Wiener Blaupausen - J. J. Preyer - E-Book

Wiener Blaupausen E-Book

J. J. Preyer

4,9

Beschreibung

Winter des Jahres 1967, 22 Jahre nach Ende des Naziregimes. Eine Bande skrupelloser Politiker verändert das Land, in der Absicht, das Deutsche Reich wieder zu errichten. Sie schrecken dabei auch vor Morden nicht zurück. Die Ermittlungen des Privatdetektivs Hans Gottschlich stören ihre Kreise. Sie bedrohen Gottschlich und dessen Umfeld so massiv, dass er sein Leben verloren glaubt. Doch Hilfe für den Ermittler und für Österreichs Zukunft kommt von völlig unerwarteter Seite.

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J. J. Preyer

Wiener Blaupausen

Kriminalroman

Zum Buch

Was wäre wenn Es ist kalt geworden im Wien des Jahres 1967. Das Land wird von einer Bande rechtsgerichteter Politiker regiert, die das Deutsche Reich wieder errichten und das Geschehen in Österreich als Blaupause für das benachbarte Deutschland verwenden wollen.

Der Privatdetektiv Hans Gottschlich ermittelt in einem Mordfall, in den Politiker der Nationalen verwickelt sind. Ein Bankdirektor, der Beweismaterial für die Machenschaften der Regierenden veröffentlichen will, wird erschossen aufgefunden. Die Gegner bedrohen daraufhin auch Gottschlich und sein menschliches Umfeld so massiv, dass er die Aufdeckung der Verbrechen und die Rettung des Landes verloren glaubt. Verloren wie seine ehemalige Braut, die nun mit einem Anhänger der Nationalen verheiratet ist. Bei ihrer ersten Begegnung nach langer Zeit muss er erkennen, dass seine Helga sich verändert hat, dass sie ebenfalls auf Seiten des politischen Gegners steht. Doch Hilfe kommt von völlig unerwarteter Seite.

J. J. Preyer lebt und schreibt in Steyr, in Österreich. Er studierte in Wien Germanistik und Anglistik. 1982 initiierte er einen Marlen-Haushofer-Gedenkabend, der durch die Teilnahme des Wiener Kulturjournalisten Hans Weigel den Anstoß zur Wiederentdeckung der Autorin gab. 1996 gründete J. J. Preyer einen Verlag, in dem er vor allem Kriminalromane C. H. Guenters und literarische Texte Steyrer Autoren herausgab. J. J. Preyer schrieb in den letzten Jahren eine Vielzahl von Kriminalromanen für deutsche und österreichische Verlage, darunter auch Beiträge zur Serie Jerry Cotton. Wiener Blaupausen ist nach Mörderseele, Hassmord, Nahtod und Rankenspiel der fünfte Kriminalroman J. J. Preyers, der im Gmeiner-Verlag veröffentlicht wird.

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Rankenspiel (2016)

Nahtod (2016)

Hassmord (2015)

Mörderseele (2014)

Impressum

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2018 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2018

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Donatas

Dabravolskas/shutterstock.com

ISBN 978-3-8392-5696-1

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Gedicht

Wie ich klein war, hat der Vater

mich oft g’führt ins Kasperltheater,

und mit großen Augen sah

Wurschtls Lebensweg ich da.

Wie er seinem Weiberl schmeichelt,

wie er’s weiße Haserl streichelt,

dann erschlagt er seine Frau,

warum weiß ich nicht genau.

Das sind bitterböse G’schichten,

doch der Wurschtl kann sich’s richten,

der mit Tod und Teufel raft,

bis ihn d’Polizei verhaft’.

Wird auch’s Krokodil gefährlich,

ausgehn tut sich alles herrlich,

und ins Büchserl kommt zum Schluss

der berühmte Obolus.

Da sagt mir der Vater: »Ich will dir für’s Leben

einen Rat, den’s ’d verstehn wirst, bis du älter bist, geb’n:

Den Wurschtl, mein Lieber, den kann kaner derschlag’n,

das kann jedes Kind, das im Prater war, sag’n.

Haut ihm auch der Teufel mit’m Hammer am Schädel,

dem Wurschtl g’schieht nix und der Teufel ist der Wedel!

Ja, er wurschtelt sich durch und er wurschtelt sich raus,

schaut er nachher vielleicht ganz verwurschtelt auch aus.

Er kann, wie der Wiener, a Menge vertrag’n,

aber eins kann man net: den Wurschtl derschlag’n.

Erich Meder

Kapitel 1

Er befand sich auf dem Heimweg, dem Rückzug und sah das Haus vor sich, die zu einem Wohnhaus ausgebaute Gartenhütte in Gumpoldskirchen. Er roch den Rauch des Holzfeuers, der aus dem Kamin kam, und stellte sich vor, dass sie vor dem Ofen saß, ein Buch las, weil sie nicht wusste, dass er heimkehrte. Sie hätte ihn sonst erwartet. Helga. Seine Helga, die noch nicht seinen Familiennamen trug, weil sie keine Zeit mehr gehabt hatten zu heiraten, als er einberufen worden war, um in den Krieg zu ziehen.

Und jetzt kehrte er heim. Und hörte die Motoren der Flugzeuge, die eigentlich nicht da sein dürften, im November 1948. Der Krieg war vorüber, Österreich war aufgeteilt, Gumpoldskirchen lag in der russischen Besatzungszone.

