Willkommen im Reich der Gegensätze - Britta Heidemann - E-Book

Willkommen im Reich der Gegensätze E-Book

Britta Heidemann

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Beschreibung

Wenn Britta Heidemann durch ihre Lieblingsstadt Peking schlendert, merkt sie an jeder Ecke: Chinesen ticken einfach anders. Ein Verkehrsunfall wird zur munteren Diskussionsrunde, an der sich Passanten rege beteiligen, die Wartenden an der Bushaltestelle sind allesamt in Tiefschlaf gefallen und im Park halten sich Rentner mit Tanzen und Tai-Chi fit. China hat sich in kürzester Zeit vom Agrarstaat zur Wirtschaftsmacht entwickelt. Dieser Wandel spiegelt sich auch im Alltag der Metropole Peking wieder. Britta Heidemann nimmt uns mit auf einen Rundgang durch alte Gassen, moderne Einkaufstempel und traditionelle Restaurants. Sie erklärt kulturelle Hintergründe, erläutert sozioökonomische Zusammenhänge, bricht mit manchem Vorurteil und staunt selbst immer wieder über das vielseitige Reich der Mitte.

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Inhalt

TitelImpressumWidmung1 Peking, ich komme!2 Konfuzius lässt grüßen3 Rikschafahrt in die Zukunft4 Wunder der Zeichen5 Hund, Katze, Tee6 Grüne Taxifahrt7 Im Olymp der Fußmassage8 Auf die Freundschaft!DankBildteil

Britta HeidemannGerrit Heidemann, Oliver Harms

Willkommen im Reich der Gegensätze

China hautnah

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Copyright © 2014 by Bastei Lübbe AG, Köln

Fotos im Tafelteil: Alle Bilder © Privatarchiv Heidemann,

außer Bilder 34, 35: © Markus Gilliar/GES-Sportfoto

Textredaktion: Regina Carstensen, München

Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München

Einband-/Umschlagmotiv: © shutterstock/Saruri, © laif/Jan Siefke, © awl-images.com

E-Book-Produktion: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-8387-5847-3

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Unseren Eltern

1

Peking, ich komme!

Vom Eselsfuhrwerk zum Transrapid – Freddy Quinn und Hongkong – Smileys bei der Einreise – Der große Sprung nach vorn – Hauptsache, eine Katze fängt Mäuse

Gelandet. Der Flieger wirft beim Abbremsen der Maschine die Schubumkehr an, und ich halte meine Unterlagen fest, die ich gerade als letzte Vorbereitung auf meine anstehenden Termine in Peking noch einmal durchgeschaut habe. Richtig intensiv habe ich mich allerdings nicht mit ihnen beschäftigen können, es war kaum möglich, sich zu konzentrieren. Mein links von mir sitzender chinesischer Nachbar hatte unüberhörbar sein Frühstück genossen, und die beiden Deutschen rechts von mir waren nicht eben leiser gewesen. Sie hatten sich heftig und ausgiebig über den ihnen ungewohnten chinesischen Verhandlungsstil ausgelassen. Gut, denke ich, dass ich zu Hause in Köln schon alles sorgfältig vorbereitet habe.

Ich schaue auf die Uhr. Es ist genau 8:30 Uhr, eine Punktlandung. Ich freue mich, dass ich heute noch den ganzen Tag frei habe, bevor morgen für mich die Arbeit losgeht – ein weiteres deutsches mittelständisches Unternehmen geht das Abenteuer China ein und hat mich als Moderatorin zur Einweihung seines ersten Unternehmensstandorts in Peking eingeplant.

An meinem chinesischen Nachbarn vorbei schaue ich aus dem Fenster in den diesigen Morgen und rätsle, ob das nun Smog oder Morgennebel ist, der sich während des Tages verzieht. Ich beschließe, einfach abzuwarten, ob sich tagsüber die Sonne zeigen wird oder nicht.

Wir rollen in Richtung Terminal 3, dem neuesten des mächtigen Hauptstadtflughafens, der mittlerweile nach dem internationalen Flughafen von Atlanta in den USA der zweitgrößte Passagierflughafen der Welt ist. Sicherlich kein bleibender Zustand. Vor kurzem erst konnte man in der China Daily, Chinas bekanntester englischsprachiger Tageszeitung, lesen, dass im Süden Pekings bis 2018 ein noch größerer Flughafen mit sieben Start- und Landebahnen fertiggestellt werden soll, da der jetzige den weiter stark anwachsenden Flugverkehr in der Metropolregion Peking langfristig nicht mehr bewältigen kann. Ein für China typisches Megaprojekt: Der vom Staatsrat bereits genehmigte Flughafen erwartet ein Passagieraufkommen von rund 120 Millionen pro Jahr und wird damit der größte Flughafen der Welt werden. Für uns Deutsche hört sich nach dem Debakel um den Berliner Flughafen die hierfür veranschlagte Bauzeit von fünf Jahren wie eine wundervolle Verheißung an. Doch China hat in den letzten Jahren immer wieder eindrucksvoll bewiesen, dass es Projekte dieser Größenordnung sehr gut und zielstrebig umsetzen kann.

Ich seufze laut. Es ist immer wieder schön, zurück in Peking zu sein. Denn langweilig wird es hier bestimmt nie: China hat den Quantensprung vom Eselsfuhrwerk zum Transrapid in nur einer Generation vollzogen. Man findet sich bei Reisen ins Reich der Mitte daher ständig mit teilweise ziemlich krassen Gegensätzen konfrontiert. In den Metropolen Peking und Shanghai wechseln sich etwa hippe Bars und modernste Wolkenkratzer in rascher Folge mit Schuhputzern in Mao-Anzügen und Rikschafahrern in Mandschu-Trachten ab. Kinder neureicher Chinesen, zwischen Tradition und Moderne pendelnd und von den Werten ihrer Eltern geprägt, sitzen in einem Starbucks und trinken dort einen Kaffee, dessen Preis dem Tageslohn in einem anderen entfernten Landesteil entspricht. In der unmittelbaren Nähe eines ultramodernen Fitnessstudios, das mit dem Konterfei des Hongkonger Actionstars Jackie Chan wirbt, sieht man, wie ältere Menschen noch immer der im Kaiserreich entwickelten Kunst des Schattenboxens, dem Tai-Chi, nachgehen.

