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Jung Chang

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Beschreibung

Jung Chang erzählt die Geschichte ihrer eigenen Familie und damit Chinas von der Kaiserzeit über die Herrschaft Maos bis zum Ende des 20. Jahrhunderts. Großmutter, Mutter und sie selbst müssen erfahren, wie die rücksichtslose Umsetzung politischer Ideen Millionen Menschen das Leben kostet, und das Überleben nur unter großem Leid möglich macht.

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Jung Chang

Wilde Schwäne

Die Frauen meiner FamilieEine Geschichte aus China im 20. Jahrhundert

Aus dem Englischen von Andrea Galler und Karlheinz Dürr

Knaur e-books

Über dieses Buch

Es ist ihr eigenes Familienschicksal: Jung Chang erzählt in diesem Buch, das Millionen von Lesern bewegt, die ergreifende Geschichte ihrer Großmutter, ihrer Mutter – und ihre eigene Lebensgeschichte. Gleichzeitig wird ein ganzes Jahrhundert lebendig, denn die drei Frauen und ihre Familie sind den dramatischen Wechselfällen Chinas von der Kaiserzeit bis zu Maos Nachfolgern ausgeliefert.

Inhaltsübersicht

WidmungKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28EpilogDanksagungAnmerkung der AutorinEinleitungzur Jubiläumsausgabe 2003FamilienstammbaumZeittafelKarte ChinasBildteil
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Für meine Großmutter

und meinen Vater,

die das Erscheinen dieses Buches

nicht mehr erlebt haben

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Kapitel 1

»Zwei kleine goldene Lilien«

Die Konkubine eines Provinzgenerals(1909–1933)

Mit fünfzehn Jahren wurde meine Großmutter die Konkubine eines Provinzgenerals, der zugleich Polizeichef der schwachen chinesischen Zentralregierung war. Man schrieb das Jahr 1924, in ganz China regierte das Chaos. Provinzgenerale beherrschten die einzelnen Teile des Landes, darunter auch die Mandschurei, und bekämpften sich gegenseitig. Mein Urgroßvater hatte die Verbindung eingefädelt. Er war Polizeibeamter in der kleinen Provinzstadt Yixian im Südwesten der Mandschurei, ungefähr hundertsechzig Kilometer nordöstlich von Beijing.

Wie fast alle Städte in China glich auch Yixian einer Festung. Rings um die Stadt lief eine knapp zehn Meter hohe, zinnenbewehrte Mauer, die noch aus der Zeit der Tang-Dynastie (618–907 n. Chr.) stammte. Die Mauer war fast vier Meter dick und so breit, daß man mit einem Pferd bequem darauf entlangreiten konnte. In regelmäßigen Abständen wurde die Stadtmauer von insgesamt sechzehn Bastionen überragt. Nach jeder Himmelsrichtung öffnete sich ein Stadttor mit einem zweiten, äußeren Schutztor. Rund um die Befestigungsanlage verlief als zusätzliche Sicherung ein tiefer Graben.

Das auffälligste Bauwerk der Stadt, ihr Wahrzeichen, war ein hoher, reichgeschmückter Glockenturm aus dunkelbraunem Gestein. Der Glockenturm stammte aus dem 6. Jahrhundert, der Zeit, als der Buddhismus in die Mandschurei vorgedrungen war. Jede Nacht schlug die Glocke und zeigte die Zeit an, sie wurde auch geläutet, wenn Feuer oder Hochwasser die Einwohner bedrohten. Yixian war ein wohlhabender Marktflecken. In den ausgedehnten Ebenen rund um die Stadt wuchsen Baumwolle, Mais, Sorghum, Sojabohnen und Sesam, außerdem Birnen, Äpfel und Trauben. Auf den Weideflächen und Hügeln im Westen grasten Schafe und Rinder.

Mein Urgroßvater Yang Ru-shan wurde 1894 geboren. Damals herrschte ein Kaiser von Beijing aus über ganz China. Die Herrscherfamilie der Mandschu hatte China im Jahr 1644 von ihrem Stammland aus, der Mandschurei, erobert. Die Yangs gehörten zur Volksgruppe der Han-Chinesen. Sie waren in das Gebiet nördlich der Großen Mauer gezogen, um dort ihr Glück zu machen.

Mein Urgroßvater war der einzige Sohn und damit für seine Familie außerordentlich wichtig. Nur ein Sohn konnte den Familiennamen weitertragen, ohne Stammhalter war die Familie zum Aussterben verdammt, und das bedeutete für einen Chinesen den schlimmsten Betrug an seinen Vorfahren. Mein Urgroßvater wurde auf eine gute Schule geschickt. Es war der sehnlichste Wunsch der Familie, daß er die Staatsprüfungen bestehen und eines Tages Mandarin, Staatsbeamter, sein würde. Diesen Wunsch hegte damals fast jeder männliche Chinese, denn Staatsbeamter sein hieß mächtig sein, und Macht bedeutete Geld. Ohne Macht und ohne Geld war man vor den Plünderungen der Beamtenschaft oder vor zufälligen Gewalttaten nie sicher. In China hatte es noch nie ein funktionierendes Rechtssystem gegeben, die Rechtsprechung erfolgte willkürlich, grausame Strafen waren durchaus üblich, und die Launen einzelner taten ein übriges. Ein Beamter mit Amtsgewalt war das Gesetz. Wer aus einer nicht zur Aristokratie zählenden Familie stammte, konnte diesem Kreislauf von Ungerechtigkeit und Angst nur entrinnen, indem er Mandarin wurde. Yangs Vater hatte entschieden, daß sein Sohn nicht das väterliche Filzmachergeschäft übernehmen sollte. Die Familie brachte große Opfer, damit er das Geld für die Ausbildung seines Sohnes aufbringen konnte.

Die Frauen der Familie übernahmen Heimarbeit für die Damen- und Herrenschneider am Ort und stickten jeden Tag bis spät in die Nacht. Um Geld zu sparen, drehten sie ihre Öllampen ganz klein und ruinierten sich damit die Augen. Ihre Fingergelenke waren von der stundenlangen gekrümmten Haltung ganz geschwollen.

Wie es damals üblich war, heiratete mein Urgroßvater früh, mit vierzehn Jahren, seine Frau war sechs Jahre älter. Es galt traditionsgemäß als eine Pflicht der Ehefrau, ihren Mann mit großzuziehen.

Die Geschichte seiner Frau, meiner Urgroßmutter, ist typisch für die von Millionen anderer Frauen ihrer Zeit. Sie stammte aus einer Gerberfamilie namens Wu. In einer wenig gebildeten Familie, in der niemand einen Beamtenposten innehatte, bekam ein Mädchen nicht einmal einen Namen. Da sie die zweite Tochter der Familie war, nannte man sie einfach »Mädchen Nummer zwei« (Er-ya-tou). Ihr Vater starb, als sie noch sehr klein war, und sie wuchs bei einem Onkel auf. Eines Tages, sie war gerade sechs Jahre alt, kam ein Freund ihres Onkels zum Essen. Die Frau des Freundes erwartete ein Kind, und die beiden Männer vereinbarten während des Tischgesprächs, daß das ungeborene Kind, sofern es ein Junge würde, im angemessenen Alter von vierzehn Jahren mit der Nichte verheiratet werden sollte. Meine Urgroßmutter und mein Urgroßvater sahen sich vor ihrer Hochzeit nicht ein einziges Mal. Sich zu verlieben galt geradezu als unanständig und als Schande für die Familie. Dabei hatte das Ideal der romantischen Liebe in China traditionell durchaus einen hohen Stellenwert – nur durften junge Leute gar nicht in eine Situation kommen, in der es dazu kommen konnte. Teils galt es als unanständig, wenn junge Leute sich trafen, teils wurde die Ehe vor allem als Pflicht betrachtet, als eine Vereinbarung zwischen zwei Familien. Mit etwas Glück verliebten sich die Eheleute nach der Heirat ineinander.

Mein Urgroßvater hatte ein sehr behütetes Leben geführt und war mit vierzehn, zum Zeitpunkt der Hochzeit, noch ein Kind. In der Hochzeitsnacht wollte er nicht in das eheliche Schlafgemach gehen, er legte sich im Schlafzimmer seiner Mutter ins Bett und mußte schlafend zu seiner Braut getragen werden. Obwohl er ein sehr unselbständiges Kind war und sich nicht einmal alleine anziehen konnte, wußte er laut Auskunft seiner Frau, wie »man Kinder zeugt«. Meine Großmutter kam binnen eines Jahres nach der Hochzeit zur Welt, am fünften Tag des fünften Monats im Jahr 1909. Es erging ihr insofern besser als ihrer Mutter, als sie immerhin einen eigenen Namen bekam: Yu-fang. Yu bedeutet »Jade« und ist ein Generationsname, der allen Nachkommen einer Generation gegeben wird, fang heißt »duftende Blumen«.

Meine Großmutter wurde in eine Welt völliger Ungewißheit hineingeboren. Die Mandschu-Dynastie, die China über zweihundertsechzig Jahre regiert hatte, war erschüttert. In den Jahren 1894 und 1895 tobte der Japanisch-Chinesische Krieg, China erlitt schwere Niederlagen und Gebietsverluste. Im Jahr 1900 wurde der nationalistische Boxeraufstand von acht fremden Armeen niedergeschlagen, Teile dieser Armeen blieben anschließend in China, in der Mandschurei und entlang der Großen Mauer. In den Jahren 1904 und 1905 führten Japan und Rußland in den weiten Ebenen der Mandschurei erneut Krieg, und Japan wurde durch seinen Sieg zur beherrschenden ausländischen Macht in der Mandschurei. 1911 wurde der fünfjährige Kaiser von China, Pu Yi, entmachtet. China war nun eine Republik, an ihrer Spitze stand für kurze Zeit der charismatische Führer Sun Yat-sen.

