Wilder Honig - Caryl Lewis - E-Book

Wilder Honig E-Book

Caryl Lewis

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Beschreibung

»Ein Samen im Herzen eines Apfels ist ein unsichtbarer Obstgarten.« Altes walisisches Sprichwort Hannah, Sadie und Megan sind alle auf ihre eigene Art verloren. Als sie sich begegnen, beginnen sie zu dritt einen Neuanfang, den sich keine von ihnen je erträumt hätte. Caryl Lewis leuchtet im idyllischen Setting der walisischen Landschaft alle Facetten der menschlichen Emotionen aus. Zwischen Liebe und Trauer, Enttäuschung und Dankbarkeit erzählt sie eine unvergessliche Geschichte. Hannah hat ihr ganzes Leben in Berllan Deg, einem kleinen Ort in Wales, verbracht. Anders als ihre Schwester Sadie, ist sie nie aus ihrem Elternhaus ausgezogen, nicht einmal nach ihrer Hochzeit mit John. Sie ist in diesem Haus und dem dazugehörigen Obstgarten verwurzelt, behandelt die Bäume, als gehören sie zur Familie. Als ihr Mann stirbt, ist Hannah das erste Mal allein. John, einst Schriftsteller und Imker, der die Welt durch die Sprache der Bienen zu verstehen lernte, hat ihr elf Liebesbriefe hinterlassen. Aber er hatte auch ein großes Geheimnis. Megan, Hannah und Sadie werden damit konfrontiert und begeben sich auf eine Reise durch die Erinnerung. »Wilder Honig« führt drei sehr unterschiedliche Frauen in einem zerbrochenen Eden zusammen und erzählt, wie sie es gemeinsam wieder aufbauen. Ein Buch über Schwesternschaft, die große Liebe und die Schönheit der Natur, die genauso gehegt und gepflegt werden muss wie eine Beziehung.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 288

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Dies ist der Umschlag des Buches »Wilder Honig« von Caryl Lewis, Monika Köpfer

Caryl Lewis

Wilder Honig

Roman

Aus dem Englischen von Monika Köpfer

Klett-Cotta

Impressum

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe zum Zeitpunkt des Erwerbs.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH

Rotebühlstraße 77, 70178 Stuttgart

Fragen zur Produktsicherheit: [email protected]

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Bitter Honey« im Verlag Doubleday, London

© 2025 by Caryl Lewis

Für die deutsche Ausgabe

© 2025 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte sowie die Nutzung des Werkes für Text und Data Mining i.S.v. § 44b UrhG vorbehalten

Cover: FAVORITBUERO, Buero für Gestaltung, München

unter Verwendung einer Abbildung von © Rachel Campbell. All rights reserved 2025 / Bridgeman Images

Gesetzt von Dörlemann Satz, Lemförde

Gedruckt und gebunden von CPI – Clausen & Bosse, Leck

ISBN 978-3-608-96689-3

E-Book ISBN 978-3-608-12461-3

In einem Apfelkern steckt ein unsichtbarer Obstgarten.

Altes walisisches Sprichwort

»Ich fühle mich zittrig, Hannah, bin empfindlich gegenüber dem leisesten winterlichen Luftzug. In diesen letzten Wochen merke ich, dass ich mich immer mehr von der Welt zurückgezogen habe, spüre, wie ich falle, langsam zur Erde hinabgleite. Lange habe ich mich der Illusion des ewig währenden Lebens hingegeben, und noch jetzt, beim Aufwachen oder wenn wir in behaglichem Schweigen frühstücken, blitzt sie kurz auf wie der blaue Flügel eines Eichelhähers im Obstgarten. Dieser Anschein von Beständigkeit. Der notwendige, aber trügerische Lichtschimmer, der es uns ermöglicht, weiterzumachen und nicht verrückt zu werden.

Du weißt, dass mir auch zunehmend die Sprache abhanden kommt. Ich suche nach den Worten, die meine Mutter mich gelehrt hat, aber sie sind nicht mehr da, und so stürze ich immer wieder in einen Abgrund, Tag für Tag aufs Neue. Auch löst sich allmählich die Verbindung zwischen den Worten und ihrer Bedeutung auf, als würde die Landkarte meines Geistes zerfallen, wobei mir alte, längst vergessene Namen und Orte ungebeten wieder in den Sinn kommen. Das Merkwürdigste ist jedoch, dass sich die Zeit selbst verändert hat. Die Geschichten der Vergangenheit scheinen durch das fadenscheinige Heute hindurch, und es kann, das wissen wir beide, nicht mehr viele Morgen für mich geben. Vielleicht sollte ich dankbar sein, denn das einzige Privileg, das man hat, wenn man auf einen Abgrund zutaumelt, ist das Gefühl, zum ersten Mal frei von der Zeit zu sein.

Die Worte, die ich in meinen Büchern gesammelt habe, sind ebenfalls entschwunden, nachdem sie ihren Zweck erfüllt haben. Die Unermüdlichkeit, mit der sie mich gequält, mir Sorgen bereitet haben, die Art und Weise, wie sie mich wachgehalten und meinen Geist vollgestopft haben. Es war, als hätten sie mich verfolgt und mich erloschen und aschfahl zurückgelassen, nachdem sie mich aufgezehrt hatten. Während ich heute Abend hier sitze, umgeben von den Büchern, die ich geschrieben habe, scheint der Raum von ihrer Beständigkeit erfüllt zu sein, ihre rechteckigen Rücken wie Grabsteine, und doch höre ich nichts.