Fährt man nur eine Stunde aus den riesigen Stadtzentren hinaus, so ändern sich der Lebensstandard und die Gewohnheiten erheblich, denn zwischen Stadt und Land verläuft ein gewaltiger Graben. Hier findet man eine komplett andere Welt vor, in der vor allem die jungen Menschen vom Leben in der Großstadt träumen. Es gibt aber auch die, die vielleicht gar nichts von der anderen Welt wissen wollen, und solche, deren Träume vom Leben in der Stadt bereits enttäuscht wurden und die als Verlierer der Reformen wieder aufs Land in den Kreis der Familie zurückkehrten. Dann, auf einer ganz anderen Ebene, gibt es noch die Welt der Regierungsvertreter, Parteikader und des Militärs, die im Alltag der »normalen« Chinesen kaum eine Rolle spielt. Das betrifft sowohl die mächtige Zentralregierung als auch die Regierungen in den Provinzen, die autonomen Regionen, die regierungsunmittelbaren Städte und die Sonderverwaltungszonen.

Immer wieder erstaunt mich auch der Vielvölkerstaat China mit seinen sechsundfünfzig nationalen Minderheiten, zu denen neben Tibetern und Mongolen ebenso Uiguren, Hui, Dai, Zhuang und andere Minoritäten zählen, die auf einer Fläche von sechzig Prozent des Staatsgebiets leben und von denen die meisten Menschen in Deutschland kaum etwas gehört haben. So entsteht aus all diesen verschiedenen Perspektiven ein kaleidoskopisches Bild, das sich mit jeder Veränderung, mit jeder Bewegung neu zusammensetzt. Wie oft schon habe ich gedacht: Diese Vielschichtigkeit Chinas ist nicht immer leicht nachzuvollziehen.

Hinter mir klappert es laut. Ich drehe mich um und sehe, wie die ersten chinesischen Fluggäste bereits vor Erreichen der endgültigen Parkposition unruhig ihre Habseligkeiten zusammensuchen und sogar über die am Gang sitzenden Passagiere steigen, um schnellstmöglich aussteigen zu können. Trotz meiner Müdigkeit muss ich grinsen. Mich amüsiert der vorhersehbare echauffierte Blick deutscher Fluggäste, während sich Chinesen aller Altersklassen mit einem netten Lächeln an ihnen vorbeizuquetschen versuchen und die unfreundlichen Reaktionen offenbar gar nicht einordnen können. Sie wollen doch nur an ihr Gepäck. Culture Clash pur! In China bewegt man sich ständig zwischen Verständnis und Missverständnis, erstaunlichen Parallelen und kulturellen Gegensätzen. Der ganz normale Beginn einer Chinareise.

Die deutschen Passagiere in dieser Maschine haben mit Sicherheit die unterschiedlichsten Erfahrungen mit diesem Land gemacht. Neben den zumeist erwartungsfrohen und teilweise skeptischen Touristen befinden sich, wie meine beiden rechten Sitznachbarn, einige Geschäftsleute an Bord. Von denen leben manche bestimmt als sogenannte »Expatriates«, kurz »Expats«, also als von deutschen Unternehmen nach China Entsandte, in Peking. Ihr Erfahrungsschatz basiert auf den Erlebnissen vor Ort und darauf, welche Facetten sie von diesem vielfältigen Land kennengelernt haben.

Mein Blick fällt auf ein älteres deutsches Paar schräg vor mir, der Mann hält einen Peking-Reiseführer in der Hand, die Frau nestelt nervös an ihrem Rucksack – es ist sicherlich ihre erste Reise ins Reich der Mitte. Selbst wenn man sich auf die neuen Eindrücke und die unbekannte Welt freut und bereit ist, alles vorbehaltlos aufzusaugen, so bleibt eine unbestimmte Aufregung oder auch ein gewisser Respekt vor dem Unbekannten. Ich kann das gut nachvollziehen und die Aufregung oder das mulmige Gefühl verstehen, das man verspürt, wenn man als Mitteleuropäer zum ersten Mal in exotisch erscheinende Länder reist.

Während ich weiter das ältere Paar betrachte, denke ich an meine ersten Tage in China, als ich mit meinen Eltern und meinem anderthalb Jahre jüngeren Bruder Gerrit in dieses Land kam, im Jahr 1997. Dabei war es ein absoluter Zufall gewesen, dass wir überhaupt nach China gereist sind.

Alles begann mit einem Ohrwurm: Ende 1996 wurde bei uns in der Familie der Osterurlaub für das nächste Jahr geplant, und zufällig hörte unsere Mutter im Radio den alten Freddy-Quinn-Schlager »Unter fremden Sternen«. Der beginnt mit den Zeilen: »Fährt ein weißes Schiff nach Hongkong, hab ich Sehnsucht nach der Ferne …« Danach war klar, wohin es gehen sollte, zumal der langjährige neuseeländische Freund unserer Eltern, Ken Robbie, den sie während ihrer Hochzeitsreise 1978 in Neuseeland kennengelernt hatten, damals mit seiner Familie in Hongkong wohnte.

Und so bekamen wir im April 1997 einen der letzten Anflüge auf den alten Flughafen Kai Tak von Hongkong mit, ein einzigartiges Erlebnis und kein Vergleich zu dem recht ruhigen Landeanflug gerade eben in Peking! Man hatte nach der scharfen Rechtskurve, nach der es im steilen Sinkflug hinter den Bergen Hongkong Islands auf die im Stadtviertel Kowloon gelegene Landepiste ging, das Gefühl, dass man die Wäsche von den Leinen abgreifen konnte, so nah waren wir den Hochhäusern beim Anflug – kein Wunder, dass ein Pilot unzählige Simulatorflüge hinter sich gebracht haben musste, um dort einschwenken zu dürfen.

