Wildhexe - Chimäras Rache - Lene Kaaberbøl - E-Book

Wildhexe - Chimäras Rache E-Book

Lene Kaaberbol

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Beschreibung

Die Wildhexe Clara hat seltsame Träume, in denen ihr Flügel und Krallen wachsen oder sie wie eine gierige Natter über den Boden kriecht. Als sie aufwacht, liegt sie nicht im Bett, sondern ist auf Beutejagd. Eine tote Seele, die mit aller Macht zurück ins Leben drängt, hat von ihr Besitz ergriffen. In Claras Visionen ist es ein Mädchen namens Kimmie. Und natürlich steckt keine andere dahinter als die böseste aller Hexen: Chimära. Zusammen mit Kahla, der begabten Wildhexenschülerin, wagt Clara ein gefährliches Abenteuer. Allerdings ohne ihren Wildfreund Kater, denn das Wesen, das die Tiere bedroht, hat ihn bereits angefallen. Das dritte spannende Abenteuer der sympathischen Wildhexe.

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Seitenzahl: 170

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Lene Kaaberbøl

WILDHEXE

Chimäras Rache

Aus dem Dänischen

von Gabriele Haefs

Carl Hanser Verlag

Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel

Vildheks – Kimæras Hævn im Alvilda Verlag, Kopenhagen.

Published by agreement with Lars Ringhof Agency ApS, Copenhagen

ISBN 978-3-446-24703-1

© Lene Kaaberbøl 2011

Alle Rechte der deutschen Ausgabe:

© Carl Hanser Verlag München 2014

Umschlaggestaltung: Stefanie Schelleis, München

Umschlagmotiv und Vignetten: Bente Schlick

Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch

Unser gesamtes lieferbares Programm

und viele andere Informationen finden Sie unter:

www.hanser-literaturverlage.de

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Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

WILDHEXE

1  SPATZENHERZ

Ich war ein Vogel. Kleine graubraune Spatzenflügel trugen mich durch die Luft, ich schlüpfte zwischen Zweigen und Blättern ein und aus, und es war Frühjahr, oder fast, es duftete erdig und frisch, und an den Zweigen saßen zarte Knospen, in die ich picken konnte.

Eigentlich wusste ich ja, dass ich träumte. Wusste sehr wohl, dass ich im Alltag kein Spatz war, sondern ein Mädchen namens Clara, das weder Flügel noch Schnabel hatte und Weidenknospen und Samenkapseln für kein geeignetes Frühstück hielt. Aber zugleich flog ich eben durch den Wald und spürte das Frühjahr um mich herum, spürte die Anstrengung bei den Flügelschlägen, merkte, wie meine kleinen Krallen sich automatisch um die dünnen Äste schlossen, wenn ich irgendwo landete, um mit dem Schnabel in eine saftige Knospe zu hacken.

Dann entdeckte ich etwas unten auf dem Waldboden. Eine Beere. Eine orangerote, nur ein wenig eingetrocknete Vogelbeere, die noch niemand angepickt hatte. Das war selten in dieser Jahreszeit, und mein kleiner Spatzenmagen knurrte bei ihrem Anblick. Trotzdem flog ich nicht sofort hinab. Denn die Beere lag neben … etwas. Ich war nicht sicher, was das war. Wusste nur, dass es anders war, dass es in diesem lebenden Frühlingswald nichts zu suchen hatte. Es war von toten Blättern bedeckt. Die waren nicht nur welk, sie waren tot. Graue Blattrippen ganz ohne Farbe, abgezehrte Blattskelette ohne Leben.

Dass Blätter verwelken und von den Bäumen herabfallen, war mir ja nichts Neues. Das passierte jedes Jahr, zur großen Freude von Käfern und Regenwürmern und jeder Menge anderer leckerer und knuspriger kleiner Insekten. Das hier war … etwas anderes. In den abgenagten Blattskeletten gab es kein Insektenleben, nichts, was dort krabbelte und knabberte und rumorte.

Das gefiel mir überhaupt nicht. Aber … Vogelbeeren aß ich ungeheuer gern. Und diese Beere sah immer verlockender aus, je länger ich sie anstarrte. Die orangerote Farbe rief: »Ich bin lecker!«, der Duft rief: »Komm, iss mich!«, alles daran war so knackig und süß und beerenhaft, und die vielen guten Herbstbeeren waren schon längst alle weggepickt worden, vom Strauch gepflückt und verspeist.

