreicher Feuilletonist aus Deutschland. Wie kommen die Eingeborenen damit zurecht, dass ein Piefke hinter die schöne Fassade ihrer barocken Laster und Lügen blickt? Wien ist anders, darüber wird der Leser in diesem Buch aufgeklärt, aber noch weiß er nicht, wie viel anders, denn die Stadt wird von einer seltsamen Krankheit befallen, von ihren Bewohnern als 'Dritte Belagerung' wahrgenommen. Die Stadt  verengt sich, schöne Frauen kommen abhanden, ein Hengst wird im Stephansdom zum christlichen Glauben bekehrt und ein Geistheiler und Handaufleger sorgt für Ekstasen unter den Damen der besten Gesellschaft.

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Seitenzahl: 389

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Till Angersbrecht

Wien!

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Dr. Brohh

Die Verengung der Welt

Elli Koschinsky

Die schöne Leich

Rosen, Rosen, Rosen

Auch das noch!

Es brodelt in meinem Kopf

Ein Loblied auf Forchtel

Thomas Bernhard war hier zu Gast

Die Zureiterin

Zwei Araber am Gürtel

Todessehnsucht

Kein Server!

Im Stephansdom

Kaiser Konny

Im Demel

Dr. Pittorius

Der Handaufleger

So etwas dulde ich nicht!

Dreht sich der Erdball noch?

Hinter den Butzenscheiben

Die Gürtel-Rose

Bin ich ein Spinner?

Muezzin raus aus Wien!

Quälende Überlegungen

Der Naschmarkt

Ich beginne meinen Bericht

I bin dei Präsident, Schani

Albert

Zur Salztorbrücke

Die Insel der Seligen

Lisa ist aufgelöst

Werft euren Schmuck ab, der verführt zur Sünde!

Die Kraft der Netsukes

Böse Gedanken

Die letzte Brücke

Kräfte der Selbstheilung

Der Gescheiterte

Schlägerei im Café Demel

Ich spreche das erlösende Wort

Gusti Semmelweiß

Er hat uns alle verhext

Gott will es, du Schlampe!

Entführt

Der Wiener Polizeipräsident

Alles völlig normal

Die Ironie der Natur

Der Hengst im Dom

Die übrigen Araber wurden verspeist

Die Unterwelt

Sehr geehrter Herr Chefredakteur!

Ich bin allein

Schreie aus einem Festsaal

Die Verheißung

Es geschah auf dem Heldenplatz

Der Tag des Heiligen

An der Marienbrücke

Der Fall

Eine schwankende Menge

Abstieg in die Hölle

Der Spielberg

Die Frau mit dem Messingschopf

In der Himmelpfortgasse bei Gusti

Der Plan

In die Furche gestreut

Conditio humana

Der Leutnant

Im leopoldinischen Trakt

Die kleine Ewigkeit einer verströmenden Zeit

Der Mann auf der Estrade

Unendlichkeit aus der Enge

Wien!

Impressum neobooks

Dr. Brohh

Wien!

Till Angersbrecht

Jeder Morgen ist im Nachhinein hell, strahlend hell. Umso lichter, je weiter er in der Vergangenheit liegt. So war es auch damals, ich in diese Stadt gelangte, ein Morgen, wie er nicht schöner sein konnte. Denn natürlich habe ich meine Verpflanzung an die Ufer der Donau als einen Aufstieg erlebt – und als ein großes Kompliment noch dazu, denn ich hatte mit meinen zwei, drei Feuilletons die Aufmerksamkeit meines Chefs erregt. Gelungen waren sie schon, aber was will das schon heißen? Meiner Unzulänglichkeiten bin ich mir, offen gestanden, nur zu deutlich bewusst. Dass jemand ein paar halbwegs zusammenhängende Zeilen zustande bringt, ist ja wirklich keine besondere Leistung. Das gelingt beinahe jedem, der das Alphabet in der Schule gemeistert hat. Doch war es nun einmal so, dass mein lieber Chef, Erbrecht Ebenholzer, einen Narren an mir gefressen hatte. Und verständlicherweise war ich der Letzte, ihn deswegen zu tadeln. Aber dass ich seit einiger Zeit an nichts anderes mehr dachte als an meine künftige Rolle in Wien, dieser einzigartigen und noch dazu einzigartig seltsamen Stadt, ist zweifellos richtig. Denn Sonderbares gibt es dort wirklich zu Hauf. Von glaubwürdigen Augenzeugen war mir manches berichtet worden, z.B. von Herren der alten Schule, die einer Frau mit den Worten „Küss die Hand, meine Gnädigste“ ihre Aufwartung machen.

Welch ein Märchenreich, dachte ich. Dort lebt sie noch, die überall sonst längst versunkene Zeit! Und die Reichen und Schönen, so wusste ich ebenfalls, strömen dort alljährlich auf dem Opernball in einem unglaublich vornehmen Bauwerk mitten im Herzen der Stadt zusammen, nur um ein Fest des Eros zu zelebrieren, das außerhalb dieser Insel der Seligen nur in lausigen Techno-Discos gefeiert wird. Als Student hatte ich die Donaumetropole schon mehrfach, wenn auch immer nur kurz, besucht. Ich liebte sie auf den ersten Blick, diese Stadt im vornehmen Frack: wo im ersten Bezirk um die Hofburg noch immer der Kaiserlook der alten Habsburger Monarchie die Besucher in ehrfürchtiges Staunen versetzt. Unsereiner kommt doch gewöhnlich aus Städten, wo man sich fühlt wie unter einer Motorhaube: links und rechts pochende Kolben, Filter, Dynamos - kurz alles, was für das mechanische Funktionieren notwendig ist. Wien dagegen lebt die ganzen sieben Tage einer Woche in poetischem Festgewand, davon hat man bei uns gar keine Ahnung. Die meisten heutigen Städte tragen das ganze Jahr ja nur die prosaische Kleidung von Alltag und Arbeit, Arbeit und Alltag.

Wie schön diese Stadt doch ist – das war es, was meinen Kopf wie ein Fusel in angenehme Verwirrung versetzte. Und ihn auch jetzt noch in diese belebende Stimmung versetzen würde, wenn sich nicht inzwischen etwas ereignet hätte, das mit dem Wort ‚ungeheuerlich’ völlig unzureichend benannt ist, aber an dieser Stelle nur angedeutet sein kann.

Zu der Stadt an der Donau, wo meine Tätigkeit nun beginnen soll, gehört für mich auch Dr. Brohh, der Geheimnisvolle! Seine Aufsätze hatte ich natürlich schon vorher gekannt und war bei ihrer Lektüre jedes Mal ins Schwärmen geraten. Labyrinthisch erscheinen sie mir, diese überaus klugen Essays, so verschlungen, so voller unerwarteter Veduten. Manchmal sind es Ausblicke ins Weite, manchmal Pfade, die in die Tiefe wie in Abgründe führen. Logik spielt für Dr. Brohh nur eine untergeordnete Rolle, dennoch versteht ihn jeder gleich auf den ersten Blick. Der Mann denkt in Gefühlen. Ich war so angetan von seinen Stücken, dass ich mich sogar zu drei, vier Zeilen einer Lobeshymne verstieg.