Und was ist aus unser beider Sprache geworden, Hannah? Die ersten Blicke, die gestammelten Sätze, die sich in wortlose Berührungen verwandelten. Deine Hand, die plötzlich in meiner erschien, während wir nebeneinander hergingen, unsere synchron werdenden Schritte. Ein halbes Jahrhundert des sich gegenseitigen Vorlesens; des Nickens und stillschweigenden Verstehens; der scharfen, verletzenden Worte und des mitternächtlichen Schweigens, während ich dalag und deine wache Gestalt beobachtete, unfähig, die Hand auszustrecken und dich an der Schulter zu berühren. All das entgleitet mir nach und nach.

Heute Nacht herrscht eine Ruhe, wie sie es nur im Herbst gibt, nur der Ruf der Waldkäuze schallt von jenseits des Obstgartens herüber. Ich sitze schon eine Weile im Mondschein da und spüre die jetzt rationale Angst meines erkaltenden Körpers. Morgen wirst du mit mir schimpfen, das weiß ich. Du wirst meine stumpfen Augen betrachten und mich ermahnen, ich solle mich ausruhen. Aber sobald ich den Kopf aufs Kissen lege, werde ich von Gesichtern längst dahingegangener Menschen heimgesucht, eines nach dem anderen schält sich aus der Dunkelheit.

Verzeih mir, Hannah, dass ich dich enttäuscht habe. Glaub mir, ich hätte dich nicht mehr lieben können.

1

Hannah ging zwischen den alten Bäumen umher, ihr Gesicht war wächsern, die Arme schmerzten von Arbeit, Trauer und Schlaflosigkeit. Während sie durch das von silbrigem Tau überzogene lange Gras und das glitschige späte Fallobst stapfte, zog sie die Strickjacke enger um den Körper. Seit seinem Tod hatte im Haus ständiges Kommen und Gehen geherrscht – der alte walisische Brauch, die Trauer nicht allein zu lassen. Ständig mussten Teetassen und Untertassen aus der Anrichte herausgeholt und weitere Stühle an den Rand des Wohnzimmers geschoben werden. Nachbarn und Freunde mussten empfangen werden, die sie unbedingt vor der Beerdigung besuchen wollten, um nicht in aller Öffentlichkeit kondolieren zu müssen. Jeden Morgen traf ein weiterer Schwung Beileidskarten mit einem schwarzen Kreuz darauf ein, um auf den Kaminsims gestellt zu werden. Die Feuchtigkeit fühlte sich klamm auf Hannahs Haut an. An diesem Abend würde niemand vorbeikommen, und sie war, wenigstens dafür, dankbar. Zum ersten Mal in dieser Woche hatte sie das Gefühl, wieder richtig atmen zu können.

Letzten Endes war es ein langwieriger Abschied gewesen. Angefangen hatte es mit Appetitlosigkeit, und sie hatte versucht, ihm gut zuzureden, hatte ihm die Gerichte zubereitet, die ihm seine Mutter in seiner Kindheit gekocht hatte. Dann die eingesunkenen Wangen. Augen. Seine Haut war immer blasser geworden, sein Haar immer ausgeblichener. Sie war nicht darauf gefasst gewesen, wie schön er aussehen würde – diese hagere, kantige Gestalt –, und war nicht von seiner Seite gewichen. Irgendwann ging sie dazu über, in dem Sessel neben seinem Bett zu schlafen, um ihm einen Kuss auf das Jochbein zu hauchen und ihn halb aufzuwecken, wenn ihn etwas zu quälen schien. Und zu guter Letzt gab es noch etwas, das sie nicht erwartet hatte. Sie hatte sich den Tod immer als Hinweggleiten vorgestellt, aber so war es dann nicht gewesen. Der Tod war zielgerichteter; Sterben war ein Weggehen, ein Sich-woanders-Hinbegeben. Das hatte sie erkannt, als sie ihm ein letztes Mal in die Augen gesehen hatte, an dem letzten Schaudern und der einsamen Träne, die ihm über die Wange gerollt war. Er hatte sie verlassen.

An diesem Abend hatte sie allein gegessen; sie hatte den Tisch an die Wand gerückt und die Bissen automatisch in den Mund geschoben, obwohl sie keinen Hunger hatte. Und dabei hatte sie der tiefen Stille gelauscht. Die dicken Mauern des alten Hauses dämpften fast alle Außengeräusche, verstärkt noch durch die Bücher, die sich an den Wänden reihten, aber die Beschaffenheit der Geräusche hatte sich verändert. Ihre Gabel und das Messer klapperten gegen den Teller, als ihr plötzlich etwas einfiel, was sie schon längst hätte erledigen sollen. Sie stützte sich mit den Händen am Tisch ab und hievte sich vom Stuhl hoch, zog die Schürze aus und stieg die alten, beige gestrichenen Stufen zum Treppenabsatz hinauf. Dann öffnete sie den Wäscheschrank mit der darin säuberlich gestapelten Wäsche. Kurz fuhr sie mit den Fingern darüber. Manche Stücke waren hie und da von ihrer Mutter ausgebessert worden. Dazu die Decken und Tischtücher aus ihrer Aussteuer, aufbewahrt für besondere Anlässe und nie benutzt; nach walisischer Handwerkskunst gefertigte Bettüberwürfe, ein jeder eine schmerzhafte Erinnerung an eine vergangene Wärme. Schließlich fand sie, was sie gesucht hatte, und legte es sich über den Arm.