Die Erinnerung daran beeindruckt mich bis heute: Ich war dreizehn, und zum ersten Mal in meinem Leben betrat ich den asiatischen Kontinent. Es war faszinierend zu sehen, wie sich Hochhäuser scheinbar mitten aus dem subtropischen »Dschungel« emporhoben und wie schnell man aus dem überfüllten Zentrum auf unberührte Inseln direkt vor der Küste Hongkongs gelangte.

Als wir im April dort ankamen, war Hongkong noch britische Kronkolonie. Erst am 30. Juni 1997, knapp drei Monate später, um Mitternacht, sollte sie wieder unter chinesische Verwaltung und Souveränität gestellt werden, aber eine Sonderverwaltungszone mit besonderem Rang bleiben. Für meine Eltern waren Hongkong und die Volksrepublik China allein schon psychologisch etwas völlig anderes. In die Volksrepublik wollten sie auf keinen Fall, dafür hatten sie zu viel Schlechtes gehört: Armut, Menschenrechtsverletzungen, Kindesentführungen, Speisen aus Hunde-, Affen- und Rattenfleisch. Das von den deutschen Medien gezeichnete Chinabild und die dadurch geschürten Ängste hatten sie voll im Griff.

Doch dann kam es anders. Unsere nach Hongkong geplante Reise nahm eine unvorhergesehene Wendung. Ken Robbie, der neuseeländische Freund, überredete unsere Eltern, trotz aller Bedenken einen kleinen Abstecher nach Südchina zu unternehmen. Er ließ Modewaren in China produzieren, um sie dann an bekannte Großabnehmer in Europa und den USA zu verkaufen. Um sein Büro und seine Textilfabriken zu besuchen, plante er eine Tour zunächst in die damalige chinesische Grenzstadt Shenzhen und dann nach Kanton – und wir sollten ihn begleiten. Meine Eltern beschlossen schließlich, ihre Furcht zu überwinden, und so reisten wir – nach einigen Tagen in Hongkong – in China ein, blieben erst in Shenzhen, fuhren dann mit dem Zug weiter nach Kanton und Guilin, und von Guilin aus flogen wir zurück nach Shenzhen. Eine Reise mit großen Folgen.

Tatsächlich überwältigte uns das damalige Südchina. Hinter der Grenze nahm uns die boomende Wirtschaftssonderzone Shenzhen mit seinen zu der Zeit zwei Millionen Einwohnern in Empfang. Vor dem Bahnhof bekamen wir einen ersten Eindruck von dem lauten, hektischen Leben in China, dessen Alltag bis heute auf der Straße stattfindet und nicht wie bei uns in den eigenen vier Wänden: lebhaft ausgetragene Diskussionen, die Luft voller unbekannter Gerüche, ständiges Hupen und Geklingel, alles um ein Vielfaches intensiver, lauter und lebendiger als in Deutschland. Wir sahen Friseure, die Haare auf der Straße schnitten, erblickten unter freiem Himmel aufgebaute Garküchen oder draußen arbeitende Handwerker. Unsere Eltern waren erschlagen von den vielen Menschen, wir Kinder hingegen fanden es einfach nur aufregend.

Unsere Mutter erinnert sich, dass ihr besonders das Gefühl unheimlich war, sich nicht mehr verständigen zu können und dies speziell deutlich wurde. Fuhren wir gerade noch im modernen und englisch beschilderten Schnellzug MTR bis zur im Norden von Hongkong gelegenen Grenzstation LoWu, wir Kinder fröhlich aufgeregt, unsere Eltern angespannt, überquerten wir im nächsten Moment den winzigen Grenzfluss, der Hongkong und China trennte. Die hohen Stacheldrahtzäune und vielen Wachtürme, die noch heute an die ehemalige Grenze erinnern, ließen den Schritt in Richtung Festlandchina damals noch dramatischer erscheinen. Als wir uns plötzlich auf der anderen Seite des sogenannten »tiefen Grabens« befanden, was auch die wörtliche Übersetzung des Städtenamens Shenzhen ist, waren überall nur noch chinesische Schriftzeichen zu sehen. Heute noch können sich unsere Eltern sehr genau daran erinnern, wie es ihnen dabei die Kehle zuschnürte.

Danach besuchten wir einige Fabriken, bekamen einen völlig anderen, ziemlich betriebsamen Arbeitsalltag mit einem scheinbar krassen Hierarchiegefälle mit und aßen unser erstes chinesisches Essen, das unglaublich opulent war, mit für uns völlig unbekannten Gerichten und den vielfältigsten Gewürzen. Kein Wunder, dass nach diesem überwältigenden Tag unseren Vater nachts eine solche Panik befiel, dass wir den Urlaub beinahe abgebrochen hätten. Mitten in der Nacht wachte er schweißgebadet auf und erklärte unserer Mutter, er würde am liebsten wieder umkehren. Die schiere Masse an Menschen, die vielen unbekannten Eindrücke und die potenziellen Gefahren, die hier vermeintlich zu lauern drohten, hatten ihn einfach umgehauen – ein klassischer Kulturschock. Mittlerweile kann unser Vater über diese Episode lachen, und er reist immer wieder gerne hierher.

