Willkommen in meiner Buchhandlung - Hwang Bo-reum - E-Book

Willkommen in meiner Buchhandlung E-Book

Hwang Bo-reum

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Beschreibung

Irgendwo in Seoul öffnet eines Tages der Buchladen von Hyunam-dong. Yeong-ju, die Inhaberin, erscheint zunächst wenig motiviert, sitzt nur herum und liest Bücher. Sie hat eine angesehene Universität besucht, einen fähigen Mann geheiratet und in einer guten Firma gearbeitet. Doch irgendwann kam der Bruch. Burn-out, Kündigung, Ehekonflikte, Scheidung. Durch die Lektüre gelingt es ihr, sich ihrer Vergangenheit zu stellen und seelisch zu gesunden. Von diesem Moment an wird der Laden zu einem anderen Ort. Menschen, die als Kunden hier vorbeischauen, kommen einander näher und teilen ihre Geschichten und ihre Gefühle. Man begegnet Menschen wie Min-jun, der als Barista im Buchladen arbeitet, der unglücklich verheirateten Ji-mi oder Seung-u, einem Schriftsteller, der sich zu Yeong-ju hingezogen fühlt– sie alle haben in ihrem Leben Verletzungen erlitten und tragen doch Hoffnungen in sich. Sie alle kommen hier zusammen und lernen voneinander, wie sich das Leben bestreiten lässt.

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INHALT

Wie sollte eine Buchhandlung aussehen?

Genug geweint

Wie schmeckt der Kaffee heute?

Geschichten von Menschen, die fortgegangen sind

Können Sie mir ein gutes Buch empfehlen?

Zeit zum Schweigen, Zeit zum Reden

Ein Buchgespräch als Spiegel der Gesellschaft

Der Kaffee und die Ziege

Ein Knopf ist da, aber kein Knopfloch

Stammkunden

Das große Spülschwämmchen-Event

Und manchmal, ganz selten, ein guter Mensch

Alle Bücher ganz gerecht

Konsonanz und Dissonanz

Wie ähnlich sind sich der Autor und das, was er schreibt?

Ein unbeholfener Stil verdeckt eine gute Stimme

Der Abend eines erfüllten Sonntags

Wie siehst du denn aus?

Die Art, wie wir die Arbeit betrachten

Wie eine Buchhandlung Fuß fasst

Ich hatte eigentlich einfach ablehnen wollen

Das Gefühl, willkommen zu sein

Man braucht die Fähigkeit, die Wut zu besänftigen

Der Beginn des Schreibkurses

Nur Mut!

Der Leseklub der Mütter

Kann man von einem Buchladen leben?

Montag mit Barista

Ich korrigiere Ihnen das

Ehrlich und mit Sorgfalt

Wenn du Kaffee machst, denk nur an den Kaffee

Wer ist der Mann, der Yeong-ju sehen will?

Die Vergangenheit abfließen lassen

Als wäre nichts gewesen

Einfach nur befreundet sein

Viele gute Menschen in der Nähe

Mal checken, was man will

Ein Raum, der mich zu einem besseren Menschen macht

Wir sehen uns in Berlin

Was hält eine Buchhandlung am Leben?

Nachwort der Autorin

Anhang

WIE SOLLTE EINE BUCHHANDLUNG AUSSEHEN?

Ein Kunde, der sich offensichtlich in der Öffnungszeit der Buchhandlung geirrt hatte, ging vor dem Eingang auf und ab. Den Oberkörper nach vorne gebeugt und die Augen mit den Handflächen abschirmend, warf er einen Blick durch das Schaufenster nach innen. Yeong-ju erkannte ihn sofort. Er trug immer einen Anzug und kam zwei, drei Mal in der Woche nach der Arbeit vorbei.

»Guten Tag.«

Als er ihre Stimme hörte, erschrak der Mann und wandte, immer noch nach vorne gebeugt, nur den Kopf nach ihr um. Da erkannte er, dass sie es war, nahm rasch die Hand herunter, richtete sich auf und lächelte verlegen.