Sie hatte seinen Unterkiefer mit einem Stoffstreifen hochgebunden, um den Mund geschlossen zu halten, so wie ihre Mutter es bei ihrem Vater getan hatte. Das war eines der Dinge, an die sie sich von damals noch erinnerte, wie sie in der Tür gestanden und ihrer Mutter zugeschaut hatte, wie sie mit zittrigen Händen ihrer Pflicht nachkam. Den Rest hatten dann die Bestatter, ein altehrwürdiger Familienbetrieb, aus dem Dorf erledigt, respektvoll und freundlich; eine professionelle Hilfe bei all den notwendigen Formalitäten, die mit dem Tod einhergingen.

Und jetzt lag erneut ein Mann im Wohnzimmer aufgebahrt, vorbereitet für den Trauergottesdienst am nächsten Morgen, das Haar gekämmt.

Während Hannah zwischen den Obstbäumen umherging, betrachtete sie die vor Feuchtigkeit glänzenden Baumstämme und die dünnen, schmerzhaft kahlen Äste. Normalerweise hätte sie zu dieser Jahreszeit bereits die Winterwäsche vorgenommen, das Abwaschen des Baumes mit einer bewährten Emulsion, sodass er gut vorbereitet war für die winterliche Rast. In der Regel machte sie das selbst. Das Haar mit einem Schal zurückgebunden, rieb sie mit einer Bürste die skelettartigen Gerippe ab, die vertrauten Stämme und Gliedmaßen und fragte sich dabei, ob jemals wieder Leben in sie zurückkehren würde. An diesem Abend standen sie Wache, die Zweige tastend in die Luft gereckt, um den kleinsten Windhauch wahrzunehmen.

Den schweren Stoff über dem Unterarm, bog sie um eine Ecke und sah in der Abenddämmerung zu den Bienenstöcken hinüber. Seinen Bienenstöcken. Nichts rührte sich dort. Die Bienen hatten sich jetzt für den Winter zu Trauben zusammengekuschelt und richteten die Aufmerksamkeit nach innen, um sich zu erhalten. Hannah näherte sich ihnen und lauschte einen Moment der Stille, ehe sie den schwarzen Seidenstoff aufschlug und ihn sanft über die Bienenstöcke breitete; die Seide rieb leicht über das raue Holz und glänzte krähenschwarz in der Dunkelheit.

Sie musste den Bienen mitteilen, dass er gestorben war. So viel wusste sie. Hätte sie einen ältesten Sohn gehabt, hätte sie ihn damit beauftragt, so wie es Tradition war. Sie kramte in ihrer Tasche nach dem alten Eisenschlüssel, den sie beim Hinausgehen eingesteckt hatte. Er fühlte sich kalt in ihrer Hand an, und sie spürte sein Gewicht, während sie sanft damit an den ersten Bienenstock klopfte – als Zeichen dafür, dass sein Besitzer eine weitere Schwelle übertreten hatte. Sie überlegte, was sie sagen sollte, fand aber nicht die richtigen Worte, und so stand sie einen Moment lang einfach nur da, mit gefalteten Händen und vor Anspannung schmerzenden Wangen, nachdem sie in der vergangenen Woche unentwegt freundliche Gefasstheit geheuchelt hatte.

Auch morgen würden viele Menschen kommen, genau wie die ganze Woche über schon. Sie wusste bereits, wie der Tag ablaufen würde: die Flut an Beileidsbekundungen, an die sie sich hinterher nicht mehr erinnern würde; das Stärkeweiß der Lilien und die Fenster, angelaufen von den Ausdünstungen der Trauergäste, die sich zum Tee in der Sakristei einfinden würden. Aber an diesem Abend war niemand hier. Die Stille, die sie bislang in Schach gehalten hatte, schien um sie herum mit verheerender Reinheit anzuschwellen. Sie drehte sich um und sah durch den Obstgarten zum Haus hinüber, wo er lag, die Bienenstöcke schweigend hinter ihr, und dachte einen Moment lang an die zahllosen Jahreszeiten, die Generationen von Bienen hier schon überlebt hatten, an die welkenden Blüten, an deren Stelle Früchte heranreiften, die herabfallenden Äpfel, deren Kerne Wurzeln bildeten, an die neuen Blüten. Dieser Winter würde anders sein. Sie spürte es am bitterkalten Wind, einem unbeantworteten Ruf und der Unmöglichkeit seines Schweigens.

2

Hannah hatte nicht geschlafen; sie hatte wach im Raum über dem Wohnzimmer gelegen. Als der Morgen dämmerte, hatte sie sich aufgesetzt, die Bettdecke zurückgeschlagen und die Füße auf den Boden gesenkt. Sie ging über die Holzdielen zu dem niedrigen Fenster. Nur die Äpfel mit scharlachroter Schale zeichneten sich im gefallenen Laub durch den dichten Nebel dieses Morgens ab. Sie rief sich in Erinnerung, wie sie als Kind auf dem Schoß ihres Vaters gesessen und mit großen Augen gelauscht hatte, während er ihr Geschichten von den Äpfeln erzählte: wie die Früchte mit den Pilgern von Ost nach West durch ganz Europa gekommen waren, wie in einer stürmischen Nacht ein Schiff an der Küste von Westwales zerschellt war und mit ihnen Fässer voller Äpfel, die an Land geschwemmt wurden und überall an der Küste entlang Wurzeln geschlagen hatten. Jetzt war der Obstgarten von einer hartnäckigen Nebeldecke verhüllt, und sie stieg die Treppe hinab, sich mit den Fingern am Handlauf entlangtastend, wie schon seit weit mehr als einem halben Jahrhundert.

Im Haus war es noch dunkel, nur die Lampe, die sie im Wohnzimmer für ihn hatte brennen lassen, verströmte ihr warmes Licht bis in die Küche. Sie ging zum Herd und goss sich einen Becher Tee auf, den sie mit zum Tisch nahm. Während sie sich setzte, presste sie die Handflächen auf die Tischplatte und spürte die Maserung des Holzes.