„Jede Stadt hat ihre Besonderheiten, Shiras seine Rosen, Venedig seine Kanäle, Rom das Kolosseum, aber Wien brüstet sich mit ganz anderen Dingen: Es hat seinen Geist, der sich regelmäßig in sterblicher Hülle verkörpert, und zwar in keinem Geringeren als Dr. Hieronymus Brohh. Der ist seines Zeichens Orakel, genauer gesagt, ein Kaffeehausorakel, dessen Verlautbarungen über Gott und die Welt unter den führenden Kreisen der Stadt einen hervorragenden Ruf genießen. Dr. Brohh schreibt über alles: über Gott, den Teufel, den letzten Kaiser und den Anstieg des Meeresspiegels. Natürlich ist er nirgendwo kompetent, wie es Fachleute sind, die nur von ihresgleichen gelesen werden. Nein, Dr. Brohh wird gerade deswegen von allen verstanden, weil er aus der Tiefe des Bauches redet.“

Glücklicherweise habe ich diese pathetischen Zeilen über den Bauchredner Brohh gar nicht erst abgeschickt, sondern sie dem Papierkorb zu fressen gegeben. Brohh – Brohh mit Doppel-H, bitte schön, wie er stets zu betonen pflegt – hat mein Lob nun wirklich nicht nötig: Er ist eine Wiener Institution. Ich würde sagen, dass man ihn aus Wien so wenig wegdenken kann wie den Stephansdom, die Lippizaner, das Burgtheater, den Parteienproporz oder die Kapuzinergruft. Deswegen gab es unmittelbar nach meiner Ankunft für mich auch gar keine andere Wahl, als mich um ein Treffen mit dem stadtbekannten Mann zu bemühen. Wie sollte ich Wien und seine Menschen ergründen, ohne dabei aus dem hierzu berufensten Munde belehrt zu werden?

Brohh imponiert mir sogleich durch seine Körperfülle. Stattlich, geht es mir durch den Kopf, diese großzügige, imponierende, geradezu einschüchternde Leibesmasse. Als literarischer Anfänger dürfte man sich, so wollte es mir scheinen, eine solches Volumen nicht leisten. Das will verdient und erarbeitet sein.

Brohh lächelt mir skeptisch, wenn auch keineswegs unfreundlich zu, als ich ihm meinen Vorsatz eröffne, in die Tiefen der Wiener Seele vorzudringen. Deswegen sei ich hier.

Na servus, junger Mann, tollkühn sind Sie, wirklich tollkühn. Typisch deutsche Naivität, das muss ich Ihnen schon sagen.

Brohh schnippt mit den Fingern, als hätte ich ihm soeben eine Sensation offenbart.

Übrigens haben das schon viele Ihrer Landsleute versucht, sind aber alle kläglich gescheitert. Wenn ich Ihnen einen guten Rat geben darf. Trinken Sie erst mal drei Jahre lang in einem von unseren Heurigenbeisln. Ich gebe Ihnen da gerne eine Empfehlung im Hinblick auf die zu inhalierende Flüssigkeit. Es muss nicht unbedingt der beste Jahrgang sein, den Sie sich inkorporieren. Wichtig ist nur, dass Sie regelmäßig im Vollrausch sind, Wien ist nämlich mit Vernunft nicht zu fassen, schon gar nicht mit kantischer Vernunft, wie Sie als Deutscher sie im Gepäck bei sich führen. Darf ich Ihnen als Kind dieser Stadt ein Geheimnis unter vier Augen anvertrauen?

Brohhs Blick verengt sich, wird intensiv, als wollte er mir die Botschaft nachhaltig in den Schädel brennen.

Wien steht jenseits und über aller Vernunft! Hier blüht nicht der kategorische, sondern der Imperativ von Seele und Gefühl.

Er legt eine Kunstpause ein, dann fährt er fort, wobei er mich weiterhin mit zusammengekniffenen Augen mustert.

Aber, was sage ich da, in Ihrem jetzigen durchaus unerleuchteten Zustand werden Sie mich gar nicht verstehen. Dazu müssen Sie sich zunächst einmal häuten, Ihre ganze Vergangenheit als Deutscher erst einmal vergessen - radikal vergessen.

Seine Reden verfehlen nicht, einen gewaltigen Eindruck auf mich zu machen. Ich war ja soeben erst eingetroffen. Dr. Brohh beeindruckt mich, wenn er so nach Art eines gelangweilten Weisen von oben herab zu mir und seinen vielen Bewunderern spricht, die ihn regelmäßig solange umringen, bis er sie mit einer müden Bewegung der linken Hand plötzlich entlässt, weil der schöpferische Impetus über ihn kommt – von irgendwoher aus der Höhe fällt er gleichsam auf ihn herab. Dann zückt Brohh Bleistift und Papier, richtet den Blick auf ein vor ihm liegendes Heft und macht im selben Augenblick allen Anwesenden klar, dass er nicht länger gestört zu werden wünsche.

Sich selbst überlassen und der vor ihm stehenden Tasse Melange, bringt Dr. Brohh dann seine Aphorismen oder jüngsten Erkenntnisse über die Wien- und Weltpolitik zu Papier, die regelmäßig in einer Kolumne der ‚Presse’ und anderen Wiener Zeitschriften erscheinen. Mein erster Eindruck ist der eines Buddha. Ich glaube, er selbst fühlt sich auch ganz wie der indische Heilige, denn was er seiner Umgebung dozierend übermittelt, trägt er stets im Ton der Beglückung vor. Die Wirkung ist unverkennbar – alle jene, denen er eine Audienz gewährt, scheinen seinen Dunstkreis in geläuterter Stimmung und innerlich gestärkt zu verlassen. Mir steckt er bei unserem ersten Treffen, sozusagen als besonderen Vertrauensbeweis, einen Artikel aus seiner Feder zu: Der sei kürzlich im Wiener Tag- und Nachtfalter erschienen.

Die Verengung der Welt

Von Dr. Hieronymus Brohh

„So ist er nun mal der Herr Karl, unser Zeitgenosse auf der Insel der Seligen: Eng angekettet an den Pflock seiner Augenblickswünsche und unbedeutenden Tagessorgen, blickt er fast nie über den Tellerrand der gerade fälligen Aktualität. Während die vier Wände seiner Mietwohnung im ersten Bezirk für ihn die Grenzen des Kosmos bilden, entgeht es ihm ganz und gar, wie der große, runde durch das All trudelnde Globus unter ihm gleichsam schrumpft und verschrumpelt, ganz so als wollte der spielende Knabe, der unser Schicksal nach der Vorstellung der alten Griechen in seinen Händen hält, sich einen besonderen Spaß daraus machen, den Erdball auf einer heißen Herdplatte auszudörren. Die Welt wird eng, ja sie wird sogar jeden Tag etwas enger, ganze Teile sind bereits extraterritorial – Feindes- und Niemandsland, wo sich Herr Karl nicht mehr hintrauen würde. Da sind die neuen Kopfjäger unterwegs, die neuen Kannibalen, die neuen Lösegelderpresser, die neuen Vergewaltiger, Henker und Schlächter, die nicht einmal davor zurückschrecken würden, einem braven Wiener aus dem ersten Bezirk den Kopf abzuschneiden. Die Welt wird eng - und Herr Karl hier in Wien bekommt das nicht einmal mit.