»Ich komme ja sonst immer abends. So früh wie heute war ich noch nie hier.«

Yeong-ju lächelte nur. Der Mann sagte:

»Jedenfalls beneide ich Sie darum, dass Sie Ihren Laden erst mittags öffnen.«

Yeong-ju lachte. Dann erwiderte sie:

»Das haben mir schon etliche Leute gesagt.«

Man hörte das Piepen des elektronischen Türschlosses. Während sie die Geheimzahl eingab, blickte er absichtsvoll woanders hin. Beim Geräusch der sich öffnenden Tür drehte er sich wieder um. Nachdem er gerade eben noch so angestrengt durch die Schaufensterscheibe gespäht hatte, hellte sich sein Gesicht nun auf. Yeong-ju öffnete die Tür ganz und sagte:

»Hier drinnen riecht es vielleicht noch ein bisschen. Der Geruch von letzter Nacht und der Geruch der Bücher. Aber wenn es Ihnen nichts ausmacht, kommen Sie doch herein.«

Der Mann winkte ab und trat einen Schritt zurück.

»Nein, schon gut. Außerhalb Ihrer Arbeitszeit will ich Sie nicht stören. Ich komme später noch mal wieder. Aber heute ist es wirklich heiß, finden Sie nicht auch?«

Yeong-ju spürte nun tatsächlich, wie heiß die Sonne auf ihren Armen brannte. Sie lächelte, um zu zeigen, dass sie seine Aufmerksamkeit zu schätzen wisse, und pflichtete ihm bei:

»Ja, es ist wirklich heiß. Dabei haben wir doch erst Juni.«

Höflich wartete sie noch einen Augenblick, bis er sich entfernt hatte, und betrat dann ihren Laden. Ein gutes Gefühl. Es gefiel ihr an ihrem Arbeitsplatz. Am ganzen Körper spürte sie, wie wohl sie sich hier fühlte. Unnützen Begriffen wie »Willen« oder »Leidenschaft« wollte sie von nun an keine Bedeutung mehr beimessen. Denn diese Wörter, die sie endlos wiedergekäut und mit denen sie sich selbst in die Enge getrieben hatte, waren nichts, worauf sie sich hätte verlassen können. Was ihr Halt gab, war, wie sie inzwischen herausgefunden hatte, das unmittelbare Gefühl des Körpers. Ein Raum, in dem sie sich wohlfühlte. Entscheidend war, ob ihr Körper diesen Raum positiv aufnahm. Ob sie, als der Mensch, der sie war, in diesem Raum existieren konnte. Ob sie sich in diesem Raum nicht von sich selbst entfremdete. Ob sie in diesem Raum sich selbst mit Liebe und Wertschätzung begegnen konnte. Und ihre Buchhandlung war für sie so ein Raum.

Doch heiß war es wirklich. Trotzdem hatte sie, bevor sie gleich die Klimaanlage anschalten würde, noch etwas anderes zu erledigen: die Luft von gestern hinaus- und neue Luft hereinlassen. Wann würde sie die Vergangenheit endlich hinter sich lassen können? Vielleicht war es ein vermessener Wunsch, sich davon befreien zu wollen? Dieser gewohnheitsmäßige Gedanke belastete sie, aber nachdem sie ihn ebenso gewohnheitsmäßig beiseitegeschoben hatte, öffnete sie nun die Fenster, eines nach dem anderen.

Schon kurze Zeit später war der ganze Laden von schwüler Luft erfüllt. Mit einem Handfächer wedelte sie sich kühlere Luft zu und ließ dann ihren Blick durch den Raum schweifen. Wenn sie die erste Kundin des heutigen Tages wäre – würde es ihr hier gefallen? Würde sie ein Buch, das man ihr hier empfohlen hatte, gerne lesen wollen? Wie müsste eine Buchhandlung aussehen, der die Kunden ihr Vertrauen schenkten?