Ihr Vater hatte das Holz dafür, den Birnbaum, selbst gefällt, hatte ihr zigmal die Geschichte davon erzählt. Wie selten man einen Birnbaum fand, der ebenmäßig genug war, wie alt er gewesen sein musste, um ein solches Möbel daraus machen zu können. Birnbäume pflanzte man für die Nachkommen, ihr langsames Wachstum war eine zarte Hoffnung auf die Zukunft. Sie zeichnete mit der Fingerkuppe die Knoten nach, die Fingerabdrücke des Obstgartens. Wenn ihre Mutter früher die Winterwäsche vornahm, blieben Flecken auf den Stämmen zurück, aber mit der Zeit schienen all diese einzelnen Makel ineinander überzugehen, das Holz härtete und bekam einen tiefen Glanz.

Als die Stille vom Geräusch einer aufgeschreckten Amsel unterbrochen wurde und hinter ihr vertraute Schritte erklangen, drehte sie den Kopf zur Seite. An der Tür erstarb das Geräusch, und ihr Kiefer spannte sich an. Hannah stellte sich vor, wie sie auf der Türschwelle stand, deren Schieferstufen vom tausendfachen Kommen und Gehen abgewetzt waren, und sich fragte, ob sie klopfen sollte. Sie tat es nicht. Hannah hielt den Blick auf den Tisch gerichtet, während ein Luftzug sie erreichte und ihre Schwester eintrat.

»Hannah?«

Hannah lauschte, wie sie die Tür hinter sich schloss, außer Atem von dem Fußmarsch von der Straße hinauf zum Haus.

»Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte«, sagte sie und ihr Walisisch klang leicht gestelzt. »Ich war verreist, sonst wäre ich schon früher hergekommen.«

Hannah überlegte, ob sich die Stimme ihrer Schwester verändert hatte. Während ihre Aussprache in den vielen Jahren, die sie nun schon in der Stadt wohnte, weicher geworden war, schwang in ihrer Stimme noch immer die gleiche kindliche Sorge von früher mit, eine Art Abwehrhaltung.

Hannah stand abwartend da, während ihre Schwester sie musterte, mit einem Mal verlegen, weil sie noch im Nachthemd war, und fuhr sich unwillkürlich mit den Fingern durch die ungekämmten Haare.

»Setz dich doch. Ich mache dir eine Tasse Tee«, sagte Hannah, die ihre Schwester noch immer nicht direkt angesehen hatte.

Sie ging über die unebenen Steinplatten zum Herd und wartete, bis das Wasser kochte. Sie drehte Sadie den Rücken zu, nahm die Nähe ihrer Schwester wahr, die sich seltsam und doch hartnäckig vertraut anfühlte. Hannah war sechs Jahre älter als Sadie, und an diesem Tag spürte sie jedes einzelne ihrer siebzig Jahre in ihren Knochen. An der Passform ihrer Kleidung war ihr bewusst geworden, dass ihr Körper in letzter Zeit ein wenig geschrumpft war. Im Gegensatz zu Hannah, die groß und blond gewesen war, hatte die dunkelhaarige Sadie einen kräftigen Körperbau.

»Nimmst du immer noch Zucker?« Hannahs Frage überraschte Sadie, die abwesend wirkte.

»Ja …« Sadie räusperte sich. »Ja.«

Sadie nahm die Tasse entgegen, und die beiden Schwestern setzten sich. Zum ersten Mal seit vielen Jahren saßen sie wieder einmal beisammen, und Sadie kam es vor, als stünde das Haus irgendwie außerhalb der Zeit, als fänden ihre Kindheit und Gegenwart hier zeitgleich statt. Die Küche war noch immer genau wie in den Tagen ihrer Mutter – die Teller in Regalen, an beiden Längsseiten des Tischs je eine Bank, ein in die Jahre gekommener, von einem Tuch bedeckter Fernseher, und auf dem Kaminsims eine alte Schieferuhr, flankiert von je einem Porzellanhund. Sadie betrachtete den Dampf, der von ihren Tassen aufstieg, und spürte mit einem Mal einen Anflug von Trauer, ein Gefühl der Leere und Sehnsucht, das damit zu tun hatte, dass Hannah ihrer Mutter immer ähnlicher wurde.

»Es ist, als hätte sich nichts verändert«, sagte Sadie. Im selben Moment bereute sie ihre Worte schon. »Ich meine, das Haus, der Obstgarten …«, fuhr sie fort.

»Alles hat sich verändert«, entgegnete Hannah.

»Natürlich.« Sadie neigte den Kopf.

»Es tut mir leid, Hannah«, sagte sie schließlich.

»Das musst du nicht sagen«, erwiderte Hannah und wandte rasch den Blick ab.

»Es tut mir leid, dass er gestorben ist.« Sadie versuchte, ihren Blick wieder aufzufangen. »Und es tut mir leid, dass ich nicht hier war, um dir beiseitezustehen.«

»Das war nicht anders zu erwarten, du wohnst nun mal zu weit weg.«

Sadie entging der kurzangebundene Ton ihrer Schwester nicht. Sie beobachtete, wie Hannah eine kleine Daunenfeder von ihrem Nachthemd klaubte und wegschnippte.

»Wer hält den Gottesdienst?«, fragte Sadie leise.

»Evans.«

Sadie nickte.

»Es wird nur eine kurze Zeremonie hier im Haus geben, bevor …«

»Er liegt noch hier?«, rief Sadie, und ihr Blick huschte zu der halb offen stehenden Tür des Wohnzimmers. »Ich wusste nicht …«

»Natürlich ist er noch hier«, sagte Hannah in vorwurfsvollem Ton.