Die neue, republikanische Regierung brach bald zusammen, und das Reich zerfiel in einzelne, von mächtigen Provinzgenerälen beherrschte Einflußgebiete. In der Mandschurei hinterließ das republikanische Intermezzo besonders wenig Spuren, da die Kaiserfamilie aus diesem Gebiet stammte. Ausländische Mächte, allen voran Japan, hatten ihre Bemühungen verstärkt, das Gebiet für sich zu gewinnen. Unter diesen Belastungen brachen viele alte Institutionen zusammen, ein Machtvakuum entstand, Moral und Autorität waren untergraben. Viele versuchten, sich durch die Bestechung von lokalen Potentaten einen Weg nach oben zu bahnen, aber das erforderte teure Geschenke in Form von Gold, Silber oder Schmuck. Mein Urgroßvater war nicht so reich, daß er sich einen lukrativen Posten in einer großen Stadt kaufen konnte. Mit seinen dreißig Jahren hatte er es nicht weit gebracht: Er war ein kleiner Schreiber in der Polizeistation eines Provinznestes namens Yixian, seiner Geburtsstadt. Aber er hatte große Pläne. Und er hatte einen Trumpf – seine Tochter.

 

Meine Großmutter war eine Schönheit. Sie hatte ein ovales Gesicht mit blaßrosa Wangen und einer wunderbaren Haut. Ihr langes, glänzendes Haar war zu einem dicken Zopf geflochten, der ihr bis zur Hüfte reichte. Wenn es von ihr erwartet wurde – und das war meistens der Fall –, konnte sie ernst und zurückhaltend sein, aber hinter der Fassade dieser nach außen zur Schau gestellten Beherrschtheit war sie sehr temperamentvoll und sprühte vor Energie. Sie war klein, kaum einssechzig, schlank und hatte herabhängende Schultern, was damals als Schönheitsideal galt.

Doch den besonderen Reiz machten ihre gebundenen Füße aus, die »beiden kleinen goldenen Lilien«, wie es im Chinesischen heißt. Sie bewegte sich »wie ein zarter junger Weidensproß in einer Frühlingsbrise«. Mit solchen Worten schwärmten die Dichter von den Frauen. Der Anblick einer auf gebundenen Füßen einhertrippelnden Frau habe einen starken erotischen Reiz für Männer, hieß es, weil die Hilflosigkeit einer Frau aufreizend wirke und beim Betrachter den Beschützerinstinkt wecke.

Die Füße meiner Großmutter wurden gebunden, als sie gerade drei Jahre alt war. Ihre Mutter hatte zuerst ein Stoffband von sechs Metern Länge so um ihre Füße gewickelt, daß alle vier kleinen Zehen in Richtung Ballen zeigten. Dann legte sie einen großen Stein auf ihre Füße und zerschmetterte den Fußrücken. Meine Großmutter schrie vor Schmerzen laut auf und flehte ihre Mutter an aufzuhören. Ihre Mutter stopfte ihr ein Tuch in den Mund, um sie zum Schweigen zu bringen. Meine Großmutter verlor während der Prozedur mehrmals das Bewußtsein.

Es dauerte Jahre, bis das Schönheitsideal erreicht war. Nachdem die Knochen gebrochen waren, mußten die Füße Tag und Nacht fest mit Tüchern gebunden werden, bis sichergestellt war, daß sie nicht mehr zusammenwachsen würden. Hätte man die Tücher gelöst, wären die Füße sofort weiter gewachsen. Über Jahre hinweg litt meine Großmutter ständig furchtbarste Schmerzen. Aber wenn sie ihre Mutter bat, sie möge ihr doch die Tücher von den Füßen nehmen, fing ihre Mutter an zu weinen. Sie sagte ihrer Tochter, daß ohne gebundene Füße ihr Leben ruiniert sei und daß all dies ja nur zu ihrem Besten geschehe.

In der damaligen Zeit inspizierte die Familie des Bräutigams als erstes die Füße der Braut. Große, das heißt normale Füße brachten Schande über die Familie des Ehemanns. Die Schwiegermutter hob den Saum des langen Rocks der Braut hoch und sah sich die Füße der Schwiegertochter genau an. Wenn die Füße länger als ungefähr zehn Zentimeter waren, ließ sie den Rocksaum in einer demonstrativen Geste der Verachtung fallen und schnaubte wütend davon. Die Braut blieb allein den kritischen Augen der Hochzeitsgesellschaft ausgesetzt. Alle starrten ihre Füße an und taten ihre Verachtung lautstark und in betont verletzender und abschätziger Weise kund. Manchmal entfernte eine Mutter aus Mitleid mit ihrer Tochter den Stein oder die Tücher, nachdem die Fußknochen gebrochen waren. Später machten die Töchter ihren Müttern bittere Vorwürfe, daß sie nicht hart geblieben waren, weil sie das ständige Nörgeln und die Verachtung der Familie ihres Mannes und der Gesellschaft kaum aushielten.

Der Brauch des Füßeeinbindens wurde vor ungefähr tausend Jahren angeblich von einer Konkubine des Kaisers eingeführt. Nicht nur die gebundenen kleinen Füße und der damit verbundene trippelnde Gang der Frauen galten als erotisch, die Männer spielten auch gern mit den kleinen Füßen in den bestickten Seidenschuhen. Frauen durften nicht einmal im Erwachsenenalter die Bindetücher von den Füßen nehmen, denn sonst fingen die Füße wieder an zu wachsen. Die Tücher durften nur zeitweise nachts im Bett abgenommen werden, wenn die Frauen ihre Seidenschuhe anzogen. Männer bekamen nur selten nackte gebundene Füße zu Gesicht, weil sie für gewöhnlich mit absterbender Haut bedeckt waren und fürchterlich stanken, wenn man die Tücher entfernte. Ich erinnere mich, daß meine Großmutter ständig Schmerzen litt, als ich noch ein Kind war. Wenn sie vom Einkaufen nach Hause kam, badete sie als erstes die Füße in heißem Wasser und seufzte dabei vor Erleichterung auf. Daraufhin schnitt sie die abgestorbene Haut ab. Ihre Schmerzen rührten nicht allein von den gebrochenen Knochen, sondern auch daher, daß ihr die Nägel in den Fußballen wuchsen.

Meine Großmutter war eine der letzten Frauen ihrer Generation, deren Füße noch gebunden wurden. Als ihre Schwester 1917 geboren wurde, hatte man diese Sitte aufgegeben, und sie mußte diese Tortur nicht mehr erleiden.

Doch in der Zeit, als meine Großmutter heranwuchs, galten gebundene Füße immer noch als unbedingte Voraussetzung für eine gute Heirat. Freilich waren gebundene Füße nicht alles. Der Vater meiner Großmutter wollte aus ihr entweder eine vollkommene Dame oder aber eine Luxuskurtisane machen. Entgegen den damals geltenden Vorstellungen, wonach es für ein Mädchen aus einfachen Verhältnissen schicklich war, wenn sie nicht lesen und schreiben konnte, schickte mein Urgroßvater seine Tochter auf die 1905 eröffnete Mädchenschule in der Stadt. Sie lernte überdies die chinesische Form des Schachspiels, mah-jong, und Go.

Auch Malen und Sticken gehörten zum Lehrstoff. Am liebsten stickte sie Mandarinenten (ein Symbol der Liebe, weil Mandarinenten immer paarweise schwimmen). Sie stickte Mandarinenten auf die winzigen Schuhe, die sie für ihre gebundenen Füße anfertigte. Um ihre Erziehung zu vervollkommnen, wurde eigens ein Lehrer engagiert, der ihr das Spielen auf der qin beibrachte. Die qin ist ein Musikinstrument, eine Art Zither.

Meine Großmutter galt als das schönste Mädchen der Stadt. Man sagte, sie sei »wie ein Kranich unter Hennen«. Im Jahre 1924 war sie fünfzehn, und in ihrem Vater wuchs die Angst, daß er seinen einzigen Aktivposten nicht würde nützen können – und daß seine einzige Chance auf ein unbeschwertes Leben dahinschwand. Doch in jenem Jahr kam General Xue Zhi-heng, der Polizeichef der Zentralregierung in Beijing, nach Yixian.

 

Xue Zhi-heng war 1876 im Kreis Lulong, ungefähr hundertsechzig Kilometer östlich von Beijing, genau südlich der Großen Mauer, zur Welt gekommen, wo die riesige nordchinesische Ebene auf die Berge trifft. Er war der älteste von vier Söhnen eines Dorfschullehrers.

Xue Zhi-heng sah gut aus, er war eine eindrucksvolle Erscheinung. Er fiel jedem auf. Mehrere blinde Hellseher befühlten das Gesicht des Jünglings und sagten ihm voraus, daß er einst ein mächtiger Mann sein werde. Er zeigte eine ausgesprochene Begabung für die Kalligraphie, was in China sehr geschätzt wird. Im Jahre 1908 besuchte ein Kriegsherr namens Wang Huai-qing den Kreis Lulong. Ihm fiel die schöne Inschrift auf einer Gedenkplatte über dem Tor zum Haupttempel der Stadt auf, und er äußerte den Wunsch, den Kalligraphen kennenzulernen. General Wang fand Gefallen an dem damals zweiunddreißigjährigen Xue und fragte ihn, ob er sein Sekretär und Adjutant werden wolle.