Am liebsten würde ich das nervös wirkende Ehepaar beruhigen, das sich innerlich bestimmt auf einen ähnlichen Kulturschock vorbereitet – den es aber in Peking zumindest nicht wegen fehlender lateinischer Buchstaben erleiden wird! Denn in den größeren Städten Chinas ist die latinisierte Umschrift auf beinahe jedem Straßen- und Hinweisschild zu finden. Vielmehr wird es sich an seinen Abflugort Frankfurt erinnert fühlen, wenn es die Skyline von Peking sieht, nur in viel größerer Dimension. Wer hier ein China erwartet wie aus den Reiseberichten Marco Polos – der Sohn eines venezianischen Kaufmanns war 1271 siebzehnjährig nach Fernost aufgebrochen und ließ später, in einem Genueser Gefängnis, seine Erfahrungen, die er angeblich im China der Yuan-Dynastie gemacht hatte, von einem Mitgefangenen aufschreiben –, wird eines Besseren belehrt oder vielleicht auch enttäuscht: Bereits der in Form eines Drachens gestaltete Flughafen ist einer der modernsten der Welt und unterstreicht Chinas Anspruch, ein aufstrebendes Land zu sein. Diese »Visitenkarte«, die Peking jedem Besucher, der das Terminal betritt, übergibt, ist sehenswert und ein eindrucksvoller Willkommensgruß.

Am Pekinger Flughafen angekommen, muss man lange hochglanzbeflieste und mit Rollbändern ausgestattete Gänge entlanglaufen, bevor man zur Passkontrolle gelangt. Die meisten chinesischen Passagiere »joggen« diese Strecke bis dorthin eher, um mögliche Wartezeiten zu vermeiden. Ich lasse mich nach einem knapp neunstündigen Flug von der übersteigerten Geschwindigkeit wie in einem Rausch mitziehen, wodurch ich das ältere deutsche Paar aus den Augen verliere. Ich wünsche ihnen in Gedanken eine schöne Zeit im Reich der Mitte – und zwar ganz ohne Panik.

Irgendwann drossle ich mein Tempo und lasse mich von den Rollbändern tragen, ohne selbst einen Schritt zu tun. Mir fällt ein Erlebnis aus meiner ersten Chinareise ein, das sich mir seinerzeit besonders ins Gedächtnis einbrannte: Von Kanton aus fuhren wir mit dem Nachtzug knapp neunhundert Kilometer nach Norden in Richtung Guilin. Damals war diese Gegend mit ihrer atemberaubenden Natur noch nicht so touristisch überlaufen wie heute. Wir hatten einen sogenannten »harten Schlafwagen« gebucht, in dem sechs Personen in dreistöckigen Etagenbetten links und rechts von einem schmalen Gang schlafen konnten. Das war nicht ganz so komfortabel wie in einem »weichen Schlafwagen« mit richtigen Betten, aber deutlich besser als die gewöhnlichen Sitzplätze, die es auch im Angebot gab. Überrascht stellten wir fest, dass die Abteile der Schlafwagen keine Kabinentüren besaßen. Man kletterte einfach von dem Mittelgang aus direkt in seine Koje. Selbst beim Schlafen konnte man sich nie den Blicken der anderen entziehen. Das Fehlen einer Mindestdistanz, diese in unseren Augen drangvolle Enge, das Sich-nie-zurückziehen-Können schien uns damals typisch chinesisch zu sein. Als Kind habe ich es nur intuitiv gespürt, heute ist es mir bewusst: Chinas 1,4 Milliarden Menschen sind das Charakteristikum des Riesenreiches. So gibt auch jeder chinesische Taxifahrer, wenn man mit ihm die großen Entwicklungsfragen seines Landes beredet, die Weisheit »Zhongguoren tai duo!« – »In China gibt es einfach zu viele Menschen!« zum Besten.

Achtzehn Stunden Fahrt lagen vor uns. In den hypermodernen Hochgeschwindigkeitszügen, die heute das ganze Land durchziehen, ist selbst die mehr als doppelt so lange Strecke von Kanton bis nach Peking in unglaublichen acht Stunden zu schaffen. Aber 1997 gab es diese schnellen Züge noch nicht. Und so waren unsere Eltern besorgt, uns Kinder mit der langen Fahrt und der Enge zu überfordern. Wir allerdings waren begeistert und kletterten stundenlang auf den Dreietagenbetten um die Wette und spielten Karten, bis wir irgendwann erschöpft einschliefen.

Ich kann mich noch jetzt gut daran erinnern, wie überwältigend das Gefühl war, nach dem Aufstehen das erste Mal aus dem Fenster zu schauen und echte Reisfelder zu sehen, die ich bis dahin nur aus dem Fernsehen kannte. Als Erste wach, betrachtete ich auf dem einzelnen Fenstersitz im Gang minutenlang die vorbeifliegenden Felder und konnte nicht glauben, dass ich wirklich die Wasserbüffel sah, die von sonnengebräunten Bauern in blauen Mao-Anzügen – deren Bedeutung ich zu dieser Zeit noch nicht verstand – angetrieben wurden. Ich muss sagen, dass mir dieser Anblick – die vorbeirauschenden Reisfelder mit den im Nebel versinkenden, die südchinesische Region um Guilin prägenden, Karstkegelbergen – aus unserer ersten Chinareise am stärksten im Gedächtnis geblieben ist. Nicht von ungefähr ist diese außergewöhnliche Naturszenerie eines der häufigsten Motive der klassischen chinesischen Landschaftsmalerei.

Diese beeindruckende Reise mit dem lebendigen Treiben, der wundervollen Natur, dem schmackhaften Essen und dem schönen melodischen Klang der chinesischen Sprache war jedenfalls der Auslöser und Ausgangspunkt für alle meine weiteren Aktivitäten in Richtung China: der Besuch einer privaten chinesischen Sprachschule in der Nähe von Köln bald nach unserer Rückkehr (ein entsprechender Aushang in unserem damaligen Lieblings-Chinarestaurant machte uns auf diese aufmerksam), mein dreimonatiger Schulaufenthalt in Peking ein Jahr später, mehrere Praktika bei deutschen Unternehmen in der chinesischen Hauptstadt oder das Studium der Regionalwissenschaften Chinas an der Universität zu Köln, das neben betriebswirtschaftlichen Studienfächern noch die chinesische Sprache, Geschichte, Politik und Rechtskultur des Landes beinhaltete. Insbesondere seit meinem Olympiasieg in Peking 2008 begleite ich immer wieder Delegationen aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Sport ins Reich der Mitte, habe diverse Einsätze in China als Markenbotschafterin für deutsche Unternehmen, bin Botschafterin der Deutsch-Chinesischen Wirtschaftsvereinigung und Mitglied des Deutsch-Chinesischen Dialogforums, das zu den zivilgesellschaftlichen Beratungsgruppen der Bundesregierung gehört.