Der Gedanke, dass ihre Schwester die ganze Nacht allein mit ihm gewesen war, verursachte Sadie ein schlechtes Gewissen.

»Die Frauen, die sich um die Kirche kümmern, haben darauf bestanden, nach dem Gottesdienst einen Imbiss in der Sakristei abzuhalten«, sagte Hannah.

»Das wäre bestimmt in seinem Sinn.«

»Dann haben sie wenigstens was zu tun«, sagte Hannah spitz.

Es wurde allmählich heller, auch wenn die Wintersonne den Raum nur spärlich beleuchtete. Sadie überlegte, was sie sagen könnte, aber sie fühlte sich wie betäubt.

»Ich sollte mich jetzt besser anziehen, bald werden die ersten Leute hier sein«, sagte Hannah und stand abrupt auf.

Sadie fiel auf, dass sie ihren Tee nicht angerührt hatte.

»Ich brauche nicht lange«, sagte Hannah, ehe sie zur Treppe ging und Sadie allein am Tisch zurückließ.

Sie trugen ihn auf den Schultern durch den Obstgarten, an den verhüllten Bienenstöcken vorbei, so wie er es sich gewünscht hatte. Hannah wusste, dass er nicht mehr schwer war, aber die Leichtigkeit, mit der die Männer mit ihren Lackschuhen ihn schulterten, war ein schmerzhafter Anblick für sie. Das Gewicht und der Raum, den er in ihrem Leben eingenommen hatte, schien mit einem Mal unbedeutend gewesen zu sein. Hannah folgte den Trägern in Richtung Leichenwagen, die Augen fest auf den Sarg gerichtet, mit einer Hand ein weißes Taschentuch umklammernd. Sie spürte, wie sie sich in sich verschloss, ihre Schwester neben sich kaum wahrnahm.

Die kleine Kirche stand ein paar Meilen außerhalb von Berllan-Deg einsam neben der Straße; der Anstrich des schmiedeeisernen Tors war verwittert. Sie war groß genug, um sowohl die geladenen Gäste aufzunehmen als auch jene, die Hannahs Mann nur flüchtig gekannt hatten und die oben auf der Galerie Platz nehmen würden. Hannah hatte walisische Begräbnisse schon immer als grausam empfunden: ihr öffentlicher Charakter, dass es manche Dorfbewohner offenbar genossen, an jedem einzelnen teilzunehmen, auch wenn sie zu dem Verstorbenen allenfalls eine flüchtige Beziehung gehabt hatten. Diese Zurschaustellung von Trauer. Sadie hingegen beharrte darauf, dass Trauer etwas Kollektives sei; man könne sie nicht von sich schieben oder für sich behalten. Es sei nicht gut, sie nach eigenem Gutdünken kontrollieren zu wollen.

Die Wintersonne strömte durch die wie Juwelen leuchtenden Buntglasfenster, und der Atem der Kirchengemeinde schlug sich feucht auf den gestrichenen Wänden nieder. Hannah folgte dem Sarg hinein, den Blick auf die zitternden Blumen auf dem Sargdeckel geheftet. Sie nahm den verhaltenen Kirchengesang mehr mit dem Körper als mit dem Geist wahr, das kollektive Atmen, die gedämpften Orgelklänge. Es würden noch immer die walisischen Kirchenlieder ihrer Kindheit gesungen werden; auch ein paar ihr unbekannte englische Kirchenlieder, deren Auswahl sie dem Pfarrer überlassen hatte, weil auch Mitarbeiter der Bibliothek anwesend waren und auch Kollegen aus seinen Tagen an der Universität. Als die Trauerreden gehalten wurden, fiel es ihr schwer, den Sinn der Worte zu erfassen, die sich alsbald in dem Kirchengewölbe verflüchtigten, auch wenn sie sicher war, dass sie voller Respekt waren.

Ihre Gedanken kehrten zum Tag ihrer Hochzeit zurück; sie rief sich in Erinnerung, wie sie genau an dieser Stelle unter der Kanzel gestanden hatte. Das dünne Kleid, das sie getragen hatte, seinen dunkelblauen Anzug, der ihm eine Spur zu groß gewesen war. Das Zittern tief in ihrem Innern, die Kälte, ihre Nervosität. Dass er sich nicht einmal rasiert hatte, nachdem er die ganze Nacht auf gewesen war und die Nachbarjungen in der Dunkelheit Schüsse abgefeuert und Bäume entlang der Straße gefällt hatten, um ihn daran zu hindern, zur Kirche zu gelangen. Daran, wie Kinder ein Seil über der Straße spannten und sie ihnen Geld geben mussten, um durchgelassen zu werden. Alte Hochzeitsbräuche, Rituale, die die Hürden symbolisieren sollten, die sie im Lauf ihres Lebens würden überwinden müssen. Sie erinnerte sich an das Mittagessen im Dorfgasthof, und wie er mit gespielt feierlicher Miene die Reden über sich ergehen ließ, an das unterdrückte Gelächter.

Jetzt war das letzte Kirchenlied verklungen, und Hannah wurde sich der eintretenden Stille bewusst. Der Pfarrer lud im Anschluss an den Gottesdienst alle in die Sakristei zu einem Imbiss ein, und dann hieß es erneut, dem Sarg durch den Mittelgang hinauszufolgen. Die Luft war so kalt, dass sie keuchen musste, als sie hinter dem Sarg ins Freie trat. Am Grab gab es eine kurze Zeremonie, ein paar weitere Gebete, dann paradierten die Trauergäste an ihr vorbei und kondolierten ihr mit feuchtem Händedruck, bis sie schließlich mit Sadie allein am Grab stand. Die Totengräber warteten respektvoll in ihren von feuchter Erde bedeckten blauen Arbeitsoveralls auf der anderen Seite der Kirche und rauchten. Hannah wandte sich ein letztes Mal zum Grab um, ehe sie den schmalen Pfad entlang zur Sakristei ging.