Es ist kaum zu glauben: Schnelle Autos hat fast jeder von uns, bei manchen sind es schon zwei oder drei pro Familie, aber inzwischen gibt es ganze Regionen, die wir ohne Gefahr für Leib und Leben nicht länger befahren dürfen. Flugzeuge fliegen jedes Jahr in größerer Menge, aber es gibt immer weniger Plätze, auf denen wir unbesorgt landen können. Davon aber will unser Herr Karl gar nichts wissen. Er bildet sich immer noch ein, auf einer Insel zu leben, einer Insel der Seligen, wie er das nennt. Ungerührt, als wäre nichts geschehen, schlürft er allmorgendlich seinen Espresso in sich hinein, ungerührt, als gäbe es die weite Welt nicht einmal. Dann verbringt er den restlichen Tag damit, den aufgestauten Grant auszuschwitzen.“

Solche Worte perlen dem Dr. Brohh mühelos aus der Feder. Andeutungen, Anspielungen und geistreiche Pirouetten scheinen ihm zuzufliegen, aber manchmal treibt er es doch zu arg, so jedenfalls kam es mir damals vor. Erst sehr viel später sollte es dann gerade der Schluss dieses Aufsatzes sein, der mir nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte. Ist Brohh da etwa selbst zum Sprachrohr für jenen Würfel spielenden Knaben geworden, den er in seinem Artikel erwähnt (zweifellos mit der bekannten Eitelkeit eines Literaten, der ganz gern die Pfauenfeder seiner humanistischen Bildung spreizt)? Dr. Brohh beendet seinen Artikel mit folgenden Worten, die ich jetzt, wo ich diesen Bericht niederschreibe, nicht ohne Erschütterung lese und wiederhole:

„Und wenn in unserer Zeit, wo auf einmal alles möglich erscheint, selbst das Unmögliche geschähe? Ich meine, wenn Wien selbst schrumpfen würde, weil wir nun einmal im Zeitalter der Globalisierung leben, und kein Ereignis vor den Toren der eigenen Stadt nur deswegen stehen bleibt, weil wir die Ampel auf rot gestellt haben? Angenommen, Wien würde enger und enger werden, angenommen, wir würden in der Stadt nur noch zu Fuß gehen können, weil nur noch der Erste Bezirk und vielleicht noch der Naschmarkt übrig bleiben? Eine absurde Vorstellung, hält mir der ungeneigte Leser entgegen? Gewiss doch, das gebe ich bereitwillig zu, aber aufgepasst: Wir leben in einer Zeit der Absurditäten, die uns wie die apokalyptischen Reiter von allen Seiten bedrängen.“

Elli Koschinsky

Das Café Griensteidl liegt im Schatten der Hofburg gleich neben dem großen Eingangsportal. Ich betrete es in aller Früh und nicht ohne Grund: Im Gegensatz zu den meisten intellektuell knisternden Köpfen der Stadt gehört Brohh zu den seltenen Morgenmenschen. Dass er mich nicht wiedererkennt, wundert mich keinesfalls. Es ist doch klar, dass ich für diesen Geistesriesen nur ein Piefke unter vielen bin, eine Spezies, die ihm nicht sonderlich gefällt, auch wenn er ihr gern seine Belehrungen erteilt. Heute allerdings betrete ich das Café am Michaelerplatz so zeitig, dass ich nur eine einzige Person ihm gegenüber bemerke, und von dieser nur den Rücken und das rostbraune Haar. Erst als ich mich auf der Höhe der Sitzecke befinde, erkenne ich Elisabeth Koschinsky. Ich zucke zusammen, kein Zweifel, sie ist es. Schon zweimal habe ich sie auf der Bühne des Burgtheaters gesehen und auf Anhieb bewundert, zuletzt in Horvaths „Geschichten aus dem Wiener Wald“, wo sie die unglückliche Marianne spielte.

So verblüfft bin ich im ersten Moment über diese Begegnung aus nächster Nähe - bis dahin hatte ich sie ja nur aus der Ferne mit stark geschminktem Gesicht gesehen -, dass es mir die Sprache verschlägt und Dr. Brohh mich mit einem Ausdruck mustert, in dem sich abweisende Skepsis und Mitleid mischen: das Mitleid mit einem offensichtlichen Tollpatsch.

Es ist ein Glück, dass mir die Koschinsky mit einem Lächeln entgegenkommt, einem Lächeln, das ich, um es gleich hier zu Beginn meiner Chronik wahrheitsgemäß zu verzeichnen, von keinem anderen Menschen kenne. Sie hilft mir aus der Verlegenheit, kaum dass ich meinen Namen ausspreche.

Also Sie sind der Carsten Reddlich, dem ich das Loblied auf unsere Aufführung in der Frankfurter Allgemeinen verdanke! Bitte setzen Sie sich doch. Brohh, dieser junge Mann hat ein Gespür für Horvath und unser Burgtheater wie sonst kein anderer Deutscher.

Dr. Brohh nickt ihr zu und legt ihr die Hand auf den Arm.

Liebe Elli, wie schön ich es finde, dass Sie so begeisterungsfähig sind! Glauben Sie mir, die Begeisterung, das ist eine beinahe metaphysische Qualität, die den Ausnahmemenschen von bloßen Kopien unterscheidet. Ich glaube Ihnen sofort, dass der junge Mann Sie Ihren Verdiensten entsprechend gewürdigt hat, alles andere würde ja eine totale Verkennung Ihrer Talente bedeuten. Aber, bitte schön, das heißt noch lange nicht, dass der junge Mann Horvath, Wien oder gar die Wiener Seele wirklich versteht. Lobreden halten, Verrisse schreiben, kurz, halbwegs intelligente Gedanken über dieses und jenes sekretieren, das bringt jeder von uns Federfuchsern ohne viel Geistesaufwand zustande.

Schicken Sie mich zum Beispiel, na sagen wir, unter die Eingeborenen nach Papua-Neuguinea. Sie werden sehen, mit welcher Kunstfertigkeit und Überzeugungskraft ich die Leistungen der dortigen Einheimischen beschreibe, die es neuerdings fertig bringen, von der Jagd auf menschliche Köpfe auf die von Kasuaren umzusteigen, und dass anscheinend mühelos, ohne seelischen Schaden zu nehmen. All das würde ich sozusagen aus dem Ärmel schütteln. Geistesflüge solcher Art gehören nun einmal zu den Hausaufgaben aller halbwegs literarisch gebildeten Menschen. Jeder von uns hat seinen sprachlichen Instrumentenschrank mit allerlei Gerät vollgestopft, das uns in allen erdenklichen Lagen über die Runden hilft.

Aber heißt das schon, dass ich die Einheimischen Papua-Neuguineas wirklich verstehe? Nein, natürlich heißt es das nicht, obwohl ich auf dieser Pazifikinsel doch nur in das Innenleben von Wilden eindringen muss. Aber jetzt machen Sie bitte einen Sprung über mehrere Tausend Jahre Zivilisation zu unseren unendlich viel raffinierteren Wienern mit ihrer hochgezüchteten Seele. Wie soll ein Fremder das begreifen?

Ich kann mir ein heimliches Lächeln nicht verkneifen. Dieses Phantasieren über die Kasuare von Neuguinea und die hochgezüchtete Seele der Wiener, das ist schon der ganze Brohh: witzig, amüsant und alles so leicht dahingesprochen, dass er seine Anhänger zur Not Tage lang auf diese Art zu unterhalten vermag. Und dennoch ziehen seine Worte in diesem Augenblick an mir vorbei. Sie strömen sozusagen ins Leere, weil ich meine Augen nicht von Ellis Gesicht losreißen kann. Ich glaube, ich brauche mich nicht näher zu erklären. Jeder hat in seinem Leben irgendwann diesen Moment erlebt, da ein Funke überspringt, er innerlich sozusagen in Brand gerät. Mein Verstand ist nahezu kalt gestellt, nicht völlig ausgeschaltet natürlich, denn ich gebe mir alle Mühe, meine innere Verfassung unter Verschluss zu halten. Es gibt nun einmal Konventionen, über die man sich nicht hinwegsetzen kann. Doch dass ich von dieser Frau nicht mehr loskommen werde, das ist mir augenblicklich auf eine beinahe schmerzhafte Weise klar. Ihre Stimme, ihr seltsam schwebendes Lächeln, ihr rostbraunes fast bis auf die Schultern fallendes Haar - alles an dieser Frau fesselt mich.