Wenn sie die erste Kundin wäre, die heute in diesen Laden käme … Würde ihr dann nicht auch das Regal dort drüben am besten gefallen? Das Regal, das die ganze breite Wand ausfüllte, das Regal, in dem nur Romane standen. Na ja, denen, die ebenso wie sie selbst am liebsten Romane lasen, würde es wohl am besten gefallen. Dass es aber unter den Bücherfreunden auch viele gab, die keine Romane lasen, war Yeong-ju erst aufgegangen, nachdem sie den Laden geöffnet hatte. Und diese Romanverächter würden sich wohl kaum in die Nähe des großen Regals begeben.

Mit diesem Regal, das die ganze Wand ausfüllte, hatte sich Yeong-ju einen Kindheitstraum erfüllt. In ihrer Grundschulzeit, als sie vom Vergnügen des Lesens gepackt worden war, hatte sie ihrem Vater damit in den Ohren gelegen, sie wolle unbedingt ein Zimmer haben, das an allen vier Wänden ringsum voller Bücher sei. Ihr Vater hatte mit ihr geschimpft, Bücher hin oder her, das sei einfach übertrieben und führe zu nichts. Und Yeong-ju hatte damals schon gewusst, dass er mit Absicht so streng reagiert hatte, weil er dem gewohnheitsmäßigen Gequengel seiner Tochter einen Riegel vorschieben wollte. Trotzdem war sie so eingeschüchtert gewesen, dass sie laut geweint hatte und schließlich auf dem Schoß des Vaters eingeschlafen war.

Nachdem sie, auf den Verkaufstresen gelehnt, das Regal eine Weile betrachtet hatte, drehte sie sich um und ging in Richtung Fenster. Genug gelüftet. Yeong-ju schloss die Fenster, wie immer mit dem ganz rechts beginnend. Dann schaltete sie die Klimaanlage ein und suchte auf einer Audioseite die Musik, die sie gerne hörte. Das Album Hopes and Fears der britischen Band Keane. Es war schon 2004 herausgekommen, aber Yeong-ju hatte es erst vor einem Jahr zum ersten Mal gehört, und es hatte ihr gleich so gut gefallen, dass sie es seitdem fast jeden Tag hörte. Die etwas schläfrige und gleichzeitig träumerische Stimme des Sängers erfüllte den Raum. Der Tag hatte begonnen.

GENUG GEWEINT

Yeong-ju saß am Schreibtisch neben der Kasse und öffnete ihre E-Mails. Sie wollte nur kurz nachsehen, wie viele Online-Bestellungen eingegangen waren. Anschließend las sie die Notizen, die sie sich gestern Abend noch gemacht hatte, bevor sie gegangen war. Die Gewohnheit, eine nach Prioritäten geordnete Liste dessen anzulegen, was am nächsten Tag zu erledigen war, hatte sie in ihrer Oberstufenzeit angenommen. Früher hatte sie diese Liste geschrieben, um ihren Tagesablauf unter Kontrolle zu haben; nun ging es ihr eher darum, sich innerlich zu entlasten. Und wie sie so all die Dinge überflog, die getan werden mussten, war sie zuversichtlich, auch den heutigen Tag gut verbringen zu können.

Nachdem sie die Buchhandlung geöffnet hatte, hatte sie mehrere Monate gar nicht mehr daran gedacht, ihre To-do-Liste zu schreiben. Die Zeit hatte stillgestanden. Es war ihr gerade so gelungen, durch den Tag zu kommen. Vor der Ladeneröffnung hatte sie sich voller Energie gefühlt, war sie wie besessen gewesen bzw. im Grunde nicht mehr ganz bei klarem Verstand. Die fixe Idee, einen Buchladen führen zu wollen, hatte alles andere aus ihrem Kopf verdrängt. Zum Glück besaß sie die Fähigkeit, sich aufzuraffen, wenn es etwas gab, worauf sie sich konzentrieren konnte. Das Ziel hatte ihr neuen Schwung gegeben. Sie hatte einen geeigneten Ort gewählt, sich ein Gebäude gesucht, sich um die Einrichtung gekümmert, das Buchlager gefüllt und zwischendurch noch eine Barista-Lizenz erworben.

