Wiesenstein - Hans Pleschinski - E-Book

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Hans Pleschinski

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Beschreibung

Der alte Mann, eine Berühmtheit, Nobelpreisträger, verlässt mit seiner Frau das Sanatorium, wo beide Erholung gesucht haben, und wird mit militärischem Begleitschutz zum Zug gebracht. Doch es ist März 1945, das Sanatorium Dr. Weidner liegt im eben zerstörten Dresden und der Zug fährt nach Osten. Gerhart und Margarete Hauptmann nämlich wollen nirgendwo anders hin als nach Schlesien, in ihre Villa „Wiesenstein“, ein prächtiges Anwesen im Riesengebirge. Dort wollen sie ihr immer noch luxuriöses Leben weiterleben, in einer hinreißend schönen Landschaft, mit eigenem Masseur und Zofe, Butler und Gärtner, Köchin und Sekretärin – inmitten der Barbarei. Aber war es die richtige Entscheidung? Überhaupt im Dritten Reich zu bleiben? Und was war der Preis dafür? Können sie und ihre Entourage unbehelligt leben, jetzt, da der Krieg allmählich verloren ist, russische Truppen und polnische Milizen kommen? Und das alte Schlesien untergeht? Hans Pleschinski erzählt erschütternd und farbig, episodenreich und spannend vom großen, genialen Gerhart Hauptmann, von Liebe und Hoffnung, Verzweiflung und Angst. Er erzählt vom Ende des Krieges, dem Verlust von Heimat, von der großen Flucht, vergegenwärtigt eine Welt, die für uns verloren ist, und das Werk Gerhart Hauptmanns, auch mit unbekannten Tagebuchnotizen. „Wiesenstein“ ist die Geschichte eines irrend-liebenden Genies und einer untergehenden und sich doch dagegenstemmenden Welt. Ein überwältigender Roman.

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Hans Pleschinski

Wiesenstein

Roman

C.H.BECK

Zum Buch

Der alte Mann, eine Berühmtheit, Nobelpreisträger, verlässt mit seiner Frau das Sanatorium, wo beide Erholung gesucht haben, und wird mit militärischem Begleitschutz zum Zug gebracht. Doch es ist März 1945, das Sanatorium Dr. Weidner liegt im eben zerstörten Dresden und der Zug fährt nach Osten. Gerhart und Margarete Hauptmann nämlich wollen nirgendwo anders hin als nach Schlesien, in ihre Villa «Wiesenstein», ein prächtiges Anwesen im Riesengebirge. Dort wollen sie ihr immer noch luxuriöses Leben weiterleben, in einer hinreißend schönen Landschaft, mit eigenem Masseur und Zofe, Butler und Gärtner, Köchin und Sekretärin – inmitten der Barbarei.

Aber war es die richtige Entscheidung? Überhaupt im Dritten Reich zu bleiben? Und was war der Preis dafür? Können sie und ihre Entourage unbehelligt leben, jetzt, da der Krieg allmählich verloren ist, russische Truppen und polnische Milizen kommen? Und das alte Schlesien untergeht?

Hans Pleschinski erzählt erschütternd und farbig, episodenreich und spannend vom großen, genialen Gerhart Hauptmann, von Liebe und Hoffnung, Verzweiflung und Angst. Er erzählt vom Ende des Krieges, dem Verlust von Heimat, von der großen Flucht, vergegenwärtigt eine Welt, die für uns verloren ist, und das Werk Gerhart Hauptmanns, auch mit unbekannten Tagebuchnotizen. «Wiesenstein» ist die Geschichte eines irrend-liebenden Genies und einer untergehenden und sich doch dagegenstemmenden Welt. Ein überwältigender Roman.

Über den Autor

Hans Pleschinski, geboren 1956, lebt als freier Autor in München. Er veröffentlichte u.a. die Romane «Leichtes Licht» (C.H.Beck, 2005), «Ludwigshöhe» (C.H.Beck, 2008) und «Königsallee» (C.H.Beck, 62013), der ein Bestseller wurde, und gab die Briefe der Madame de Pompadour, eine Auswahl aus dem Tagebuch des Herzogs von Croÿ und die Lebenserinnerungen der Else Sohn-Rethel heraus. Zuletzt erhielt er u.a. den Hannelore-Greve-Literaturpreis (2006), den Nicolas-Born-Preis (2008) und wurde 2012 zum Chevalier des Arts et des Lettres der Republik Frankreich ernannt. 2014 erhielt er den Literaturpreis der Stadt München und den Niederrheinischen Literaturpreis. Hans Pleschinski ist Mitglied der Bayerischen Akademie der Künste.

Inhalt

Vor dem Tag

Immer weiter

Daheim

Gewölbestunde

Besuch

Der Appell

Genesung

Ständchen

Atlantis

Das Buch

Rialto

Ein Abschied

Five o’Clock

Zu Carl

Schwestern

Katarakt

Niemandszeit

Versammlung

Vermächtnis

Ende und Anfang

Auf dem Hügel

Rundblick

Mykene

Cieplice

Besuch aus dem Osten

Die Nachricht

Der letzte Gefährte

Indipohdi

Gäste aus Berlin

Später Winter

Gastmahl

Kohlfurt

Nacht

Aufbruch

Epilog

Danksagung

Vor dem Tag

Der Opel Blitz kroch über die Mordgrundbrücke.

Die Reifen waren abgefahren.

Kupplung und Zwischengas hatte die Werkstatt instand gesetzt.

Rußschlieren überzogen das rote Kreuz.

Die verschlissenen Sitze quietschten.

Pflastersteine leuchteten nass im Licht aus den Scheinwerferschlitzen auf.

Im Hanggehölz neben der Bautzner Straße troffen dunkle Fetzen im Geäst. Bis dort hinauf verwehte Lakenteile, Kleidungsreste, brandige Tischtücher, Mützen.

An der Steigung fiel der Sanitätstransporter in Schritttempo zurück. Der Holzvergaser röhrte lauter. Mit dem hinter dem Fahrerhaus angeschweißten Ersatzantrieb – wie ein Badeofen in der Nacht – erklomm der Wehrmachtswagen die Anhöhe.

Im Sanatorium Dr. Weidner war die Parkpforte wieder abgesperrt. Loschwitz war durchquert.

Mit einer Sondergenehmigung der Gauleitung, die sich in den Tharandter Wald zurückgezogen hatte – Gauleiter Mutschmann besaß dort sein Jagdrefugium Grillenburg –, war der Rotkreuztransporter aus Pirna herbeigeordert worden. Dresden verfügte über kaum mehr einen Krankenwagen, keinen Löschzug. Die Rettungsfahrzeuge waren mit der Innenstadt, ihren Bewohnern, mit den Flüchtlingen eingeschmolzen.

Offenbar konnte der berühmte Greis, ein Halbtoter, oder sein Anhang besondere Beziehungen spielen lassen, vermutete der Fahrer, damit für dessen Abtransport der Blitz mitsamt Sanitäter bereitgestellt wurde. Der Stabsgefreite am Steuer und sein Kamerad mit Verbandstasche am Koppel zogen jede Fuhre dem drohenden Einsatz im Osten vor. Die Zahl der Gefallenen schien sich zu vervielfachen. Und das Gemetzel konnte nach Joseph Goebbels’ Rede, die vor vier Tagen im Radio übertragen worden war, noch blutiger werden: Jene Divisionen, die jetzt schon zu kleinen Offensiven angetreten sind und in den nächsten Wochen und Monaten zu Großoffensiven antreten werden … – Mit Holzvergasern?

Trotz des tosenden Beifalls aus der Görlitzer Stadthalle – da war sich der Stabsgefreite, der gerne spekulierte, sicher – würden bei Wahlen, falls es Wahlen gäbe, wohl nur noch sechzig Prozent der Deutschen … beinahe hätte er gedacht: der lebenden Deutschen, für die Nazis stimmen. – Ein gespenstisches Resultat angesichts all der Verwüstung, der Entbehrungen, der Toten und des schwindelerregenden Verderbens. Ein Sieg kostete Opfer. Aus dem rapide schrumpfenden Reich, das sämtliche Kräfte anspannte, konnte, wenn alle durchhielten, wieder ein mächtiges … Nein, lieber jeden Hebel in Bewegung setzen, um so lange wie möglich im sicheren Pirna stationiert zu bleiben. Es gab im Reservebataillon einen neuen Oberfeldarzt, von dem es hieß, er diagnostiziere in Sachen Herzklappen, Wirbelschäden, Asthma nachsichtig, wenn nicht gar defätistisch. – Stabsgefreiter Schöller sog den letzten Rauch des R6-Strohs zwischen den Fingerkuppen ein. Beim raschen Blick vom Steuer in den Transportraum stellte er fest, dass dort Ruhe herrschte. Der Greis lag stabil gegurtet unter einer Wolldecke auf der Tragbahre. Seine Begleitung hockte unter der Deckenfunzel winterlich vermummt um den Siechen herum. Das Gepäck war neben der Sauerstoffflasche rutschfest verstaut.

Vom Beifahrersitz stierte der Notabiturient und frischgebackene Sanitäter in die Lichtstreifen auf dem Kopfsteinpflaster. Längst waren nicht alle Bombentrichter am Straßenrand gesichert. Und Blindgänger würde man noch in hundert Jahren finden. In der Dunkelheit, wo kaum mehr etwas zu verdunkeln war, ließ sich wenig erkennen. Bisweilen schwärzliche Klumpen, so etwas wie Kanister mit seitlichen Zapfen neben der Chaussee. Im Gras, vor geborstenen Mauern. Oder machte einen die Einbildung irre? Hier oben waren nur mäßig Bomben und Phosphor gefallen. Wer sollte es brennend bis zur Straße geschafft haben?

Die finstere Einfahrt zu Schloss Albrechtsberg.

Der Pfeil zum Luftschutzkeller.

Krater im Park.

Reste einer Kinderkarre in einem umgepflügten Baum. Die Mutter war gewiss mitzerfetzt worden. Falls der Vater gefallen war oder an der Danziger Bucht, am Plattensee, bei Koblenz oder am Lago Maggiore erschossen würde … eine Familie, die es kaum gegeben hatte.

Und überall in Europa, bei den anderen Völkern dasselbe. Leichen düngten den Boden. Dazu die immer deutlicheren Gerüchte, die zu Wahrheiten wurden, über Zehntausende … höhere Zahlen mochte man nicht hören … von Ermordeten … Dabei wäre Bad Schandaus Kurwerbung judenfrei beinahe schon in Vergessenheit geraten; und längst keine Zigeunerwagen mehr, die vor Dörfern für ein paar Tage zum bunten Kreis aufgefahren waren. Pirna – dort die Sperrzone Festung Sonnenstein, darin verschwanden die Geisteskranken. Nun breitete sich Bedrückung in Pirna aus. Reue? Die in den panischen Willen umschlug, standzuhalten. Die Sonderspinnstoffsammlung.