Die Flugzeuge knarrten im Tiefflug über ihn und die Grundstücke hinweg und … und warfen Bomben ab. Die Siedlung, die den Krieg gut überstanden hatte, ging in Flammen auf. Auch Helgas Haus. Doch er sah das alles nicht mehr. Etwas war mit seinen Augen passiert, ein Bombensplitter musste ihn getroffen haben. Er sah nur mehr Licht, sehr helles Licht, hinter einer Milchglasscheibe.

Das gesunde rechte Auge schmerzte, als Hans Gottschlich die Nachttischlampe einschaltete und auf den Wecker schaute. Kurz nach halb vier. Immerhin hatte er fast fünf Stunden geschlafen. Und vielleicht konnte er wieder einschlafen, bis er um sechs aus dem Bett musste.

Das jedoch war nur möglich, wenn er sich aus der Opferrolle befreite, in die ihn die verdammten Albträume zwangen, unter denen er jetzt wieder litt. Jetzt, 22 Jahre nach den Ereignissen, die sein Leben auf den Kopf gestellt hatten.

Gottschlich schloss die Augen. Er wollte gegen ihn kämpfen, gegen Heinz Alber, der ihm … der … es war schwer, Worte zu finden … auch in Gedanken. Heinz Alber, der Helga geheiratet hatte.

Er stellte sich den Rattenkopf des Jugendfreundes vor, der nicht in den Krieg gemusst hatte. Unabkömmlich. Bei seiner Zeitung. Im Gegensatz zu Gottschlich, der Ende 1944 eingezogen worden war.

Gottschlich wollte auf den Mann losschlagen, auf seine Stirn, auf die Nase, die Augen … Aber er konnte es nicht. Seine Seele verweigerte die Befreiung.

Heinz Alber war nicht schuld daran, dass Gottschlichs Leben diesen Lauf genommen hatte, dass er einsam in seiner düsteren Wohnung lag, in diesem düsteren Wiener Bezirk.

Die Umstände waren schuld daran. Und er selbst. Hans Gottschlich selbst. Es tat nicht gut, in der Gegenwart an der Vergangenheit zu kleben, Nacht für Nacht in die Vergangenheit einzutauchen. Wenn er im Traum etwas kaufte, bezahlte er noch in Reichsmark.

Gottschlich überlegte, was er kaufen könne, um sein Leben erfreulicher zu gestalten. Österreich hatte sich wirtschaftlich erholt. Die Geschäfte in Wien waren voll mit Waren. Wirtschaftswunder. Und er?

Er wollte wieder hinaus, irgendwohin in die Vorstädte. Nicht nach Gumpoldskirchen. Dort war Helga. Vielleicht nach Hütteldorf …

Das Läuten des Weckers zwang ihn aus dem Bett. Er war wieder eingeschlafen und fühlte sich nun so matt, dass er sich zwingen musste, frische Kleidung anzuziehen. Er durfte sich nicht gehen lassen, musste das Beste aus seinem Leben machen, aus seinem neuen Beruf. Oder aufgeben. Aber dann konsequent. Das Leben beenden mit der Sauer 38H, mit der er aus dem Krieg heimgekehrt war.

Nein, sagte er halblaut. Ich lasse mich nicht kleinkriegen. Jeder Tag hatte seine Aufgabe, die zu erfüllen war. Und am heutigen Tag traf er sich mit Friedhelm Fernbacher am Semmering. Um halb zwölf.

Er hatte noch Zeit. Zeit, sich in die Badewanne zu stellen, um zu duschen. Die 130 Kilometer würde er in zwei bis zweieinhalb Stunden schaffen. Am Semmering könnte Schnee liegen. Hier in Wien, in der Lindengasse, regnete es bei 4 Grad, wie der Blick auf das Thermometer zeigte. Der Blick aus dem Fenster der Zinsburg auf das Gebäude der »Gazette« auf der gegenüberliegenden Straßenseite, für die er bis zum 31. Dezember gearbeitet hatte. Bis sie alle ihren Job verloren hatten.

Darum arbeitete er jetzt als Detektiv, hatte er das ebenerdige Geschäftslokal, in dem sein Vorgänger bis zu seinem Tod Waagen verkauft hatte, zum Detektivbüro und zur Wohnung umgestaltet.

Ja, er durfte mit sich selbst nicht zu streng sein. Eigentlich hatte er aus den widrigen Lebensumständen das Optimale herausgeholt. Und er konnte nicht aufs Land ziehen. Aufträge bekam er nur in Wien.

Aufträge als Detektiv, die ihm halfen, finanziell über die Runden zu kommen. Recherchen, die hauptsächlich darin bestanden, untreue Ehepartner oder geschäftliche Konkurrenten auszuspähen.

Daher wollte er heute, bei Fernbacher, einen guten Eindruck hinterlassen.

Fernbacher war – oh, die Gastherme musste wieder ausgefallen sein, das Wasser aus dem Duschkopf war eiskalt, aber er musste da durch, jetzt, da er schon nass war.

Fernbacher könnte ihm die Rückkehr in seinen eigentlichen Beruf ermöglichen. Er könnte wieder für eine Zeitung arbeiten, in München, hatte Fernbacher in Aussicht gestellt, wenn das mit seinem Auftrag klappte.

Daher musste er durch das kalte Wasser. Und dann nach der Therme sehen. Für die Rasur war warmes Wasser unbedingt notwendig.