Ich flog auf die alleruntersten Zweige hinab. Die Beere war nur einige Flügelschläge entfernt …

Ach, ach, ach, ich wollte sie so gern haben …

Aber das sollte mir nicht gelingen.

Meine Flügel erstarrten. Meine Krallen zogen sich zweimal zusammen und ließen dann den Zweig los. Ich schwankte und stürzte ab und konnte die Flügel nicht gerade machen, ich konnte mich nicht bewegen, mich retten, irgendetwas tun. Mein Spatzenherz hämmerte gegen alle meine hohlen Brustknochen, das Blut dröhnte in meinen Adern, aber dennoch … dennoch konnte ich mich nicht bewegen. Etwas hatte mich gepackt, etwas, das unsichtbar, aber hungrig und umwerfend stark war, es lähmte mich, presste das Leben aus mir heraus, die Federn wurden aus meinen Flügeln gerissen, meine Knochen zerbrachen wie Streichhölzer. Ich landete mit einem dumpfen Aufprall auf den toten Blättern, und das Letzte, was ich sah, ehe meine Augen platzten, waren der umgekehrte Himmel, die grauen Blattrippen und die feuerrote Beere, die ich niemals, niemals würde erreichen können.

»Clara!«

Ich fuchtelte mit den Armen. Traf etwas Hartes und Kantiges. Hatte Arme, keine Flügel. Stand auf, schwindlig und schwankend auf weichen Spaghetti-Beinen, und musste mich festhalten, um nicht umzufallen. Meine tastenden Hände schlossen sich um eine Handvoll Windjackenstoff, und ich klammerte mich an die Jacken, die vor dem Biosaal der Grønvangschule an den Haken hingen.

»Was ist denn los mit dir?«, fragte Oscar. »Ist dir schlecht oder so was? Du siehst ganz seltsam aus im Gesicht.«

Wenn es nicht Oscar gewesen wäre, hätte ich sicher nichts gesagt. Aber er wusste ja ohnehin schon fast alles. Dass ich eine Tante hatte, die Wildhexe war, dass ich selber immerhin eine Art Wildhexe war, wenn auch keine besonders gute, und dass seit dem Tag, an dem Kater meine Stirn zerkratzt und mit seiner bloßen heißen Katzenzunge mein Blut abgeleckt hatte, mein Leben auf dem Kopf stand.

»Ich war ein Vogel«, rutschte es mir heraus. »Ich bin herumgeflogen und war ein Vogel, aber dann … dann bin ich gestorben.«

Hinter mir kicherte jemand. Josefine K., natürlich. Eine von den nervigeren Mädchen aus meiner Klasse.

»Clara meint, sie ist ein Vogel«, sagte sie sehr laut. »Hast du dich gerade in einen verwandelt, oder was? Entschuldigung, aber ich hab meine Zweifel, dass dir das wirklich gelungen ist. Kannst du nicht mal kurz mit den Flügeln schlagen, damit wir das auch sehen können?«

Ich konnte mich einfach nicht darauf konzentrieren, ihr zu widersprechen oder irgendeinen lockeren Spruch anzubringen, auch wenn ich nur zu gut wusste, dass das das Klügste sein würde. Mein eigenes Herz hämmerte ebenso sehr wie vorhin das Spatzenherz, und ich musste ganz schnell meine Augenlider mit den Fingerspitzen berühren, um ganz sicher zu sein, dass unter der weichen Haut Augäpfel waren, rund und unversehrt, nicht zerquetscht wie eine Beere, auf die jemand getreten ist. Was hatte den Spatz nur umgebracht?

Und warum – warum träumte ich, während ich eigentlich hellwach war? Wie kam das? Im einen Moment stand ich zusammen mit Oscar auf dem Gang, im nächsten …

»Clara.« Oscar berührte meinen Arm. »Soll ich einen Lehrer holen oder irgendwas machen?«

»Nein. Nein, ist schon gut. Ich … war nur in Gedanken.«

Er konnte mir ansehen, dass das gelogen war, aber er sagte nichts. Es war seine Schuld, dass die anderen mich neuerdings aufzogen, nicht nur damit, dass wir ein Paar wären – das waren wir nicht, wir waren einfach nur die allerbesten Freunde –, sondern auch damit, dass ich eine Hexe sei. Das heißt, sie zogen mich auf, weil sie glaubten, ich glaubte, ich sei eine Hexe und beherrsche alle möglichen Zauberkünste. Oscar hatte es aus Versehen Theis aus seiner Klasse erzählt, und natürlich hatte Theis dieses Geheimnis nicht für sich behalten können, und jetzt wusste es die ganze Schule. Abgesehen davon kapierten sie natürlich rein gar nichts und hatten keine Ahnung, was eine Wildhexe wirklich war und was sie konnte und nicht konnte.