Wissen Sie übrigens, wendet sich Elli mir zu, als hätte sie etwas von meiner inneren Erregung bemerkt und wollte mich von sich selbst und den Witzeleien Dr. Brohhs ablenken, wissen Sie, dass alle Welt ganz wild nach diesem Handaufleger aus Deutschland ist? Forchtel heißt er und hat einen Blick, einen sehr seltsamen, ich würde sogar sagen, einen Blick, vor dem man sich fürchten muss. Er dringt unter die Haut und zieht die einen magnetisch an, während er bei den anderen im Gegenteil Widerstand oder sogar Widerwillen hervorruft. Nur gleichgültig bleibt keiner in seiner Gegenwart. Dieser Mann lässt niemanden kalt.

Brohh bekräftigt ihre Worte mit einem Nicken.

Es scheint, dass gerade unter den Damen der besseren Gesellschaft viele seiner Anziehungskraft erliegen. Ja, in diesem Handaufleger sehe ich eine Art wiederauferstandenen Rasputin, ein Phänomen zweifellos. Man könnte auch sagen, ein Hand-werker im besten und überhaupt ganz wörtlichen Sinne, der ein nahezu ausgestorbenes Gewerbe von neuem belebt. Die meisten benutzen ihre zwei Pranken doch nur, um in Wirtshäusern damit Radau zu machen oder zu anderen mehr oder weniger banalen Verrichtungen. Ich finde diesen Mann – Forchtel heißt er? – zunächst einmal aufregend und durchaus kompatibel mit unserer alten und neuerdings etwas kraftlosen Vindobona. Ich würde sogar sagen, er passt nach Wien, auch wenn er ein Deutscher ist, aber immerhin kommt er aus Rosenheim in Bayern, woher viele unserer fernen Ahnen stammen.

Wissen Sie, spricht Dr. Brohh jetzt zu mir hinüber, wir Österreicher lieben das Immaterielle, wir sind geradezu süchtig nach Geist. Und dieser Mann gebraucht seine Hände, um damit Geist auszusenden, einen feurigen Strom sozusagen, der unsichtbar auf andere überfließt, wie es scheint, vorzugsweise auf den weiblichen Teil unserer Stadt. Energie, nennt er das.

Also Energie, meinetwegen! Energie haben wir hier dringend nötig. Der einzige Fehler des typischen Einheimischen unserer Stadt besteht doch darin, dass ihn unsere zweitausendjährige Zivilisation schlaff und müde machte - manche von uns sind geradezu Defätisten. Wenn da jemand aus dem von roher Kraft immer noch strotzenden Bayern kommt, vollgeladen mit Energie, dann soll er willkommen sein.

Mitten in seiner Tirade bricht Brohh plötzlich ab, räuspert sich. Seine Augen nehmen einen sinnenden Ausdruck an, genauer gesagt, schaut er über Elli Koschinskys und meinen Kopf hinweg irgendwohin in die Leere. Schluss! Das Zeichen ist unverkennbar. Elli begreift so gut wie ich, dass der besondere Moment gekommen ist, wo der schöpferische Geist sich auf Dr. Brohh niedersenkt, mit schnellem Flügelschlag sozusagen. Die Audienz ist vorüber. Wir dürfen gehen.

Wir stehen vor dem Griensteidl auf dem Michaelerplatz.

Nach der Lektüre Deines schönen Artikels, sagt Elli zu mir, hatte ich sofort den Wunsch, Dich irgendwann zu treffen.

Die Wirkung dieser Worte vermag ich im Nachhinein nur schwer zu beschreiben. Diese Zeilen notiere ich sehr viel später, und ich verfüge natürlich über genug Erfahrung als Feuilletonist, um zu wissen, dass ein Autor sich hüten sollte, seine Gefühle auf allzu offensichtliche Art auszudrücken. Deshalb erlaube man mir die ornithologische Verfremdung. An diesem Tag glaube ich über den Kohlmarkt mit weit geöffneten Schwingen zu schweben und dabei nur ein einziges Bild vor meinen Augen zu sehen, das Bild dieser Frau. Ein oder zweimal wurde ich auf dem Graben angesprochen, aber ich fliege weiter, nehme niemanden der an mir Vorbeiströmenden wahr. Wie im Traum gelange ich zu meiner Wohnung in der Seilerstätte.

Die schöne Leich

Dr. Dombrowsky fühlte sich natürlich besonders geehrt, dass man ihm diesen Fall anvertraute. Keinerlei äußere Spuren deuten auf ein Organversagen, so teilte man ihm vor seiner Ankunft im Leichenhaus mit. Noch dazu handele es sich um einen ehemaligen Österreich-Meister im Kugelwerfen.

Von der Richtigkeit dieser Feststellung konnte sich Dombrowsky alsbald durch den Augenschein überzeugen. Üppige Muskelpakete ließen die Oberarme wie wohlgerundete Hühnerkeulen aussehen. Es war, mit anderen Worten, ein perfektes Mannsbild, das da auf der Bahre unter dem Schein der Neonbeleuchtung lag, nur eben tot – und darin lag die Herausforderung, die Dombrowsky zu seiner eigenen und zur Befriedigung der ärztlichen Kunst meistern sollte. Es galt, die Ursache für dieses merkwürdige Ableben zu finden.

Ereignet hatte sich der Unfall – wenn man überhaupt von einem solchen sprechen durfte – auf der Mitte der Kreuzung, wo die Josefstädterstrasse nach einem Rechts- und einem daran anschließenden Linksknick den Gürtel quert. Die Beifahrerin, eine Freundin des Sportlers, brachte, von der Polizei befragt, nichts als stammelnde Laute über die Lippen. Boris hätte, so gab sie zu Protokoll, kurz zuvor noch einen Witz über einen seiner Kollegen vom Sportsverein gerissen, so einen Herrenwitz, wissen Sie, den ich als Frau nicht erzählen kann. Er habe wild gelacht, ja, aber leider nur kurz, denn gleich darauf sei er mitten im Lachen verstummt.

Die Frau verstummte nun ebenso und begann still zu schluchzen.

Nun fahr doch endlich, habe sie ihren Freund gedrängt. Die Ampel sei längst auf Grün gesprungen, und die Fahrer in ihrem Rücken hätten schon wild zu hupen begonnen. Aber er fuhr nicht, saß einfach da. Sie hätte ihm einen Puff in die Rippen versetzt, und dann, ja dann sei sein Kopf einfach so nach vorne gekippt.

Erneut musste die Polizei ihr Schluchzen abwarten, bis sie am Ende hervorstieß:

Wissen Sie, ich kann es einfach nicht fassen, das ist so unbegreiflich!

Und Sie selbst haben überhaupt nichts bemerkt, fragte einer der Polizisten.

Doch, es sei ganz eigenartig gewesen. Während er seinen Witz erzählte – wir befanden uns da schon fast in der Mitte des Gürtels – hätte sie plötzlich ein seltsames Kribbeln am ganzen Körper verspürt. So etwas habe sie schon einmal erlebt, damals auf einem Ferienaufenthalt in der Nähe von Barcelona, als der Weg unter einer summenden und reichlich tief hängenden Hochspannungsleitung verlief. 380 000 Volt, ein seltsames Gefühl. So ähnlich sei es auch auf der Kreuzung gewesen.

Dombrowsky hatte den Akt sorgfältig gelesen. Als er auf die Stelle mit dem Kribbeln stieß, konnte er sich eines Lächelns nicht erwehren. Typisch weiblich, dachte er. Was die Frauen sich so zusammenreimen! Mitten in Wien Hochspannung auf einer viel befahrenen Kreuzung. Absurd! Der Mann hatte einen Schaden, das war alles, und er, Dombrowsky, würde diesen Schaden aufgrund seiner langen Erfahrung als Gerichtsmediziner alsbald ermitteln und mit vorschriftsgemäßer Ausführlichkeit beschreiben.