Die Gasflamme war erloschen. Jetzt hieß es vorsichtig sein. Wahrscheinlich hatte sich in dem Gerät viel Gas angesammelt, das, sobald es gezündet wurde, explodierte. Schon einmal war eine kostspielige Reparatur notwendig geworden …

Aber wie zündete man Gas vorsichtig an? Gottschlich gab die Antwort selbst: Indem man den Gashahn abdrehte, wartete, bis sich das Gas über die Entlüftung verflüchtigt hatte, und es nach einer, sagen wir Viertelstunde, erneut versuchte.

Bis dahin konnte er Frühstück machen. Eine Semmel vom Vortag auf eine der Heizplatten des Elektroherds legen, die italienische Mokkamaschine mit Wasser und Kaffee füllen, die Butter aus dem Silo holen. So hieß der kleine brummende Kühlschrank in der fensterlosen Küche, die er über das sogenannte Büro entlüftete, indem er eines der beiden Fenster oder die Tür öffnete.

Das kalte Wasser hatte ihm gutgetan. Er fühlte sich einigermaßen frisch, bis er zu dem Papierbriefchen griff, das ihm Dr. Fellinger gegen seine Kopfschmerzen verordnet hatte. 80 Milligramm, die ihm durch den Tag halfen und am Abend mit 40 Milligramm ergänzt wurden.

Das verkürzte zwar sein Leben, doch anders schaffte er es nicht. Der Schmerz ging von der linken Augenhöhle aus, in der nun das Glasauge saß, und reichte bis ins Zentrum seines Denkens, seines Seins. Ein scharfes Messer, das ihn ständig quälte, bedrohte. Das Morphium hielt es auf Distanz.

Er blieb einen Moment sitzen, um die Wirkung abzuwarten, spürte jedoch kaum etwas. Also erhob er sich und begann, seine Aktentasche zu füllen. Mit der Rolleicord, um Fotos zu schießen, seinem Notizblock, mehreren Kugelschreibern. Daneben stellte er das tragbare Uher-Tonbandgerät, das er Willi Kratochwill vom Österreichischen Rundfunk abgekauft hatte.

Und sonst? Sonst nichts. Er fuhr ja nur auf den Semmering und nicht in ein fremdes Land.

Wobei er sich konzentrieren musste. Das Medikament beeinträchtigte seine Fahrtüchtigkeit. Und sein Denkvermögen.

Natürlich. Er musste den Autoatlas mitnehmen, auf dessen Niederösterreich-Seite er Fernbachers Jagdhütte eingezeichnet hatte, nach dessen telefonischer Lagebeschreibung, knapp an der Grenze zur Steiermark. Bis zu einem Schranken, an dem ihn Fernbacher erwarten würde, um Punkt halb zwölf.

Ab Schottwien, das er über Wiener Neustadt erreicht hatte, verflüchtigte sich der dichte Nebel und gab den Blick frei auf eine leicht verschneite Landschaft, die umso winterlicher wurde, je weiter sein Fiat 124 die Passstraße erklomm. Obwohl noch Herbst war.

Als er einen Zug über eines der malerischen Viadukte fahren sah, hielt er an, stieg aus, bemerkte, wie kalt es war, ging zum Kofferraum, um diesem seinen Mantel zu entnehmen, und bewunderte das Schauspiel. Die Dampflok, die sich den Berg hochkämpfte. Den Zauberberg.

Gottschlich schüttelte den Kopf. Er wollte nicht in vorgefertigten Klischees denken. Zauberberg. Thomas Mann. Egal. Die Szene wirkte verzaubernd, nein bezaubernd, auf ihn. Er sog tief die kühle Luft in seine Lungen und dachte wieder einmal daran, wie schön es wäre, auf dem Land zu leben.

Vielleicht in München, in dessen weiterem Umfeld sogar Seen lagen. Wenn Fernbacher ihm half, beruflich wieder voranzukommen …

Fernbacher, Fernbacher … Er musste es auch so schaffen, durfte sich nicht von einem Menschen abhängig machen. Das war riskant.

Und jetzt musste er weiter. Er durfte Fernbacher nicht warten lassen.

Warum eigentlich war Fernbacher nicht nach Wien gekommen? Sie hätten sich in einem Kaffeehaus treffen können oder in Fernbachers Büro oder …

Fernbacher hatte angedeutet, dass es sich um eine heikle Angelegenheit handelte, etwas, von dem sonst niemand erfahren dürfe.

»Sie dürfen niemandem verraten, dass wir uns treffen«, hatte er betont.

Wem sollte er etwas verraten? Außer mit der Trafikantin in der Seidengasse, mit Dr. Fellinger in der Neubaugasse und seinen Klienten hatte er mit niemandem Kontakt.

Und das war gut so.

War es wirklich gut so? Fellinger meinte, die unerträglichen Kopfschmerzen könnten auch seelische Ursachen haben. Und er solle sich überlegen, ob er nicht dieses Thema in Angriff nehmen wolle, mit der Hilfe eines Fachmanns. Psychiater, meinte er. Psychotherapie. Denn auf Dauer wären die Medikamente schädlich für seinen Körper.

Die Lokomotive verschwand in einem Tunnel, aus dem nun der weiße Rauch strömte, bis der Zug verschwunden war.

Auf den Hängen des Semmerings waren Skifahrer unterwegs. Menschen, die sich offenbar Urlaub genommen hatten. Als ein in Gumpoldskirchen geborenes Kind hatte er selbst nie Skifahren gelernt, aber gerodelt waren sie.

Der Ausdruck »Kindsrodel« für eine kindische Person fiel ihm ein, und einen Moment lag fühlte er sich unbeschwert leicht. Als ob es für ihn noch eine Chance geben könnte.