Im Moment konnte ich offenbar nicht einmal vor meinem Klassenzimmer auf dem Flur stehen, ohne in einen Vogel verwandelt zu werden. Unglaublich mieser Start in den Tag.

»Geh du nur«, sagte ich zu Oscar, denn ich wusste, dass er jetzt eigentlich Musik hatte. »Wir reden nachher weiter.«

Er schaute sich zweimal um, als er ging, aber trotzdem ging er. Er wusste natürlich so gut wie ich, dass es besser war, wenn wir uns nicht zu seltsam aufführten. Seit Oscar zwei Tage verschwunden war, nachdem Chimära ihn entführt hatte, glaubte seine Mutter, wir hätten zusammen ein komplett durchgeknalltes Rollenspiel laufen, und sie meinte, es »bringt sein Wirklichkeitsempfinden durcheinander«, wie sie sich ausdrückte. Eigentlich wollte sie nicht, dass wir so oft zusammen sind, und sie schickte den armen Oscar an jedem zweiten Mittwoch in irgendeine Therapie.

Ich lehnte mich verstohlen an die kühle Wand und versuchte, so zu tun, als sei rein gar nichts passiert. Josefine K. war drauf und dran, noch ein paar kluge Sprüche abzulassen; sie erzählte bereits Ina aus unserer Parallelklasse etwas über Vögel und Flügel und Claras komische Einfälle.

Ich versuchte wirklich, mir nichts anmerken zu lassen, aber ich war traurig und ich hatte Angst. Traurig, weil … weil es zwar nur ein Traum gewesen, er mir aber so wirklich vorgekommen war. Das Spatzenherz war gebrochen, der kleine Vogel war tot. Und ich musste einfach um ihn trauern.

Angst hatte ich, weil … ich noch nie im Stehen geträumt hatte. Was sollte das bedeuten? Und was, wenn es doch nicht nur ein Traum gewesen war?

2  DACHSE UND ANDERE TIERE

Der Frühling war im Anmarsch – nicht nur im Wald aus meinem Spatzentraum, sondern auch in Wirklichkeit. Die Forsythien leuchteten gelb vor den nassen Hauswänden, und Sonnenstrahlen ließen die Regenwasserpfützen auf den Kieswegen im Stjernepark glitzern. Ich hatte mich auf eine feuchte Bank gesetzt, während Oscar pflichtschuldig mit Luffe, seinem schwarzen Labrador, Luffes übliche Pinkelstrecke ablief. Kater saß neben mir auf der Bank und schaute dem Hund mit einem Ausdruck überlegener Verachtung hinterher.

»Kater?«, flüsterte ich.

Was?

Die Antwort kam träge und auf irgendeine Weise wie hingeworfen. Manchmal klang seine Stimme in meinem Kopf durch und durch so, als ob er niemals etwas anderes gemacht hätte, als auf einem Plüschsofa zu liegen und Sahne zu schlecken, dann wieder war sie rau und fauchend und man hätte ihn für den größten und gemeinsten Hinterhofkater halten können, der jemals in einem Kampf um eine Mülltonne seine Krallen in einen Widersacher geschlagen hatte. An diesem Tag war es die Plüschsofastimme.

»Ich glaube … Ich glaube, ich muss mit Tante Isa sprechen.« Ich hatte den ganzen Tag an den Spatz gedacht. Nicht ununterbrochen, es passierten natürlich auch jede Menge normaler Sachen, Unterricht und Mittagessen und Pause und Alltagsgerede, aber zwischendurch. Jedes Mal wenn nichts anderes anlag.

Kater fragte nicht, warum. Er sprang auf meinen Schoß und schnupperte an meinem Kinn, meiner Nase, meinen Augen und meinen Haaren. Er setzte sich für einen Moment auf sein starkes breites Hinterteil und legte die rechte Pfote auf meine Schulter. Dann berührte er vorsichtig mit der linken, ohne Krallen, die Stelle zwischen meinen Augenbrauen, wo er mir ein halbes Jahr zuvor die Wunde verpasst hatte, die jetzt zu weißen, fast unsichtbaren Narbenstreifen verblasst war.