Zu diesem Zwecke wurde der ehemalige Kugelwerfer nach allen Regeln der ärztlichen Kunst in seine sämtlichen Teile zerlegt: das Herz, die Lungen, die Milz und die Leber, natürlich auch das Stammhirn und die Nebenhirne. Dieser Arbeit vermochte Dombrowsky gerade dann mit besonderer Genugtuung zu obliegen, wenn sie einen jung Verstorbenen betraf, denn dann konnte man noch das großartige Werk der Evolution bewundern, die in allerhöchster Präzision und ohne Scheu vor einem unglaublichen Aufwand an Komplexität das perfekte Uhrwerk eines lebenden Organismus erschuf.

Eine schöne Leich, murmelte Dombrowsky immer wieder und bewies damit auf seine besondere Art, wie groß die Ehrfurcht des Wieners vor dem Tode in seiner erhabenen Schönheit ist. Natürlich ließ Dombrowsky diesmal keinen einzigen Schritt der üblichen Prozedur außer Acht. Die einzelnen Organe wurden fein säuberlich abgetrennt, zerlegt, abgelichtet und physiologisch wie nach dem Augenschein der sorgfältigsten Begutachtung unterworfen, Gewebeproben entnommen und an die einschlägigen Institute zur genaueren Untersuchung verschickt.

Das Ergebnis war dann freilich auf schmerzliche Art enttäuschend – zumindest für einen so gewissenhaften Gutachter wie Dombrowsky. Man muss sogar sagen, es war sehr enttäuschend, denn schließlich ging es dabei um seine ärztliche Reputation. Ein Mensch stirbt ja nicht einfach so, von einem Moment auf den anderen und noch dazu mitten beim Erzählen eines deftigen Herrenwitzes. Eine Wirkung muss ihre Ursache haben, ihren nachweisbaren Grund - das war und ist ein Grundsatz der Medizin, an dem nur Schwachsinnige und Esoteriker zu rütteln oder zu zweifeln wagen. Doch Dombrowsky, einer der angesehensten Spürhunde seiner Zunft, dem auch der kleinste Webfehler eines menschlichen Körpers nicht zu entgehen vermochte, entdeckte zwar, dass die Leberwerte des Mannes aufgrund einer zehn Jahre zuvor ausgeheilten Hepatitis – unerfreuliche Nachwirkung eines vormaligen Indienbesuchs - den Normwert nicht völlig erreichten, doch in jeder sonstigen Hinsicht war der Mann kerngesund, ja strotzte geradezu vor Gesundheit. Dombrowsky musste sich eingestehen, dass es keinen Grund für sein Ableben gab, oder dass - genauer gesagt, denn einen Grund musste es ja geben, da nichts auf dieser Welt grundlos geschieht - dass er, Dombrowsky, diesen Grund nicht zu finden vermochte. Das wurmte ihn schrecklich, bereitete ihm geradezu geistige Pein. Andererseits war Dombrowsky ein von Grund auf ehrlicher Mann, ehrlich genug jedenfalls, genau das in seinem Befund zu vermerken.

Wörtlich bezeichnete er das Ableben von Boris Kowatsch als unerklärlich. Das hätte er besser nicht tun sollen!

Rosen, Rosen, Rosen

Kurze Zeit nachdem Dombrowsky sich über eine ‚schöne Leich’ gebeugt hatte, wobei er sie kunstfertig in ihre nicht weniger schönen Einzelteile zerlegte, streiche ich durch den Volksgarten neben dem Heldenplatz, der seinen Besuchern zu dieser Zeit ein üppig blühendes Prachtgewand zeigt. Mein Blick schweift über die lächelnden kleinen Gesichter Tausender karmesin-, ziegel-, blut- und orangeroter, gelber und selbst einiger weißer Rosen, er streicht achtlos über die Mütter mit ihren Kinderwagen, während ich mich zwischendurch über all die kamerabewehrten Touristen wundere, die links und rechts Bilder schießen, ganz als wären in ihrer Heimat Rosen unbekannt oder gehörten einer ausgestorbenen Spezies an. Vermutlich gehorchen sie nur einer inneren Stimme, die ihnen eindringlich den Befehl zuflüstert.

Hier bist du Tourist, hier musst du’s sein!

Der Tourist als solcher hat eben nichts anderes zu tun, als links und rechts alle möglichen Bilder zu schießen. Ich hingegen fühle mich merkwürdig abgelenkt. Zwar könnte ich mir die kleinen weißen Auskunftsschilder anschauen, welche die Rosen aus ihrer namenlosen Existenz in das Bewusstsein bildungsbeflissener Betrachter katapultieren. Die geben auf Deutsch und Latein brav Auskunft über die genaue Bezeichnung einer jeden von ihnen. Doch zu dieser Erweiterung meiner Bildung geht mir die innere Ruhe ab.

Ich bin nämlich hier, um zu warten.

Ich könnte mich auch fragen, ob der Mann, der mir gerade entgegenkommt, ein Japaner oder ein Chinese sei. In jüngster Zeit sind die einen im Rückzug, während die anderen gerade im Begriff sind, das Alte Europa in Massen heimzusuchen, weil sie darin eine Art Freilichtmuseum erblicken.

Aber ich stelle mir diese Frage nicht, ich warte.

Da vorn, es ist nicht zu fassen, sehe ich eine in Pechschwarz von unten bis oben umhüllte Frau, die in ihrer Rechten ein Eis balanciert, das irgendwie durch den schwarzen Stoffpanzer zu ihrem Mund kommen will. Also hebt sie den Lappen über dem Eingang mit einem Handschlenker blitzschnell in die Höhe, um kurz an der Leckerspeise zu züngeln. Ich kann nicht umhin, dieses rote Züngeln aus schwarzer Mumifizierung im höchsten Grade aufreizend zu finden, ja geradezu obszön.

Wäre es nicht weniger aufreizend, wenn sie ihr Eis in vollständiger Nacktheit verzehren würde? Dieser Gedanke verdient es, vertieft zu werden.

Aber ich vertiefe ihn nicht, denn ich warte.

Zwanzig Minuten spaziere ich nun schon im Volksgarten auf und ab. Meine Gedanken sind im Begriff, eine unerfreuliche Wendung zu nehmen. Gewiss doch, ich weiß ja, dass Frauen seelisch darauf programmiert sind, die Zögernden, Abwartenden, Zurückhaltenden zu sein. Eine Frau hat das Recht, ihren Liebhaber auf die Folter zu spannen. Das trägt unfehlbar dazu bei, den Testoteronspiegel des Mannes zu erhöhen und sein inneres Feuer umso stärker zum Lodern zu bringen.

Aber bitte, Elli, du solltest dennoch nicht übertreiben! Bedenke doch, ich bin ein vielbeschäftigter Journalist. Ich brauche Dir nicht zu sagen, dass mein Name unter Kennern inzwischen einen gewissen Ruf genießt. Auch wenn du eine bekannte Schauspielerin bist, bin ich doch kein Irgendwer, kein Schüler, der dem Rendezvous mit seiner ersten Liebe entgegenzittert!