Großvater Xue erwies sich als sehr tüchtig und wurde bald zum Quartiermeister befördert. In diesem Amt reiste er viel, dabei kaufte er sich eigene Lebensmittelgeschäfte rund um Lulong und auf der anderen Seite der Großen Mauer, in der Mandschurei. Sein rasanter Aufstieg wurde noch dadurch gefördert, daß er General Wang half, einen großen Aufruhr in der Inneren Mongolei niederzuschlagen. In kürzester Zeit erwarb er ein Vermögen. Er entwarf für sich ein weitläufiges Landhaus mit einundachtzig Zimmern und ließ es in Lulong nach seinen Vorstellungen erbauen.

In den ersten zehn Jahren nach dem Ende des Kaiserreiches konnte sich keine Regierung im ganzen Land Autorität verschaffen. Mächtige Provinzgenerale herrschten in allen Teilen Chinas und kämpften gegeneinander um die Kontrolle der Zentralregierung in Beijing. Der Anführer der Fraktion, der sich Xue angeschlossen hatte, war ein gewisser General Wu Pei-fu. Sie war Anfang der zwanziger Jahre die mächtigste Fraktion in China und beherrschte die Regierung in Beijing. Im Jahr 1922 übertrug man Xue zwei Ämter: Er wurde Polizeichef der Hauptstadt und einer der Leiter des Ministeriums für Öffentliche Arbeiten in Beijing. Damit herrschte er über zwanzig Regionen beidseits der Großen Mauer und befehligte zehntausend teilweise berittene Polizisten. Seine Funktion als Polizeichef verlieh ihm Macht, und als Verantwortlicher für die Vergabe öffentlicher Aufträge wurde er von allen Seiten umworben.

Die Bündnisse der Provinzgenerale untereinander waren nie von langer Dauer. Im Mai 1923 beschloß die Fraktion, der Xue angehörte, sich des Präsidenten Li Yuan-hong zu entledigen, dem sie erst vor einem Jahr zu Amt und Würden verholfen hatte. Zusammen mit einem General namens Feng Yu-xiang, einem christlichen Kriegsherrn, der durch die Massentaufe seiner Truppen mit einem Feuerwehrschlauch Berühmtheit erlangt hatte, mobilisierte Xue seine zehntausend Mann, umstellte die wichtigsten Regierungsgebäude in Beijing und verlangte von der bankrotten Regierung den ausstehenden Sold für seine Leute. Das wahre Ziel der Aktion war es, den Präsidenten zu demütigen und zum Rücktritt zu zwingen. Aber der Präsident weigerte sich zurückzutreten. Mein Großvater wies daraufhin seine Soldaten an, den Präsidentenpalast von der Wasser- und Stromzufuhr abzuschneiden. Schon nach wenigen Tagen wurde die Lage innerhalb des Palastes unerträglich, und in der Nacht des 13. Juni verließ Präsident Li seinen stinkenden Palast und floh aus der Hauptstadt in die hundertzehn Kilometer südöstlich gelegene Hafenstadt Tianjin.

In China verkörperte nicht allein die Person des Amtsinhabers die Autorität des Amtes, sondern ebensosehr die amtlichen Dienstsiegel. Ohne Siegel war ein Dokument nicht gültig, und wenn es der Präsident persönlich unterzeichnet hatte. Da Präsident Li wußte, daß niemand ohne die Siegel die Präsidentschaft übernehmen konnte, versteckte er die Siegel bei einer Konkubine, die in einem von französischen Missionaren geführten Hospital in Beijing lag.

Kurz vor Tianjin wurde der Zug von bewaffneten Polizeieinheiten angehalten. Sie forderten Li auf, die Dienstsiegel herauszugeben. Zuerst weigerte er sich, den Soldaten zu sagen, wo er die Siegel versteckt hatte, aber nach einigen Stunden gab er doch nach. Um drei Uhr nachts betrat General Xue das französische Hospital, um die Siegel bei der Konkubine des Präsidenten abzuholen. Als Xue neben ihrem Bett stand, wollte sie ihn zunächst nicht einmal ansehen. »Wie könnte ich die Siegel des Präsidenten einem gewöhnlichen Polizisten übergeben?« fragte sie hochmütig. Aber General Xue in Uniform war eine so eindrucksvolle und ehrfurchtgebietende Erscheinung, daß sie ihm schon bald kleinlaut die Siegel aushändigte. In den nächsten vier Monaten hatte mein Großvater alle Hände voll zu tun, um mit Hilfe seiner Polizeieinheiten sicherzustellen, daß der von seinen Parteigängern als neuer Präsident auserkorene Kandidat auch wirklich zum Präsidenten »gewählt« wurde. Der Auserkorene hieß Cao Kun, und seine Wahl wurde als erste echte Wahl in China gepriesen. Immerhin mußte die stattliche Zahl von nicht weniger als 804 Parlamentsabgeordneten bestochen werden. Mein Großvater und General Feng stellten Wachen vor das Parlamentsgebäude und ließen die Parlamentarier wissen, daß eine dicke Belohnung auf all diejenigen warte, die am Wahltag ihr Kreuz an der richtigen Stelle machen würden. Daraufhin eilten viele Abgeordnete zur Wahl aus den Provinzen in die Hauptstadt zurück. Als die Vorbereitungen für die »Wahl« abgeschlossen waren, befanden sich 555 Abgeordnete in Beijing. Vier Tage vor der Wahl und nach ausgiebigem Feilschen bekam jeder Abgeordnete die stattliche Summe von fünftausend Silberyuan. Am 5. Oktober 1923 wurde Cao Kun mit 480 Stimmen zum Präsidenten Chinas »gewählt«. Xue wurde umgehend in den nächsthöheren militärischen Rang befördert. Mit ihm zusammen wurden siebzehn Frauen zu »Sonderberatern« ernannt – ausnahmslos Geliebte oder Konkubinen von Kriegsherrn und Generalen. Diese Episode ist als trauriges Beispiel für Wahlmanipulation in die chinesische Geschichte eingegangen. Noch heute zitieren die Menschen in China sie als Argument dafür, daß in China die Demokratie nicht funktionieren kann. Im Frühsommer des folgenden Jahres stattete General Xue Yixian seinen Besuch ab. Yixian war zwar nur eine kleine Stadt, aber von strategischer Bedeutung. Die Macht der Regierung in Beijing reichte nur bis hierher, das Gebiet weiter nordöstlich gehörte zum Einflußgebiet des großen Kriegsherrn Zhang Zuo-lin, den alle den »Alten Marschall« nannten. Offiziell befand sich General Xue auf einer Inspektionsreise, er hatte jedoch auch private Interessen an diesem Gebiet. Die wichtigsten Getreidespeicher und die größten Geschäfte der Stadt gehörten ihm, unter anderem ein Pfandleihgeschäft, das gleichzeitig als Bank fungierte und eigene Geldnoten druckte, die in der Stadt und in der Umgebung als Zahlungsmittel verwendet wurden.

Für meinen Urgroßvater bedeutete der Besuch des Generals die Chance seines Lebens. Er würde nie mehr in seinem Leben in die Nähe eines so hoch gestellten Mannes kommen. Sein Ziel war es, in die Eskorte des Generals aufgenommen zu werden, und bei dieser Gelegenheit wollte er versuchen, seine Tochter mit dem General zu verheiraten. Seine Frau informierte er lediglich über seine Pläne, mehr nicht. Abgesehen davon, daß das damals üblich war, verachtete mein Urgroßvater seine Frau. Als er ihr sagte, was er vorhatte, weinte sie, sagte aber nichts. Er schärfte ihr ein, daß sie kein Wort davon zu ihrer Tochter sagen dürfe. Das Mädchen fragte er selbstverständlich nicht nach seiner Meinung. Eine Ehe war eine geschäftliche Transaktion und hatte nichts mit Gefühlen zu tun. Das Mädchen würde informiert werden, wenn die Hochzeit unter Dach und Fach war.

Mein Urgroßvater wußte, daß er die Sache nicht direkt angehen durfte. Er konnte dem General nicht einfach die Hand seiner Tochter anbieten – das hätte ihren Preis gesenkt. Außerdem war es ja möglich, daß der General das Angebot ablehnte. General Xue mußte Gelegenheit bekommen, die angebotene Ware in Augenschein zu nehmen. In jenen Tagen konnte man anständige Frauen nicht einfach fremden Männern vorstellen, daher mußte Yang ein Treffen zwischen dem General und seiner Tochter arrangieren, und dieses Treffen mußte zudem noch zufällig erscheinen.

In Yixian gab es einen prächtigen, neunhundert Jahre alten buddhistischen Tempel. Er war fast dreißig Meter hoch und aus kostbarem Holz gezimmert. Der Tempel stand in einem knapp zweieinhalb Quadratkilometer großen, erhaben wirkenden Zypressenhain. Der Tempel beherbergte eine imposante Buddhastatue aus Holz, fast neun Meter hoch und bunt bemalt. Das Innere des Tempels war mit erlesenen Wandmalereien geschmückt, Szenen aus Buddhas Leben. Selbstverständlich mußte mein Urgroßvater dem hohen Besuch diesen Tempel zeigen, wenn er ihn durch die Stadt führte. Und ein Tempel war einer der wenigen Orte, die eine Frau aus gutem Hause alleine aufsuchen durfte.