Der siebzehnjährige Sanitäter Neumann zog die Rotkreuzbinde um seinen Uniformärmel straff.

«Pass auf die Straße auf», herrschte der Stabsgefreite ihn an.

«Soll ich Holz nachschieben?»

«Bis zum Bahnhof schaffen wir’s.»

Fahrer und Sanitäter stammten aus der Aachener Gegend und hätten dort in amerikanische Gefangenschaft gehen können.

«Sie haben Erste Klasse reserviert», verwunderte sich Neumann.

«Die können froh sein, wenn sich überhaupt ein Rad in Bewegung setzt», sagte der Vorgesetzte.

Wenigstens war mit Gegenverkehr kaum zu rechnen, keinem freiwilligen. Fast nur noch dienstlich verkehrten einige Fahrzeuge auf deutschen Straßen. Und noch spärlicher in der Märzfrühe.

«Wer ist die Alte?», fragte der Beifahrer.

«Vermutlich seine.»

«Und die beiden Jüngeren?»

«Sein Sohn, seine Tochter? Was weiß ich?»

«Und wann sind wir zurück?», wollte Neumann wissen.

Mief breitete sich aus. Christian Neumann kurbelte die Scheibe einen Spalt herunter.

«Hast du die Eingangshalle gesehen? Lüster, Ledersessel, sogar eine Palme. In solch einem Sanatorium sollte man den Frühling verschlafen. Wieso ist das noch kein Lazarett?»

«Kommt noch», sagte der Fahrer.

«Im Glaskasten Autogrammkarten von Lilian Harvey, Heinrich George, vom Operetten-Lincke. Nur Hautevolee.»

«Loschwitz, Weißer Hirsch, da tummelten sich schon immer die Reichen und Berühmten. Liegekur mit Sekt.»

Die Stoßdämpfer federten kaum mehr eine Unebenheit ab.

Der Vergaser dröhnte.

«Ob der noch irgendwo ankommt?» Der Sanitäter hielt es für unfein, in den Rückraum zu starren.

«Wir bugsieren ihn zum Zug, falls einer da ist, und dann langsam heim.»

«Ich kenne fast nichts von ihm, ja, Die Weber», erklärte der junge Mann. «Aber meine Mutter vergöttert ihn. Der letzte große Geist Deutschlands, meint sie.»

«Das sag man nicht zu laut. Da könnten gewisse Herren beleidigt sein.»

«Sie war bis zur Schließung der Theater Souffleuse.»

«In Aachen?»

«In Aachen. Kennt hundert Stücke auswendig.»

«Kann man sich nicht vorstellen. Da kommt man doch durcheinander.»

«Sie nicht.»

Der Geruch verflüchtigte sich allmählich.

«Warum reisen die jetzt aus einem Sanatorium ab?»

«Junge, das weiß ich doch nicht. Bin ich die Reichsschrifttumskammer? Sicherlich Absetzen in den Süden. Franken, Bayern.»

«Solche Leute sollten Vorbild sein», sagte Neumann.

«Für was?»

«Weiß ich auch nicht mehr», antwortete der Junge.

Der Stabsgefreite staunte. Die Antwort klang gescheit.

«Für das Andere», schob Neumann vorsichtig nach.

«Welches Andere?», fragte Schöller.

«Fürs Gute, stelle ich mir vor.»

Es war nicht ratsam, das Gespräch zu vertiefen. Immerhin hatte es abgelenkt. Die Fracht war kostbar. Aber für wen? Hielte sie überhaupt bis zu ihrem Ziel durch?

Nur bei seinen Begleitern untergehakt hatte der berühmte Mann den Sanka erreicht. Kraftlos hatte er sich auf die Liege gehockt, sich hingelegt und hineinschieben lassen. Nach ihm waren beide Frauen eingestiegen. Der mutmaßliche Sohn hatte Koffer und Taschen hineingereicht, dann dem aufstöhnenden Kranken die Wehrmachtsdecke fachmännisch und faltenfrei auch unter die Beine geschoben.

Ein livrierter Invalide des Sanatoriumspersonals hatte die Gäste verabschiedet: «Bleiben Sie uns treu, Herr Doktor, gute Fahrt. Beehren Sie uns wieder, Frau Doktor.»

Sogar das luxuriöse Erholungsareal auf den Elbhöhen war sichtlich verwüstet; Glassplitter, verkohlte Sträucher und Bäume, der Trichter einer Luftmine unweit der Freitreppe.

Tödliche Dunkelheit rundum.

Die erste Wegstrecke zur Stadt war kurvig und abschüssig gewesen.

Der Sanitäter wischte über die beschlagene Scheibe.

Die Bebauung – beschädigt, heil oder zerstört – verdichtete sich zu beiden Seiten. Zerschmetterte Jalousien. Umgeknickte Laternen, längst lichtlos. Dann wieder ein intakter Hydrant. Fassaden einer Straße fast ohne Häuser. Noch immer Brandgeruch auch über der Neustädter Flussseite. Türschlünde in Mauern. Notdürftig vernagelte Schaufenster. Spähen und Wegschauen wechselten einander rasch ab. Auch vier Wochen danach – vor Kellern verrußte Sandsäcke, zwischen Trümmern schwarze Brocken, die Kanister mit Zapfen.

Tausende waren durch die in Detonationen und Glut vergehende Stadt geirrt.

Alles löste Würgereize aus.

Der Horizont im Norden Pirnas hatte sich feuerrot gefärbt. Auch am nächsten Tag glühend und rauchig. Da hatten sie in Pirna die Vorhänge zugezogen, am Küchentisch geweint oder Vergeltung geschworen. Die Einsatzkräfte waren bereits in der Nacht aufgebrochen, so nah heran, wie es möglich war.

Schöller steuerte behutsam. Eine Luftschutzhelferin winkte ihn auf die linke Straßenseite. Auf der rechten türmten sich Dachbalken und Schindeln. Der Kübelwagen vor ihnen war tarnfarben gescheckt. Die geborstene Rotunde des Zirkus Sarrasani. Kein Pony der kargen Faschingsvorstellung am letzten Nachmittag der Stadt schüttelte mehr die Mähne.

Wir setzten uns am Dienstag abend gegen halb zehn zum Kaffee, sehr abgekämpft und bedrückt, denn tagüber war ich ja als Hiobsbote herumgelaufen, und abends hatte mir Waldmann aufs bestimmteste versichert (aus Erfahrung und neuerdings aufgeschnappten Äußerungen), dass die am Freitag zu Deportierenden in den Tod geschickt («auf ein Nebengleis geschoben») würden, und dass wir Zurückbleibenden acht Tage später ebenso beseitigt werden würden – da kam Vollalarm. «Wenn sie doch alles zerschmissen!», sagte erbittert Frau Stühler, die den ganzen Tag herumgejagt war, und offenbar vergeblich um ihren Jungen freizubekommen.

Victor Klemperer, Tagebücher, Februar 1945

Die Vierergruppe wirkte verloren im Gedränge.

Sie hatten es durch die Unterführung geschafft.

Der Sanitäter und der Fahrer waren mit der Tragliege wieder fort.

Nun musste man sehen, wie es von Gleis zwei aus weiterginge.

Oder vielmehr – zurück.

In den Osten.

Benommen nahmen das alte Ehepaar und seine beiden Begleiter das Menschengewimmel unter dem zerplatzten und durchlöcherten Gewölbe des Neustädter Bahnhofs wahr.

Trauben grauer Gestalten umdrängten die Reichsbahner. Fragen von Reisenden beantworteten sie mit einem Achselzucken, oder man vernahm: «Nach Meißen, circa sieben Uhr.» «Berlin? Noch unklar.» «Als Erstes soll Görlitz kommen.»

Die Fahrpläne hingen nutzlos in ihren Kästen. Sämtliche Verbindungen nach Breslau waren hinfällig geworden. Die Rote Armee hatte die Stadt umzingelt.

Rundum wurde besonders die Abfahrt nach Meißen erfragt. Mütter mit Kindern und Taschen, alte Männer mit Rucksäcken wollten in den umliegenden Dörfern und Gehöften Mitgeschlepptes und Gerettetes gegen Kartoffeln, Mehl, vielleicht sogar gegen ein paar Eier eintauschen. Aus Körben ragten Bronzeköpfe, Vasenhälse, eine Brennschere.

Angesichts der Zerstörung von etlichen Quadratkilometern Großstadt, des Zusammenbruchs von Versorgung, verbrannter Lebensmittelmarken sahen die verbliebenen Behörden derzeit offenbar von Strafen für Hamsterfahrten ab.

Erschöpfte Menschen in der Bahnhofshalle, abgewetzte Jacken, Schuhruinen mit klackenden Holzsohlen, einige Frauen geräuschloser auf Kork. Etwas vom Glück, überlebt zu haben, war keinem Gesicht der Getriebenen anzusehen. Die Ausgebombten, die Hungrigen streiften versehentlich die Stiefel schlafender Landser. Um Gruppen beinahe noch kindlicher Rekruten mit Stahlhelm und Feldgeschirr am Tornister machten die Zivilisten einen Bogen. Respektvoll, bedrückt oder scheu. Aber man hörte zwischen den Bahnhofspfeilern auch: «Jungs, haut druff.» Besonders Herren, so betagt, dass sie nicht einmal zum Volkssturm einberufen worden waren, ballten anspornend die Fäuste. «Dem Russki eins auf die Rübe! Die Engländer holen wir später runter.» Die Rekruten schienen alle Parolen zu kennen. Ein paar der uniformierten Lehrlinge und Schüler hielten angesichts von Feldjägern ihr Soldbuch griffbereit. Die Patrouille prüfte nur da und dort Ausweise und Papiere. Dennoch beherrschten die Feldjäger in ihren langen grünen Mänteln und mit blankem Brustschild, die Hände um den Gewehrriemen, das Gewimmel, das vor ihnen auseinanderwich. Die Militärstreife konnte jeden jederzeit abführen und – man erfuhr vielleicht gar nicht wofür – an die Wand stellen.

Die kalte Märzluft kroch unter die Haut.

Fünf Uhr fünf zeigte die Bahnhofsuhr.