Fernbacher wartete natürlich nicht am Schranken. Der beschneite Waldweg wies nicht einmal Spuren auf, abgesehen von Rehen und anderem Getier. Es musste in der Nacht geschneit haben. Und seither hatte kein Mensch diesen Weg begangen oder befahren.

Gottschlich entschloss sich, das Tonbandgerät im Auto zu lassen. Es war zu schwer, um es durch die Winterlandschaft zu schleppen.

Wenn er nicht auf Aufträge angewiesen wäre, würde er nun Fernbacher Fernbacher sein lassen und … rodeln gehen.

Wenn … wenn.

Er hätte wenigstens daran denken sollen, Winterschuhe mitzunehmen. Mit den schwarzen Halbschuhen rutschte er, außerdem wurden seine Füße nass.

Aber das spürte er kaum. Ein weiterer Vorteil des Morphiumpulvers. Was sollte daran schlecht sein? Es stammte aus einer Pflanze, dem Schlafmohn, und war völlig natürlich. Ein Naturprodukt wie Kräutertees und …

In der Ferne sah er einen Puch Haflinger stehen, vor einem Blockhaus. Gottschlich beschleunigte die Schritte. Auch wenn sie vereinbart hatten, einander beim Schranken zu treffen, wollte er pünktlich sein. Und es war beinahe halb zwölf.

Um die stattliche Jagdhütte herum führten keine Spuren. Da war etwas nicht in Ordnung. Gottschlich blieb stehen und überlegte. War Fernbacher mit einem anderen Auto weggefahren und hatte er vergessen, ihm das mitzuteilen? Dabei hatten sie erst gestern Vormittag telefoniert. Fernbacher hatte brisantes politisches Material angekündigt, das Gottschlich journalistisch bearbeiten sollte. Es würde im »Münchner Merkur« erscheinen und hoffentlich rasch zu einem Ende der »Schandregierung« führen, wie Fernbacher sich ausgedrückt hatte.

Darum der verschwiegene Treffpunkt, der Gottschlich im Moment zu verschwiegen vorkam. Kein Laut, kein Hauch, kein Rauch aus dem gemauerten Kamin. Nichts.

Gottschlich entnahm seiner Aktentasche die Pistole und verstaute sie in der rechten Manteltasche.

Mit der Stille war es vorbei, als ein Flugzeug über den Wald flog, viel zu niedrig, wie Gottschlich fand. Viel zu niedrig. Wie in seinem Traum am frühen Morgen dieses Dienstags im späten November 1967.

Obwohl Gottschlich seine Gedanken zur Ordnung rief, sich einreden wollte, dass Fernbacher in einer dringenden Angelegenheit unterwegs war, dass er auf ihn vergessen hatte, vergessen hatte, ihn anzurufen, ließ sich die dunkle Ahnung nicht vertreiben, die Gottschlich schon befallen hatte, bevor er die unversperrte Tür zur Jagdhütte öffnete.

Im Inneren sah er genau das, was er erwartet hatte. Das heißt, er sah es für den Bruchteil eines Augenblicks, dann nichts mehr, nur mehr sanftes Licht – hinter einer Milchglasscheibe. Wie damals, als es passiert war.

Okay, er musste sich setzen, zur Ruhe kommen, durfte nicht in Panik verfallen, so absolut idiotisch die Situation auch war, in die er geraten war.

Gottschlich ließ sich unsanft auf den Boden nieder, der, wie seine Finger ertasten konnten, aus grobem Holz gezimmert war. Fichtenholz, überlegte er. Auf dem Weg hierher hatte er hauptsächlich Fichten gesehen, neben einigen Föhren und Lärchen. Kaum Laubbäume.

Egal. Deswegen war er nicht hergekommen.

Gottschlich zählte langsam bis 20. Das half meist, um die Kopfschmerzen zu ertragen. Wenn er an ihnen litt. Im Moment spürte er weder sein Gehirn noch seinen Kopf.

Der Schleier vor seinem rechten Auge verzog sich. Er sah die hellen Bretter, aus denen der Boden gezimmert worden war. Eindeutig Fichte.

Ein Stück weiter vorne, zum Tisch hin, waren die Dielen dunkel verfärbt.

Vermutlich Blut. Doch das hatte Zeit. Gottschlich blieb sitzen. Er hatte nun die Arme vor der Brust verschränkt und dachte nach.

Was immer hier geschehen war, er musste es der Polizei melden. Obwohl er natürlich auch fliehen könnte, mit einem Besen, der sicherlich irgendwo in der Hütte stand, die Spur verwischen. Und sich damit selbst verdächtig machen. Nein, er musste die Polizei verständigen. Selbst zur Gendarmerie fahren. Vermutlich hatten sie eine Dienststelle im Kurort Semmering.

Nein, das würde er nicht tun. Er würde Achleitner in Wien anrufen. Seinen Freund, Kriminalrat Nico Achleitner, seinen Ansprechpartner bei der Polizei, als Gottschlich noch für die »Gazette« geschrieben hatte. Ihm konnte er alles in Ruhe erklären, er würde als Dolmetscher dienen zwischen ihm und den Dorfgendarmen.

Mit einem Ruck erhob sich Gottschlich, sah den Mann auf einem der vier Sessel am leeren Tisch, vornüber geneigt. Ein Teil des Schädeldachs fehlte, war blutverkrustet, auch die Blutlache auf der Tischplatte und auf dem Boden war teilweise eingetrocknet. In der rechten, gerade nach unten hängenden Hand hielt der Mann eine Pistole, eine Walther PPK.