So hatte zwischen den Familienhäusern des Viertels der Buchladen von Hyunam-dong seine Türen geöffnet.

Und viel mehr, als die Tür zu öffnen, tat Yeong-ju auch nicht. Der Laden lag da wie ein krankes, leise röchelndes Tier, das nicht mehr auf die Beine kam. Zwar fühlten sich die Leute zunächst durchaus angezogen von der dezenten Atmosphäre, aber bald kamen kaum noch Kunden in den Laden. Der Grund war Yeong-ju, die dort saß, so fahl und bleich, als habe sie keinen Tropfen Blut mehr im Körper. In dem Moment, wo man den Laden betrat, befiel einen das Gefühl, unbefugt in einen privaten Raum eingedrungen zu sein. Yeong-ju lächelte zwar, aber zurücklächeln tat niemand.

Ein paar Leute jedoch gab es, die erkannten, dass Yeong-jus Lächeln echt war. Eine von ihnen war Min-cheols Mutter.

»Wenn die Ladeninhaberin so dasitzt, kommt doch keiner in den Laden! Der Buchverkauf ist doch ein Geschäft wie jedes andere auch, nur stilvoll dasitzen reicht nicht. Meinst du, das Geldverdienen wäre so leicht?«

Min-cheols Mutter, die ein hübsches Gesicht hatte und sich gerne ein wenig herausputzte, ging zweimal in der Woche in die Volkshochschule, um Chinesisch zu lernen und einen Malkurs zu machen. Nach dem Unterricht schaute sie auf dem Nachhauseweg immer im Buchladen vorbei und äußerte sich zu Yeong-jus Gesichtsfarbe.

»Und wie geht’s dir heute?«, fragte sie besorgt.

»Gut, wie immer«, antwortete Yeong-ju mit schwachem Lächeln.

»Sag mal, weißt du eigentlich, wie sehr sich die Leute gefreut haben, als hier im Viertel die Buchhandlung aufgemacht hat? Aber wer kommt schon in den Laden, wenn er das kränkliche Fräulein erblickt, das da hinter der Theke schlaff im Sessel hängt und dreinblickt, als hätte es irgendwo eine Schraube locker?«, sagte Min-cheols Mutter und griff in ihre glitzernde Handtasche, um ein ebenso glitzerndes Portemonnaie hervorzuholen.

»Ich seh aus, als hätte ich ’ne Schraube locker? Hm, das hat doch was, oder?«, erwiderte Yeong-ju mit übertriebener Fröhlichkeit, als wollte sie demonstrieren, dass es sich um einen Scherz handelte.

»Tss, tss …« Min-cheols Mutter schaute amüsiert drein. »Mach mir mal einen Iced Americano.«

Yeong-ju nahm das Geld entgegen und sagte, diesmal in bierernstem Ton:

»Wissen Sie, ich bin eigentlich rundum perfekt. Deshalb stelle ich mich absichtlich ein wenig dümmer, aber offenbar kommt das einfach nicht in gewünschter Weise rüber.«

Min-cheols Mutter verlieh ihrer Stimme scherzhaften Nachdruck und meinte:

»Hör mal, dich hat nicht zufällig vorab wer darüber informiert, dass ich was übrig hab für Leute mit Humor?«

Yeong-ju machte ein vielsagendes Gesicht, die schmalen Augen mit der Doppellidfalte weit geöffnet, den Mund eng zusammengekniffen, und Min-cheols Mutter bedachte sie im Spaß mit einem tadelnden Blick. Während sie an die Tischbar gelehnt dastand und zusah, wie Yeong-ju den Kaffee aufgoss, sagte sie, als spräche sie zu sich selbst:

»Wenn ich es so überlege, habe ich das früher auch erlebt. Schlapp zu sein. Keine Energie mehr zu haben. Damals, nachdem ich Min-cheol auf die Welt gebracht hatte, da hab ich mich auch eine ganze Weile krankenhausreif gefühlt. War ich ja im Grunde auch. Ständig irgendwo irgendwelche Wehwehchen. Dass ich mich körperlich krank gefühlt hab, konnte ich ja noch nachvollziehen, aber weshalb ich mich auch seelisch so krank fühlte, das habe ich nicht verstanden. Im Nachhinein würde ich sagen, das war eine richtige Depression.«

»Hier, Ihr Kaffee.«

Als Yeong-ju den Deckel auf den Pappbecher setzte, meinte Min-cheols Mutter, das sei nicht nötig, steckte einen Strohhalm in den Becher und setzte sich an den Tisch. Yeong-ju nahm ihr gegenüber Platz.

»Ich war krank, durfte mich aber nicht so aufführen, als sei ich krank, und dadurch wurde alles noch schlimmer. Ich konnte mit niemandem darüber sprechen, dass es mir schlecht ging, und habe jede Nacht geweint. Ich frage mich, wie es wohl gewesen wäre, wenn ich damals so wie du die Zeit gehabt hätte, einfach nur schlaff und niedergeschlagen herumzusitzen. Vielleicht hätte das Weinen dann etwas früher ein Ende gehabt. Ich habe wirklich lange geweint. Wenn einem nach Weinen zumute ist, muss man weinen. Dann wird es nach und nach besser.«

Yeong-ju saß nur schweigend da und hörte zu. Min-cheols Mutter leerte den Becher mit dem Eiskaffee in einem Zug.

»Ich muss schon sagen, dass ich dich beneide. Darum, dass du diese Zeit hast.«

Ganz ähnlich wie Min-cheols Mutter hatte auch Yeong-ju einige Monate lang immer wieder weinen müssen. Ununterbrochen flossen dann die Tränen. Wenn jemand in den Laden kam, wischte sie sich rasch das Gesicht trocken, um die Kundschaft zu begrüßen. Die Kunden taten so, als bemerkten sie die Tränen nicht. Und sie fragten nicht, warum sie denn weine, sondern dachten sich nur, dass es wohl einen Grund für diese Tränen geben müsse. Den gab es. Und den kannte Yeong-ju auch. Und sie dachte sich, dass dieser Grund sie möglicherweise sehr lange, vielleicht ihr ganzes Leben lang begleiten und sie immer wieder zum Weinen bringen würde.

Der Grund für ihre Tränen hatte seinen Platz in der Vergangenheit, und dort blieb er unverändert. Eines Tages aber ging Yeong-ju plötzlich auf, dass sie nicht mehr weinen musste. Bei dem Gedanken, nicht mehr weinen zu müssen, fühlte sie sich wie befreit. Auch die Tage, an denen sie kraftlos herumsaß, wurden weniger. Morgens, wenn sie aufstand, hatte sie schon ein wenig mehr Kraft als am Tag zuvor. Große Lust, nun etwas für den Laden zu tun, verspürte sie allerdings noch immer nicht, sondern sie beschränkte sich darauf, ein Buch nach dem anderen zu lesen.

So wie in ihrer Kindheit, als sie, manchmal leise kichernd, manchmal vollkommen gedankenverloren, Tag und Nacht in die Lektüre vertieft gewesen war, Stapel von noch zu lesenden Büchern neben sich. Den mütterlichen Ruf zum Essen hatte sie nur mit halbem Ohr wahrgenommen, den eigenen Hunger verdrängt und einfach weitergelesen, voller Freude, endlos. Wenn es ihr gelänge, diese lang vergessene Freude wiederzufinden, vielleicht könnte sie dann neu beginnen.