Die NS-Wohlfahrt und das Rote Kreuz schenkten Tee aus. Als Zeichen behördlicher Fürsorge womöglich Tag und Nacht. Die Nation war ohnehin rund um die Uhr in Alarmbereitschaft. Arbeit, Besorgungen, Sirenen, Kämpfen, Hilfsdienste. Nerven lagen blank, manche versuchten mit zittrigen Händen einzuschlafen. Vermutlich die Frühschicht der Volkswohlfahrt hatte ihren Hakenkreuzwimpel auf dem Behelfstisch platziert. Der Kräutertee dampfte aus den Kellen; Wartende pusteten in die Becher. Ältere Rotkreuzschwestern wirkten so teilnahmslos wie die Gusseisenpfeiler; einige jüngere Helferinnen verwirrten, wie längst auf vielen Bahnhöfen, durch ihr liebreiches Lächeln, ihre aufmunternden Worte und ihre Aufopferungsgüte. Bisweilen mochte einen der Verdacht beschleichen, dass die gute Organisation den Krieg eher verlängerte als verkürzte, dass die Zuwendung, die Pflege, das Aufpäppeln von Verwundeten dazu dienen konnten, sämtliche Schrecken abzumildern, um desto gnadenloser Opfer einzufordern. Innerlich aufgewärmt und mit einem Dank an die unverdrossenste der hübschen Helferinnen zogen sich Essensfahrer und Flüchtlinge ins Gewirr zurück.

Die meisten hockten auf ihrem Gepäck.

Kinder bekamen einen Klaps.

Säuglinge wurden gewiegt.

Viele starrten in die dunkle Morgenfrühe vor dem Dachhalbrund. Wann zeigten sich Lichter eines Zugs? Einiger unregelmäßiger Verkehr rollte auch am Hauptbahnhof. Die Innenstadt war eingeäschert. Bahnstränge waren kaum getroffen worden. Es sprach sich herum: Der Zug aus Hannover Richtung Tetschen, in die sicheren Sudeten, blieb vorerst aus. Tiefflieger irgendwo. Immer pausenlosere Bombardements. Beschleunigung eines Endes?

Das Reich kapitulierte nicht.

Von dieser Tatsache hing alles ab. Alles und alles, das folgen würde. Noch unausdenklich.

Viele hielten sich die Hand vor Mund und Nase. Eine Woge von Husten auf den Bahnsteigen und um den Teeausschank. Auf den Bänken hüstelten Soldaten im Halbschlaf. Kaum merklicher Wind schob von der Altstadt beißenden und faulig süßlichen Gestank zwischen die Hallenstreben. Das Stickige hing eine Weile fest. Eine Frau in der Nähe der Schalter brach schreiend zusammen, wurde von Umstehenden aufgefangen und auf einen Wink der Feldjäger zum Vorplatz mehr hinausgeschleift als getragen. Einige wegen der brandigen Luft plötzlich aufheulende Menschen stürzten ihr nach ins Offene, in die Nacht hinaus, kauerten am Gemäuer, die Hände vorm Gesicht, die Arme über dem Kopf. Die Teeausgabe stockte. Ehe Panik um sich griffe, versuchten Bahnangestellte, Ruhe herzustellen, weitere Feldgendarmen erschienen. Zwei untergehakte Flakhelferinnen – übermüdet wie alle, aber mit Urlaubsschein für Karlsfeld bei Dachau – betrachteten den Weißclown auf dem Plakat des berühmten Zirkus, das nun nicht mehr für Jongleure und Dressurnummern warb.

Die Luft wurde reiner.

«Einen Speisewagen wird es kaum geben.»

«Das Sanatorium hat Schnitten gemacht.»

Noch mehr Blicke streiften die vier Harrenden am Bahnsteighäuschen von Gleis zwei. Natürlich war die Gruppe schon länger aufgefallen. Nicht wegen der jüngeren Frau und des vielleicht gleichaltrigen Mannes. Aber das betagte Paar, eher Herrschaften, kam vielen bekannt vor. Von Zeitungsfotos natürlich, aus Wochenschauen, von einem mehrseitigen bebilderten Bericht in der Illustrierten Signal über sein Leben in der Villa im Riesengebirge, eine Wandelhalle im Garten, das Arbeitszimmer mit Stehpult, die Schiffsmodelle unter der Decke, das Ehepaar am Kamin, der dicke Turm der Hausburg.

«Dann eben ohne warmen Imbiss.» Die Dame im wadenlangen Nerz, eine Baskenkappe schräg auf dem weißen Haar, lehnte sich übermüdet gegen die Wand des Bahnhäuschens. «Vielleicht zieht sich der Russe noch weiter zurück.»

«Mein Dresden, mein Kleinod», gab der Alte, vor ihr zusammengesunken auf einem eleganten Koffer, von sich. «Ich will zu Hause sterben.» – Konnte er es sein? Hier? Jetzt? – Einige der anderen Wartenden schienen sich, trotz ihrer eigenen Sorgen, darüber klar werden zu wollen. Der alte Mann hing mehr im schweren Mantel mit Schulterpolstern, als dass er den edlen Stoff trug. Das üppige weiße Haar, das sich vielen Menschen eingeprägt hatte, ließ seine Stirn frei und umschloss ein nur noch vogelartiges Gesicht. Die Nase wie ein Schnabel über dünnen Lippen. «Er hat gesagt, Dresden sei eine Perle. Und er wolle ihr die angemessene Fassung geben. Er hat ihr seine Fassung verpasst.» Wer das Gemurmel vom Koffersitz aufschnappte, erstarrte. Der Lobpreis Dresdens, das er schmücken wollte, stammte aus einer Rede Hitlers. Jeder Dresdner hatte die Weissagung im Kopf, aber sie jetzt auszusprechen, konnte den Tod bedeuten. – Er war es. – Eine der Dresdnerinnen mit Rucksack, aus dem ein Messingleuchter ragte, hatte ehedem während einer Bergwanderung mit dem Jungmädelbund vor der Villa zwischen Felsgestein Station gemacht, um Hauptmann ein Ständchen darzubringen, Kein schöner Land zu dieser Zeit … Er, auch ein Dichter des Volks, der Menschenfreund, war damals gerührt – soweit es sich trotz der täglichen Besucherscharen erahnen ließ – die Treppe herabgestiegen und hatte mit ausgebreiteten Armen nach Worten gesucht: «Ihr … die Zukunft», hatte er die Mädchen begrüßt, «möge das Wandern in freier Natur … Ich da-danke euch … auch die Seele freimachen. Wo, wo Deutschland ist, ist Deutschland.» Nachdem die Gattin sich zu ihm gesellt und seine Hand ergriffen hatte, hatte er recht flüssig erklärt: «Bald, auf der Schneekoppe, könnt ihr den Berggeist Rübezahl erblicken. Denn er lebt in euch. Er erschreckt die Menschen, er ist wankelmütig und, ja – er tröstet.» Danach hatte die Dienerschaft Holundersaft angeboten.

In einem Sommer vor dem Krieg.

Der rhythmische Klang von Rädern auf Schienen verhieß einen Zug. Güterwagen rollten langsam über ein Nebengleis. Ständig war damit zu rechnen, dass ein Verzweifelter sich vor die Lok warf.

«Soll ich Ihnen eine Decke umhängen, Herr Doktor?», fragte die junge Frau, die zur Reisegruppe gehörte.

«Mich wärmt nichts mehr, Pollak. Wie sieht das aus? Wie ein Lumpensammler.» Gerhart Hauptmann blickte mit trüben Augen zu seiner Sekretärin empor und ließ den Kopf wieder sinken.

«Gert», sprach die Gattin zu ihm hinunter. «Der Wehrmachtsbericht ist eindeutig. Generaloberst Schörner hat bei Lauban die Russen zurückgeworfen. Die Strecke ist wieder frei. Wenn wir Görlitz erreichen, kommen wir weiter. Der Görlitzer Zug soll der erste sein.» Margarete Hauptmann legte die Hand auf die Schulter ihres Mannes: «Wir haben den Luftangriff überlebt …» – «Unter Mörtel begraben und mit Glassplittern im Gesicht.» – «Wir werden es, du kannst es bis in die Paradieshalle schaffen.» – «Möge sie nicht zum Höllengewölbe werden.» – «Es ist Zuhause.»

«Warum sind wir nur fort, Grete?» Beide Hauptmanns wussten den Grund. Der zweiundachtzigjährige Dichter, der Nobelpreisträger des Jahres 1912, ehedem Verspotter des säbelrasselnden Kaiserreichs, der alsdann Zaubermärchen schrieb, durchaus gut bekannt mit Gauleiter Hanke, hatte unter einem zähen Katarrh gelitten. Margarete Hauptmann war zur selben Zeit von in Agnetendorf schwer diagnostizierbaren Magen- und Darmproblemen heimgesucht worden. Auch ihr altes Netzhautleiden erforderte eine Untersuchung, um die fortschreitende Erblindung aufzuhalten.

Anfang Februar hatten sich beide entschlossen, ins geliebte Dresden zu reisen, um Ärzte im Friedrichstädter Krankenhaus zu konsultieren und sich im Loschwitzer Sanatorium gründlich zu erholen. Seine Bronchitis war abgeklungen. Sie hatte nach allem Dafürhalten keinen Krebs. Benvenuto, der Lieblingssohn, hatte sie trotz der Reiseprobleme auf den Elbhöhen besucht. Kurz bevor sie ins gewohnte Hotel Bellevue in der Innenstadt übersiedeln wollten, wo die Suiten geräumiger und manche Begegnungen interessanter waren – mehr Künstler, vielleicht Hans Pfitzner, Richard Strauss, Arno Breker, der spitzzüngige Theo Lingen, hohe Offiziere –, eine Nacht, ehe sie vom Bellevue aus einen Abendspaziergang am Schloss entlang auf die Brühlsche Terrasse unternommen hätten, hatten die Zielchristbäume der Vorausgeschwader die Stadt in Licht getaucht. – Eine Tante Winston Churchills, wie es die Dresdner manchmal mutmaßten, wohnte also nicht unerkannt in der Stadt und behütete sie durch ihre verwandtschaftliche Nähe zum britischen Premier. Greller Schein umrandete vor der ersten Detonation die Rouleaus.

«Doch die Decke», bat der Sitzende.

Der junge Begleiter nahm sie vom Arm und legte sie dem Dichter über die Schultern. Paul Metzkow, Masseur aus Berlin, hatte Gerhart Hauptmann mühsam wieder bewegungsfähig gemacht. Nach dem Bersten der Fenster im Sanatorium, dem Hagel von Splittern bis in Hauptmanns Gesicht und Hände, hatte der alte Mann tagelang wie leblos auf einem Stuhl gesessen und wortlos die Wand angestarrt. Metzkow hatte seine Gliedmaßen massiert, beinahe das Gehen wieder mit ihm eingeübt.