»Was machst du?«, fragte ich leicht nervös.

Er gab keine Antwort. Und es passierte eigentlich auch nichts. Nichts anderes jedenfalls, als dass ich wieder wusste, wie es gewesen war, der Spatz zu sein, im Augenblick seines Todes. Was ja eigentlich auch reichte. Ein Zittern lief durch meinen Körper und meine eine Hand jagte zu meinem Herzen hoch, während die andere versuchte, meine Augen zu beschützen.

Kater fauchte und blies sich auf, sodass sein Fell sich überall sträubte. Er war ohnehin schon groß, fast so groß wie Luffe, aber wenn er sein Fell auf diese Weise aufstellte, wurde er einfach riesig. Seine goldenen Augen funkelten.

Komm, sagte er.

»Jetzt? Aber …«

Jetzt.

»Aber … Oscar. Mama. Ich muss doch wenigstens sagen …« Aber mit Kater kann man nicht diskutieren. Er begreift einfach nicht, dass man zur verabredeten Zeit zu Hause sein und sagen muss, wo man hingeht. Vielleicht ist es ihm ja auch einfach nur egal.

Er sprang mit einem geschmeidigen Katzensprung auf den Weg, und plötzlich konnte ich weder Oscar noch die Forsythien oder den Park um mich herum sehen. Alles war verschwunden in dem dichten Nebel, der bedeutete, dass wir schon auf den wilden Wegen waren, obwohl ich noch immer die Bank unter mir spürte.

»Kater! Nein!«

Komm.

Mir blieb nichts anderes übrig. Wenn ich eine richtige Wildhexe gewesen wäre, hätte ich selbst entscheiden können, ob ich auf die wilden Wege wollte oder nicht, und ich hätte mich dort auch selbst zurechtfinden können. Aber so, wie es jetzt war, konnte ich nicht einmal ohne Hilfe zu Tante Isa finden, und wenn Kater jetzt sagte, dann passierte es eben jetzt.

Es dauerte nur einen Augenblick. Obwohl Tante Isa ungefähr so tief im Wald wohnte, wie man überhaupt nur wohnen konnte – wenn man mit dem Auto zu ihr wollte, bedeutete das viele Stunden auf überaus schlechten Wegen –, konnte ich gerade noch eine eilige SMS an Oscar schreiben, und schon waren wir da.

»Clara, Clara, sieh mal! Ich kann fliiiiiiegen!«

Ein zerzaustes Federbündel kam angeflattert und traf meine Schulter.

»Huch. Entschuldigung«, sagte Nichts atemlos. »Ich kann … noch nicht so gut … landen.«

Nichts war ungefähr so groß wie eine Eule und hatte graubraune Federn und kurze Stummelflügel, aber statt Krallen Menschenhände und ein kleines verlorenes Mädchengesicht, in dem man unwillkürlich Schnabel und Raubtieraugen erwartete. Chimära hatte sie erschaffen – Nichts nannte sie »Mutter«, und das war wohl auch irgendwie richtig –, aber Chimära fand sie dermaßen missraten und so komplett unbrauchbar, dass sie keinen Namen verdiente außer Nichts. Ihr Leben hatte sie vor allem in einem Käfig verbracht, weil Chimära es satthatte, dass Nichts die ganze Zeit versuchte, ihr zu folgen. Nichts konnte sich die Federn nicht selber putzen, und da sie zudem allergisch gegen Staubmilben war, nieste sie ziemlich oft und ihre Augen tränten ununterbrochen. So war es jedenfalls bisher gewesen.

»Du siehst aber gut aus!«, rief ich spontan, auch wenn Nichts gerade auf dem Hintern im feuchten Gras saß und leicht ungeschickt mit den Flügeln schlug, um wieder auf die Beine zu kommen.

»Findest du?«, fragte sie. »Wirklich?«

»Ja.« Die graubraunen Federn glänzten und das Brustgefieder war nicht mehr mit Rost und Tränenresten dauerverschmiert. »Und du kannst fliegen!«

»Ja!« Sie schlug noch eifriger mit den Flügeln und erhob sich zwei Meter über den Boden. »Ich bin noch immer … schnell außer Atem … aber es geht … besser!«

Tumpe kam über den Hofplatz galoppiert und bellte und wedelte mit dem Schwanz und benahm sich, als könnte es auf der ganzen Welt nichts Schöneres geben als einen Besuch von mir. Tante Isa kam hinterher, ein wenig langsamer und nicht ganz so überschäumend, aber sie lächelte immerhin herzlich.