Ja und der Tisch war nicht wirklich leer. Auf der rauen Platte, die offenbar aus Eichenholz angefertigt worden war, lag ein, ebenfalls mit Blut befleckter Zettel Papier, auf den der Mann etwas geschrieben hatte.

DIE SCHANDE. ICH KANN NICHT DAMIT LEBEN, stand da, in Blockbuchstaben.

Jetzt erst betrachtete Gottschlich den Toten genauer. Ja, es handelte sich um Friedhelm Fernbacher, Direktor Friedhelm Fernbacher. Direktor a. D. Außer Dienst. Wie er selbst Journalist a. D. war. Ade. Adieu. Auf Nimmerwiedersehen.

Die Chance, mit Fernbachers Hilfe wieder in seinen Beruf einzusteigen, war mit dessen Tod gestorben.

Einem schlimmen Tod.

Schuld an allem waren Guido Holl und die Nationalpartei, die seit dem Vorjahr an der Macht war, mit Holl als Bundeskanzler, dessen rechte Wange eine Wunde zierte, die er nicht vom Krieg hatte. Ein sogenannter Schmiss, der aus der Zeit seines Studiums stammte. Ein schlagender Burschenschafter. Dr. Guido Holl, dessen Doktorarbeit interessant wäre, sich jedoch als unauffindbar erwiesen hatte. Für den Journalisten Hans Gottschlich, der seinen Job verloren hatte, weil die Landwirtschaftsbank liquidiert worden war. Die Geldquelle der Konservativen, denen auch die »Gazette« gehört hatte, für die Gottschlich geschrieben hatte.

Friedhelm Fernbacher war Direktor der Landwirtschaftsbank gewesen. Er hatte Gottschlich brisantes Material über die Nationalpartei versprochen, das er im »Münchner Merkur« veröffentlichen könnte, journalistisch aufbereitet, als neue Berufschance für ihn und Hoffnung für Österreich, um die Regierung Holl zu stürzen.

Unwahrscheinlich, höchst unwahrscheinlich, dass sich Fernbacher erschossen hatte, bevor er ihm das Material zukommen ließ.

Aber was sollte das Wiederholen der immer selben Gedanken! Gottschlich musste mit der Realität dieser seltsamen Situation zurande kommen.

Er raffte sich auf, kontrollierte die beiden Räume des Blockhauses, den Wohnraum, der auch als Küche und Schlafzimmer diente, und das Badezimmer. Nirgendwo fanden sich Schriftstücke irgendwelcher Art, von gedruckten Romanen abgesehen. Fernbacher erwies sich als Fan der roten Krimis des Goldmann-Verlags.

Leere Zettel lagen auf einem kleinen Tisch, der Fernbacher als Schreibfläche gedient hatte, neben mehreren Kugelschreibern.

Nicht aber auf dem Eichentisch, neben dem Abschiedsbrief.

Hatte sich Fernbacher die Mühe gemacht, den Kugelschreiber auf den Schreibtisch zurückzulegen, bevor er …? Nein, er könnte sein letztes Schreiben, wie es sich gehörte, auf dem Schreibtisch verfasst haben und es dann auf dem großen Tisch deponiert haben.

Die Hütte war an das Stromnetz angeschlossen, nicht jedoch an das Telefonnetz. Das Fließwasser musste aus einem Brunnen stammen.

Hatte ihn Fernbacher hierherbestellt, weil er verhindern wollte, dass seine Frau ihn fand und einen Schock erlitt? Hatte er sich deswegen an ihn gewandt, nicht, weil er einen Skandal aufdecken wollte, nicht, weil er ihm eine Chance geben wollte?

Gottschlich griff zu seiner Kamera und machte Fotos, dann überlegte er, ob er etwas übersehen haben könnte, zuckte mit den Schultern und verließ die Hütte, um sich auf den Rückweg zu seinem Auto zu machen.

Von einer Telefonzelle des Postamts Kurort Semmering rief er Nikolaus Achleitner an.

»Ich nehme Kontakt zu Jaidhauser in Schottwien auf«, erklärte dieser. »Er ist der einzige vernünftige Kollege in der Gegend. Und du hast nichts berührt?«

»Ich habe die Tür geöffnet, dann habe ich Handschuhe getragen.«

»Warte auf ihn!«

»Es ist kalt hier oben.«

»Auf dem Zauberberg.«

Gottschlich verkniff sich eine Bemerkung, die in Richtung »Sei nicht so albern!« gegangen wäre. Er musste sich zurückhalten, was Kritik betraf. Seine Freunde waren rar, und er befand sich in einer heiklen Situation. Immerhin könnte man ihn für den Mörder halten. Denn um einen Mord handelte es sich mit großer Wahrscheinlichkeit.

Gottschlich sah die Café-Konditorei auf der gegenüberliegenden Straßenseite, deren auch am Tag beleuchtete Fenster einladend wirkten, von ihrem Namen abgesehen.

»Altwien« nannte sich das Lokal. Besser als irgendetwas mit »Kaiser« allemal. Mit dem hatten die Österreicher am Beginn des Jahrhunderts schlechte Erfahrungen gemacht. Erster Weltkrieg. Bis alles mit dem zweiten Krieg viel schlimmer wurde.