«Wird wärmer, danke», sagte er jetzt auf seinem unsicheren Sitz, den der Masseur im Auge behielt. «Ich, ich weiß», rang der Patient um das richtige Wort, «dass in England, dass in Amerika, allüberall viele Menschen leben, die Dresden und die Si-Sixtinische Madonna liebten, von Herzen … Sie werden weinen, Unwiederbringliches – dahin … Men-Menschheitsschätze …» Hauptmann blickte mit nassen Augen auf: «Oh, wer das Wei-Weinen verlernt hat, beim Ende Dre-Dresdens lernt er’s wieder …»

Seine Kräfte ließen nach, doch er fuhr fort: «Einst arm, dann umjubelt, lauthals geschmäht … wegen des Volksmilieus in den Webern und in den Ratten, ich, der Gewerkschafts-Goethe!»

«Herr Doktor, strengen Sie sich nicht so an», sagte Paul Metzkow, und die Sekretärin Annie Pollak nickte. Hinter ihr drängten sich Menschen. Eine Trillerpfeife schrillte durch den Dunst.

«E-egal doch alles, nun umso mehr. – Sodann wieder Ehrenplatz in Premierenlogen, wenn mein Freund Walter Rathenau mich sähe …. Meinen Besuch bei Mussolini hätte der Weltbürger nicht geschätzt, egal, das Deutsch des Duce, anfangs ein zweiter Napoleon, war passabel. Ja, 1932 meine Ansprache über achtundvierzig Sender in den USA: Wenn ich nicht Deutscher wäre, möchte ich Amerikaner sein … Romanexperimente … Unter stürmischem Theaterapplaus in groben Zeiten von mir zurückeroberte Mä-Märchenreiche.»

«Es bleiben großartige Werke, Gert», bestätigte die Gattin und rieb sich ihre Oberarme.

«Paris, Lo-London spielten die Versunkene Glocke – mit Rautendeleins Lied zwischen Kobolden und Feen im Zaubertau», das summte er wie für sich: «Nehmt mich auf in euren Kranz! Ringelreigenflüstertanz. Silberelfe, liebes Kind! Schau, wie meine Kleider sind. – Wie sind Deutschlands Kleider jetzt? Silberelfen? Keine mehr.»

Ängstlich schauten sich die drei Stehenden um.

Er nahm die Furcht wahr. «Wird man mich verhaften?»

«Gerhart Hauptmann verhaften?» Die Sekretärin blickte erschrocken. «Wer würde das wagen? Aber leise, Herr Doktor», riet sie.

Vielleicht sprach der Kranke leise genug: «Ich kenne die Schlünde und die Gipfelhöhen der Welt … ich bin … zumindest unter den Halbgebildeten einer der Namhaftesten. Was ich sage, ist Mensch. – Und nun dieser Abgrund, so, in allem drin. – Lasst mich doch sterben.»

Er sank in sich zusammen. Fieberte er? Ein paar Umstehende auf dem Bahnsteig spähten nach dem Geschehen.

«Nicht, Gert. Dein Bett, der Kamin. Nach Hause», Margarete Hauptmann hielt seinen Kopf und schmiegte die Wange aufs Haar. Ihre halb blinden Augen schloss sie für den Moment. «Dort sind wir sicher.»

Der Masseur, die Sekretärin wechselten einen höchst besorgten Blick.

«Schlesien wurde nie bombardiert», sagte die Gattin.

Kühle strich durch die Halle.

Neben dem Bahnhäuschen schon wieder andere Leute, aber weiterhin auch die Frau mit den Leuchtern im Rucksack.

Lange nachdem der Güterzug den Neustädter Bahnhof in Richtung Coswig durchrollt hatte, nahm die Unruhe auf dem Bahnsteig zu, Dösende erhoben sich von den Bänken, sie griffen ihr Gepäck fester und behielten andere Hamsterfahrer im Auge. Trotz der beschworenen Schicksalsgemeinschaft wurde gestohlen, bestochen, und Plünderungen nahmen zu.

«Zurückgetreten an Gleis zwei», sogar der Lautsprecher funktionierte. Das Deutsche Reich war noch nicht auf den Hund gekommen.

Von Erster Klasse konnte keine Rede sein.

Über die Plattformen der Waggons schoben sich die Menschen zu den Abteilen und den Holzsitzen. Die Buchstaben DR auf den grünen Wagenaußenseiten verwiesen eindeutig auf die Reichsbahn. An den Notbremsen und auf den Fensterrahmen standen allerdings zuoberst ausländische Warnhinweise. Erst nach dem slawisch anmutenden Buchstabengedränge mit fremdartigen Akzenten folgten Nicht hinauslehnen, dann Ne pas se pencher dehors. Da die verbündeten Ungarn selbst kaum auf ein Eisenbahnsegment verzichten konnten – überdies waren sie keine Slawen –, stammten die Waggons vermutlich aus requirierten Beständen der ehemaligen tschechoslowakischen Staatsbahn. Man quetschte sich hin, wo Platz war. Mit einer funktionierenden Heizung hatte ohnehin niemand gerechnet. Soldaten drängten zwischen den Zivilisten zu ihren Kameraden. Eine gebeugte alte Frau mit einer Kaffeemühle im Netzbeutel und eine Mutter, die zwei Kinder neben sich platzierte, wetteiferten mit fragendem und mit starrem Blick, ob dem Alter oder dem Nachwuchs der Platz gebühre. Die junge Mutter obsiegte, indem sie den Korb auf ihren Schoß stellte. Eine Choristin der Semper-Oper – das Haus war wie sämtliche Bühnen wegen des Kriegseinsatzes aller Kulturschaffenden vor einem halben Jahr geschlossen worden –, die in einer nun zerstörten Großbäckerei dienstverpflichtet gewesen war, lächelte zwischen unrasierten alten Männern und den Kopftüchern so selbstverständlich und bezwingend, als schritte sie mit den übrigen Sopranen zum Beifall an die Rampe. Ins Haar ihrer Nachbarin waren Löcher bis auf die Kopfhaut eingebrannt. «Sie Rindvieh, passen Sie doch auf», schimpfte eine Frau, der jemand mit Holzsohle auf den Fuß getreten war. Der Herr entschuldigte sich bei der Jammernden. Niemand duftete frisch. Kleidung roch nach Qualm. Nur am Wagenende breitete sich ein Hauch von Kölnisch Wasser aus. – Wenigstens hatte die Luftwaffe laut allerlei Berichten und Meldungen auch die britischen Luftgangster, wie der Reichsmarschall sie nannte, in die Mangelwirtschaft gebombt, Englands Zufuhr über See dezimiert. Womöglich nippten sie nur noch im Buckingham-Palast echten Tee. Wenn Deutschland Not litt, so hatte es zumindest Europa in weitem Kreis zuvor ins Elend gerissen. Kein Anrucken der Waggons verhieß die Abfahrt zu den Speisekammern der Bauern. Eine Dame mit Muff erläuterte ihrem Gegenüber: «Aber Sie kannten doch Clairon & Sohn in der Prager Straße. Unser Modeatelier wurde 1835 gegründet. Wir belieferten vordem auch den Hof.»

Es schien kaum möglich, Gerhart Hauptmann unterzubringen. Während seine Frau und Paul Metzkow ihm die Trittbretter hinaufhalfen, erkundete Fräulein Pollak Gang und Abteile. Am besten, man bliebe gleich an der Tür auf den Koffern hocken. Nach vier, fünf Stationen mochte sich die Menge gelichtet haben. Wer reiste schon am 20. März 1945 zur Neiße? Und darüber hinaus?

Metzkow trug den vogelgesichtigen Greis herein. Mit ihren trüben Augen erkannte Margarete Hauptmann die Schreibkraft ihres Gatten wohl am ehesten an deren hellem Glockenmantel. Frau Dr. Hauptmann schnippte andeutungsweise mit den behandschuhten Fingern. Annie Pollak reichte ihr den bewährten Schlapphut, unter dessen Krempe der heimkehrende Dichter verborgen bleiben konnte. Der Masseur, ein rettender Engel, hob den Zweiundachtzigjährigen auf sein italienisches Gepäckstück. Die Decke legte er ihm als Kissen in den Rücken. Margarete Hauptmann bezog stehend neben dem Gemahl Stellung. Ihr schlechtes Augenlicht schien die frühere Schauspielerin und Violinistin durch ein entschiedenes Auftreten wettmachen zu wollen. Rank und elegant im Nerz, eine Hand auf der Schulter ihres Mannes, brachte sie einige Mitfahrende an der Gangtür zum Verstummen. Ihre einstige Schönheit war der Siebzigjährigen anzusehen. Sie war grazil geblieben, war zeitlebens in der Ostseedünung vor dem Zweithaus auf Hiddensee, während der Frühjahrsaufenthalte an den oberitalienischen Seen und in Rapallo an der ligurischen Küste geschwommen. Im Sportiven – was die kulturelle Sphäre und die abendlichen Gastereien vielleicht zusätzlich belebte – hatte die zweite Ehefrau ihrem Gatten kaum nachgestanden. Gerhart Hauptmann hatte sich ziemlich regelmäßig auch in eisiges Wasser gewagt, hatte sich frühmorgens durch Bogenschießen ertüchtigt, wobei er einmal sogar splitterfasernackt von einem Gast überrascht worden war. «Noch nie den Adam gesehen?», hatte der Schütze gerufen. Der Vorfall wurde noch immer erzählt. Und dann die Spaziermärsche, von Kindheit an bergauf, bergab und die Agnete entlang. Fast tauchte er wie der Berggeist unvermutet hinter einer Tanne, neben einem Granitfels auf und unterhielt sich mit den Einheimischen. Lange her, für die beiden … Nun zupfte die Gattin einen Handschuh ab, die Pumps glänzten. Ihr Konterfei von Lovis Corinth als junge Geigerin, ein Meisterporträt, das Annie Pollak bewunderte, schmückte die Villa vor der Front – zartkluger Blick über die Violine hinweg, eine Wespentaille, ein langes duftiges Kleid mit herrlichen Farbtupfern. Wer so ausgesehen und charmiert hatte, der konnte später auch gelegentlich in schlichtem Rock und mit Strickweste der Köchin die Leviten lesen: «Es gibt Teig in Schlesien. Also sollte man auch Ravioli zustande bringen.»

Frau Dr. Hauptmann selbst konnte kein Ei trennen. Allerdings brühte ausschließlich sie ihm bei Tisch mit dem Glasgerät den Verdauungskaffee auf. Anfangs hatte Annie Pollak assistieren wollen, war aber eines Besseren belehrt worden: «Mein Mann ist an mich gewöhnt.»