Meine Großmutter wurde angewiesen, an einem bestimmten Tag, den Tempel aufzusuchen. Um Buddha ihre Ehrerbietung zu zeigen, nahm sie parfümierte Bäder und meditierte stundenlang vor einem kleinen Schrein, in dem Weihrauch brannte. Vor einem Tempelbesuch sollte der Gläubige sich im Zustand absoluter Ruhe befinden und sich von allen aufwühlenden Gedanken befreit haben. Am verabredeten Tag machte sich meine Großmutter in Begleitung einer Zofe in einer gemieteten Pferdekutsche auf den Weg. Sie trug eine Jacke im Blauton eines Enteneis, die ringsum mit Goldfäden gesäumt war, was ihren einfachen Schnitt betonte. An der linken Seite war sie mit Schmetterlingsknöpfen besetzt. Dazu trug sie einen pinkfarbenen Faltenrock, der über und über mit winzigen Blumen bestickt war. Ihr langes schwarzes Haar hatte sie zu einem Zopf geflochten. Oben auf dem Kopf steckte eine seidene schwarz-grüne Pfingstrose im Haar, die seltenste Art. Sie war nicht geschminkt, aber stark parfümiert, genau wie es sich für einen Tempelbesuch gehörte. Im Innern des Tempels kniete sich meine Großmutter vor der riesigen Buddhastatue auf den Boden. Sie verbeugte sich mehrmals tief und blieb dann reglos mit zum Gebet gefalteten Händen auf den Knien sitzen.

Während sie betete, war ihr Vater mit General Xue eingetreten. Die beiden Männer beobachteten sie aus einem dunklen Seitengang. Mein Urgroßvater hatte die Sache klug eingefädelt. In der knienden Position, in der sich meine Großmutter befand, sah man nicht nur ihre Seidenhosen, die genauso wie ihre Jacke mit einer Goldbordüre eingefaßt waren, sondern auch ihre kleinen Füße in den bestickten Satinschuhen.

Nach dem Gebet verbeugte sie sich wieder dreimal tief vor dem Buddha. Beim Aufstehen taumelte sie ein wenig, was mit gebundenen Füßen leicht passieren konnte. Sie streckte den Arm hilfesuchend nach ihrer Zofe aus. Genau in diesem Moment kamen General Xue und ihr Vater aus dem Seiteneingang. Sie errötete beschämt, senkte den Kopf und machte Anstalten zu gehen. Nichts anderes wurde von ihr in dieser Situation erwartet. Ihr Vater trat vor und stellte sie General Xue vor. Sie verbeugte sich, hielt dabei aber weiterhin den Kopf gesenkt.

Wie es sich für einen Mann seiner Position gebührte, sagte der General zu einem Beamten, der in einer so untergeordneten Position tätig war wie mein Urgroßvater, kein Wort über die Begegnung mit seiner Tochter. Aber mein Urgroßvater hatte sehr genau gemerkt, daß der General von meiner Großmutter fasziniert war. Als nächstes galt es, eine etwas direktere Begegnung der beiden zu arrangieren. Also mietete Yang unter Aufwendung seiner gesamten Ersparnisse das beste Theater der Stadt und ließ eine hiesige Oper aufführen. General Xue sollte sein Ehrengast sein. Wie alle chinesischen Theater war auch dieses um einen rechteckigen Platz gebaut und hatte kein Dach, nur an drei Seiten hölzerne Wände. Die vierte Seite bildete die Bühne. Sie war vollkommen kahl, ohne Vorhang, ohne jegliches Bühnenbild. Der Zuschauerraum glich eher einem Café als einem Theater. Die Männer saßen auf dem freien Platz an Tischen, aßen, tranken und unterhielten sich lautstark während der Vorstellung. Seitlich davon, ein wenig erhöht, war der erste Rang. Dort saßen die Damen, weitaus zurückhaltender als die Herren, an kleineren Tischen, ihre Zofen standen hinter ihnen. Mein Urgroßvater hatte es so eingerichtet, daß General Xue von seinem Platz aus meine Großmutter immer im Blickfeld hatte.

Dieses Mal war sie viel mehr herausgeputzt als bei ihrer ersten Begegnung im Tempel. Sie trug ein reichbesticktes Satinkleid und Haarschmuck. Und hier sprühte sie vor natürlicher Lebhaftigkeit und Energie, unterhielt sich mit ihren Freundinnen und lachte. General Xue warf kaum einen Blick auf das Geschehen auf der Bühne.

Nach der Vorstellung spielte man das traditionelle chinesische Spiel »Lampion-Raten«, nach Geschlechtern getrennt in zwei Sälen. In jedem Saal befanden sich Dutzende von kunstvoll gearbeiteten Lampions, an jeden Lampion waren mehrere Rätselfragen in Versform geheftet. Wer die meisten Fragen richtig beantworten konnte, gewann einen Preis. Unter den Männern schnitt General Xue am besten ab – wie hätte es auch anders sein können. Bei den Frauen wurde meine Großmutter die Siegerin.

Damit hatte Yang dem General gezeigt, daß seine Tochter nicht nur schön, sondern auch intelligent war. Als letztes mußte sie nun noch ihre künstlerischen Talente beweisen. Zwei Tage nach dem Theaterabend lud mein Urgroßvater den General zum Abendessen ein. Es war eine klare, warme Vollmondnacht – das klassische Ambiente für eine qin-Vorführung. Nach dem Essen saßen die beiden Männer auf der Veranda, und meine Großmutter wurde zum Vorspielen in den Hof zitiert. Unter einer Pergola, umgeben vom Duft des Flieders, gab meine Großmutter eine Probe ihres Könnens. Der General war bezaubert. Später erklärte er ihr, daß ihr Spiel in jener Mondnacht ihn vollends in ihren Bann geschlagen habe. Als meine Mutter zur Welt kam, gab er ihr den Namen »Bao Qin«, das bedeutet »Kostbare Zither«.

Noch bevor der Abend zu Ende war, hatte der General um die Hand meiner Großmutter angehalten, selbstverständlich nicht bei meiner Großmutter, sondern bei ihrem Vater. Er wollte sie nicht heiraten, sondern zu seiner Konkubine machen. Aber Yang hatte auch nichts anderes erwartet. Die Familie Xue hatte für den General bestimmt schon lange eine ihrem sozialen Rang angemessene Heirat arrangiert. Auf jeden Fall gehörten die Yangs einer viel zu niederen Schicht an, als daß ihre Tochter seine Ehefrau hätte werden können. Damals war es gang und gäbe, daß Männer wie General Xue sich Konkubinen nahmen. Ehefrauen waren nicht für das Vergnügen da – dafür hatte man Konkubinen. Sie konnten zwar sehr mächtig werden, aber ihr sozialer Status blieb immer ein anderer als der einer Ehefrau. Eine Konkubine war eine Art institutionalisierte Geliebte, die man nach Gutdünken ins Haus holte und wieder verstieß.

Meine Großmutter erfuhr erst wenige Tage vor der »Hochzeit« von ihrem Glück. Ihre Mutter eröffnete ihr die Nachricht. Meine Großmutter senkte nur den Kopf und weinte. Sie wollte keine Konkubine werden, aber ihr Vater hatte entschieden, und es war undenkbar, den Eltern zu widersprechen. Sich einer Entscheidung der Eltern zu widersetzen, sie auch nur in Frage zu stellen, galt als »respektlos«, und Respektlosigkeit wog fast so schwer wie Verrat. Selbst wenn sie sich den Wünschen ihres Vaters widersetzt hätte, hätte man ihr Nein nicht ernst genommen. Sie wolle ihre Eltern nicht verlassen, hätte es geheißen. Die einzige Möglichkeit, nein zu sagen und ernst genommen zu werden, war der Selbstmord. Meine Großmutter preßte die Lippen aufeinander und sagte nichts. Sie konnte und durfte nichts sagen. Sie konnte nicht einmal ja sagen, denn das galt als wenig schicklich für eine junge Dame, hätte es doch so gedeutet werden können, daß sie es nicht erwarten konnte, ihr Elternhaus zu verlassen.

Meine Urgroßmutter sah, wie unglücklich ihre Tochter war, und versuchte, ihr die Verbindung mit dem General schmackhaft zu machen. Ihr Mann hatte ihr erzählt, wie mächtig der General war. »In Beijing heißt es: ›Wenn General Xue aufstampft, erzittert die ganze Stadt‹«, hatte er ihr berichtet. Meine Großmutter war von dem großzügigen, betont männlichen Auftreten des Generals angetan. Und sie war geschmeichelt, als ihr Vater ihr berichtete, mit welcher Bewunderung er von ihr gesprochen hatte. Der Vater erzählte seiner Tochter Wort für Wort, was der General gesagt hatte, und schmückte seine Schilderung noch mit eigenen Worten aus. Kein Mann in Yixian war eine so eindrucksvolle Erscheinung wie der Kriegsherr. Mit ihren fünfzehn Jahren hatte meine Großmutter keine Ahnung, was es bedeutete, eine Konkubine zu sein. Sie bildete sich ein, sie könne die Liebe des Generals gewinnen und ein glückliches Leben an seiner Seite führen.