»Clara! Das ist aber eine Überraschung. Weiß deine Mutter, dass du hier bist?«

»Äh … nein. Das kam ein bisschen plötzlich.«

»Stimmt etwas nicht?«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht so recht. Es … es ist eigentlich nur ein Traum. Aber ein seltsamer. Und Kater meinte, ich hätte keine Zeit zu verlieren.«

Tante Isa musterte Kater aus zusammengekniffenen Augen.

»Warum nicht?«, fragte sie, und damit war Kater gemeint. Aber der schlug nur mit dem Schwanz hin und her und sah stumm und katerhaft aus.

Tante Isa kniff die Lippen zusammen. »Hm. Tja. Das muss ja wohl passieren, wenn man einen Kater als Wildfreund hat. Trotz allem haben die Katzen das mit dem ›die eigenen Wege gehen‹ erfunden. Komm rein. Dann können wir immer noch hochgehen und deine Mutter anrufen.«

Tante Isa wohnte so mehr oder weniger in einem Funkloch – man musste auf den Hügel hinter Steinhaus und Stall klettern, um ein Netz zu finden. Ansonsten lag das Wildhexenhaus so ziemlich in seiner eigenen Welt, in einem Tal zwischen bewaldeten Anhöhen, mit einer Wiese und einem kleinen Bach, und dunklen Tannen und braunem Wald auf allen Seiten.

Unten vor der Treppe stand eine Schüssel mit Igelmilch, und an den Apfelbäumen hingen selbst gemachte Meisenkugeln und Futterbretter, genug für ein ganzes Vogelheer. Zwei Grauenten watschelten über den Hofplatz und platschten in den Pfützen und achteten scheinbar weder auf Tumpe noch auf Kater. Es bestand aber auch kein Grund zur Sorge. Tumpe war zu gutmütig und wohlerzogen, um ihnen etwas zu tun, und Kater hielt Enten-Attentate offenbar für unter seiner Würde. Aus dem Stall ließ Tu-Tu, Tante Isas Eule, ein verschlafenes Tjiiirp hören, sicher saß sie auf einem Balken und versuchte, sich bei einem ausgedehnten Tagesschlaf zu erholen.

Ich ging hinter Tante Isa her auf den Gang, hängte meine Daunenjacke an den Haken und streifte die Stiefel ab. Es stand schon ein Paar dort, das ich gut kannte.

»Ist Kahla hier?«, fragte ich. Kahla war bei Tante Isa in Wildhexenlehre und kam jede Woche einige Tage.

»Ja«, sagte meine Tante, »aber sie sitzt an einer Aufgabe, deshalb darfst du sie nicht ansprechen, solange sie selbst nichts sagt.«

Und tatsächlich. Im Wohnzimmer, an dem großen Arbeitstisch, saß Kahla, wie immer eingemummelt in sieben oder acht knallbunte Kleidungsschichten und mit einer gestreiften Mütze auf den pechschwarzen Haaren, obwohl es im Haus warm war. Sie hatte die Augen geschlossen, hielt in der rechten Hand aber einen Bleistift, den sie ab und zu mit einem jähen Ruck über den vor ihr liegenden Zeichenblock bewegte.

Ich hatte sie schon lange nicht mehr gesehen. Wir waren wohl inzwischen so etwas wie Freundinnen, auch wenn unsere erste Begegnung in dem Herbst, als Tante Isa mir das Überleben als Wildhexe hatte beibringen wollen, nicht gerade verheißungsvoll gewesen war. Kahla war tüchtig. Sie konnte alles, was ich nicht konnte, und es war manchmal hart, nicht neidisch zu werden, weil alles, was ich nicht konnte, ihr so leichtfiel. Anfangs hatte sie auch nicht verborgen, dass sie es ungeheuer nervig fand, mit einer Anfängerin zusammenarbeiten zu müssen. Aber sie hatte mir dann doch geholfen, als ich ihre Hilfe brauchte, und seither ging alles besser.

Es war schon seltsam, an ihr vorbeizugehen, ohne Hallo oder so zu sagen, aber ich glaube, sie bemerkte uns wirklich nicht. Abgesehen von der Hand mit dem Bleistift, saß sie so still da, als wäre sie wie irgendein Gartenzwerg aus Gips gegossen.