Der Zug ruckte. Blieb stehen. War das ein höherer Wink?

Man sollte wieder aussteigen.

Die Rote Armee in Ostpreußen, ein Blutacker … und nun bei Breslau.

An jeder Station konnte man den Zug verlassen. Und mit Sondergenehmigungen von Parteibonzen, von nur minimal belesenen Kreisleitern sich gen Westen durchschlagen und bei Bewunderern des Dichters in Bayern oder Holstein unterschlüpfen.

«Bald kannst du dich mit Fräulein Pollak wieder an die Arbeit machen.» Margarete Hauptmanns Miene blieb entschlossen. «Niemand wird dich behelligen.»

«Der Christophorus ist nicht fertig», vernahm man unter dem Hut hervor, «nur noch wenige Kapitel.»

«Siehst du. Es gibt viel zu tun. Und gegebenenfalls», flüsterte sie zu ihm hinunter, «bitten wir den bolschewistischen Generalkommandeur zu Tisch. Russen sind nicht so spießig wie Deutsche. Der Gauleiter hat noch einige Kisten Beaujoulais liefern lassen.»

Annie Pollak wurde himmelangst. Was ließ sich jetzt zu Ende denken? Womöglich war die Aussicht auf ihre Unversehrtheit, waren ihre Überlebenschancen gering. Der Aufbruch hatte wie ein immenses Wagnis angemutet. Aber vielleicht war es Irrsinn. Ihre Finger verkrampften sich in den Manteltaschen.

Neben ihr am Fenster behielt Paul Metzkow das Häuflein Greis beflissen im Auge.

«Kindchen», fragte es aus dem Pelzkragen zu ihr hinüber, «das Lunchpaket haben im Sanatorium doch Sie an sich genommen?»

«Mittagsbrot heißt das hier», rief ein stämmiger Mann aus dem Gang. Die Sekretärin lächelte entschuldigend für Frau Hauptmann. Auf deutschem Boden musste man von je damit rechnen, von anderen ungefragt zurechtgewiesen zu werden. Nichts ist recht, und keiner ist es einem. Es fehlte an geschmeidig freundlichem Durcheinandergleiten.

Solche Idee verpuffte augenblicklich.

«Selbstverständlich, Frau Doktor.»

Das neuerliche Rucken des Zuges wurde zum Rollen. Doch in die falsche Richtung. Einige Leute erschraken, andere schimpften. «Wir werden rangiert.» «Wehrmachtstransporte haben nun mal Vorfahrt.»

Annie Pollak strich sich übers dunkle Lockenhaar. Sie brauchte Luft. Sie schob sich an dem Masseur oder Heilpraktiker vorbei und trat auf die Waggonplattform. Mit der Lok hinten verließ der Zug im ersten Dämmerschein die Bahnhofshalle und gelangte zwischen die Ruinen und dunklen Gebäude der Neustadt. Das geschwungene Kupferdach des Japanischen Palais war eingedrückt oder ganz verschwunden. Die Wagen wurden weiter zur Marienbrücke und halb über die Elbe manövriert. Zitternd kramte die Sekretärin eine Zigarette aus der Packung in ihrer blauen Handtasche. Ein gutes Stück; sie verdiente ordentlich bei den Hauptmanns, hatte den Kamelhaarmantel überlassen bekommen, man speiste in Agnetendorf wie in Friedenszeiten, die Arbeit war fesselnd, die Diktate und Reinschriften ließen sich bewältigen. Sie fand keine Zündhölzer. Vor sich hätte sie die Altstadt sehen müssen. Jenseits des Flusses erblickte sie eine flache Schwärze, schwarzes Steingezack dazwischen, unregelmäßiges Gemäuer der Oper, der Gemäldegalerie mit dem Zwinger dahinter – Trümmer, vor der Brühlschen Terrasse spiegelten sich Fassadenfragmente im Fluss, die Kuppel der Frauenkirche war bald nach dem Angriff ausgeglüht in sich zusammengestürzt. Ihre Quader hatten wahrscheinlich weitere Menschen erschlagen – der Sachsenplatz, Deutschlands prächtigstes Wohnensemble … nichts zu gewahren. Ein Rätsel, weshalb sich der Turm der Hofkirche weiterhin über der Wüstenei erhob. Hatten seine eleganten Säulenetagen die Detonationswellen durch sich hindurchfluten lassen können? Elbflorenz, nun Sperrgebiete, in denen Keller freigeschaufelt und nach Leichen durchsucht wurden. Einige der noch nicht abtransportierten Juden, hatte man gehört, waren auf ihrer Flucht aus der Glut am Stadtrand aufgegriffen und erschossen worden. Worüber hielt der feine Turm aus einer schönheitstrunkenen Zeit noch einsam Wacht? Seine Nachbartürme hatten ihn nur nicht mitgenommen. Wer das Weinen verlernt hat … Er lernte es zuvor wohl an anderen Orten.

Was für eine Schande alles.

Die niedrigste aller Zeiten.

Sie lernte es wieder und wischte sich über die Augen.

Der Dichter war keine makellose Koryphäe, keinesfalls, er ließ sich von den Mächtigen hofieren, profitierte – bis jetzt – von deren Gunst – alles ein riskantes Geben und Nehmen –, er hatte erst vor wenigen Jahren wie berauscht oder im Rausch gereimt: Ich sah mein Deutschland auf der Erde liegen, zertreten von verruchter Sieger Pack: heut aber waren wir und sind’s, die siegen. So der Geschichte blutiger Schabernack. Manches bei ihm so krude, unbesonnen, unwürdig. Doch dann hatte er ihrer Vorgängerin auch diktiert:

Das Heilige in jedem Sinn ist tot.

Du siehst dein großes Mutterland verschlicken

zum pestilenzialisch faulen Sumpf

und alles wahrhaft Edle drin ersticken.

Dem sogenannten Tiger ist’s bequem,

die Höllenaugen drüber hin zu rollen:

Der Dampf der Äser ist ihm angenehm.

Den Thron Europens nimmt er ein, geschwollen

von Gift. Er speist mit einem blut’gen Latz

ein Hundsragout: von Hunden, doch von tollen.

Wem hilft’s?

Sie wandte sich von der Brache und vom verzweifelt vornehmen Turm ab.

Immer weiter

Man hatte Glück.

Schon in Radeberg kletterten Hamsterer aus dem Zug und schwärmten in alle Richtungen davon. Bis Bischofswerda hatten sich die Waggons halbwegs geleert. Die Schaffnerin drang bis nach hinten durch. Und es grenzte an ein Wunder. Im mittleren Wagen, wusste sie, befand sich tatsächlich ein Abteil, das vom Sanatorium Weidner reserviert worden war. «Endlich ein Coupé.» Margarete Hauptmann atmete auf und bemerkte zum Masseur: «Schon vorm ersten Krieg sind wir im Kabriolett, das uns Mercedes geschenkt hatte, nach Florenz gefahren. Schmidtmann hieß der zur Verfügung gestellte Fahrer. Eine einzige Panne bei Pavia. Unglaublich für damals.»

An der nächsten Station konnte man den Waggon zum reservierten Abteil wechseln. Paul Metzkow trug den Dichter. Ein Hitlerjunge half Annie Pollak beim Transport des nicht wenigen und nicht leichten Gepäcks. Dann hob der Pimpf den Arm zum deutschen Gruß. «Gute Reise», wünschte er. «Bald darf auch ich sterben.» War der kleine Sachse verrückt? Sekretärin und Masseur wechselten einen entsetzten Blick. Metzkow verstaute Koffer.

Bücher reisten stets mit, eigene, unbedingt Goethe, immer häufiger mystische Schriften von Konfuzius und Jakob Böhme, aus Schweden geschickte oder durch die Schweiz eingeschleuste neue Werke der Vertrauten und Kollegen Selma Lagerlöf und Ernest Hemingway. Bei den geordneten Reisen ehedem waren die Bücherkisten voraus expediert worden, oft quer über die Alpen. Im Sommerdomizil Seedorn auf Hiddensee genügte meist die dortige Bibliothek.

Dabei wurde in diesem Haushalt selten still gelesen. Lauter Vortrag im Kreise der Familie, vielleicht auch nur aus der Zeitung, war zwar landauf, landab eine übliche Abendunterhaltung. Doch das Rezitieren bei den Hauptmanns sprengte diese Dimension. Beim Frühstück wurden Lesefrüchte dargeboten. Zum Tee wurde laut vorgetragen. Und erst die Abendgesellschaften! Wurde nicht debattiert oder im Musiksaal konzertiert – Streichquartette Hadyns oder Improvisationen von Margarete Hauptmanns Bruder Max Marschalk –, dann kam irgendwann jeder Gast an die Reihe, ein Nachtstück von E. T. A. Hoffmann zum Besten zu geben, mit Lessings Lustspiel in der Hand die Liebeserklärung des Majors von Tellheim an Minna von Barnhelm zu deklamieren, Passagen aus den zuvor beim Umtrunk gestreiften Kindheitserinnerungen Maxim Gorkis vorzulesen. Und jede Darbietung konnte eine Rezitation aus dem nächsten im Hause greifbaren Buch nach sich ziehen, aus den Apokryphen der Bibel, dem Schlusskapitel von Schuld und Sühne. Ein Spottgedicht von Heinrich Heine führte zwanglos zu einer Szene aus Oscar Wildes Komödie Lady Windermeres Fächer, deren Wiedergabe mit verteilten Rollen kein Kinderspiel war. Aus dem Stand heraus sollte ein Gast oder Hausarchivar Behl als Lord Darlington glänzen: «Ach, Mylady, heute sind wir alle so knapp dran, dass die einzig erfreulichen Ausgaben Komplimente sind. Sie sind der letzte Luxus, den wir bezahlen können.»

Doch der flüssige Nachschub aus dem Keller flößte Schwung ein und lockerte die Zunge. Um die Gläser, Kerzenleuchter auf damastenem Tischtuch endeten Soireen fast immer mit Darbietungen aus den Werken des Hausherren. Angesichts seines vieltausendseitigen und wahrlich facettenreichen, bisweilen widersprüchlichen Schaffens herrschte kein Mangel an Bühnenstücken, autobiographischen Schriften, gedruckten Reden und Gedichten in sämtlichen Versmaßen.