General Xue hatte versprochen, daß sie in Yixian bleiben könne, in einem Haus, das er eigens für sie kaufen wollte. Sie mußte sich also nicht von ihrer Familie trennen, und was noch viel wichtiger war: Sie mußte nicht auf seinem Landsitz leben, unter der Fuchtel seiner Ehefrau und seiner anderen Konkubinen, die in der Hierarchie über ihr standen. Im Haus eines Potentaten, wie es der General Xue war, lebten die Frauen fast wie Gefangene. Bedingt durch ihre unsichere Stellung, verging kein Tag, an dem sie sich nicht untereinander stritten und zankten. Ihre einzige Sicherheit war die Gunst ihres Ehemanns und Gebieters. General Xues Angebot, meiner Großmutter ein eigenes Haus zu kaufen, und sein Versprechen, die Verbindung in einem feierlichen Rahmen einzugehen, bewirkten, daß ihre Tränen versiegten. Damit würden sie und ihre Familie in der Stadt beträchtlich an Ansehen gewinnen. Und schließlich gab es eine letzte Erwägung, die meiner Großmutter sehr am Herzen lag: Sie hoffte, daß ihr Vater nunmehr, da er bekommen hatte, was er wollte, ihre Mutter besser behandeln würde.

Frau Yang litt an Epilepsie und meinte daher, sie sei ihrem Mann zu Dank verpflichtet, daß er sie überhaupt geheiratet habe. Sie fügte sich stets allen seinen Wünschen, er hingegen behandelte sie wie Dreck und nahm keinerlei Rücksicht auf ihre Gesundheit. Seit Jahren mäkelte er an ihr herum, weil sie keinen Sohn geboren hatte. Meine Urgroßmutter wurde nach der Geburt meiner Großmutter noch unzählige Male schwanger und hatte eine Reihe von Fehlgeburten, bevor sie im Jahr 1917 ein zweites Kind zur Welt brachte – wieder ein Mädchen. Mein Urgroßvater wünschte sich sehnlichst, genügend Geld zu haben, um sich Konkubinen leisten zu können. Mit der »Heirat« meiner Großmutter ging dieser Wunsch in Erfüllung. General Xue verteilte großzügig Verlobungsgeschenke an sämtliche Familienmitglieder, das meiste davon bekam mein Urgroßvater. Die Geschenke waren herrlich, wie es der Position des Generals entsprach.

Am Hochzeitstag wurde meine Großmutter in einer mit reich bestickter roter Seide und Satin ausgeschlagenen Sänfte zu Hause abgeholt. Vor der Sänfte lief eine Prozession mit Bannern, Schmucktafeln und Lampions aus Seide, auf die goldene Phönixe – das erhabenste Symbol für die Frau – gemalt waren. Die Hochzeitszeremonie fand abends beim Schein roter Lampions statt. Ein Orchester aus Trommeln, Becken und den durchdringenden Blasinstrumenten, die die Chinesen so lieben, spielte lustige Weisen. Bei einer guten Hochzeitsfeier mußte es laut hergehen, denn wenn man leise war, hieß das, daß man etwas zu verbergen hatte. Meine Großmutter trug buntbestickte Kleider, ein roter Seidenschleier bedeckte Gesicht und Kopf. Später am Abend trugen sie acht Männer in der Sänfte zu ihrem neuen Haus. Im Innern der Sänfte war es stickig heiß, sie schob vorsichtig die Vorhänge ein paar Zentimeter zur Seite und warf einen Blick hinaus. Durch ihren Schleier hindurch sah sie die Leute auf der Straße stehen und die Hochzeitsprozession bestaunen. Das freute sie. Einer gewöhnlichen Konkubine stand weit weniger zu – eine kleine Sänfte, mit indigoblauem Tuch ausgekleidet und von nur zwei, höchstens vier Trägern getragen, keine Musik und keine Prozession. Sie hingegen wurde rund um die Stadt getragen und passierte alle vier Stadttore, wie es sich für eine richtige Hochzeitszeremonie gehört. Auf Karren und in riesigen Weidenkörben wurden ihre teuren Hochzeitsgeschenke hinter ihrer Sänfte hergezogen. Nach der Prozession durch die ganze Stadt brachte man sie in ihr Haus, eine weitläufige, elegante Residenz. Meine Großmutter war zufrieden. Sie fand, daß sie durch all den Pomp und die Zeremonie an Prestige und Ansehen gewonnen hatte. Seit Menschengedenken hatte es in Yixian keine vergleichbare Feier mehr gegeben.

General Xue und die örtlichen Würdenträger erwarteten meine Großmutter bereits vor ihrem neuen Haus. In voller Uniform, mit seinen sämtlichen Orden an der Brust war der General eine imposante Erscheinung. Rote Kerzen und glühende Gaslampen erleuchteten den Mittelpunkt des Hauses, das Wohnzimmer, wo das Brautpaar einen feierlichen Kotau vor den Wandtafeln machte, die Himmel und Erde darstellten. Dann verbeugten sie sich voreinander, und meine Großmutter zog sich in das Schlafgemach zurück, während General Xue sich mit den Männern das verschwenderische Bankett schmecken ließ.

General Xue ging drei volle Tage nicht aus dem Haus. Meine Großmutter war glücklich. Sie glaubte, daß sie ihn liebte, und er zeigte ihr in seiner brummigen Art so etwas wie Zuneigung. Aber er sprach kaum mit ihr über wichtige Angelegenheiten, sondern hielt es mit dem alten Sprichwort: »Frauen haben viel auf dem Kopf, aber nur wenig im Kopf.«

Ein chinesischer Mann mußte selbst innerhalb der Familie verschwiegen und erhaben erscheinen. Daher sagte auch sie wenig, massierte nur morgens vor dem Aufstehen seine Füße und spielte ihm abends nach dem Essen auf der qin vor. So verstrich eine Woche. Dann erklärte er ihr plötzlich, daß er gehen müsse. Er sagte nicht, wohin er ging, und sie fragte nicht, denn sie wußte, daß sich das nicht gehörte. Es war ihre Pflicht zu warten, bis er wieder zurückkam. Sie mußte volle sechs Jahre warten.

Im September 1924 brach ein Kampf zwischen den beiden größten Fraktionen der verfeindeten Kriegsherren in Nordchina aus. General Xue wurde zum stellvertretenden Kommandanten der Garnison von Beijing ernannt, aber nach einigen Wochen wechselte sein alter Verbündeter, der christliche General Feng, die Seiten. Am 3. November mußte Cao Kun zurücktreten, der Mann, den mein Großvater und General Feng im Jahr zuvor mit auf den Präsidentensessel gehievt hatten. Am selben Tag wurden die Truppen der Garnison von Beijing entlassen, zwei Tage später wurde die Polizeibehörde aufgelöst. General Xue mußte die Hauptstadt fluchtartig verlassen. Er zog sich in eines seiner Häuser in der französischen Konzession Tianjin zurück, das extraterritoriale Immunität genoß, an denselben Ort, an den auch Präsident Li vor einem Jahr geflohen war, nachdem Xue ihn aus dem Präsidentenpalast gejagt hatte.

Währenddessen hatte auch meine Großmutter unter den neuerlichen Kämpfen zu leiden. Der Nordosten des Landes war für die sich bekämpfenden Armeen der Kriegsherrn von entscheidender Bedeutung. Vor allem die Städte entlang der Eisenbahnlinie, insbesondere Verkehrsknotenpunkte wie Yixian, waren heiß umkämpft. Kurz nach General Xues Abreise erreichten die Auseinandersetzungen die Stadt, direkt vor den Stadtmauern kam es zu offenen Kampfhandlungen. Der Krieg unmittelbar vor der Haustür gehörte von nun an zum täglichen Leben meiner Großmutter. Plünderungen standen auf der Tagesordnung. Eine ausländische Waffenfirma bot den Militärmachthabern an, statt Geld als Bürgschaft für gelieferte, aber nicht bezahlte Ware auch »zur Plünderung freigegebene Dörfer« zu akzeptieren. Vergewaltigungen waren genauso üblich. Wie viele andere Frauen mußte sich auch meine Großmutter das Gesicht mit Asche schwarz bemalen und sich schmutzig und häßlich kleiden. Glücklicherweise kam Yixian dieses Mal weitgehend unbeschadet davon. Die Kampfhandlungen verlagerten sich schließlich mehr in den Süden, und das Leben ging wieder seinen normalen Gang.

»Normal« hieß für meine Großmutter, daß sie sich überlegen mußte, wie sie die Zeit in ihrem riesigen Haus totschlagen konnte. Es war in dem für Nordchina typischen Stil errichtet: Um einen rechteckigen Innenhof war an drei Seiten das Haus gebaut, die vierte Seite, die Südseite, bildete eine zwei Meter hohe Mauer. Von hier aus erreichte man durch ein Mondtor einen äußeren Hof, der wiederum durch ein riesiges Doppeltor mit einem runden Messingtürklopfer abgeschlossen war.

Die Bauweise der Häuser bot Schutz vor den extremen Temperaturschwankungen und dem rauhen Klima dieser Region. Die Winter waren bitter kalt, die Sommer brütend heiß, und dazwischen gab es praktisch keinen Frühling oder Herbst. Im Sommer kletterten die Temperaturen oft weit über dreißig Grad, im Winter fielen sie dagegen weit unter minus dreißig; hinzu kamen schneidend kalte Winde, die von Sibirien her über die Ebenen der Mandschurei hinwegpeitschten. Staub drang in die Augen und fraß sich den Großteil des Jahres über in die Haut. Die Bewohner der Stadt mußten oft Masken tragen, die Gesicht und Kopf völlig bedeckten. Im Innenhof lagen die Fenster in den Haupträumen nach Süden, damit soviel Sonne wie möglich hereindrang. Die Wände an der Nordseite hingegen mußten dem Wind und dem Staub standhalten.

An der Nordseite des Hauses lagen ein Wohnzimmer und das Schlafzimmer meiner Großmutter, in den Seitenflügeln waren die Zimmer der Dienerschaft und die übrigen Räume untergebracht. Die Fußböden der wichtigsten Räume waren gekachelt, die Holzfenster mit Papier ausgekleidet. Das steile Dach bestand aus glatten, schwarzen Ziegeln.