»Was macht sie denn?«, flüsterte ich Tante Isa zu.

»Du brauchst nicht zu flüstern«, antwortete Tante Isa. »Du darfst nur ihren Namen nicht nennen, das könnte sie stören. Sie ist auf Wildreise. Sie leiht sich Augen und Ohren von den Tieren, bei denen sie zu Gast sein darf.«

»Ich dachte, man müsste …« Ich griff mir an die Narbe auf meiner Stirn. Deshalb hatte Kater mich zerkratzt und mein Blut abgeleckt – damit wir einander verstehen könnten. »… also, dass Blut dazugehört.«

»Blut bindet. Es schafft eine Verbindung, die nicht so leicht wieder gelöst werden kann. Was sie da tut, ist etwas anderes. Sie ist nur ein Gast, eine Fremde, die zu Besuch kommt, solange das Tier sie aufnehmen mag. Wenn sie es verlässt, gibt es kein Band und vielleicht nicht einmal eine Erinnerung daran, dass sie dort war.«

Mir fiel auf, wie sorgfältig Tante Isa es vermied, Kahlas Namen auszusprechen. Tumpe ließ Kahla ebenfalls in Ruhe, und Nichts flatterte in einem großen unsicheren Bogen um sie herum, um dann ziemlich wackelig auf einem der abgenutzten Sessel zu landen.

»Puuuhhhh!«, sagte sie. »Fliegen ist schwer.«

Tumpe sprang auf das Sofa, wie es seine Gewohnheit war. Er hatte einen Hundekorb, benutzte ihn aber nur selten. Und im Moment war der Korb auch besetzt. Von einem breiten, flachen schwarz-weißen Kopf und einem breiten grauen Rücken.

»Ist das ein Dachs?«, fragte ich.

»Ja«, sagte Tante Isa. »Sie wurde von einem Auto angefahren und hat sich die Hüfte gebrochen. Die ist jetzt fast verheilt, aber sie kann noch nicht allein zurechtkommen, und außerdem bekommt sie bald Junge.«

Jetzt sah ich auch, dass die Dachsdame nicht nur einfach dachsbreit war. Sie schielte übellaunig in meine Richtung und rollte sich um ihren dicken Bauch zusammen. Ich weiß nicht so ganz, wie willkommen ich gewesen wäre, wenn sie das hätte entscheiden können.

»Es sind ja Nachttiere«, sagte Tante Isa leicht verlegen. »Sie möchten vor allem Ruhe und Frieden, damit sie schlafen können, solange es hell ist. Aber setz dich jetzt und erzähl, warum du gekommen bist.«

Ich quetschte mich neben Tumpe auf das Sofa und fing an, von meinem Spatzentraum zu berichten. Tante Isa sagte kein Wort, bis ich fertig war.

»Was war das denn bloß?«, fragte ich.

Tante Isa schaute zu Kahla hinüber, die noch immer für ihre Umwelt verloren war.

»Seltsamerweise klingt das wirklich wie eine Wildreise«, sagte sie. »Als ob du bei dem Spatz zu Gast warst, ohne das eigentlich zu wollen.«

»Meinst du … das ist wirklich passiert?«

»Das ist durchaus möglich.«

Ich spürte Eiseskälte im Bauch und um mein Herz. Ich wusste sehr gut, dass immer wieder kleine Tiere sterben, wusste sehr gut, dass große Tiere kleine Tiere fressen und dass ich lernen musste, mit diesem Teil der wilden Welt zu leben, wenn ich Wildhexe sein wollte. Aber das hier war etwas anderes.

»Tante Isa …«

»Ja?«

»Wenn das tatsächlich passiert ist … was glaubst du dann, was den Spatz umgebracht hat?« Die Knochen, die wie nichts zerbrochen waren, das Herz und die Augen, die zerquetscht wurden, und dennoch war der Mörder jemand, den der Spatz weder hören noch sehen oder riechen konnte.

»Ich weiß es nicht«, sagte Tante Isa. »Aber ich glaube, wir müssen das herausfinden.«

3  HOCH FLIEGEN

Leg dich hin und sei ganz locker«, sagte Tante Isa. »Du bist an so was nicht gewöhnt, und es ist ja wohl nicht nötig, dass du fällst und dich verletzt.«