Diese dummen und kleinlichen Überlegungen schießen mir durch den Kopf – ich habe größte Mühe, sie jetzt wahrheitsgemäß zu verzeichnen. Wahr ist aber auch, dass sie mich gleich danach über die Maßen geärgert haben. Aber so ist es eben: Ein Wartender verliert alle Kontrolle über den eigenen Kopf. Die Unruhe fährt ihm wie eine Lähmung in die Glieder, alles was sich im Mülleimer seiner Seele über die Jahre an gedanklichem Unrat so angesammelt und abgesetzt hat, spritzt, wenn Du einen solchen Menschen auf das Folterrad des Wartens spannst, unkontrolliert aus dem Bauch in die Höhe und breitet sich wie ein schillernder Ölteppich in seinem Bewusstsein aus.

Bitte sehr, möchte ich deshalb sagen: Das allein ist doch schon ein ausreichender Grund, warum eine Frau ihren Liebhaber niemals so quälen sollte!

Zum Beispiel gehen mir in diesem Augenblick die Helden durch den Kopf und auf die Nerven; ich meine die Helden des benachbarten Platzes gleichen Namens. Unsere demokratische Zeit liebt keine Helden, poppen die Gedanken aufgescheucht in mir auf. Die erinnern uns auf peinliche Art immer nur daran, dass wir selbst keine sind. Ihre bloße Existenz ist eine Demütigung.

Ich warte und brechen die Gedanken in meinem Kopf so aus wie eine Schar Schuljungen, wenn es zur Pause läutet.

Helden? Da werden doch nur die armseligen Dummen nachträglich verklärt, die sich für das Vaterland abschlachten ließen, genauer gesagt für den Kaiser und seine Spielzeuggeneräle, die, gleichmütig lächelnd über das Schachbrett der Macht gebeugt, die kleinen Leute an den Fronten verheizten. Welcher Triumph wurde da denn eigentlich gefeiert? Na ja, im Zweifelsfall war Prinz Eugen am Werk, der in Wien für die meisten Heldentaten zuständig ist. Nein, das wird wohl doch nicht stimmen. Wenn ich mich recht entsinne, geht es um den Sieg Erzherzog Karls über Napoleon.

Ich warte Elli, ich warte. In aller Freundschaft möchte ich dir sagen: Eine halbe Stunde Verspätung, das ist Gift für die Gefühle. Ich liebe dich, aber wenn du mich als Spielzeug missbrauchst, dann ...

Heldenplatz! Wenn man die vermeintlichen Helden doch wenigstens ins Leben zurückrufen könnte, damit wir wissen, wie es zu ihrer Zeit wirklich war.

Aber Schluss damit! Die Vergangenheit geht mich nichts an. Nur die Gegenwart zählt. Ich schreibe über Leute, die ich sehen und die ich berühren kann. Geschichte interessiert doch heute niemanden mehr.

Elli, ich begreife ja, dass sich eine Schauspielerin nicht um die pedantische Botschaft von einem Ziffernblatt kümmern muss. Die Kunst steht über der Zeit. Das wissen wir. Aber wenn du schon weißt, dass der Regisseur absoluter Herr über deine Terminplanung ist, warum bestellst du mich dann in den Rosengarten? Soll ich denn gleich zu Anfang die Grundlektion lernen: Liebe ist Schönheit plus Dornen?

Warten, warten und warten - das ist wie ein Rühren im Gedankenschlamm des Gehirns. Alles wird aufgewirbelt, selbst der übelste Argwohn und der dümmste Verdacht. Jetzt stelle ich mir doch tatsächlich die Frage, ob ich der Frau Schauspielerin etwa nicht gut genug bin? Habe ich vielleicht eine schlechte Figur gemacht, als ich Dr. Brohh gegenübersaß? Ja, es stimmt: Ich war die meiste Zeit über stumm, gelähmt von Bewunderung für die Frau an meiner Seite. Aber sie hat mir doch vor der Tür des Griensteidl sogleich das Du angeboten, sie ging bereitwillig auf meinen Vorschlag zu einem Treffen ein! Deswegen, nur deswegen steh ich hier.

Da spricht die verletzte Eitelkeit, sagt mir mein anderes, mein besseres Ich. Das Dümmste, was dir jetzt einfallen kann, ist Vergangenheitsforschung, ob du vielleicht in diesem oder in einem anderen Moment dieses oder jenes unbeholfene Wort von dir gabst.

Reiß dich zusammen! Immerhin hast du ihren Auftritt in Horvaths Wiener Geschichten voller Enthusiasmus geschildert. Natürlich bist du dabei nicht ganz ehrlich gewesen, gib das nur zu. Dafür aber hast du dich ja auch längst gehörig gegeißelt. Du warst hingerissen von ihrer Figur, von ihren Bewegungen, von ihrer Stimme – jedenfalls wenn sie zwischendurch einmal leise sprach. Aber das hat sie leider eher selten getan.

Schade, dass unsere heutigen Schauspieler nur noch in Ausnahmefällen leise sprechen, etwa dann, wenn sie heiser sind oder physisch leidend. Im Normalfall wird auf sämtlichen deutschen Bühnen gebelfert, gekrächzt, gebrüllt und gekreischt - was die Lunge eines Schauspielers nur so hergibt. Die Leidenschaft wird bei uns durchwegs in Dezibel gemessen. Gefühle müssen eimerweise ausgegossen werden, sonst nimmt man sie nicht mehr wahr.

Das hast du in deiner Kritik unterschlagen, und deswegen war deinem Lob eben auch ein Quäntchen Unehrlichkeit beigemischt. Aber, bitte, kein Kritiker hat Elli Koschinsky so auf den Podest der großen Kunst gehoben. Deinen Artikel kann sie sich zu Hause einrahmen und an die Wand anheften, wie man eine Ehrenurkunde aufbewahrt. Ist es denn nichts, in einer führenden deutschen Tageszeitung so in den Himmel gelobt zu werden?

Mein Selbstgespräch wird zur Selbstquälerei, weil jetzt schon dreißig Minuten vergangen sind, dreißig Minuten im Rosengarten mit Blick auf den Heldenplatz nebenan.

Sei still, Carsten, rede ich auf mich ein. Ich weiß schon, was du sagen willst, hast es mir ja schon zum x-ten Mal unter die Nase gerieben. Die Liebe einer Frau lässt sich nicht kaufen. Wenn ihr deine Person missfällt, kannst du noch so gute Artikel schreiben, sie wird dich allenfalls wie ein Schoßhündchen an der Schnur mit sich führen.

Auch das noch!

Servus Carsten!

Nein, das ist jetzt nicht mehr meine eigene innere Stimme, das ist auch nicht die Stimme Ellis, sondern das ist die Stimme von Thorbrecht Tannenberg.

Das auch noch! Ich schrecke zusammen. Um ehrlich zu sein, würde ich den Mann am liebsten löschen, ich meine so löschen, wie ich gewohnt bin, am Computer eine unpassende oder überflüssige Textstelle nachträglich zu entfernen. Jetzt, wo ich diese Zeilen schreibe, bin ich tatsächlich unschlüssig, ob ich Thorbrecht Tannenberg an dieser Stelle überhaupt nennen soll. Hätte ich einen frei erdichteten Roman zu verfassen, nun, dann würde ich dem Mann hier gewiss keinen Platz einräumen, jedenfalls nicht an dieser Stelle im Volksgarten, während ich auf Elli Koschinsky warte. Ich müsste ja langatmig erklären, dass er ein Physiker und Freund von Albert Kinsky, dem Bruder von Lisa, ist. Und natürlich müsste ich mich schon hier dafür rechtfertigen, dass ich zu Lisa – ich will es einmal ganz allgemein ausdrücken - ein besonderes Verhältnis besitze.

Also, in einem frei erfundenen Roman würde Tannenberg, die ‚kleine Tanne’, wie ihn seine Freunde nennen, an dieser Stelle ganz einfach stören, da ich ja auch noch ein Wort über seine physische Erscheinung, nämlich seine auffällige Kleinwüchsigkeit, den unübersehbaren Ansatz zu einem Buckel und über seinen Charakter hinzufügen müsste, damit der Leser überhaupt weiß, wen er vor sich hat.