Das Haus war, gemessen am örtlichen Standard, luxuriös und viel schöner als das ihrer Eltern, aber meine Großmutter fühlte sich einsam und traurig. Sie hatte mehrere Bedienstete, darunter einen Torwächter, einen Koch und zwei Zofen. Sie sollten meine Großmutter nicht nur bedienen, sondern auch bewachen und bespitzeln.

Der Torwächter hatte Anweisung, meine Großmutter unter keinen Umständen allein ausgehen zu lassen. Vor seiner Abreise hatte General Xue meiner Großmutter als warnendes Beispiel erzählt, wie es einer anderen Konkubine in seinem Haushalt ergangen war: Mein Großvater hatte herausgefunden, daß die Konkubine ein Verhältnis mit einem Diener hatte. Er ließ sie aufs Bett fesseln und mit einem Stofftuch knebeln. Dann wurde Spiritus auf das Tuch getropft, und sie erstickte langsam. »Selbstverständlich konnte ich ihr nicht den Gefallen tun und sie eines schnellen Todes sterben lassen. Ihren Ehemann zu betrügen ist das Schlimmste, was eine Frau tun kann«, schärfte der General meiner Großmutter ein. Für einen Mann wie den General war die Hauptschuldige bei einem Treuebruch selbstverständlich immer die Frau. »Den Liebhaber habe ich bloß erschießen lassen«, setzte er beiläufig hinzu. Meine Großmutter fand nie heraus, ob die Geschichte wirklich stimmte. Aber mit ihren fünfzehn Jahren erschrak sie zu Tode.

Von diesem Augenblick an lebte sie in ständiger Angst. Da sie kaum ausgehen durfte, mußte sie sich eine eigene Welt innerhalb ihrer vier Wände erschaffen. Aber selbst hier war nicht sie die wahre Herrin in »ihrem« Heim, sondern die Diener waren ihre Herren. Meine Großmutter mußte viel Zeit damit zubringen, die Diener zu umgarnen und ihre Gunst zu gewinnen, damit sie nicht Geschichten über sie erfanden und in Umlauf setzten, was so oft vorkam, daß man es fast schon als unvermeidlich ansah. Sie schützte sich durch großzügige Geschenke und organisierte Mah-jong-Abende, denn von den Gewinnern wurde erwartet, daß sie die Dienerschaft großzügig mit Trinkgeld bedachten.

An Geld fehlte es ihr nie. General Xue ließ ihr regelmäßig über sein Pfandleihhaus Geld zukommen. Der Verwalter brachte jeden Monat die Summe persönlich bei ihr vorbei und sammelte bei dieser Gelegenheit die Rechnungen für die Mah-jong-Abende ein. Mah-jong-Abende waren der übliche Zeitvertreib für Konkubinen in ganz China. Ebenso weit verbreitet war das Opiumrauchen, denn an Opium kam man ohne weiteres heran. Frauen wie meine Großmutter wurden mit Hilfe von Opium zufrieden gehalten – man setzte sie unter Drogen und machte sie abhängig. Viele Konkubinen waren opiumsüchtig, denn mit Opium ertrugen sie ihre Einsamkeit besser. General Xue ermunterte meine Großmutter ebenfalls dazu. Aber sie blieb standhaft.

Nahezu die einzige Gelegenheit, bei der sie das Haus verlassen durfte, war der Besuch der Oper. Abgesehen davon hielt sie sich in ihren vier Wänden auf – jeden Tag und jede Nacht. Sie las viel, vor allem Theaterstücke und Romane, und kümmerte sich um ihre Lieblingsblumen. Draußen im Innenhof zog sie Gartenspringkraut, Hibiskus, Wunderblumen, großblumiges Johanniskraut und Zwergbäume. Neben ihren Pflanzen war eine Katze ihr einziger Trost in dem goldenen Käfig.

Meine Großmutter durfte zwar ihre Eltern besuchen, aber die Diener sahen es nicht gern. Über Nacht durfte sie schon gar nicht fortbleiben. Obwohl ihre Eltern die einzigen Menschen waren, mit denen sie sprechen konnte, ging sie nur ungern zu ihnen. Ihr Vater war dank der Verbindung mit General Xue zum stellvertretenden Polizeichef befördert worden und hatte Land und Besitz gekauft. Jedesmal, wenn sie ihrem Vater ihr Unglück klagte, hielt er ihr eine Standpauke. Eine anständige Frau unterdrücke ihre Gefühle und habe einzig und allein den Wunsch, ihre Pflicht gegenüber ihrem Ehemann zu erfüllen. Es sei nichts dagegen einzuwenden, wenn sie ihren Ehemann vermisse, das sei sogar in höchstem Maße ehrenwert, aber eine Frau beklage sich nicht. Eine anständige Frau habe keine eigene Meinung, und falls sie wider Erwarten doch eine Meinung habe, solle sie wenigstens nicht so vermessen sein, diese auch noch in die Welt hinauszuposaunen. Er zitierte das alte chinesische Sprichwort: »Wenn du mit einem Huhn verheiratet bist, gehorche dem Huhn. Wenn du mit einem Hund verheiratet bist, gehorche dem Hund.«

 

Sechs Jahre vergingen. Anfangs kam ab und zu ein Brief von General Xue, dann hörte meine Großmutter nichts mehr von ihm. Mit ihren verkrüppelten Füßen konnte sie ihre nervöse Energie und sexuelle Frustration nicht einmal dadurch abreagieren, daß sie durch das riesige Haus marschierte. In der ersten Zeit trippelte sie im Haus herum und ließ immer wieder in Gedanken das kurze Leben mit ihm Revue passieren, während sie auf eine Nachricht von ihm wartete. Selbst ihre physische und psychische Abhängigkeit erschien ihr auf die Entfernung nicht mehr so schlimm. Sie vermißte ihn sehr, obwohl sie genau wußte, daß sie nur eine von vielen Konkubinen war, die wahrscheinlich überall in China verstreut lebten. Sie hatte sich niemals eingebildet, daß sie den Rest ihres Lebens mit ihm verbringen würde. Trotzdem sehnte sie sich nach ihm, da sie nur durch ihn leben konnte.

Aber aus den Wochen wurden Monate, aus den Monaten Jahre, und ihre Sehnsucht verblaßte allmählich. Sie wurde sich immer mehr bewußt, daß sie für ihn nur ein Spielzeug war, an das er sich wieder erinnern würde, wenn es ihm gefiel. Ihre Unruhe richtete sich nun auf nichts Bestimmtes mehr und wurde in eine Zwangsjacke gesteckt. Wenn sie sich gelegentlich doch wieder regte, fühlte sich meine Großmutter so aufgewühlt, daß sie nicht wußte, was sie mit sich anfangen sollte. Manchmal brach sie bewußtlos zusammen. Seit der Zeit hatte sie ihr Leben lang derartige kurze Anfälle von Bewußtlosigkeit.

Und dann stand ihr »Ehemann« plötzlich wieder vor der Tür, sechs Jahre nachdem er sang- und klanglos aus ihrem Leben verschwunden war. Das Wiedersehen verlief ganz anders, als sie es sich am Anfang ihrer Trennung erträumt hatte. Damals hatte sie sich vorgestellt, daß sie sich ihm vorbehaltlos und leidenschaftlich hingeben würde, aber jetzt war es nur eine erzwungene Pflichterfüllung. Außerdem hatte sie panische Angst, daß sie einen Diener gegen sich aufgebracht haben könnte oder daß die Diener Geschichten über sie in die Welt setzen könnten, um sich beim General beliebt zu machen und sie zu ruinieren. Doch alles ging gut. Der General war mittlerweile über fünfzig und schien sanfter geworden zu sein. Auch wirkte er längst nicht mehr so majestätisch auf sie. Wie sie erwartet hatte, verlor er kein Wort darüber, wo er die ganze Zeit gewesen war, warum er auf einmal verschwunden und warum er jetzt wieder zurückgekommen war. Und sie fragte ihn nicht danach. Abgesehen davon, daß sie nicht der Neugier bezichtigt werden wollte, interessierte es sie auch nicht mehr. Und dabei war der General die ganzen Jahre über gar nicht weit weg von ihr gewesen. Er hatte das ruhige Leben eines wohlhabenden pensionierten Würdenträgers geführt und mit seiner Frau und den diversen Konkubinen abwechselnd in seinem Haus in Tianjin und auf seinem Landgut in der Nähe von Lulong gelebt. Die Welt, in der er seine Triumphe gefeiert hatte, gehörte allmählich der Vergangenheit an. Die Generalscliquen und ihr Herrschaftssystem hatten abgewirtschaftet. Der größte Teil von China wurde mittlerweile von einer einzigen Macht, der Kuomintang oder den Nationalisten, wie sie auch genannt wurden, unter der Führung von Chiang Kai-shek kontrolliert. Um den endgültigen Bruch mit den verworrenen Verhältnissen der Vergangenheit zu markieren und ein Zeichen für einen Neubeginn in größerer Stabilität zu setzen, verlegte die Kuomintang die Hauptstadt von Beijing (der »Nördlichen Hauptstadt«) nach Nanjing (der »Südlichen Hauptstadt«). Im Jahr 1928 wurde der Herrscher der Mandschurei, Zhang Zuo-lin oder der »Alte Marschall«, von den Japanern ermordet, die in diesem Gebiet immer mehr Unruhe stifteten. Der Sohn des Alten Marschalls, Zhang Xue-liang oder der »Junge Marschall«, schloß sich der Kuomintang an und vereinte die Mandschurei formell mit dem restlichen China. Dennoch konnte die Kuomintang nie wirklich in der Mandschurei Fuß fassen.