Bis zu ihrem Mittelstufenabschluss hatte Yeong-ju in jeder freien Minute Bücher gelesen. Und ihre beschäftigten Eltern hatten sie, wenn sie sich wieder einmal mit einem Buch in eine Ecke verkrochen hatte, einfach in Ruhe gelassen. Nachdem sie alle im Hause verfügbaren Bücher durchhatte, war sie in die Bücherei gegangen. Das Lesen bereitete ihr einfach Freude. Vor allem wenn sie Romane und Erzählungen las, fand sie es niemals anstrengend, sondern immer aufregend. Es waren Reisen in andere Welten. Und wenn sie von solch einer Reise wieder in die Realität zurückkam, dann war dies zwar zunächst eine Ernüchterung, so als wäre sie unsanft aus einem süßen Traum geweckt worden, doch hielt dieses Gefühl nie lange an. Denn wenn sie das Buch erneut öffnete, konnte sie ja jederzeit wieder auf Reisen gehen.

Wie sie so in ihrem menschenleeren Laden saß und las und sich dabei an ihre Teenagerzeit erinnerte, trat ein Lächeln auf ihr Gesicht. Ihr kam der Gedanke, dass das Lesen in ihrem Alter nun nicht mehr ganz so unbeschwert vonstattenging wie früher, und sie massierte sich leicht ihre ausgetrockneten Augen. Sie zwinkerte ein paarmal und las dann weiter. Voller Hingabe, als gelte es, eine zerbrochene Freundschaft aus Kindertagen wieder zu kitten. Die ganze Zeit über hatte sie gar nicht bemerkt, dass der alte Freund nicht mehr da gewesen war. Doch nun hatten sie wieder zueinandergefunden. Die Bücher hatten Yeong-ju wieder angenommen, ja, mehr als das, sie hatten sie mit offenen Armen empfangen. Sie schenkten ihr Verständnis, ihr, so, wie sie war, und ganz gleich, wer sie war. Yeong-ju spürte, dass sie wieder zu Kräften kam, so wie jemand, der jeden Tag brav seine drei Mahlzeiten einnahm. Mit gestärktem Herzen hob sie den Kopf und begann nun mit nüchternem Blick zu sehen, wie es in ihrem Laden aussah.

›Okay, ich hätte mich mehr um den Laden kümmern sollen.‹

Das Bücherregal war noch nicht einmal zur Hälfte gefüllt. Das wollte sie nun ändern. Sie erkundigte sich hier und da nach guten Büchern. In Bücher, die sie selbst gelesen hatte, steckte sie Zettel mit Notizen über ihre eigenen Leseeindrücke. Über Bücher, die sie noch nicht kannte, informierte sie sich mithilfe von Buchbesprechungen und Rezensionen oder indem sie andere Leser nach deren Meinung fragte. Wenn ein Kunde sich nach einem Buch erkundigte, das Yeong-ju nicht kannte, machte sie sich zumindest im Nachhinein darüber schlau. Nicht unbedingt, um mehr Kunden in den Laden zu locken, sondern um aus der Buchhandlung von Hyunam-dong eine richtige Buchhandlung zu machen. Und so betrachteten die Leute aus dem Viertel den Laden allmählich mit nicht mehr ganz so misstrauischem Blick. Sensible Menschen nahmen durchaus war, dass sich der Laden veränderte. Er wurde immer gemütlicher, und wer vorbeiging, bekam nun Lust, einfach mal hineinzuschauen. Vor allem Yeong-jus Gesicht hatte sich verändert. Die Zeiten, als ihr verheulter Anblick für Verunsicherung unter den Kunden gesorgt hatte, waren vorbei.

Nun kamen auch nicht mehr nur Leute aus der Nachbarschaft, sondern auch von weiter weg.

Min-cheols Mutter zeigte sich erfreut, als sie sah, dass drei oder vier Kunden mit Büchern in der Hand im Laden standen.