Ich schreibe allerdings keinen Roman, sondern eine Chronik der Stadt Wien in einem ihrer historisch bedeutsamsten Momente, nämlich während der „dritten Belagerung“. Deshalb bin ich den Tatsachen und der Wahrheit verpflichtet und kann den Mann nicht einfach wegretuschieren. Ich muss ihn in meiner Nähe dulden, ich muss sogar im Einzelnen wiedergeben, was er mir sagt, obwohl es mich wirklich die größte Mühe kostet. Natürlich weiß er nicht, dass ich mich keinesfalls zufällig im Rosengarten befinde.

Carsten, hast Du das Neueste über den Fall Kowatsch gehört, den ehemaligen Kugelwerfer, angeblich mitten im Witzereißen verstorben? Ein Hexenzirkus, sage ich Dir, eine unglaubliche Geschichte. So etwas Tolles kann nur in Wien passieren. Du kennst ja unsere Götter in Weiß, nicht wahr?

Na, ich weiß, du bist eine treudeutsche Seele, unschuldig und naiv. Da wirst Du Dir gar nicht vorstellen können, wie schnell sich diese Götter in die ärgsten Teufel verwandeln. Nein, du hast wirklich noch keine Ahnung von Wien, du kennst nur die Schokoladenseite, Mozart etc. Aber Intrigen und süffisantes Übelreden haben sich bei uns zu einer unglaublichen Kunst, ich würde sogar sagen, zu einer Art von Kulturblüte entwickelt. Wien ist ein einziges Vipernnest, wo jeder nur darauf lauert, gegen den anderen sein Gift zu verspritzen.

Also, die steile Karriere des Dr. Dombrowsky und sein gewaltiger Erfolg waren seinen weniger begabten Kommilitonen und Konkurrenten schon längst ein Dorn im Auge. Ein geringfügiger Anlass genügte, um diesen Neid zu einem lodernden Brand zu entfachen.

Das hat sich so abgespielt. Die kleine Tanne tritt so nahe an mich heran, dass ich dem Mann auf die Glatze und den sich unterhalb der Schultern leicht vorwölbenden Buckel schaue, er ist ja einen ganzen Kopf kleiner als ich. Während er mir auf diese Art die letzten Nachrichten kredenzt, wundere ich mich über den seltsamen Gegensatz zwischen seinem redseligen Mund und den trübseligen Augen. Beide haben offenbar versäumt, sich miteinander abzustimmen.

Also, kaum hatte einer der Kollegen Dombrowskys von der ehrlichen aber herausfordernden Feststellung Kenntnis erhalten, dass der Tod von Boris Kowatsch in dessen Gutachten als unerklärlich bezeichnet wird, als dieser Kollege - wie sagt man? – ein Erweckungserlebnis hatte. So eine Äußerung, na servus, das war doch ein gefundenes Fressen! Das ließ sich doch prächtig gegen Dom­browsky verwenden! Daraus ließ sich doch ein Strick drehen, an dem man den Mann vor der gesammelten Ärzteschaft aufhängen kann!

Der Kollege machte sich umgehend daran, den führenden medizinischen Kapazitäten der Stadt den unglaublichen Fehltritt zur Kenntnis zu bringen.

Und es kam, wie es kommen musste. In der Professorenschaft röhrte es nur so vor wahrhaft homerischem Gelächter. Hat man jemals gehört, dass ein kerngesunder Mann auf unerklärliche Art von der Bühne tritt? Auf Anhieb war allen klar: Mit diesem einzigen Wort hatte Dombrowsky seine Karriere, seinen Ruf, seine wissenschaftliche Reputation, seine Zukunft verspielt. Das Lachen fraß sich im Nu durch die ganze höhere Medizin und langte selbst bei den Wiener Allgemeinärzten an. Natürlich wurde der Befund sogleich als völlig unwissenschaftlich, lächerlich laienhaft und unprofessionell gebrandmarkt.

Umgehend wendete man sich an Professor Ehrenreich. Dessen Spezialgebiet ist das unüberschaubare Feld der verschlungenen Wechselwirkungen zwischen der Physis und der Psyche des Menschen. Du kannst Dir vorstellen, wie ungehemmt sich da schwafeln lässt.

Ehrenreich wurde also gebeten, die Fehldiagnose Dombrowskys zu korrigieren. Das gelang dieser Koryphäe nach einer knappen und, wie es scheint, ganz mühelosen Überprüfung. Auch wenn er an den Ergebnissen Dombrowskys nichts zu ändern fand, so rückte er sie doch in ein völlig anderes Licht. Kowatsch, stellte er fest, sei zwar physisch gesund gewesen, aber offenkundig habe er unter einer übergroßen psychischen Spannung gelitten, einer Spannung so gewaltig, dass sie sogar auf seine Begleiterin übersprang. Die hätte ja wortwörtlich von 380 000 Volt gesprochen. Zwar habe der Sportler versucht, den inneren Aufruhr mit einem Männerwitz zu entkrampfen – wir alle kennen ja solche typischen Übersprungreaktionen - aber der innere Aufruhr habe ihn überwältigt. Das sei die eigentliche Ursache seines plötzlichen Todes gewesen.

Der große Ehrenreich ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen, seine Expertise mit einem Seitenhieb auf den glücklosen Dombrowsky zu schließen.

Leider, so hielt er in seinem Gutachten fest, sei selbst unter sogenannten Experten ein fundiertes Wissen um die psychophysischen Vorgänge beklagenswert selten. Das müsse sich ändern. Ein in der ganzheitlichen Medizin gut ausgebildeter Arzt würde niemals die unsinnige Meinung verbreiten, dass ein Mensch grundlos sterben könne. Wer so etwas behaupte, diskreditiere die Wissenschaft. Diese kenne nun einmal keine grundlosen Vorfälle.

Ich weiß nicht, wie weit Du das bisherige Geschehen verfolgt hast, schließt Tannenberg seinen Vortrag. In Wien hat der Tod von Boris Kowatsch jedenfalls jede Menge Staub aufgewirbelt. Der Mann ist schließlich nicht irgendwer. Der war einmal Olympiasieger im Kugelwerfen.

Aber ich sehe schon, die Sache interessiert dich gar nicht. Na gut, ich muss ja dringend ins Physikalische Institut. Also, bis zum nächsten Mal!

Es brodelt in meinem Kopf

Diese Begegnung ist mir nicht gut bekommen. Jetzt sind schon vierzig Minuten vergangen, ich fühle mich wie ein Fakir, der das erste Mal versucht, auf einem Nagelbett zu schlafen. Die Begegnung mit Tannenberg hat mich noch zusätzlich aufgerührt. Im Grunde ein lieber Kerl, nur leider zu klein geraten und auch nicht gerade schön, da ist man wohl von Natur aus mit Ressentiments voll gestopft.

Aber jetzt reicht es. Keine Sekunde warte ich länger, nicht einmal für die schönste, geistreichste und bezauberndste Frau dieser Welt. Immerhin müsste sie wissen, dass unsereins seine Tage nicht als Müßiggänger verbringt. Ich stehe unter der Fuchtel einer Redaktion, die mich für komprimierten Geist bezahlt, und zwar zeilenweise, nicht für stundenlange Ausflüge zum Heldenplatz und Umgebung.