General Xues zweiter Besuch bei meiner Großmutter dauerte nicht viel länger als sein erster. Wie beim ersten Mal erklärte er ihr nach ein paar Tagen aus heiterem Himmel, daß er gehen werde.

In der Nacht vor seiner Abreise bat er sie, mit ihm in Lulong zu leben. Meine Großmutter erschrak zu Tode. Wenn er ihr befahl, mit ihm zu gehen, würde sie wie eine Gefangene mit seiner Frau und den anderen Konkubinen unter einem Dach leben müssen. Bei diesem Gedanken erfaßte sie eine Welle von Panik. Sie massierte seine Füße und bat ihn sanft, er möge sie in Yixian wohnen lassen. Sie sagte ihm, wie nett sie es gefunden habe, daß er ihren Eltern versprochen habe, sie ihnen nicht wegzunehmen. Sie erinnerte ihn daran, daß es ihrer Mutter gesundheitlich nicht gutgehe. Meine Urgroßmutter hatte vor kurzem ihr drittes Kind zur Welt gebracht, den langersehnten Sohn. Meine Großmutter sagte, sie wolle ihren Eltern eine treusorgende Tochter sein und gleichzeitig selbstverständlich ihrem Ehemann und Herrn zu Diensten stehen, wann immer es ihm beliebe, Yixian mit seiner Anwesenheit zu beehren. Am nächsten Tag packte sie seine Sachen, und er reiste alleine ab. Bei seiner Abreise überhäufte er sie übrigens genau wie bei seiner Ankunft mit Schmuck aus Gold, Silber, Jade, Perlen und Diamanten. Wie viele Männer seines Schlages glaubte er, daß er damit das Herz einer Frau gewinnen könnte. Für eine Frau wie meine Großmutter war ihr Schmuck die einzige Versicherung.

Wenig später merkte meine Großmutter, daß sie schwanger war. Am siebzehnten Tag des dritten Mondes im Jahr 1931 brachte sie ein Mädchen zur Welt, meine Mutter. Sie informierte General Xue in einem Brief von dem Ereignis. Er schrieb zurück, sie solle das Mädchen Bao Qin nennen und zusammen mit ihrer Tochter nach Lulong kommen, sobald sie beide kräftig genug seien.

Meine Großmutter freute sich unbeschreiblich über ihr Baby. Endlich hatte ihr Leben einen Sinn, und sie überschüttete ihre Tochter mit ihrer Liebe und ihrer Energie. Ein Jahr ging ins Land. General Xue hatte sie mehrmals aufgefordert, nach Lulong zu kommen, aber sie hatte die Abreise jedesmal mit einem anderen Vorwand hinauszögern können. Im Hochsommer des Jahres 1932 traf ein Telegramm ein, in dem es hieß, General Xue sei ernstlich erkrankt und wünsche sie und ihre gerade einjährige Tochter unverzüglich zu sehen. Der Tonfall des Telegramms war so, daß sie dieses Mal keine Ausflüchte vorzubringen wagte.

Lulong lag über dreihundert Kilometer von Yixian entfernt, und da meine Großmutter nie aus ihrer Heimatstadt herausgekommen war, wurde die Reise ein großes Unternehmen. Das Reisen mit gebundenen Füßen war extrem beschwerlich. Sie konnte kaum Gepäck tragen, schon gar nicht mit einem kleinen Kind auf dem Arm. Daher beschloß sie, ihre vierzehnjährige Schwester Yulan, genannt »Lan«, mitzunehmen.

Die Reise war ein Abenteuer. In der Mandschurei hatte es erneut schwere Erschütterungen gegeben. Im September 1931 hatte Japan, das schon seit längerem seinen Einfluß in diesem Gebiet immer mehr verstärkte, eine großangelegte Invasion in die Mandschurei begonnen. Am 6. Januar 1932 hatten japanische Truppen Yixian besetzt. Zwei Monate später proklamierte Japan die Errichtung eines neuen Staates namens Mandschukuo (»Land der Mandschu«), der einen Großteil des Nordostens von China umfaßte (ein Gebiet so groß wie Frankreich und Deutschland zusammen). Die Japaner behaupteten, Mandschukuo sei ein unabhängiger Staat, aber in Wirklichkeit war Mandschukuo eine Marionette Tokios. Als Staatsoberhaupt setzten die Japaner den Mann ein, der als Kind der letzte Kaiser von China gewesen war, Pu Yi. Zuerst lautete sein Titel Staatspräsident, im Jahr 1934 wurde er zum Kaiser von Mandschukuo ernannt. All das berührte meine Großmutter nicht sonderlich, da sie kaum Kontakt zur Außenwelt hatte. Den meisten Menschen war es sowieso egal, von wem sie regiert wurden, man fragte sie ja auch nicht nach ihrer Meinung. Für viele war Pu Yi der natürliche Herrscher, ein Mandschu-Kaiser, der rechtmäßige Sohn des Himmels. Zwanzig Jahre nach Errichtung der Republik gab es noch immer keine geeinte Nation, die eine republikanische Regierung als Nachfolgerin des Kaisers hätte einsetzen können, und die Menschen in der Mandschurei hatten keine rechte Vorstellung davon, was es hieß, Bürger eines Staatsgebildes namens »China« zu sein.

An einem heißen Sommertag im Jahr 1932 bestiegen meine Großmutter, ihre Schwester und meine Mutter in Yixian den Zug in südlicher Richtung. Bei der Stadt Shanhaiguan, wo die Große Mauer von den Bergen herab zum Meer verläuft, verließen sie die Mandschurei. Der Zug tuckerte die Küstenebene entlang, und meine Großmutter bemerkte, daß sowohl die Landschaft als auch die Beschaffenheit des Bodens sich veränderten. Hier gab es nicht mehr den kargen, braungelben Boden der flachen Hochebenen der Mandschurei, sondern dunkles, fruchtbares, im Vergleich zum Nordosten geradezu üppig bewachsenes Land. Kurz nachdem sie die Große Mauer passiert hatten, verlief die Bahnlinie weiter ins Landesinnere. Eine Stunde später hielt der Zug in Changli, vor einem Bahnhof mit einem grünen Dach. Hier stiegen sie aus. Der Bahnhof sah aus wie einer in Sibirien.

Meine Großmutter mietete einen Pferdewagen und verließ damit die Stadt in nördlicher Richtung. Eine holprige und sehr staubige Straße führte zu General Xues Villa, rund dreißig Kilometer von Changli entfernt, vor den Toren einer kleinen Stadt namens Yanheying. Dieses Städtchen war einst ein wichtiges Militärlager gewesen, in dem die Mandschu-Kaiser und ihr Hof häufig residierten. Daher hieß die Straße, die dorthin führte, hochtrabend »Kaiserstraße«. Sie war von Pappeln gesäumt, deren hellgrüne Blätter in der Sonne glänzten, dahinter erstreckten sich riesige Pfirsichplantagen, denn Pfirsiche gediehen in dem sandigen Boden gut. Doch meine Großmutter hatte keinen Blick für die Schönheiten der Landschaft. Sie war über und über mit Staub bedeckt und von der Fahrt auf der holprigen Straße völlig durchgeschüttelt. Vor allem aber quälte sie die Ungewißheit, was sie wohl am Ende der Fahrt erwarten würde.

Sie war vom Anblick des Landhauses überwältigt. Zwei bewaffnete Männer bewachten das riesige Eingangstor, reglos standen sie neben den riesigen sitzenden Löwen, die den Eingang rechts und links flankierten. An acht steinernen Statuen konnte man die Pferde festbinden: Vier stellten Elefanten dar, vier Affen. Diese Tiere hatte man nicht zufällig ausgesucht. Das chinesische Wort für »Elefant« wird genauso ausgesprochen wie das Wort für »hohes Amt« (xiang), dasselbe gilt für die Worte »Affe« und »Adel« (hou). Als der Wagen durch das äußere Tor in einen Innenhof fuhr, starrte meine Großmutter auf eine hohe, kahle Mauer. An einer Seite dieser Mauer war ein zweites Tor. Diese Art Schutzmauer gehörte zum klassischen chinesischen Baustil und erfüllte zwei Funktionen. Zum einen schützte sie den Besitz vor den neugierigen Blicken von Fremden, zum anderen konnten Angreifer nicht direkt durch das vordere Tor schießen oder in den Wohnbereich stürmen.

Sobald sie das innere Tor passiert hatten, tauchte ein Diener neben meiner Großmutter auf und nahm ihr mit einer entschiedenen Geste ihr Kind ab. Ein anderer Diener führte sie über ein paar Stufen hinauf in das Empfangszimmer von General Xues Ehefrau. In dem Empfangszimmer fiel meine Großmutter sofort auf die Knie und verbeugte sich tief. »Ich grüße dich, meine Herrin«, sagte sie, wie es die Etikette von ihr verlangte. Die Schwester meiner Großmutter wurde der Ehefrau erst gar nicht vorgestellt, sie mußte draußen vor der Tür warten wie eine Dienerin. Das war nicht persönlich gemeint: Die Verwandten einer Konkubine gehörten nicht zur Familie. Nachdem meine Großmutter sich angemessen lange vor der Frau von General Xue verbeugt hatte, forderte diese sie auf, sich zu erheben. General Xues Ehefrau benutzte dabei eine Form der Anrede, die sofort klarstellte, welchen Platz sie meiner Großmutter in der Hierarchie des Hauses zuwies. Sie stand als Unter-Geliebte einer höhergestellten Zofe näher als einer Ehefrau.