Die Villa hallte wider vom Bekenntnis der Helene aus dem sozialen Sensationsdrama Vor Sonnenaufgang: «Die Arbeiter interessieren mich um ihrer selbst willen», oder von heiteren Gelegenheitspoemen: «Ein schöner Schein bricht in mich ein. Nicht mein, nicht dein, ein goldner Wein! –»

Der Dichter selbst vergewisserte sich durch dieses Privattheater seiner Arbeit, seiner Aufschwünge, Genieblitze und auch seiner morschen Phasen. «Nee, weg mit dem Nibelungen-Versuch. Obwohl … wiewohl ein kühner Streich! Jetzt holt mir den Bahnwärter Thiel, wollen doch mal in meine Ursprünge hineinhorchen, die Geschichte von Grausamkeit und Liebe bei den kleinen Leuten. Im Thiel lebt das wahre Brandenburg: Sand, Schicksalsschläge, wenige Worte.»

Hauptmann selbst trug grandios vor, besonders nach Mitternacht manche erotische Auswuchtung seines Œuvres: «Doch lauter gellt Baubo, weist die strotzenden Brüste mir hin, in der Gabel der Finger, springt herum, und nun darf ich den mächtigsten Hintern bewundern, den sie, klatschend und lachend, sich haut mit der Linken und Rechten.» – Er strahlte unter seinem mächtigen Schopf, und man durfte sich sicher sein, dass das Zechgelage noch nicht zu Ende war. – Andächtig wurde die Runde, wenn die labyrinthischen Gespräche die mundartlichen Werke des Dramatikers streiften, gar seine Tragödie von den hungernden und revoltierenden schlesischen Webern, deren Notjammer der Dichter auswendig wiedergeben konnte: «Mir san halt gar blank derheeme. Da hab ich halt unser Hundl schlacht’n lassen.» Und Hauptmann schob den eigenen Teller beiseite: «Viel is ni dran, a war o halb d’rhungert. ’s war a klee, nettes Hundl. Selbst abstechen mocht ich’n nich. Ich konnt’ mer eemal kee Herze nich fass’n.» –

Nachdem alles verstummt war, zog man sich dann doch bald in die Zimmer zurück. Einzelne wälzten sich, die Backen der Nymphe Baubo vor Augen, in den Schlaf. Andere Angereiste schlummerten nach dem geselligen Feuerzauber geradezu überirdisch bereichert unter den Daunen ein. Vielleicht hatten in diesem Bett unweit der kahlen Grate der Schneekoppe bereits Arthur Schnitzler und Hugo von Hofmannsthal genächtigt. Solche Ahnung veredelte das Einschlafen.

Nur der Gastgeber stieg in seinen Turm hinauf, zu seinen Nachtmeditationen, den legendären Vigilien, dem einsamen Auf- und Abschreiten an Globus und Folianten vorbei. Kaum jemand erfuhr, in welcher Frühe er sich in seiner kargen Kammer ausstreckte. Dort kritzelte er Einfälle, Maximen und Traumfetzen auf die Wandfarbe. Ein großes Notizbuch, das kaum jemand zu sehen bekam.

So ging es zu im Riesengebirge.

Der Zug erreichte die nächste Station.

Letzte Hamsterer schwärmten aus.

Niemand stand mehr in den Gängen.

Hunde lieferten sich entlang des Wasserturms und des Stellwerks ein Wettrennen. Hühner flatterten hinter einem Lattenzaun gackernd aus dem Grasmatsch auf. Alle Fenster mit Verdunkelungspappe im Wohnriegel der Eisenbahner waren geschlossen. Doch soweit man es andernorts, auch in Dresden, wahrnahm, wurden die verkehrswichtigen Gelände wie auch Rathäuser bei den Luftangriffen präzise ausgespart. Eine flugtechnische Meisterleistung. Als ob die Alliierten bereits ihre künftige Streckennutzung und den Zugriff auf die deutsche Verwaltung durchgeplant hätten. Vom Fernsprecherhäuschen neben dem Stationsgebäude troff der Schneematsch. Die Anweisungen auf dem Blech über dem Münztelefon, das möglicherweise funktionierte, waren nur vage zu erkennen, aber allbekannt. Achtung! Feind hört mit. – Und natürlich: Fasse Dich kurz! – Wann hatte es begonnen, dass man von der Post, in öffentlichen Verlautbarungen, einfach geduzt wurde? Ein Grobianismus wie in einer Schlachthofgegend. Fassen Sie sich bitte kurz, der Feind könnte mithören, hätte es heißen müssen. Wünschen Sie den totalen Krieg? – Das ohrenbetäubende «Ja!» wäre gewiss schütterer ausgefallen.

Eine Stellwerkerin legte den Weichenhebel um.

Der Zug schleppte sich fort.

Auf Demitz folgte um viertel vor acht Seitschen/Lausitz.

Hauptmann wurde in die Abteilecke mehr oder weniger gebettet. Es war beklemmend, das eingefallene Gesicht mit spitzer Nase zu sehen. Den breitkrempigen Stetson zog der Kranke sich selbst vom Kopf. Margarete Hauptmann strich ihm das Haar zurecht. Er äugte in die hügelige Landschaft: «Nur, nur noch ein paar Kilo, die sich auflösen», hüstelte er.

«Die Köchin wird dir Gutes zubereiten.» Seine Frau öffnete ihm den obersten Knopf der halshohen Weste.

Der Masseur trat zurück. Vor der Schiebetür murmelte ihm die Sekretärin zu: «Er war immer eine stattliche Erscheinung. Als Jüngling, wie es daheim Aufnahmen zeigen, sogar eine geheimnisvoll schöne Erscheinung. Sehr ernste Augen. Betörend geschwungene Lippen, üppiges Lockenhaar.»

«Er stammt aus einem Wirtshaus?» Metzkow erinnerte sich vage an einige Bemerkungen in Dresden.

«Gasthof mit Hotel in Bad Salzbrunn», erklärte Annie Pollak und wandte unruhig den Blick vom Elend im Abteil ab. «Schon früh ein ausgemachter Träumer. Und nicht immer eine schöne Geschichte», flüsterte sie: «Drei Brüder, eine Schwester. Der mit Abstand Älteste, der kaufmännische Georg, war früh außer Haus. Mit dem Nächstälteren, Carl, wurde Gerhart aufs Internat nach Breslau geschickt. Die Eltern meinten es gut. Er erzählt es immer wieder. Aber in ihrer Unterkunft bekamen beide Landkinder nur Essensreste vorgesetzt, hungerten und erfroren fast, mit Ungeziefer im Bett.»

«Meine Güte», wunderte sich Metzkow.

«Der Vater machte bankrott. Vorbei die Zeit, in welcher der Junge durchs Hotel stürmte wie durch ein Schloss und sich zwischen die Mägde und Fuhrleute in der Küche hockte, um mit ihnen begeistert aus einer dampfenden Schüssel zu löffeln. Spukgestalten im Haus, das Kommen und Gehen von Gästen, das Bodenständige prägten ihn. Seine Lebensgeschichte, Herr Metzkow, Das Abenteuer meiner Jugend, gehört zu den farbigsten Zeugnissen einer vergangenen Welt. Ich habe die Erinnerungen mit ins Reine geschrieben, und manches bleibt natürlich haften, zumindest sinngemäß.»

«Zum Beispiel?», fragte er.

Sie sann nach. «Ja», sagte sie, «zum Beispiel über das Essen: Die ganze Prozedur der gelassenen Nahrungsaufnahme, bei der niemand, auch nicht die Kinder, im geringsten Ungeduld, Hast oder Gier zeigte, war bei uns zu Hause feierlich. Sie war beinahe selbst ein Gebet. Hier wusste man, was das tägliche Brot bedeutete, und der Instinkt entschied, welche Würde ihm zuzusprechen war.»

«Schön», gestand Metzkow.

Sie klaubte, froh über die Ablenkung, weitere Bruchstücke der Erinnerungen zusammen: «Ich ging nicht nur in den Weberhütten, sondern auch in den übrigen Werkstätten der Kleinen als ein Dazugehöriger ungehindert, ja unbeachtet aus und ein, ebenso auch in den einzelnen bis dahin versprengten Elendsquartieren der Bergleute aus dem nahen Industrie- und Kohlenbezirk. – Und dann entsann er sich beim Diktieren: Ich betrachtete einen Baum, ich beroch und berührte seinen Stamm. Ich stellte mit meiner Stirn seine Härte fest. Ich sagte: Nun ja, ich nenne dich Baum, ich weiß, du bestehst aus Holz, das brennbar ist, doch was du eigentlich bist, das weiß ich nicht. – Solche Empfindsamkeit hat mich beeindruckt.»

«Zu Recht», pflichtete der Pfleger staunend bei. Er wirkte aufmerksamer, als es vielleicht zu erwarten gewesen wäre.

«Neben allen Abenteuern und Freuden, die er schildert», Annie Pollak nahm das Interesse gerne wahr, «widerfuhren schon dem Kind bedrängende Visionen, unglaublich. Die Gesamtheit der Menschheit sah ich als Schiffbrüchige auf einer Eisscholle ausgesetzt, die von einer Sintflut umgeben war.»

«Düster. Wir sind wohl schon schiffbrüchig. Und hoffentlich geraten wir nicht in die Sintflut.»

Solche Vorstellung versuchte die Sekretärin zu verdrängen.

«Ein Pendeln zwischen Aufschwung und Verzweiflung bei ihm», sagte sie. «Entweder wird man Treibgut oder, wie soll ich sagen, sein eigener Hauptmann. Er hisste auf der Scholle seine Flagge.»

«In seiner Umgebung wird man wohl dichterisch?»

«Von mir dürfen Sie nicht einmal einen Trinkspruch erwarten, Herr Metzkow.»

Beide lächelten.

Die Sekretärin und der Mittdreißiger hatten sich vor das Gangfenster gestellt.

Der gebürtige Berliner, wie er sagte, war einige Jahre jünger als sie und einen Kopf größer. Schlank, ja mager war er wie fast alle. Gewiss auch von Berufs wegen waren seine Hände kraftvoll und sehnig. Metzkow trug eine graue Hose, sein Jackett mit lederüberzogenen Knöpfen war durch einen Rückgurt leicht tailliert. Das volle braune Haar hatte er gescheitelt. Er stand recht selbstbewusst da, eine Hand um den Fenstergriff.

Annie Pollak stand es vor Augen, wie der Masseur in den Morgenstunden nach der Bombennacht in den Luftschutzkeller des Sanatoriums getaumelt war. Voller Asche, restlos erschöpft, Brandwunden auf der Haut … Das Reservelazarett am Hauptbahnhof habe, brachte er vor, sofort einen Volltreffer abbekommen. Er sei dort Krankenpfleger. Er sei los. Wie alle anderen, die noch rennen konnten. Über die Elbwiesen, immer weiter, zwischen den panischen Menschen hindurch, über das Blaue Wunder. Im Sanatorium habe er mehrmals ausgeholfen. Die Geschichte mochte so stimmen.