Die Frauen, die sich immer um die Kirche kümmerten, waren in ihrem Element; in ihren Schürzen über den schwarzen Blusen wuselten sie um die Durchreihe herum, schenkten Tee aus Aluminiumteekannen, die wie polierte Pennys glänzten. Grüppchen von Männern, die Krawattenknoten nunmehr ein wenig gelockert, diskutierten über Gott und die Welt. Hannah saß neben Sadie, konnte jedoch inmitten von dünn geschnittenem Schwarzbrot, Kümmelkuchen und Gelächter keinen Ort für ihre Trauer finden. Sie trank einen Schluck Tee, dann gab sie Sadie den Umschlag mit dem Geld, das sie der Kirche für die Erfrischungen schuldete, damit diese ihn diskret weiterreichen konnte.

Es war schon recht spät, als sie nach Hause kamen. Hannah schloss die Tür hinter sich zu und begann, die Teetassen vom Morgen zu spülen und wegzuräumen. Eine geriet auf der Untertasse ins Rutschen und klirrte laut, und mit einem Mal fühlte sich Hannah wackelig auf den Beinen. Sadie hielt sie am Arm fest, während sich Hannah wieder aufrichtete. Einen Moment lang standen sie schweigend da.

»Es geht schon wieder«, sagte Hannah nach einer Weile und schüttelte Sadies Hand ab.

»Setz dich. Ich mach das.« Sadie nahm ihr die Tasse aus der Hand. Sie versuchte, nicht hinzusehen, während Hannah Platz nahm, deren Gesicht sich blass gegen das schroffe Schwarz ihrer Bluse abhob.

»Ich werde ein, zwei Wochen bleiben«, sagte Sadie, während sie Wasser in das alte Spülbecken einlaufen ließ.

Hannah erwiderte nichts.

»Falls es dir recht ist?«

Anschließend kochte Sadie Tee, rührte etwas Zucker hinein, und erneut saßen sie schweigend da. Während es dunkel wurde, sah Hannah zum Wohnzimmer hinüber. Die Tür stand noch offen, die Möbel waren noch immer an die Wand gerückt. Ein leerer Raum im Herzen des Hauses.

3

Hannah nahm kaum etwas zu sich und schlief schlecht. Sadie hatte in den vergangenen Tagen besorgt festgestellt, dass ihre Schwester nichts anderes tat, als durchs Haus zu streifen und Johns Sachen wegzuräumen. Und wenn sie sich mal ausruhte, war ihr anzusehen, wie unwohl sie sich fühlte. Sie kauerte auf der Stuhlkante, als wäre sie ständig auf dem Sprung. Sadie hörte, wie sie im oberen Stockwerk begann, seine Kleidung zu sortieren, nachdem sie sie aus dem alten Schrank geräumt hatte, um sie in Kartons zu verstauen. Das sah Hannah ähnlich; wenn ihr etwas Bedeutungsvolles widerfuhr, zog sie sich in sich selbst zurück, war bemüht, das Richtige zu tun, so gut sie konnte, ihre Pflicht zu erfüllen.

Sadie, die sich für viele Stunden allein im Haus wiederfand, fühlte sich zugleich merkwürdig zu Hause und völlig orientierungslos. Sie hatte das Gefühl, diesen Ort noch nie vollständig bewohnt zu haben. Als Kind hatte sie sich meist abseits gehalten. Entweder saß sie auf dem Treppenabsatz, wo sie unterdrückte Gespräche mitbekam, oder versteckte sich auf einer der breiten Fensterbänke, wo sie oft durch einen Spalt des vorgezogenen Vorhangs die anderen beobachtete. Der große Altersunterschied zwischen ihr und Hannah hatte ihre Beziehung geprägt, ihre unterschiedlichen Interessen, wie sie miteinander auskamen, aber es hatte auch ein paar goldene Jahre gegeben, in denen sie sich nähergekommen waren. Die frühen Teenagerjahre, in denen Hannah so eingeschüchtert war vor ihrem aufkeimenden Körper, dass sie geduldig ihre jüngere Schwester ertrug und sich wieder in die Freiheit der Kindheit zurückzog. Ein, zwei herrliche Sommer lang war der Obstgarten ein magischer Ort mit unendlichen Möglichkeiten gewesen.

Wobei sich Hannah schon immer im Obstgarten mehr zu Hause gefühlt hatte als sie; fast konnte man sagen, dass Hannah im wahrsten Sinne des Wortes im Obstgarten aufging. Damals kletterten sie auf die Bäume, aßen Äpfel, bis ihnen schlecht davon wurde. Hannah spannte ein Seil von Baum zu Baum und breitete ein altes Bettlaken darüber, schaffte eine alte Lampe herbei und führte Schattenspiele dahinter auf, bis Sadie sich vor Lachen bog. Dabei imitierte sie die Erwachsenen, die zu Besuch kamen – ihre Eigenheiten, ihre Sprechweise – und forderte Sadie auf, es ihr gleichzutun, weil sie wusste, dass sich ihre jüngere Schwester im Gegensatz zu ihr keinen Ärger einhandeln würde. Im Herbst entzündeten sie oft ein Feuer unter dem unvergleichlichen Himmel, malten sich aus, dass Hannah einmal Schauspielerin und Sadie Journalistin werden würde; sie würde eine eigene Zeitung haben und über die Filme schreiben, in denen ihre Schwester mitspielte. Aber als Hannah älter wurde, schimpfte ihre Mutter, weil sie zu laut waren, und Sadie erinnerte sich, wie ein paar Dorfjungen auf der alten Steinbrücke saßen und ihrer Schwester, wenn sie von der Schule nach Hause ging, anzügliche Kommentare über ihre aufblühende Schönheit zuriefen. Von da an blieb Hannah immer öfter in ihrem Zimmer, und Sadie musste allein spielen. Aber Sadie liebte den Obstgarten nur, wenn Hannah dort war, und als Sadie allmählich zu einer eigenständigen Person heranwuchs, fühlte sich Berllan-Deg zunehmend klaustrophobisch und einsam an.