Die Frau des Generals forderte meine Großmutter auf, sich zu setzen. Meine Großmutter mußte sich im Bruchteil einer Sekunde entscheiden. In einem traditionellen chinesischen Haushalt zeigt der Sitzplatz eines jeden seine Stellung innerhalb der Hierarchie des Hauses. General Xues Frau saß an der Nordwand des Raumes, zur Südseite blickend, wie es einer Person in ihrer Stellung gebührte. Neben einem kleinen Beistelltisch stand an der Nordwand ein zweiter Stuhl. Das war der Sitzplatz des Generals, ebenfalls mit Blick auf die Südseite des Zimmers. An den anderen beiden Seiten des Raumes standen jeweils zwei Reihen von Stühlen für Leute in unterschiedlicher Stellung. Meine Großmutter ging in gebeugter Haltung rückwärts und setzte sich auf einen Stuhl in unmittelbarer Nähe der Tür. Damit demonstrierte sie Bescheidenheit. Die Frau des Generals forderte sie auf, näher zu kommen, aber nur ein wenig. Von ihr erwartete man, daß sie sich großzügig zeigte.

Sobald meine Großmutter sich gesetzt hatte, eröffnete ihr die Ehefrau, daß sie von nun an die Erziehung ihrer Tochter übernehmen werde. Das Kind müsse fortan zu ihr »Mutter« sagen und nicht mehr zu meiner Großmutter. Für diese sei das Kind künftig die junge Herrin des Hauses, und sie habe sich dementsprechend zu verhalten.

Eine Zofe wurde gerufen, sie führte meine Großmutter hinaus. Ihr brach fast das Herz, aber sie nahm sich zusammen, bis sie in ihrem Zimmer war. Erst dann ließ sie ihren Tränen freien Lauf. Sie hatte immer noch rote Augen, als man sie zu General Xues Konkubine Nummer zwei führte. Sie war seine Favoritin und verwaltete den Haushalt. Konkubine Nummer zwei war hübsch und hatte feine Gesichtszüge. Zur Überraschung meiner Großmutter behandelte Konkubine Nummer zwei sie recht freundlich, aber meine Großmutter blieb trotzdem auf Distanz. Wie gerne hätte sie der anderen Frau ihr Leid geklagt und sich ihr weinend an die Brust geworfen, aber sie spürte instinktiv, daß Vorsicht geboten war.

Später führte man meine Großmutter zu ihrem »Ehemann« und erlaubte ihr, das Kind mitzunehmen. Der General lag auf einem kang, einem der in Nordchina gebräuchlichen beheizbaren Betten. Ein kang ist genaugenommen ein großer, rechteckiger Aufbau, der ungefähr sechzig Zentimeter über einem Backsteinofen angebracht ist und von unten beheizt wird. Zwei Konkubinen oder Zofen knieten auf dem Bett und massierten dem ausgestreckt daliegenden General Beine und Bauch. General Xue sah sehr schlecht aus. Er hatte die Augen geschlossen. Meine Großmutter ging auf ihn zu, beugte sich über das Bett und rief leise seinen Namen. Er schlug die Augen auf und zwang sich zu einem gequälten Lächeln. Meine Großmutter setzte meine Mutter aufs Bett und sagte: »Das ist Bao Qin.« Der General strich dem Kind mit seiner schwachen Hand über den Kopf, schon diese Bewegung schien ihn sehr anzustrengen. Mühsam brachte er hervor: »Bao Qin ist ganz nach ihrer Mutter geraten. Sie ist sehr hübsch.« Dann schloß er die Augen wieder. Meine Großmutter rief mehrmals seinen Namen, aber seine Augen blieben geschlossen. Sie begriff, daß er sehr krank war und vielleicht sogar im Sterben lag. Sie hob meine Mutter aus dem Bett und drückte sie an sich. Aber sie hatte nur wenig Zeit, ihre Tochter im Arm zu halten und nachzudenken, denn bald zupfte die Ehefrau des Generals, die die ganze Zeit dabeigestanden hatte, ungeduldig an ihrem Ärmel. Draußen vor der Tür schärfte die Ehefrau meiner Großmutter ein, den Herrn und Meister ja nicht zu oft zu stören. Am besten sollte sie in ihrem Zimmer bleiben und warten, bis sie gerufen werde.

Meine Mutter hatte schreckliche Angst. Als Konkubine waren ihre Zukunft und die ihrer Tochter vollkommen ungewiß, vielleicht schwebten sie sogar in Lebensgefahr. Sie hatte keinerlei Rechte; wenn der General starb, hing ihr Leben von der Gunst seiner Ehefrau ab. Die Ehefrau konnte mit ihr machen, was sie wollte, sie konnte meine Großmutter an einen reichen Mann verkaufen oder an ein Bordell, was häufig vorkam. Dann würde meine Großmutter ihre Tochter nie mehr zu Gesicht bekommen. Sie wußte, daß sie und ihre Tochter so schnell wie möglich fliehen mußten.

Als sie wieder in ihrem Zimmer war, versuchte sie verzweifelt, sich wieder zu beruhigen. Sie mußte ihre Flucht planen. Aber sie konnte keinen klaren Gedanken fassen, es war, als ob alles Blut sich in ihrem Kopf sammelte. Ihre Beine wollten sie nicht tragen, sie mußte sich an den Möbeln festhalten, sonst wäre sie gestürzt. Sie brach zusammen und weinte wieder – diesmal zum Teil aus Wut, weil ihr kein Ausweg einfiel. Die Vorstellung, daß der General jeden Moment sterben könnte und sie für immer eine Gefangene wäre, war am schlimmsten.

Nach und nach bekam sie ihre Nerven unter Kontrolle und zwang sich, klar zu denken. Sie stellte sich das Landhaus genau vor und erkundete es mit ihrem geistigen Auge Zentimeter für Zentimeter. Das Gelände war in mehrere weitläufige Innenhöfe unterteilt und von hohen Mauern umgeben. Selbst der Garten war mehr nach Sicherheitserwägungen als nach ästhetischen Gesichtspunkten angelegt. Zwar gab es ein paar Zypressen, Birken und Winterpflaumen, aber kein Baum stand in der Nähe der Mauer. Um potentiellen Angreifern keine Deckung zu geben, waren nicht einmal größere Sträucher gepflanzt worden. Zwei Türen führten aus dem Garten hinaus, sie waren mit schweren Schlössern gesichert, und das Eingangstor wurde rund um die Uhr von bewaffneten Männern bewacht.

Meine Großmutter durfte das Gelände innerhalb der Mauern nicht verlassen. Ihren Ehemann konnte sie täglich einmal besuchen, aber nie allein. Zusammen mit anderen Konkubinen durfte sie an seinem Bett vorbeidefilieren und flüstern: »Ich grüße dich, mein Meister.«

In der Zwischenzeit versuchte sie, sich ein Bild von den wichtigsten Personen im Haushalt des Generals zu machen. Nach der Ehefrau rangierte Konkubine Nummer zwei an zweiter Stelle. Meine Großmutter merkte, daß diese die Dienerschaft angewiesen hatte, sie zuvorkommend zu behandeln, was ihre Situation erheblich erleichterte. In einem Haushalt wie diesem richtete sich das Verhalten der Diener danach, welche Stellung ein jeder in der Hierarchie des Haushaltes bekleidete. Die Mächtigen wurden umworben und die in Ungnade Gefallenen tyrannisiert.

Die Konkubine Nummer zwei hatte eine Tochter, die wenig älter war als meine Mutter. Das war ein weiteres Band zwischen den beiden Frauen und ein Grund, warum die Konkubine so hoch in der Gunst des Generals stand, denn die beiden Mädchen waren seine einzigen Kinder.

Nach einem Monat hatten sich die beiden Konkubinen miteinander angefreundet. Meine Großmutter suchte die Frau des Generals auf und sagte ihr, sie müsse nach Hause fahren und Kleider holen. Die Ehefrau erlaubte es ihr. Meine Großmutter fragte, ob sie meine Mutter mitnehmen dürfe, damit sie sich von ihren Großeltern verabschieden könne. Die Ehefrau lehnte ab. Kein Nachkomme des Generals durfte das elterliche Haus verlassen.

Und so stieg meine Großmutter allein in die wartende Kutsche und fuhr die staubige Straße nach Changli hinab. Sobald der Kutscher sie vor dem Bahnhof abgesetzt hatte, fragte sie die herumstehenden Männer, ob jemand sie nach Lulong bringen könne.

Schließlich fand sie zwei Reiter, die bereit waren, ihr zwei Pferde zu vermieten. Sie wartete, bis es dunkel war, und ritt dann auf einer Abkürzung nach Lulong zurück. Ein Reiter hob sie in den Sattel, packte die Zügel ihres Pferdes und ritt mit dem anderen Pferd voraus.

Am Landhaus angekommen, schlich sie zur hinteren Seite des Gartens und machte ein vorher vereinbartes Zeichen. Nach einer Wartezeit, die ihr wie eine Stunde vorkam, tatsächlich aber nur wenige Minuten gedauert hatte, öffnete sich die Tür, und ihre Schwester trat mit meiner Mutter auf dem Arm heraus. Die freundliche Konkubine hatte die Tür aufgeschlossen und sie danach mit einer Axt eingeschlagen, damit es so aussah, als wäre sie mit Gewalt geöffnet worden.