Er hatte sich auf eine Pritsche sinken lassen. In der Hosentasche hatte der Flüchtige noch seine goldene Armbanduhr gefunden. Alles Übrige samt seinen Papieren war mit dem Lazarett verbrannt.

Ein Krankenpfleger? Nun beinahe lebenswichtig für den fast gelähmten Dichter. Schon die ersten Massagen und Übungen hatten ihn wieder beweglicher gemacht. Doch eines war klar: Sogar für die Hauptmanns würde es in der Krisenlage schwierig werden, einen offenbar volltauglichen Mann, der sofort zur Sturmstaffel hätte eingezogen werden können, als für die Heimat unabkömmlich gestellt zu bekommen. «Probieren wir’s gar nicht erst», hatte Metzkow erklärt: «Ich gehöre zu Ihrem Personal. Wer wird da fragen? Ich bringe Sie wieder auf die Beine. Und dann sehen wir weiter.»

Das alte Paar hatte sich auf den Vorschlag eingelassen. Und sogar ein Monatssalär vereinbart.

Was konnte ihnen passieren?

Der Masseur betrat nicht einmal den Park des verwaisten Sanatoriums. Nur eine betagte baltische Baronin ließ sich Grütze und Tee aufs Zimmer bringen. Metzkow behandelte seinen Patienten drei Mal täglich und bald auch Frau Dr. Hauptmann. Er erwies sich als vorzüglicher Therapeut mit umfassender Heilkenntnis. Zuvor hatte er in der Ukraine und andernorts schwer verwundete und amputierte Soldaten umsorgt.

Das Grau über der Lausitz hellte sich unmerklich auf.

Lokdampf quoll vorbei.

Der Zug ratterte über ausgefahrene Gleise. Der Griff der verplombten Notbremse wackelte wie im eigenen Rhythmus.

«Ich muss mehr über ihn erfahren», erklärte Metzkow.

«Ja, sein Leben ist interessant.» Annie Pollak hielt inne. Hatte sie dem Fremden – vielleicht Uhrendieb, Deserteur, ein Denunziant? – schon zu viel preisgegeben?

«Ich will mich auskennen.» Metzkows fordernder Blick beruhigte nicht gerade.

«Worin denn auskennen?»

«Einmal hat er mich wahrscheinlich gerettet.»

«Wovor?», fragte sie.

«Wollen Sie etwas von klaffenden Wunden, abgerissenen Beinen, zertrümmerten Schädeln, den verstümmelten Vätern und Söhnen hören? Bald gibt es keine anderen mehr.»

«Nein», wehrte sie ab.

«Er muss leben. Unbedingt.»

«Ja», gestand sie sofort. «Ich weiß sonst nicht, wohin.»

«Eben.» Auch Metzkows Hals zeigte kräftige Adern. Vor Not und Sehnsucht hätte sie den Mann umschlingen wollen.

«Vor neunzehn Jahren wurde ich als Zofe angestellt. Mit diversen Aufgaben.» Sie war dankbar, auf solche zivilen Begebenheiten zu kommen: «Nach einiger Zeit habe ich Frau Jungmann abgelöst. Eine perfekte Sekretärin und Übersetzerin. Jüdin. Trotzdem hat der, nun, nationalsozialistisch lupenreine Dichter Rudolf Binding sich so restlos in Frau Jungmann verliebt, dass er sie zu sich ins Bayerische holte. Nach Bindings Tod scheint Elisabeth Jungmann nach England entkommen», Annie Pollak räusperte sich, «gereist zu sein.»

«Sagen wir», der Pfleger schien etwas abzuwägen, zu überschlagen, «ein gutes halbes Jahr mindestens … natürlich gerne auch länger muss er noch leben.»

«Aber ja», pflichtete sie beinahe empört bei und maß den recht geschmacklos kalkulierenden Begleiter.

«Selbstverständlich soll er so schöpferisch, heiter und berühmt bleiben wie möglich», lächelte er nun ganz ungezwungen. «Dafür bin ich ja engagiert.»

Musste sie dem alten Ehepaar etwas über dieses Gespräch mitteilen? – Dass er ihm Gesundheit wünsche?

Die Gegend wurde hügeliger. Gehöfte lagen verstreut zwischen den Feldern. Manche Aussaat grünte schon matt zwischen Tauwasser und Weggesträuch. Das angestammte Land der Sorben. Ihre Trachten mit üppiger Spitze und Hauben erblickte man auf keinem Kalender, keiner Grußkarte mehr; ihre Sprache war verboten. War das kleine Slawenvolk noch am Leben? Selbstverständlich waren auch nicht alle Sorben reizend. Ehebruch, Erbschleicherei, sogar Kindsmisshandlung da und dort, gelegentlich Neigung zum Likör. Wie bei allen Menschen.

Ein Rindergespann zog einen Pflug. Pferde waren offenkundig requiriert. Die Bäuerin selbst trieb die Kühe durch die Furchen. Am Weg beim Bahnübergang hievten Männer Milchkannen auf ein Holzgestell. Einer der Landarbeiter hatte einen dunklen Lockenschopf wie ein Franzose … Bretagne, Paris, Gefangener von der Côte d’Azur … kaum vorstellbar, dass es unerreichbar fern jene Palmenküste gab. Seit gut einem halben Jahr ohne deutsche Besatzung. Die Geschützbatterien hatten die Invasion nicht aufgehalten. Vor den Strandbunkern lief wieder friedlich die Brandung aus. Spazierten die Franzosen in der Frühlingssonne, erledigten ihre sicherlich noch bemessenen Einkäufe, genossen sie die Blütenpracht in den Parks entlang der Promenade? Bereiteten sich die Luxushotels neuerlich auf erste internationale Gäste in Zivil vor? Vormalige Stammkundschaft aus den USA und Brasilien. Das Minensuchboot vor der Mole von Antibes drehte ab. Unter den Sonnenschirmen der Cafés nahmen Damen Platz. Am Kiosk schob der Zeitungshändler die Times zwischen den Midi Libre und Le Monde. Am Markt Radfahrer und Laufkundschaft mit Sonnenbrillen …

Die Wolkendecke über dem Lausitzer Land blieb dicht.

Die Fremdarbeiter, die den Milchkarren zogen, schienen sich über den Zug zu wundern. Vielleicht, weil nach der Schlacht östlich von Görlitz und dem Zurückdrängen einer russischen Armeespitze wieder Personenverkehr in Richtung Oder und Neiße unterwegs war. Verstohlen winkte eine Reisende vom Gangfenster. Draußen ballten sich Fäuste.

«Herr Matzke, helfen Sie mir doch mal.» Von der hellen Stimme Margarete Hauptmanns fühlte sich Paul Metzkow sofort gemeint: «Machen wir’s ihm bequemer.» Im Abteil bewältigte der Helfer die kleine Mühe allein. Er hob die Beine des Dichters auf die tschechoslowakische Holzbank und wickelte sie in die Wolldecke. Leichte Abwehrgesten des Alten gegen die Bemutterung musste er abtun. Metzkow bestaunte das wunderbare Schuhwerk des Mannes, weiches schwarzes Leder, hochgeschnürt. Auch Hauptmanns Anzugstoff war feinste Friedensware oder stammte aus speziellen Quellen. Unter dem langen Jackett, eher schon ein Gehrock, glänzte die goldene Kette der Taschenuhr. «Danke, Matzko», stöhnte der Poet. Er ließ sich in die Fensterecke zurücksinken. «Bald Bautzen», munterte der Helfer auf. «Ein Se-Segen, dass Sie da sind», Hauptmann lächelte, «sonst wären Sie vielleicht schon in den Fleischwolf geraten. Daheim bekommen Sie das Südzimmer. Da haben Sie Ausblick über das Agnetetal bis Warmbrunn und fast nach Hirschberg hin. Die, die Bäume um Wiesenstein sind freilich gewachsen. Ich, ich wollte die Natur nie beschneiden. Die Kiefern habe ich vor fünfzig Jahren eigenhändig gepflanzt.» Er ächzte. «Wiesenstein ist rundum meine Festung in Saus und Graus. Wird aus dem Tempel ein Mausoleum werden? Es sei. Als Teil des Schlammes sind wir im Schlamme fo-fortbewegt.»

«Aber Gert», beruhigte seine Gattin, deren Pelz in der zugigen Kühle vielleicht erstmals gänzlich seinen Sinn erfüllte. Auch der hochgeschlagene Kragen wirkte jetzt ausschließlich dienlich. Die weiße glatte Ponyfrisur verlieh ihr einen Anflug von Strenge und gealterter Mädchenhaftigkeit zugleich. Von ihrem Platz aus behielt sie den Gatten im Auge.

«Keine Säge wird meine Kiefern bluten lassen», brachte er stockend hervor. – «Endlich wieder heiles heimatliches Gemäuer. Das muntere Meisenspiel am Vogelhaus. Wenn es keinen Strom gibt, werden wir Fackeln blaken lassen.»

«Weshalb sollte der Strom ausfallen, Gert?»

«Mei-meine Köchin sollte immer rund und gut im Fleisch sein. Von einer mageren Suppenrührerin steht nichts zu erwarten. – Vielleicht hätte es als Warnung dienen müssen», murmelte er über seiner Westenbrust, «dass er, er in Berlin und in seinem Befehlsbunker nur Gemüse kaut. Wer auf Lauch und Re-Rettich schwört und die Markklößchen in der Brühe scheut, der lässt die Fülle des Lebens, das Flirrende und Bresthafte nicht gelten. Will es austilgen.»

«Gert, ein Führer muss klar bei Kräften bleiben.»

«Churchill säuft. Alexander der Große hurte mit den Knaben Babylons. Der Alte Fritz mit preußischen Adjutanten bei der Morgenschokolade. Sie schöpften aus den Lenden Kraft. Gewannen durch Schwänze in Löchern primäre Energie. Und Ju-Jubel.»

«Gert!»

«Selbst Queen Victoria, die gestrenge, gebar nach der Lustbejahung vierzehn Mal. Fürs Leben braucht es eher die Öffnung als den Abscheu.»

«Ruh dich jetzt aus. Ordnung ist genauso wichtig. Seien wir froh, dass die Reichsbahn fährt.»

«Na, na, nee, nee», fügte sich der Alte. Das spitzige Gesicht hatte sich belebt, aber es wurde wieder weißer, wächsener.

«Es liegt ihm nicht, sich aufzubäumen, und es tut ihm nicht gut», beschied leise Frau Hauptmann.