Auch Gerrit hatte nach dieser Reise das Chinafieber gepackt. Er war derjenige, der unseren Eltern als gerade Dreizehnjähriger wochenlang in den Ohren lag, dass er unbedingt Chinesisch lernen wolle. So ging auch er in der elften Klasse für einige Monate nach Peking, studierte genauso wie ich Regionalwissenschaften Chinas, absolvierte diverse Praktika in China und lebt mittlerweile mit seiner chinesischen Ehefrau als Strategieberater in Peking. Während Gerrit dadurch zumeist längere Perioden in China ist, reise ich jährlich häufiger für kurze Zeit dorthin und war inzwischen schon unzählige Male im Reich der Mitte.

Ich nähere mich der Passkontrolle und schließe zu einer chinesischen Seniorenreisegruppe auf. Alle tragen rote Kappen auf dem Kopf und folgen einer Dame, die ein Megafon in der Hand hält und in voller Lautstärke Anweisungen gibt. Mir platzt gleich der Kopf. Ich zwänge mich durch die Gruppe der älteren Herrschaften hindurch, die stehen geblieben sind und gerade begonnen haben, sich selbst durchzuzählen, indem jeder eine Zahl aufruft. Nachdem ich die rüstigen Rentner passiert habe, stelle ich mich, um den lauten Stimmen zu entkommen, möglichst weit entfernt von ihnen in einer der vielen Warteschlangen an und bemerke, dass ich nun direkt hinter dem nervösen deutschen Paar stehe. So schnell verliert man sich also doch nicht, denke ich.

Die beiden gehen gemeinsam zum Schalter vor, geben ihre Pässe ab und schauen ziemlich verdutzt drein, dass sie ihren Pass ohne langes Warten, verhörgleiche Nachfragen nach dem Zweck ihrer Reise oder einschüchternde Blicke mit einem Einreisestempel versehen wiederbekommen. So schnell und unaufgeregt verläuft die Einreiseprozedur nicht überall auf der Welt, geht es mir durch den Kopf, während ich beobachte, wie das Paar mit verwundertem Gesichtsausdruck voranschreitet, ohne eines der vier zur Bewertung der Servicequalität dienenden blinkenden Smileys zu drücken, die von »sehr zufrieden« bis »unzufrieden« reichen. Solche Bewertungsmöglichkeiten zur Verbesserung der Servicequalität in Ämtern und Behörden sieht man heutzutage in China immer häufiger.

Jetzt bin ich an der Reihe und überreiche meinen Ausweis dem Beamten, der sofort nach dem aktuell gültigen Visum sucht. Lange Zeit konnten deutsche Chinareisende ihre Visa bequem per Postversand über die Chinesische Botschaft in Berlin oder das zuständige Generalkonsulat in ihrer Region beantragen, ohne dort persönlich vorstellig werden zu müssen. Chinesische Antragsteller mussten hingegen mit langem zeitlichen Vorlauf Termine in der Deutschen Botschaft in Peking beantragen, dort persönlich vorsprechen und dabei unangenehme Wartezeiten in Kauf nehmen. Inzwischen haben auch die chinesischen Behörden nachgezogen und fordern vom deutschen Antragsteller unterschiedliche Dokumente. Besonders seit den Olympischen Spielen 2008 wurden die Visumsbestimmungen im Gegensatz zur vormals relativ laxen Handhabung wieder angezogen.

Der chinesische Beamte muss ein wenig in meinem Pass blättern, bis er mein Jahresvisum entdeckt. Da ich erst seit kurzem über ein solches verfüge, »stolpert« er über die stolze Anzahl von eingeklebten Chinavisa, die sich in meinem Dokument befinden. Der Beamte schmunzelt kurz und schaut mich an. Als ich den Pass ohne weitere Fragen und mit einem »Bye-bye« zurückbekomme, drücke ich auf das »Zufrieden«-Smiley.

Anschließend fahre ich eine der vier Rolltreppen hinab, um auf den Pendelzug zu warten, der uns Passagiere zur Gepäckausgabe fährt. Ich denke an den Tag, der vor mir liegt. Ich werde ihn mit Gerrit verbringen sowie unserem gemeinsamen Freund Oliver Harms, ein Banker, der seit zwölf Jahren in China lebt und im hiesigen Geschäft sehr versiert ist. Da es Samstag ist, haben die beiden frei. Auch in China hat sich in vielen kaufmännischen Berufen und Bürojobs mittlerweile das Wochenende durchgesetzt, das war vor wenigen Jahren noch ganz anders. Wir sind für einen Ausflug durch »unser« Peking verabredet und wollen den Abend in einer unserer Lieblingsbars verbringen.