Ob es in diesem Jahrhundert noch einen dritten Weltkrieg geben würde? Auszuschließen war es nicht, wenn man die politische Entwicklung dieses nun geschrumpften Landes betrachtete. Gottschlich glaubte nicht, das Ende des 20. Jahrhunderts zu erleben, also würde ihn das nicht tangieren und Kinder hatte er keine. Obwohl … Er wäre im Jahr 2000 77 Jahre alt. Möglich wäre es. Theoretisch. Ohne das Morphium.

So pessimistisch wie sein eigenes Leben betrachtete Gottschlich auch die politische Lage des Landes. Man bewegte sich Richtung Diktatur, erledigte politische Gegner wirtschaftlich, entzog ihnen die finanzielle Grundlage, machte den Bundespräsidenten zur Marionette, indem man ihm die Frau nahm.

Gottschlich blickte auf seine Armbanduhr. Ein Geschenk noch von seiner Helga, die jetzt Frau Alber war. Verheiratet mit dem gemeinsamen Jugendfreund. Es war dreiviertel eins. Er hätte als Treffpunkt ein Gasthaus wählen sollen, denn er war hungrig. Und durstig.

Helga und Heinz hatten nicht ahnen können, dass er noch am Leben war. Mit nur einem Auge und ständigen Kopfschmerzen.

Im Café Altwien wurde geraucht. Die dicke Luft ging von einem Tisch aus, an dem vier Männer im Arbeitsgewand saßen, Teller mit Würsteln vor sich. Sie hoben sich von der übrigen Klientel des Cafés ab, das offensichtlich aus Urlaubern bestand. Das heißt, aus Urlauberinnen. Die Männer waren Beiwerk. Sie tranken Weißwein, blätterten die Tageszeitungen durch, die nach dem »Zeitungsputsch«, wie Gottschlich die Einstellung seiner »Gazette« nannte, verblieben waren, regierungstreue, charakterlose Schmierblätter, die im Format immer kleiner wurden. Im wahrsten Sinne des Wortes.

Daneben löffelten die Frauen Torten, die aus purem Fett bestanden, geschlagenem Fett und leckten an den Löffeln, den Tassen, an ihren Lippen. Ersatz für die Sexualität, die ihnen an der Seite ihrer Partner abhandengekommen war.

Die Kellnerin war ungarischer Herkunft, so viel konnte man ihrem Akzent entnehmen, der an die große Marika erinnerte, die gerade in der »Maske in Blau« im Wiener Raimundtheater auf der Bühne stand. Wirbelnd und unverwüstlich.

Gottschlich hatte sich diese Freude gegönnt. Er war nach langer Zeit wieder ins Theater gegangen und hatte Marika Rökk mit seinem Applaus angefeuert.

Sie war nicht mehr die Jüngste, die Marika aus Budapest.

Oh, er musste sich konzentrieren. Die ungarische Kellnerin wollte seine Bestellung aufnehmen.

»Würstel, bitte«, sagte er. »Mit Senf und Kren und einer Semmel. Und …« Gerne hätte er ein Bier bestellt, entschloss sich jedoch dagegen. Er musste einen klaren Kopf bewahren und entschied sich für Apfelsaft gespritzt. Einen halben Liter. Er war durstig.

»Wir hätten auch Schnitzel mit Pommes frites«, erklärte die Kellnerin und betonte nach ungarischer Art die zweite Silbe der Wörter. Doch Gottschlich blieb bei den Würsteln, bestellte aber vier Stück, zwei Paar.

Gegen halb zwei betraten zwei Männer in taubengrauer Uniform das Lokal. Gottschlich hatte inzwischen einen Großen Braunen bestellt und blätterte im kleinformatigen »Österreich-Blick«, für den Heinz Alber schrieb.

Nein, man konnte Heinz nichts vorwerfen. Er schrieb seine Artikel in gewohnt gekonntem Stil. Ein bisschen schärfer war der Ton geworden, in dem er Gerechtigkeit forderte. Und Recht. Und Ordnung.

Aber sonst …

Als sich Gottschlich erhob und die Polizisten an seinen Tisch bat, fokussierte sich die Aufmerksamkeit der verbliebenen weiblichen Gäste auf ihn. Augen fixierten ihn, blitzten für einen flüchtigen Moment abenteuerlich auf.

Die Damen erkannten in der Situation das Abenteuer, das er zu verheißen schien. Ein Robin Hood, der vom Sheriff und seinem Helfer gejagt wurde, weil er …

Ja, was könnte er verbrochen haben in den Augen jener Damen, die jetzt zum Taschenspiegel griffen und ihr Make-up kontrollierten, die Lippen nachzogen, dabei verstohlen über die Spiegel blickten, schielten, wobei sich die Augen in sonst gemiedenes Terrain verirrten?

Gottschlich befürchtete schon, nach dem Toilettengang auf das Schließen seiner Hose vergessen zu haben, wollte einen kontrollierenden Griff nun aber nicht riskieren, sondern begrüßte den Inspektor und seinen jungen Kollegen, der mit seinen abstehenden Ohren wie eine Fledermaus wirkte.

In knappen, ernsten Worten versuchte er, die Situation darzulegen, die er in Fernbachers Forsthaus vorgefunden hatte.

»Fernbachers Forsthaus?«, erkundigte sich der Herr Inspektor verwundert.

»Jagdhaus. Eigentlich ist es ein Jagdhaus«, korrigierte sich Gottschlich und bemühte sich, sein Gegenüber politisch einzuschätzen.