Nachdem sie weggezogen war, besuchte sie Hannah und John nur noch selten, aber das Haus fühlte sich ohne seine Gegenwart ganz anders an. Sadie zog die Vorhänge zurück und blickte zu der Stelle hinaus, wo sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Sie hatte auf dem breiten Fensterbrett gesessen, von dem aus man auf den Eingang blicken konnte, und verfolgt, wie er ihre Schwester abgeholt hatte. In Sadies Augen, die damals erst zehn war, wirkte er alt, auch wenn er das natürlich nicht war. Er strahlte ein angeborenes Selbstvertrauen, eine Leichtigkeit aus, die sich Sadie die Jahre über ebenfalls anzueignen versuchte, die sie jedoch, wie sie wusste, immer noch nicht besaß. Sie lauschte ihrer gedämpften Begrüßung, während sich Hannah den Mantel über die mageren Schultern legte und seine Hand zu ihrer Taille wanderte, und im Weggehen blickte er über die Schulter und versuchte, Sadies Blick aufzufangen. Er winkte ihr zu und brachte Sadie dazu, vom Fenster zurückzuweichen, während eine Gereiztheit, die noch lange andauerte, ihr die Röte ins Gesicht trieb. Nicht dass er je unfreundlich zu ihr gewesen wäre, ganz im Gegenteil. Er brachte ihr Süßigkeiten und Zeitschriften mit und amüsierte sich über sie, als sie ihn mit der Frage provozierte, ob alle Mädchen so leicht zu beeindrucken und zu kaufen seien. Vielmehr wurmte sie die Selbstverständlichkeit, mit der er davon ausgegangen war, dass Hannah ihn heiraten würde, und die ärgerliche Duldsamkeit ihrer Schwester.

Nach der Beerdigung hatte Hannah sie gebeten, seinen Nachlass durchzugehen. Die Tür seines Büros stand offen, und seine Brille lag noch auf dem Tisch, als wäre er eben erst hinausgegangen. Sadies Traum, Journalistin zu werden, war von kurzer Dauer gewesen, und sie war stattdessen Lehrerin geworden. Bei den seltenen Gelegenheiten, als sie und Seth zu Besuch kamen, war dies häufig ein Gesprächsthema zwischen John und ihr gewesen. Sie betrat sein Büro. Sein Schreibtisch war wie immer penibel aufgeräumt, der Stuhl ein wenig zurückgeschoben, darauf ein schlaffes, fadenscheiniges Samtkissen, das irgendwann einmal neu gewesen war, auf dem Boden ein Stift. Sie musste seine Nachlasspapiere suchen, seine Bankunterlagen; das war das Mindeste, was sie für Hannah tun konnte.

Als Sadie etwas älter war, saß sie, wenn sich Hannah für den Tanzsaal im Ort fertig machte, gern auf dem Bett und sah ihr zu. Nachdem John Hannah abgeholt hatte, lag Sadie meist noch lange wach und wartete darauf, dass die Scheinwerfer den Obstgarten erhellten, wenn er sie wieder nach Hause brachte. Dann schlich Sadie zum Fenster und beobachtete mit klopfendem Herzen, wie sie sich voneinander verabschiedeten. Sobald sie die Schritte ihrer Schwester auf der Treppe hörte, huschte sie schnell wieder unter die Decke. Hannah bürstete ihr Haar, schlüpfte neben ihr ins Bett und die kühle Haut ihrer Schwester verriet ihr natürlich, dass sie eine Weile am Fenster gestanden hatte. Wenn sich Sadie irgendwann nicht länger zurückhalten konnte, begann sie in der Dunkelheit ihre Schwester unerbittlich auszufragen – wer alles dort war, welche Musik gespielt wurde –, doch Hannah antwortete jedes Mal, sie solle endlich den Mund halten, sie habe Kopfschmerzen.

Bald wurde Sadie klar, dass etwas nicht stimmte. Johns Mutter war offenbar außer sich vor Wut, schließlich sollte ihr Sohn auf die Universität gehen. Ihre eigene Mutter würdigte Hannah keines Blickes mehr. Kurz darauf bat Hannah Sadie, John zu holen, er solle schnell nach Berllan-Deg kommen, woraufhin Sadie heimlich durch den Obstgarten verschwand. Doch als sie mit ihm zurückkam, war es bereits zu spät. Ihre Eltern waren mit Hannah in die Stadt gefahren. Sadie wartete in ihrem Zimmer, das Kinn auf die angewinkelten Knie gelegt, bis sie zurückkehrten, und das Einzige, was sie dann tun konnte, war, Hannah Gesellschaft zu leisten, während sie zusammengerollt auf dem Bett lag. Dann kam die Blutung, die unaufhörliche Blutung, sodass selbst ihre Mutter ganz blass wurde, und dann das Fieber und die Infektion, das Herzflattern und das Krankenhaus. Die Dringlichkeit einer Behandlung bekam Vorrang vor der Befürchtung, dass, wenn es die örtlichen Krankenschwestern wüssten, bald das ganze Dorf Bescheid wissen würde. Die folgenden Monate brachte Sadie damit zu, Hannah vorzulesen, während diese in den herbstlichen Obstgarten hinausstarrte.