Nachdem ich mich mit vielen anderen wartenden Fluggästen in den Zug gedrängelt und einen der wenigen begehrten Sitzplätze ergattert habe, wird meine Vorfreude immer größer, endlich wieder durch die wunderschönen Parks und die engen Gassen der ruhigeren Stadtteile Pekings zu schlendern, vielleicht eine Fußmassage zu genießen oder den geschäftigen Pulsschlag in den modernen Vierteln der Millionenmetropole aufzusaugen. Außerdem knurrt mein Magen schon bei dem Gedanken an die vorzüglichen chinesischen Gerichte, die man authentisch nur selten in deutschen Chinarestaurants findet und auf die ich mich immer besonders freue. Nach ein paar Minuten Fahrt hält der Zug, ich steige aus und gehe in Richtung Gepäckband, wo mich das übliche hektische Chaos erwartet. Viele chinesische Passagiere haben ihre Gepäckwagen bis an das Gepäckband geschoben, sodass es wieder einmal nur unter Einsatz der Ellenbogen möglich sein wird, überhaupt an seinen Koffer zu gelangen. Daher setze ich mich entspannt auf eine freie Bank und schaue auf ein Wandplakat mit dem Olympia-Slogan von 2008, der noch immer seine Gültigkeit hat: »Peking heißt dich willkommen!«

Ich lasse meine Gedanken schweifen, denn ich werde erst das Gepäckband inspizieren, wenn keine Gefahr mehr droht, hin und her geschubst zu werden. China, dieses riesige, den meisten Deutschen so fremd erscheinende Land, schaut auf eine einzigartige und reiche Geschichte zurück. Den Stolz auf diese Geschichte kann man heute fast überall in der chinesischen Gesellschaft spüren. Fragt man ein Schulkind, was China so besonders mache, so würde es einem sicherlich ohne große Überlegung antworten: »Die lange Geschichte!«

Das kaiserliche China, das im Jahr 221 v. Chr. vom ersten Kaiser Qin Shi Huangdi begründet wurde, war über große Teile der letzten zweitausend Jahre nicht nur das bevölkerungsreichste Land, sondern auch die größte Volkswirtschaft und die fortschrittlichste Zivilisation der Erde. Die Erfahrung, dass China seinen umliegenden Völkern gegenüber zivilisatorisch überlegen war und sich auch Fremdherrscher über die Zeit stets assimilierten, führte in der Folge dazu, dass China bis Ende der letzten kaiserlichen Dynastie, der mandschurischen Qing-Dynastie (1644 bis 1911), zu einer nach innen orientierten, hochentwickelten und sich selbst genügenden Weltmacht heranwuchs, die Aufrüstung und aktive militärische Maßnahmen für unnötig hielt. Bereits die chinesische Namensgebung des Landes drückt dieses Selbstverständnis der Überlegenheit aus: Zhongguo bedeutet schlichtweg »Reich der Mitte«, also das Land im Zentrum (der Kultur) – man sah sich einfach als die Zivilisation schlechthin, die sich gegen die umliegenden Nomadenstämme kulturell abhob. Lediglich zur Verteidigung gegen potenzielle Angreifer wurde die berühmte, Tausende Kilometer lange Große Mauer gebaut.

Diese generelle Vernachlässigung militärischer Stärkung lässt sich zusätzlich auf die weitgehend pazifistische Philosophie des Konfuzianismus zurückführen, der sich während der Han-Dynastie gegenüber dem auf einer strengen Anwendung von Gesetzen basierenden Legalismus durchsetzen konnte und als Staatsdoktrin institutionalisiert wurde. In den folgenden Herrscherdynastien behauptete sich die Vorstellung einer konfuzianischen pax sinica, auf Basis derer eine politisch-kulturelle und sozioökonomische Hegemonie über die umgrenzenden Völker im ostasiatischen Raum angestrebt wurde.

Das Aufeinandertreffen mit dem expandierenden britischen Empire und anderen imperialistischen Kräften der westlichen Welt setzten diesem sinozentrischen Weltbild Mitte des 19. Jahrhunderts allerdings ein jähes Ende: Mit zwei Opiumkriegen zwangen die Briten China dazu, das Land für den Handel zu öffnen. Es begann ein wahrer Wettlauf um Handelsrechte, Einflusssphären und Gebietsansprüche. Für China begann ein Jahrhundert des Niedergangs und der Demütigungen, das 1911 zunächst zur endgültigen Auflösung des Kaiserreichs führte. Doch auch nach der Gründung der Republik China, die von Anfang an innenpolitisch geschwächt war, konnte weder äußere Einheit noch innere Stabilität wiederhergestellt werden. Insbesondere die japanische Aggression in China, die zwischen 1937 und 1945 ihren Höhepunkt fand, brachte China an den Rand eines Kollapses.

Erst mit der Machtübernahme der Kommunistischen Partei um Mao Zedong erlangte das Land 1949 seine volle Integrität und Souveränität zurück, was bis heute als Maos größte politische Leistung angesehen wird.

In den Folgejahren stürzte er die neu gegründete Volksrepublik mit einer Reihe von Massenkampagnen ein ums andere Mal ins Chaos: Insbesondere der wirtschaftlich vollkommen utopische »Große Sprung nach vorn« (1958–1961), der mehrere Millionen an Todesopfern forderte, genauso wie die »Große Proletarische Kulturrevolution« (1966–1976), bei der er junge Studenten zu »Roten Garden« machte und sie zu einer Weiterführung des Klassenkampfs und der Revolution aufrief, hinterließen tiefe Narben in der chinesischen Gesellschaft, ein geistiges Vakuum und eine rückständige Volkswirtschaft.

Erst nach dem Tod Mao Zedongs kam es wieder zu einer Entideologisierung der Gesellschaft. Sein Nachfolger Deng Xiaoping wandte sich ab Dezember 1978 explizit sozioökonomischen Fragestellungen zu und begann daraufhin mit der Umsetzung einer behutsamen Reform- und Öffnungspolitik, die den erneuten Wiederaufstieg des Landes einläutete.

Die pragmatische Politik unter dem Motto: »Hauptsache, eine Katze fängt Mäuse, egal ob sie schwarz oder weiß ist!«, führte zu einem enormen wirtschaftlichen Aufschwung und machte China zu einem der großen Gewinner der Globalisierung. Mittlerweile ist das Land wieder die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt und erarbeitet sich seinen Platz in der ersten Reihe der Staatengemeinschaft der Welt zurück.

Während ich noch über den ob dieses geschichtlichen Hintergrunds ausgeprägten chinesischen Nationalstolz nachdenke, sehe ich aus dem Augenwinkel mein Gepäckstück vorbeifahren. Schultern straffen und durch, denke ich mir und kämpfe mich nach vorn zum Band.