»Wie sind die denn auf deine Buchhandlung gekommen?«

»Über Instagram.«

»Du bist auf Instagram?«

»Die Notizzettel zu den Büchern. Die lade ich auf Instagram hoch.«

»Und wenn die Leute das sehen, kommen sie hierher?«

»Na ja, ich poste verschiedene Sachen. Wenn ich morgens zur Arbeit gehe, einen morgendlichen Gruß, wenn ich ein Buch gelesen habe, eine kurze Buchvorstellung, manchmal jammere ich auch einfach rum, wie anstrengend es ist, und wenn ich abends nach Hause gehe, schicke ich noch einen Abschiedsgruß.«

»Also, ich weiß ja nicht, wie die Leute heute so drauf sind, aber die kommen echt hierher, wenn sie das lesen? Na ja, jedenfalls, das ist ja prima. Du tust ja richtig was. Und ich dachte, du sitzt hier nur rum.«

Als Yeong-ju sich noch nicht um den Laden gekümmert hatte, hatte sie auch kaum etwas zu tun; doch nun, da sie Verantwortung übernommen hatte, nahm die Arbeit kein Ende. Sie war von morgens bis abends in Bewegung. Besonders wenn sie mit den Büchern zu tun hatte und dann noch Kaffeebestellungen kamen, wurde es stressig. Das waren die Tage, wo sie leicht aus dem Tritt kam. Yeong-ju hängte Flyer in der Nachbarschaft auf: Barista gesucht. Und gleich am nächsten Tag war Min-jun erschienen. Yeong-ju hatte seinen Kaffee probiert und noch am selben Tag alle Aushänge wieder abgenommen. Am Tag darauf hatte Minjun angefangen, bei ihr zu arbeiten. Das war ein Jahr nach ihrer Ladeneröffnung gewesen.

Und seitdem war nun wieder ein Jahr vergangen. In fünf Minuten würde sich die Tür öffnen, und Min-jun würde hereinkommen. Sie würde lesen und dabei seinen Kaffee trinken. Und dann um ein Uhr mittags den Laden öffnen.

WIE SCHMECKT DER KAFFEE HEUTE?

Mit neiderfülltem Blick sah Min-jun den Mann an sich vorübergehen, der sich mit dem Miniventilator frische Luft ins Gesicht blies. Er selbst war auf dem Weg zum Buchladen. Die Sonne brannte, und ihm brummte der Schädel. Letztes Jahr zur gleichen Zeit war es doch noch nicht so heiß gewesen … Da fiel ihm ein, wie er letztes Jahr um diese Zeit diesen Weg entlanggegangen war und plötzlich den aufgehängten Flyer gesehen hatte. »Barista gesucht.«

Barista gesucht.

8 Stunden pro Tag, 5 Tage pro Woche.

Gehalt nach Vereinbarung.

Jeder, der guten Kaffee zubereiten kann, ist willkommen.

Min-jun suchte Arbeit, egal welche, und so war er gleich am nächsten Tag in den Buchladen gegangen. Für ihn spielte es keine Rolle, ob er Kaffee kochen, Sachen transportieren, die Toilette putzen, Hamburger zubereiten, Pakete liefern oder Barcodes scannen musste. Jede Arbeit, mit der er Geld verdienen konnte, wäre ihm recht gewesen.

Nachmittags gegen drei Uhr – zu einer Zeit, von der er vermutete, dass besonders wenig los sein würde – öffnete er die Tür des Buchladens und trat ein. Tatsächlich war kein einziger Kunde im Laden. Eine Frau, offenbar die Ladeninhaberin, saß in der Café-Ecke an einem Tisch und schrieb mit einem Stift etwas auf einen Notizzettel. Sie blickte auf und nickte ihm kurz zu. Das ungekünstelte Lächeln, das auf ihrem Gesicht lag, schien zu sagen: »Sehen Sie sich in aller Ruhe um. Ich werde Sie nicht stören.«