Als es Hannah endlich wieder gut genug ging, dass sie die Treppe hinuntersteigen konnte, war sie nicht mehr dieselbe. Sie wirkte völlig teilnahmslos. John hatte sie besucht, ehe er zum Studium fortging. Sadie erinnerte sich noch gut daran. Ihr Vater war im Obstgarten geblieben, wo er Holz hackte, und ihre Mutter hatte Tee gemacht, aber nur Tee, ohne ihm auch nur Brot mit Butter anzubieten, das Mindestmaß an Gastfreundschaft. Sadie war hinausgegangen und lauschte neben dem Wohnzimmerfenster mit dem Rücken an der Mauer ihrer Unterhaltung.

John war weggezogen, um Sprachen zu studieren, genau wie seine Mutter es wollte, aber er kam in den Sommerferien immer nach Hause. Er konnte anscheinend sein Leben ganz normal weiterführen, während Hannah von ihrer Mutter und den Leuten von der Kirche wie eine Besudelte behandelt wurde. Das Getuschel war nicht zu überhören.

Was Sadie am meisten ärgerte, war, dass John nach dem Studium zurückkehrte und sie trotzdem heirateten. Sadie steckte man in ein hochgeschlossenes Kleid, doch ihre Mutter wirkte noch immer nicht zufrieden. Das war ganz und gar nicht so, wie es hätte laufen sollen, wurde sie nicht müde, Hannah vorzuhalten. Nach kurzen Flitterwochen an der Küste zog das Paar bei ihnen zu Hause ein. Das Zusammenleben war angespannt, und Sadie war heilfroh, als sie ihr Elternhaus endlich verlassen konnte.

Schritte kamen die Treppe herunter. Sadie hörte, wie Hannah Asche aus dem Kamin in der Küche kratzte. Dann sah sie ihre Schwester durch die offen stehende Bürotür mit einem Eimer durch die Haustür hinausgehen. Sadie folgte ihr ins Freie, wo Hannah einige der Bäume umkreiste und dabei Asche auf die Erde streute. Ein alter Brauch, der den Bäumen guttat, eine Art Zurückgeben. Und zwar streute Hannah die Asche nicht unmittelbar neben dem Stamm aus, sondern in einem größeren Kreis, dort wo die Zweige endeten, weil sie wusste, dass die Wurzeln bis dorthin reichten. Es war ein windstiller Tag, sodass die Asche nicht verwehte, während sie ihre Kreise zog. Sadie dachte an den Tag zurück, als ein Baum vom Sturm umgeweht worden war. Sie und Hannah waren hingegangen, um sich die Wurzeln anzusehen, die nach oben ragten, ein obszöner Anblick irgendwie. Damals dachte Sadie, dass ein Baum aus zwei Bäumen bestünde, zwei Leben im Grunde – einem, das man sehen konnte, und einem, das unsichtbar war.

Hannah richtete sich auf und kam zum Haus zurück.

»Es fühlt sich an, als wäre es eine Ewigkeit her, stimmt’s?«

Hannah sah sie an.

»Als wir Kinder waren, meine ich … der Pfarrer hat bei der Beerdigung über den Garten Eden gesprochen.«

Hannah blickte in den dunkler werdenden Himmel.

»Dabei war es kein normaler Garten.«, fuhr sie fort. »Es war ein Obstgarten.«

4

Trauer war eine Lektion, die Hannah jeden Tag wieder und wieder lernen musste. Denn auch wenn ihr die Tatsache von Johns Tod bewusst war, war ihr nicht bewusst gewesen, was er bedeutete. Bisweilen ertappte sie sich dabei, wie ihre Gedanken abschweiften; zum Beispiel wanderte ihr Blick unvermittelt durch die Küche, und sie dachte, sie müsse seine Jacke waschen, nur um sich wieder daran zu erinnern, dass er nicht mehr da war. Nachts legte sie in der Dunkelheit die Hand auf seine Seite des Bettes, und wenn sie nur die bloße Matratze ertastete, fiel ihr wieder ein, dass er tot war. Oder sie dachte, sie müsse ihm unbedingt etwas sagen, vielleicht sogar etwas im Zusammenhang mit seinem Tod, und erinnerte sich daran, dass er nicht mehr da war. Dann schüttelte sie angesichts dieser Absurdität den Kopf und versuchte, die aufsteigende Übelkeit zu unterdrücken. Es war, als würde das Verständnis, was sein Tod bedeutete, ganz allmählich in tausenden trägen Tropfen auf sie herabregnen.

Am Vortag hatte sie seine Kleider in Kartons verpackt, hatte die Taschen der Anzüge, die er für feierliche Anlässe aufbewahrt hatte, durchsucht und Taschentücher und Einladungen zu Empfängen gefunden, bei denen sie vor Jahren gewesen waren. Oder eine Krawatte, die er nach dem formellen Teil des Abends gelockert und auf dem Heimweg schließlich abgenommen und eingesteckt hatte. Die Pullis mit V-Ausschnitt, die er zu Hause immer anhatte, weil er keine hochgeschlossenen Kragen ertrug; die alten, an den Ellbogen ausgebeulten Tweed-Sakkos. Sie hatte inmitten der aufsteigenden Erinnerungen alles in Kartons gestopft und sich bemüht, nicht zu denken, sich nicht zu verlieren.