«Es bleiben nur Trauer und der Tod», schien eine Antwort sein zu sollen. Er keuchte. Ereilte ihn noch vor Hirschberg, der Endstation in Niederschlesien, durch ein Herzversagen sein Ende? Der Krankenpfleger setzte sich neben seinen Patienten. Besorgt musterte er das alte Paar, dem vielleicht soeben bewusst geworden war, dass es in nicht ferner Zeit auf immer voneinander würde scheiden müssen. In solche Gefühle, in eine ahnungsvolle Verzweiflung, in das Spähen des Seelenauges nach einem Trost, mochte und konnte sich ein Dritter und Jüngerer kaum einfühlen. Frau Hauptmann fingerte an ihrem Zigarettenetui, doch sie bezwang ihren Drang zu rauchen. Sie war mit «gnädige Frau» oder schlichter als «Frau Doktor» anzureden, wenngleich sie ihren Mann bei seinen Ehrenpromotionen nur begleitet hatte. Der Dichter trug den Ehrendoktorhut mehrfach; die Sekretärin hatte die geschätzten Würdigungen aufgezählt, Doktor von Oxford, von Leipzig, von Prag, Doktor der Columbia-Universität in New York. – Wo hatte eigentlich Doktor Goebbels, neben Wirtschaftsminister Doktor Funk eines der Regierungsmitglieder mit akademischem Abschluss, ging es Metzkow kurz durch den Kopf, seinen Titel erworben? Reichsfinanzminister Schwerin-Krosigk war Graf und hatte, wie man wusste, bereits unter den Kanzlern der Demokratie gedient. Genügten die preußisch-adelige Herkunft und die Erfahrung, um der jetzt schon wahrscheinlichen Verschuldung bis in die zehnte Generation entgegenzusteuern? Solides Wirtschaften sah anders aus als im Tausendjährigen Reich. Daran dachte im Kriegsfuror fast niemand: Vielleicht besaß Deutschland durch astronomische Rüstungsausgaben bis ins nächste Jahrtausend nichts mehr. Erheblich länger nichts, als es durch die Schuldforderungen im Vertrag von Versailles gedroht hatte. Jede Patrone kostete, zerstörte Städte … Hinterbliebenenrenten. Überhaupt die Regierung. Von den meisten Ministern und ihren Ressorts, Dorpmüller für den Verkehr, Ohnesorge für die Post, Rust Wissenschaft und Volksbildung, vernahm man gar nichts. Sah und hörte die Herren nicht. Tagte unter Vorsitz Hitlers noch eine abwägende Ministerrunde? Existierte der Reichstag, zumindest pro forma, noch? Oder war die wie auch immer geartete Volksvertretung abgeschafft? Metzkow wusste es nicht, und schon die Nachfrage konnte gefährlich sein. Das Staatsbudget 1945 mochte verabschiedet worden sein. Doch wo und von wem? Das Volksvermögen und seine jeweilige Verwendung lagen völlig im Dunkel. In hoch besoldeten Staatsämtern mästeten sich Bankrotteure. Auch andere waren Verschwender gewesen, hatte der Masseur in Dresden wahrgenommen. August der Starke hatte für Geschmeide, Feste, Frauen und den Zwinger die Taler strömen lassen. Von den neuen Sachwaltern Deutschlands war der Traumbau der Pulverisierung zugeführt worden. Nur das konnten sie. Man wusste nichts übers Innere des Staates, außer dass es die Partei war. Ein finsterer Tanker manövrierte ohne Luken und Kontakt zur Außenwelt. Was für ein Regime, eine Verbrecherclique an der Spree. Roland Freisler, der Henker des Volksgerichtshofs, prägte sich durch seine Häme: Unterbrechen Sie mich nicht, Sie Lügner, unter der Schafottklinge wird das Gegreine eines Volksschädlings verröcheln, schärfer ein als sein Justizminister, dem die Rechtspflege oblag. Allerdings ließ sich Otto Georg Thierak, ein Planer der Sippenhaft, nur in Schaftstiefeln ablichten. – Man war ans Ruppigste gewöhnt. Man sehnte sich nach … Licht, Sanftem, Frieden, Wärme, Wohlfahrt, Freundlichem.

Paul Metzkow war froh, nicht mehr im heimischen Berlin und nicht im Reservelazarett zu sein.

«Nehmen Sie doch einen Schal meines Mannes», empfahl Frau Hauptmann und deutete zur Gepäckablage. Da er beim Kofferpacken assistiert hatte, zog Metzkow das Seidengewebe aus der richtigen Tasche. Ein so edler Stoff hatte noch nie seinen Hals gewärmt. «Dunkles Bleu steht den meisten Männern.» Was nahm die sehbehinderte Frau von ihm, von der Landschaft wahr? Vermochte sie, auf dem Bild unter der Gepäckablage die Burg vom Fels zu unterscheiden?

«Frau Doktor?»

«Bitte?» Sie sah ihn an.

«Ich erwähnte in Dresden, dass ich meinen Arbeitsbereich von der Pflege und Massage auf das Heilpraktische insgesamt ausdehnen will.»

«Das sagen Sie sehr schön.»

«In Ihrem Umfeld, Frau Doktor, versucht der Mensch, sich passabel auszudrücken.»

Sie blickte verschmitzt: «Das wäre eine erfreuliche Wirkung unseres literarischen Ambientes. Immerhin eine, mitunter eine unmerkliche. Menschen, die sich passabel ausdrücken, sind nicht die besseren. Aber es gelangt doch mehr Vielfalt ins Ohr und eine wünschenswerte Präzision. Unsere Köchin grunzt oft. Das führt gedanklich nicht weiter. Nun, das Fluidum von Frau Guth sind Saucen. Oder Soose, wie sie sagt.»

Metzkow räusperte sich. Mit dieser Lektion hatte er nicht gerechnet. «Hauptsache, es schmeckt.»

«Wie bitte?»

«Sie Ihrerseits, gnädige Frau, hatten erwähnt», bemühte er sich um den gewünschten Ton und setzte sich wieder, «dass die Augenheilkunde Ihnen nicht fremd ist.»

«Nicht fremd, junger Mann?» Margarete Hauptmann neigte sich ihm fast herausfordernd entgegen. Hatte er zu Privates berührt, und riskierte er ihr Wohlwollen?

«Beide Netzhäute lösen sich ab. Seit vielen Jahren.»

«Das ist schlimm.»

«Fürwahr. Vom Blatt kann ich längst nicht mehr spielen. Die Partituren sind für mich ein graues Gewirr.» Sie setzte wohl voraus, dass ihre ursprüngliche Laufbahn als Konzertgeigerin geläufig war. «Die Ohren sind intakt geblieben.»

«Von Augenkuren, denen Sie sich unterzogen, war im Sanatorium die Rede. Ich habe nie erfahren, was Augenkuren sind. Die Prozedur klingt beinahe angenehm. Entspannen sich die Iris, die Pupille, regeneriert sich die Membran, indem der Patient möglichst gedankenlos ins Grüne schaut? Von einer Terrasse aus? Oder ist er dazu verdammt, Heilungsphasen in einer Dunkelkammer zu verbringen? Ich frage aus Interesse.»

«Das ist der Sinn von Fragen. Weder Schauen ins Grüne noch Sitzen im Finstern, Herr Matzke.» Sie wirkte wieder wohlmeinender. «Die wirkungsvollsten Augenkuren absolvierte man … in den Dreißigerjahren … im thüringischen Bad Liebenstein beim Ophtalmologen Maximilian Graf von Wiser. Die halb blinde Crème Europas fand sich bei ihm ein. Wir logierten im Kaiserhof. Wiser hatte sein spezielles Können durch die Behandlung von Gasopfern im ersten Krieg erworben.»

«Keine Operationen?»

«Wie denn? Die Netzhaut ist zu empfindlich. Wiser behandelte sie homöopathisch. Kompressen mit einer milden Tinktur von Zitronenmelisse wirkten Wunder. Als er nach Bad Eilsen am Teutoburger Wald überwechselte, folgten ihm alle dorthin. Sie wissen, dass der Fürstenhof in Eilsen eines der vorzüglichsten Hotels Europas war?»

«Nein.»

«Das ist auch zweitrangig. Meine Kuren bedeuteten auch für meinen Mann Erholungspausen. Ich ruhte auf meinem Liegestuhl zwischen Herzoginnen, Lords und polnischen Gräfinnen, wir alle mit Kompressen auf den Augen, und ich grübelte dummes und weniger dummes Zeug. Er konnte im Fürstenhof ungestört seinen Till Eulenspiegel diktieren.»

«Erholung?»

«Meinen Sie, sein Ingenium steht still? – Wir haben daheim gewiss auch Werke von Paracelsus, aus denen Sie naturkundliches Wissen schöpfen können.»

Der Pfleger fühlte sich wieder vertrauensvoll in den Kreis der Reisenden aufgenommen.

«Es hängt noch Dresdner Luft im Coupé», merkte Frau Hauptmann an. «Das Brandige ist kaum zu ertragen.»

Vor einem Dorf musste sie zumindest einen dunklen Fleck gewahren, der sich langsam bewegte. Ein mit schwarzen Federn geschmückter Leichenwagen, eine Trauergemeinde hinter dem Einspänner. Der Kirchhof mochte hinter der Hügelwaldung liegen. Jemand war wahrscheinlich in seinem eigenen Bett gestorben. Welches Privileg und Totenidyll in dieser Zeit.

Fräulein Pollak lehnte im Türrahmen. Gerhart Hauptmann schien zu schlafen. «Einen Imbiss? Das Lunchpaket?», fragte die vormalige Zofe leise. Da kein Widerspruch erfolgte, holte sie aus einer Tasche das Päckchen der Sanatoriumsküche. Auch schon angeschrumpelte Äpfel waren mitgegeben worden. Sie schnürte das bräunliche Einwickelpapier auf. Margarete Hauptmann lehnte sofort und vorerst ab. Paul Metzkow und Annie Pollak griffen zu und bissen in das Obst. Wie üblich klebten und knirschten die Stullen beim Kauen. Das feuchte Brot schmeckte nach Kartoffelbrei, wenn nicht Sägemehl. Weiße Stückchen in der Ersatzwurst waren knorpelig hart. Immerhin dampfte aus der Thermosflasche, die Annie Pollak schon für die Hinfahrt aus Agnetendorf mitgenommen hatte, heißer Muckefuck. Margarete Hauptmann trank einen Schluck, danach mussten sich der Masseur und die Sekretärin den Schraubbecher teilen. Über ihrer Anhöhe zeichneten sich die dick runden und spitzen Türme Bautzens ab. Margarete Hauptmann wollte die Aussicht so gut es ging genießen.