Die beiden Gendarmen verdächtigte er als Sympathisanten der Rechts-Regierung, also war Vorsicht angebracht, was den wahren Grund für seinen Besuch im Jagdhaus betraf.

»Fernbacher hat mich eingeladen. Ich kannte ihn von meiner journalistischen Tätigkeit her«, erklärte er schließlich.

»Und jetzt machen Sie uns Konkurrenz. Sie haben eine Detektei«, meinte der Herr Inspektor, und der junge Mann an seiner Seite nickte beflissen.

»Grundsätzlich ja. Nicht aber hier. Ein Privatbesuch.«

»Die Geschäfte laufen wohl schlecht?«, wollte der Mann mit dem eisgrauen Schnauzer wissen, dessen Name Gottschlich nicht mehr einfiel … Es war etwas mit Kaffee oder Café. Natürlich! Sacher. Der Mann hatte sich als Inspektor Sacher vorgestellt.

»Sie führen uns jetzt zu der Hütte«, sagte der Gendarm in gehobener Lautstärke. Er musste diesen Wunsch schon vorher geäußert haben.

Also entschuldigte sich Gottschlich. »Ich bin in Gedanken noch bei Friedhelm Fernbacher«, erklärte er. »Er war mir immer gut gesinnt gewesen.«

»Ein Freund?«, erkundigte sich Inspektor Sacher.

»Das wäre zu viel gesagt. Wir kannten einander.«

Auf der Fahrt zum Tatort im grünen VW-Käfer, dem Dienstwagen der beiden Gendarmen, musste Gottschlich noch erklären, wie er den Toten aufgefunden hatte.

Er entschied sich in diesem Moment, seinen Mordverdacht den beiden Beamten gegenüber zu verschweigen, von denen der Ältere den Wagen lenkte, während der Jüngere Gottschlichs Antworten aufschrieb.

Also erzählte er von dem ehemaligen Bankdirektor, der durch einen Schuss in den Kopf zu Tode gekommen sein musste und von dem Abschiedsschreiben auf dem Tisch.

»Ah ja. Das klingt recht eindeutig«, stellte Sacher fest. »Und Sie sind mit dem Schauspieler verwandt?«, zeigte sich der Mann nun entspannter. Er schien auf eine rasche Erledigung des Falls zu hoffen.

»Mit welchem Schauspieler?«, fragte Gottschlich.

»Dem alten Grantscherm. Was hat er zuletzt gespielt, Bernhard?«

»Ich bedaure, Herr Inspektor. Ich weiß leider nicht, wen Sie meinen. Leider«, kam die Antwort des jungen Kollegen.

»Na, der alte Gottschlich. Im Schwejk hat er gespielt. Den Film meine ich.«

»Das war der Rühmann«, wagte Gottschlich zu widersprechen.

»Der Schwejk war der Rühmann. Aber der Gottschlich hat irgendeinen Landpolizisten gespielt.«

»Nein, wir haben keine Schauspieler in unserer Familie«, beschied Gottschlich.

Um den mit einem Vorhängeschloss gesicherten Schranken zu öffnen, musste der junge Gendarm den geheizten Wagen verlassen. Doch er scheiterte an seiner Aufgabe, sodass auch Inspektor Sacher aussteigen musste.

Gottschlich befahl er barsch, im Auto zu bleiben, schaltete den Motor aus und zog den Zündschlüssel ab.

Sofort wurde es kalt im Wagen. Andererseits empfand Gottschlich die frische Luft als Wohltat. Ihm war auf der kurzen Fahrt übel geworden.

»Sie sind doch Detektiv«, wandte sich nun Sacher an Gottschlich. »Vielleicht schaffen Sie es. Wir sind keine geübten Schlösserknacker.«

»Ich werde es versuchen«, antwortete Gottschlich.

Er griff nach seiner Aktentasche und entnahm dieser einen Dietrich, einen Nachschlüssel, wie er sich für das Öffnen von einfachen Buntbartschlössern eignete.

Eine einzige Drehung öffnete das Vorhängeschloss, sodass die Fahrt fortgesetzt werden konnte.

»Sie bleiben heraußen, während wir den Tatort besichtigen«, befahl der Inspektor in besonders strengem Ton, wohl um seine Autorität nach dem gescheiterten Knacken des Schlosses wiederherzustellen.

»Gerne«, sagte Gottschlich. »Es ist kein erfreulicher Anblick.«

»Die Spuren im Schnee sind klar«, erklärte Sacher seinem jungen Kollegen. »Herr Gottschlich hin und zurück. Und wir. Sonst nichts. Also keine Fremdeinwirkung, wenn wir nicht Herrn Gottschlich als Verdächtigen betrachten.«

Gottschlich schwieg. Er verzichtete, darauf hinzuweisen, dass es noch am Morgen geschneit hatte, dass der Mann schon länger tot war. Und … Und überhaupt. Die beiden Herren sollten ihres Amtes walten. Er würde seine eigenen Schlüsse ziehen und …

Er würde diesen Fall lösen. Eine erfolgreiche Suche nach dem Täter könnte letztlich auch die politische Situation in Österreich verändern. Und da diese in Gottschlichs Augen katastrophal schlecht war, konnte sie sich nur zum Besseren wenden.

Kapitel 2

Auf der Rückfahrt nach Wien beschloss Gottschlich, nur mehr die absolut nötige Dosis seines Medikaments zu nehmen. Er brauchte einen klaren Kopf, um den Fall zu lösen. Das war er sich nicht nur selbst schuldig, sondern dem ganzen Land.