Vom Flug völlig erledigt schiebe ich mein Gepäck auf einem der herumstehenden Gepäckwagen durch die automatische Schiebetür. Kaum habe ich sie passiert, überkommt mich das gleiche wehmütige Gefühl, das mich hier jedes Mal packt: Durch diese Tür kamen wir auch 2008 in froher Erwartung der Olympischen Spiele. Hunderte Menschen, die uns begrüßten, chinesische und ausländische Kameras, die uns empfingen. Es war eine wirklich aufregende Zeit – und das betraf nicht nur den Wettkampf.

Ich schüttle die Gänsehaut ab und halte Ausschau nach dem Fahrer, der mich abholen soll. Zum Glück muss ich mich nicht in die lange Taxischlange vor dem Flughafen einreihen oder den Schnellzug in die Stadt nehmen. Das Unternehmen, für das ich morgen im Einsatz sein werde, hat einen Fahrdienst geschickt.

Während ich auf ihn warte, sehe ich viele ausländische Reisende mit voll beladenen Gepäckwagen an mir vorbeiziehen, darunter auch das ältere Ehepaar aus dem Flieger. Ich freue mich, dass es mittlerweile so viele Deutsche nach China zieht – momentan sind es jährlich über eine halbe Million Touristen. Da auch wir Europäer stark vom eigenen Weltbild geprägt sind, von unseren eigenen Werten, können wir andere Sichtweisen häufig nur dann verstehen, wenn wir uns mitten in der fremden Welt befinden. So ist es immer wieder spannend, durch Reisen eigene Ansichten und vermeintlich selbstverständlich erscheinende Lebenswirklichkeiten auf den Prüfstand zu stellen. Vor allem kann man so den Alltag der Menschen kennenlernen, ihre Verhaltensweisen, ihre Vorlieben und Sorgen – und sich ihnen dadurch annähern. Kaum hier angekommen, empfinde auch ich mal wieder eine innere Vorfreude auf das, was die nächsten Tage auf mich zukommen wird. Ich fange an, etwas nervös zu werden, weil ich den Fahrer nirgends entdecken kann. Schon bin ich dabei, mein Handy hervorzukramen, als er fröhlich und mit einem Schild winkend auf mich zukommt. Ich seufze erleichtert.

Peking, ich komme!

2

Konfuzius lässt grüßen

Schunkeln mit der kölschen Kultband Höhner in Shanghai – Neun Millionen Fahrräder – Gasteltern in Peking – Die Sache mit der harmonischen Gesellschaft – Familienbande – Der dynastische Zyklus

Gähnend stehe ich vor der Aufzugstür im fünfundzwanzigsten Stock eines gerade eröffneten Luxushotels im Pekinger Central Business District und lausche der Endlosschleife klassischer chinesischer Musik, die leise aus dem Lautsprecher ertönt. Die gemäßigte Lautstärke ist nach dem Flughafentrubel heute Morgen sehr angenehm. Zugleich spüre ich, wie ich mit dem Jetlag kämpfe. Ich hatte mich zwar vorhin, direkt nach meiner Ankunft im Hotel, kurz schlafen gelegt – doch der lange Flug sowie die sechs Stunden Zeitverschiebung haben ihre Spuren hinterlassen.

»Ding!« Die Aufzugtüren öffnen sich, und ich trete zu einem chinesischen Hotelgast in den Fahrstuhl. Dieser fängt sofort an, mehrmals auf die »Tür-Schließen«-Taste zu drücken, die wohl außer in China nirgends auf der Welt so intensiv genutzt wird. Das ist auch daran zu erkennen, dass in chinesischen Fahrstühlen dieser Knopf häufig sehr stark, bis hin zur Unleserlichkeit abgenutzt ist. Dahingegen sieht die »Tür-Öffnen«-Taste auch nach Jahren noch wie neu aus.

Ich lächle meinem Gegenüber im vermeintlich stillen Einverständnis darüber zu, dass das Drücken der Schließen-Taste unsere Fahrt auch nicht signifikant beschleunigen wird. Eigentlich müsste ich es besser wissen: Dinge, die uns Europäer manchmal zum Schmunzeln bringen, sind für Chinesen normal und selbstverständlich. So lächelt mein Mitfahrer zwar höflich zurück, aber wahrscheinlich ohne meinen Hintergedanken zu teilen. Einer Eingebung folgend schweift mein Blick noch einmal über die Etagenanzeigen des Fahrstuhls – und ich werde nicht enttäuscht: Es gibt weder einen vierten noch einen vierzehnten Stock, auch der dreizehnte fehlt. Letzterer wird in Hotels häufig den ausländischen Gästen zuliebe weggelassen. Bei der Zahl Vier hingegen geht es um einen chinesischen Aberglauben. »Vier« heißt auf Chinesisch »si«, was, mit anderer Betonung ausgesprochen, wie das chinesische Wort für »sterben« klingt und damit für den Tod steht. Verständlich also, dass man hierzulande gerne auf alles verzichtet, das eine Vier enthält.

Unten angekommen, treffe ich in der großräumigen Lobby auf meinen bereits wartenden Bruder Gerrit, der, hochgewachsen, blond, mit blauen Augen und sportlich gebaut, an seinem freien Tag den Anzug gegen Jeans und T-Shirt eingetauscht hat. Herzlich umarmen wir uns, denn wir haben uns lange nicht gesehen. Gerade als wir anfangen, uns darüber zu wundern, wo der sonst so überpünktliche Oliver bleibt, kommt er verschwitzt und im Laufschritt durch die Hotelhalle auf uns zugestürmt. Oliver, noch ein wenig größer als Gerrit, sehr schlank, dunkelblond und Brillenträger, ist der Abenteuer- und Reiselustigste von uns dreien: Er hat an diesem Tag auf sein Auto verzichtet, um »mal wieder ein romantisches Buserlebnis« zu genießen, wie er uns mitteilt.