Na ja, all diese verrückten Sprüche, die einem bei solcher Gelegenheit unzensiert durch den Schädel jagen. Eine Frau, die man liebt, sei wie ein drittes Auge, ein Auge, mit dem man neue Welten erblickt, so habe ich einmal gelesen. Aber das ist nicht wahr. Eine Frau, auf die man wartet, gleicht eher einem Tumor, den man möglichst schnell wegoperieren sollte, bevor er einem das Hirn vergiftet.

Elli, ich gehe.

Im selben Augenblick, da ich mich entschlossen zum Fortgehen wende, weiß ich, dass ich meinen Vorsatz nicht durchhalten werde. Ich bin ja einfältig genug, diese Frau immer noch zu lieben. Schon taucht ihr Gesicht vor meinen Augen auf, schon sehe ich ihr Lächeln. Ich weiß, so sehr ich mich dagegen sträube, werde ich doch weiterhin jede ihrer Vorstellungen besuchen und weitere Artikel über sie schreiben.

Und dann? Nein, so leicht wimmelt man einen Carsten Reddlich nicht ab. Tumor oder drittes Augen, ganz gleich. Ich werde mich unersetzbar machen. Du wirst begreifen, Elli, dass niemand anders so gute Kritiken über dich schreibt wie der tumbe Tor aus Frankfurt am Main.

Es klingelt. Das Handy. Na also. Ich wusste es doch, dass all diese aufgescheuchten Gedanken nichts taugen. Sie wird sich entschuldigen, dass sie sich leider verspäten muss. Schon gut. Ich sehe ja ein, dass es in ihrem Beruf nicht ganz einfach ist, Vereinbarungen einzuhalten. Regisseure zählen heutzutage zu den letzten Monarchen. Herrscher sind das, absolute Herrscher. Gibt es sonst nur noch im Vatikan. Pünktlichkeit, die gilt nur für uns, für Journalisten. Journalismus ist Pünktlichkeit plus Faktenhuberei und eine deftige Portion Sprachalchemie.

„Sorry, Carsten, im letzten Moment ist der Handaufleger dazwischengekommen. Schicke Dir später noch eine Nachricht. Brauche Hilfe fürs Internet. Seltsame Ausfälle. Tschau.“

Also doch eine Abfuhr, habe ich mir fast schon gedacht. Handaufleger? Was hat der Handaufleger mit unserer Verabredung zu tun? Das kann doch nur eine Ausrede sein! Kann mir schon denken, wo dieser Mensch bei Schauspielerinnen gerne die Hand auflegt: Auf die Weichteile natürlich. Wie kann ein Engel wie Elli Koschinsky sich von einem Handaufleger beeindrucken lassen? Sie ist doch intelligent, in ihrer Rolle als Marianne zwischendurch auch böse, sarkastisch und skeptisch. Den Mann werde ich mir aus der Nähe betrachten, möglichst ohne dass sie davon Wind bekommt. Eine gute Gelegenheit sollte das jedenfalls sein, über den Tsunami an esoterischem Geschwätz, der die Köpfe in Wien verdunkelt, selbst den von Hieronymus Brohh, ein paar wirklich ätzende Zeilen zu schreiben. Habe den Titel schon ungefähr im Kopf: „Meister der Finsternis – wie man mit Handauflegen Geld aus der Tasche und die Vernunft aus den Köpfen zieht. “

Jetzt bricht die schlechte Laune vollends über mich herein. Ich würde am liebsten über die Beete mit der ganzen überflüssigen Blütenpracht laufen und sie zertreten.

Lasst mich doch in Ruh mit eurem täuschenden Rosenfrieden! Ich weiß, ihr seid schön, aber was nützt mir das? Eben bin ich von einer Rose gestochen worden. Ich lasse euch hinter mir, ihr werdet ohnehin von nichts gerührt, blüht einfach weiter, da kann es in meinem Kopf noch so toll und noch so düster aussehen.

Jedenfalls weiß ich jetzt, was ich mir für heute Abend vornehme. Ich gehe zu Lisa. Jawohl!

Habe ich Lisa in meinem Bericht schon erwähnt? Ich glaube ja. Jedenfalls habe ich sozusagen ein Verhältnis mit ihr. Wien hatte ich ja schon früher einige Male einen Besuch abstatten müssen, und da hat es sich eben ergeben. Wenn Elli sich mit diesem Handaufleger ergötzt, treibe ich es eben mit meiner Liaison aus früherer Zeit. Eigentlich wollte ich ja mit Lisa Kinsky schon seit längerem brechen, aber jetzt werde ich es mir überlegen.

Ein Loblied auf Forchtel

Im Café Bräuner gegen halb zehn abends eingetroffen, schlage ich wie immer das Blatt der intellektuellen Szene auf, den ‚Wiener Tag- und Nachtfalter’. Da stoße ich gleich auf eine Kolumne von Brohh. Vermutlich liegt mir da das Ergebnis seiner plötzlichen Geistesabwesenheit vor Augen, als er den Gesprächsfaden mit Elli und mir plötzlich kappte und wir mit einem Mal sozusagen durchsichtig für ihn wurden: Über unsere Körper hinweg schien er in eine unendliche, ihn geheimnisvoll inspirierende Ferne entrückt. Das rühmen seine Jünger an ihm, diese überfallsartig auf ihn eindringenden Momente der Inspiration, wenn der schöpferische Impuls plötzlich von ihm Besitz ergreift. Nun halte ich also schwarz auf weiß die Frucht der plötzlichen Eingebung in Händen.

Die große Verheißung

Dr. Hieronymus Brohh

Sie stehen Schlange vor dem Imperial – sie, das sind all die zahllosen Wiener und Wienerinnen, die der Politik nicht mehr trauen – wir tun es ja alle nicht mehr. Die sich aber inspirieren und spirituell renovieren lassen durch einen Mann, der für uns alle ein großes Geheimnis ist und für einige auch eine große Verheißung. Die Rede ist von Cornelius Forchtel, jener Sternschnuppe, jenem leuchtenden Meteorit, der aus heiterem Himmel in unsere Köpfe schlug. Allgemein wird er als Handaufleger bezeichnet, was offenbar seine Profession im engeren Sinne ist, aber damit scheint mir das Phänomen Forchtel viel zu oberflächlich beschrieben. Gewiss, von seinen Händen scheint eine ungeheure Kraft auszustrahlen. Alle, die bei ihm waren, berichten übereinstimmend von der inneren Verwandlung, von der belebenden Wirkung, der tiefen Freude, die sie nach der Begegnung mit diesem Manne verspüren. Ja, und einige – das wollen wir nicht misstrauisch oder als blasierte Skeptiker übergehen – sprechen sogar von erstaunlichen Heilungen. Ein Blinder sei wieder sehend geworden, ein Lahmer wieder gehend. Der Philosoph sollte sich dazu jeder Meinungsäußerung entschlagen. Solange die Wissenschaft uns nicht eindeutige Fakten liefert, besteht unsere Pflicht in der objektiven Berichterstattung. Diese allein erlaubt uns allerdings jetzt schon eine Aussage von größter Reichweite und Relevanz. Cornelius Forchtel bringt einen frischen, einen moralisch tonisierenden Wind in unsere doch manchmal reichlich dekadent anmutende Stadt. Die Schläfrigen unter uns werden aufgerüttelt, die Satten und allzu Bequemen herausgefordert, die pfründenumhegten Politiker aus ihrer Selbstgefälligkeit gerissen. Dieser Mann macht uns klar, dass unsere Stadt eine Aufgabe hat. In einer vielfach desorientierten Welt, in der nur noch das Materielle, der Nutzen und der Augenblick zählt, muss Wien grundsätzlich anders sein, indem es den Menschen wieder die spirituelle und moralische Richtung zeigt. Cornelius Forchtel ist der Stern am Horizont, dem wir alle gern folgen.