Bei diesem Gedanken musste er lächeln. So theatralisch war er selten. In seiner Tätigkeit als Journalist hatte er sich um Sachlichkeit bemüht.

Aber es stimmte. Der Umstand, dass die beiden Gendarmen überzeugt waren, dass Fernbacher sich selbst getötet hatte, verstärkte seinen Verdacht, dass es sich um einen Mord handelte. Genau dieser Eindruck sollte erweckt werden.

In seinem Wohnzimmer, dessen Fenster in den kahlen Hinterhof blickten, war es so angenehm warm, dass er sich zu müde fühlte, gleich mit den Aufzeichnungen zu beginnen. Er hatte es sich zur Regel gemacht, die einzelnen Ermittlungsschritte bis ins Detail zu dokumentieren, denn Ereignisse und Beobachtungen, die anfangs nebensächlich erschienen waren, erwiesen sich zuweilen als wesentlich bei der Lösung eines Falls. Oder so ähnlich.

So viele Fälle hatte er nicht gelöst in dem knappen Jahr, seitdem er gezwungen gewesen war, den Beruf zu wechseln. Der weise Spruch, den er sich zurechtgelegt hatte, hatte sich ein einziges Mal bewahrheitet, nämlich bei einem Einbruch in die Trafik in der Seidengasse. Der Vorgänger von Frau Ottitzky, ein Kriegsversehrter wie er, hatte der Polizei gegenüber behauptet, es sei nichts gestohlen worden, der Einbruch sei gescheitert, die Täter wären unverrichteter Dinge abgezogen.

Dabei hatte Gottschlich klar erkennen können, dass das Scherengitter vor dem Geschäftseingang aufgezwängt und die Verglasung der Tür zerbrochen worden war.

Warum also, hatte er überlegt, leugnete der Trafikant den Einbruch? Die Antwort war für ihn klar gewesen: Der Mann verkaufte verbotene Waren. Also hatte Gottschlich bei seinen Einkäufen die Augen offen gehalten und bemerkt, dass ihn manche Kunden vorließen, obwohl sie an der Reihe waren. Sie blätterten in Zeitungen und Zeitschriften, bis er die Trafik verlassen hatte.

Kurzum, er hatte herausgefunden, dass Nowak einerseits Schwedenpornos an die jungen Herrn des Studentenheims in der Hermanngasse verkaufte sowie Haschisch aus eigenem Anbau aus seinem Schrebergarten auf der Schmelz.

Gottschlich hatte lange darüber nachgedacht, was er tun solle. Sowohl die Pornos als auch das Haschisch schadeten nicht wirklich jemandem. Außer dass es beruhigte und die jungen Herren aus dem Studentenheim vom bitter nötigen Protest abhielt, der in der politischen Situation, unter der einigermaßen intelligente Leute leiden sollten, durchaus angebracht gewesen wäre.

Gottschlich sprach Nowak darauf an, riet ihm, vorsichtiger zu sein. Und das war es gewesen. Der Mann hatte vor Aufregung einen epileptischen Anfall erlitten, die Trafik war einen ganzen Monat geschlossen gewesen, bis Frau Ottitzky übernommen hatte, die sich an die Gesetze hielt.

Aber jetzt war Zeit für die Couch, sein liebstes Möbelstück, im warmen Wohnzimmer. Die flauschige Decke vermittelte ihm ein zusätzliches Gefühl von Geborgenheit.

Das Läuten des Telefons weckte ihn. Es war dunkel geworden. Und kühl. Die Gastherme musste wieder schlappgemacht haben. Er musste sie reparieren lassen, so ging das nicht weiter.

»Detektei Gottschlich. Der Chef am Apparat«, meldete er sich.

»Ich hätte mich gerne mit Ihnen getroffen«, sagte eine männliche Stimme, die Gottschlich bekannt vorkam.

»Sie sind …«

»Mein Name ist Bernhard Lanner. Wir haben uns heute Vormittag getroffen.«

Bernhard Lanner hieß also der junge Gendarm, der neben seinem älteren Kollegen kaum zu Wort gekommen war.

»Der Chef will die Sache als Selbstmord abtun, aber daran glaube ich nicht«, fuhr Lanner fort. »Und da wollte ich Sie fragen, was Sie davon halten.«

»Wenn Sie wollen, können wir uns treffen, zu einem Abendessen in … oh, das wäre schön. In Thallern, in der Backhendlstation. Liegt etwa auf halbem Weg.«

»Wann?«

»Halb acht?«

»Halb acht.«

Jetzt freute sich Gottschlich das erste Mal an diesem Tag. Ein Backhenderl in Thallern, das würde diesen Tag gut ausklingen lassen.

Der Parkplatz vor dem Lokal, das zwischen Mödling und Gumpoldskirchen lag, war fast voll. Aus dem Gastzimmer tönten angeregte Stimmen, es duftete nach panierten Hühnern.

Der junge Gendarm mit den abstehenden Ohren erhob sich von einem der Tische. Das halb volle Glas G’spritzter vor ihm verriet, dass er schon eine Weile hier saß oder Durst hatte.

Auch er würde sich einen oder mehrere G’spritzte gönnen und im Notfall den Zug zurück nach Wien nehmen. Dann konnte er morgen wieder hierherfahren, um das Auto zu holen, und noch einmal einkehren.

Die Arbeit an diesem Fall entwickelte sich ganz und gar nicht unangenehm, von dem toten Bankdirektor am Vormittag abgesehen.