Seit Jahren leitet er das Chinageschäft eines deutschen Finanzinstituts und könnte sich inzwischen jeden Komfort erlauben. Aber als er Anfang der Neunziger zwei Auslandssemester im Rahmen seines Studiums der Angewandten Weltwirtschaftsstudien in China verbrachte, fuhr er fast nur Bus.

»Manchmal vermisse ich das richtig«, sagt er mit einem Seufzer und fährt fort: »Da gibt es unterwegs einfach so viel zu sehen.« Aber weil der Bus weder regelmäßig kommt noch einem genauen Zeitplan folgt, hat es natürlich etwas länger gedauert. »Wollen wir los?«, fragt er unternehmungslustig.

»Ja, klar«, sage ich.

Lachend und plaudernd treten wir durch die ausladenden Türen des Hotels hinaus in die schwüle Pekinger Augustluft.

Vor dem Ausgang werden wir von den dort wartenden Angestellten in gebrochenem, aber sichtlich bemühtem Englisch gefragt, ob wir ein Taxi bestellen möchten. Nein, wir möchten zu Fuß zum Park gehen, antworten wir auf Chinesisch und machen uns auf den Weg. Wir bekommen noch ein erstauntes »Oohhh, die können aber gut Chinesisch!« hinterhergeschickt, was mich zum Lächeln bringt.

Es ist schön, wieder in China zu sein und die Sprache zu sprechen. Wenn man länger eine Sprache nicht aktiv benutzt, dann rostet sie schnell ein – das gilt insbesondere für Chinesisch, das unseren in Europa gesprochenen Sprachen ja so überhaupt nicht ähnelt.

Gerrit und ich haben direkt nach unserer ersten Chinareise 1997 begonnen, Chinesisch zu lernen, und konnten es dann während unseres Studiums weiter ausbauen. Auch Oliver spricht gut Chinesisch, da er es nicht nur im Studium gelernt hat, sondern seit seinem ersten Studienjahr in China viel in diesem Land umhergereist ist und nun hier lebt.

Kennengelernt haben wir Oliver im September 2010, als in Shanghai die Weltausstellung »Expo« stattfand, in der Bar Rouge, einem Szenelokal, das an der kolonial geprägten Uferpromenade »Bund« liegt. Ich begleitete damals nicht nur Vertreter aus Wirtschaft und Politik des Landes Nordrhein-Westfalen, sondern auch Repräsentanten der deutschen Karnevals- und Musikszene. Als Chinesisch sprechende Kölnerin war ich dazu auserkoren worden, den chinesischen Besuchern der Expo unsere kölsche Kultur, die Kultband Höhner und die Roten Funken, die älteste Karnevalsgesellschaft Kölns, vorzustellen – damit der Kulturschock beim Anblick bewaffneter Generäle nicht zu groß wäre. Gerrit koordinierte und begleitete bereits damals alle meine Chinaaktivitäten und war deshalb auch mit von der Partie.

Bis jetzt frage ich mich, wie wir es mit zweihundert (wenn auch unechten) Gewehren durch die Sicherheitskontrollen aufs Expo-Gelände geschafft haben. Die Sicherheitsleute waren meiner Ansicht nach schlichtweg überfordert gewesen mit der Menge an merkwürdig rot-weiß gekleideten Männern. Nach dieser ersten, fast sprichwörtlichen Kölner »China-Offensive« war es beeindruckend zu sehen, wie es die Höhner mit Frontmann Henning Krautmacher zustande brachten, die chinesischen Zuschauer binnen weniger Minuten zu fesseln und zum Schunkeln zu bringen. Das Geheimnis lag wohl darin, dass sie im Vorfeld eines ihrer Lieder umgeschrieben hatten und dieses nun unmittelbar nach Betreten der Bühne auf Chinesisch sangen. Da ging ein großes »Aaaaah!« durch die Menge, und die Aufmerksamkeit war gesichert. Als sie dann noch das allseits bekannte »Jasmin-Lied« auf Chinesisch anstimmten, hatten sie gewonnen: Tausende Chinesen sangen begeistert eines der beliebtesten chinesischen Volkslieder mit. Musik verbindet tatsächlich!

An jenem Abend fand dann noch in besagter Bar ein weiteres Konzert der Höhner statt, zu dem die Teilnehmer der Delegation sowie chinesische und internationale Gäste eingeladen waren, darunter auch der Bremer Oliver. Er konnte sich zwar – unverständlicherweise für uns kölsche Gemüter – nicht sofort für »Viva Colonia« begeistern, aber abgesehen davon merkten wir, dass wir viel auszutauschen hatten. Im Laufe dieses Abends entwickelte sich zwischen uns ein intensives Gespräch über China. Wir sprachen über Politik und Wirtschaft, wir diskutierten über Olympia, Traditionen und persönliche Erfahrungen. Besonders Oliver hatte viel zu erzählen, da er aufgrund seiner großen Reiselust nicht nur mehr als hundertfünfzig Länder auf dem Globus kennengelernt hat, unter anderem solche Exoten wie die pazifischen Inselgruppen Papua-Neuguinea, Palau und die Salomonen, sondern auch alle zweiunddreißig Provinzen, darunter die autonomen Gebiete und die regierungsunmittelbaren Städte Chinas.

Seither treffen wir uns häufiger in dieser Dreierkonstellation, wobei sich immer wieder lebhafte Gespräche über die vielen Facetten Chinas ergeben, über die volkswirtschaftlichen Zusammenhänge, die ökonomischen Verflechtungen und Abhängigkeiten in einer globalisierten Welt, aber auch über die Mentalität von chinesischen Kellnern oder die Qualitäten hiesiger Taxifahrer.

Als wir den Hotelvorplatz passieren, überrennt mich beinahe eine vorbeieilende chinesische Passantin.