Die Frau begann wieder zu schreiben. Min-jun beschloss, nichts zu überstürzen. Erst einmal umschauen. Für eine kleine Buchhandlung war der Laden recht geräumig. Hier und dort standen Sessel. Der Raum lud durchaus zum ungestörten Lesen ein. An das Regal, das die rechte Wand komplett ausfüllte, schloss sich ein weiteres an, das sich über etwa ein Drittel der angrenzenden Wand erstreckte. Zu beiden Seiten der Tür befanden sich, der Höhe der Fenster angeglichen, Verkaufstische mit Schubladenschrank, wobei es nicht so wirkte, als seien die Bücher nach einer bestimmten Ordnung aufgestellt. Min-jun griff nach einem Buch auf dem Tisch unmittelbar vor ihm. Darin befand sich ein handflächengroßer Notizzettel, auf dem stand:

Vielleicht ist der Mensch wie eine Insel. Genauso allein, genauso einsam. Das muss nicht unbedingt schlecht sein. Alleinsein kann auch Freiheit bedeuten, und Einsamkeit große innere Tiefe. Die Geschichten, die mir gefallen, handeln von Menschen, die etwas Inselhaftes haben. Und die Geschichten, die mir wirklich zu Herzen gehen, handeln von Menschen, die wie Inseln voneinander isoliert existieren und dann plötzlich beginnen, einander zu entdecken. »Oh, ich wusste gar nicht, dass du da warst! Doch, ich war da.«

Solche Geschichten. Bei denen man sich denken kann: »Weil ich allein war, habe ich mich ein bisschen einsam gefühlt, aber ich glaube, jetzt muss ich nicht mehr ganz so einsam sein, weil du da bist.« Und dann kann man glücklich sein. Dieses Buch hier hat mir so ein Gefühl vermittelt.

Min-jun steckte den Zettel zurück ins Buch und sah auf den Titel: »Die Eleganz des Igels«1. Min-jun stellte sich einen Igel mit aufgestellten Stacheln vor, der in eleganter Haltung dahintrippelte. Ein Igel? Alleinsein? Einsamkeit? Innere Tiefe? Alleinsein kann auch Freiheit bedeuten, und Einsamkeit große innere Tiefe. Alleinsein hatte für Min-jun bis jetzt einfach nur Alleinsein bedeutet, und Einsamkeit hatte Einsamkeit bedeutet. Was nicht hieß, dass er versucht hätte, das Alleinsein und die Einsamkeit irgendwie zu vermeiden. Und deshalb war er ganz sicher frei gewesen. Aber hatte er auch an innerer Tiefe gewonnen? Da war er sich nicht ganz so sicher.

Min-jun vermutete, dass der Notizzettel, den er eben gelesen hatte, irgendetwas mit dem zu tun hatte, was die Frau dort am Tisch gerade tat. Ob sie diese Notizen alle selbst schrieb? Er hatte gedacht, als Buchverkäufer müsse man nur Bücher ins Schaufenster stellen und dann verkaufen, aber dem war offenbar nicht so.

»Ähm …«, wandte sich Min-jun nun an Yeong-ju, nachdem er als Letztes auch noch kurz die Kaffeemaschine in Augenschein genommen hatte.

»Ja, bitte? Kann ich Ihnen helfen?«

Yeong-ju hörte auf zu schreiben, stand auf und sah Min-jun an.

»Ich habe den Aushang mit dem Stellenangebot gesehen. Für den Barista.«

»Ah! Natürlich. Bitte kommen Sie doch einmal hier herüber.«

Yeong-ju strahlte, als sei soeben lang erwarteter Besuch eingetroffen. Sie ließ Min-jun Platz nehmen, holte vom Schreibtisch neben der Kasse zwei Blatt Papier und legte sie vor sich auf den Tisch. Dann setzte sie sich Min-jun gegenüber und fragte:

»Wohnen Sie hier in der Gegend?«

»Ja.«

»Und Sie wissen, wie man Kaffee zubereitet?«

»Ja, ich habe ein paarmal im Coffee-Shop gearbeitet.«

»Dann können Sie bestimmt diese Kaffeemaschine dort bedienen, oder?«

Min-jun sah zu der Kaffeemaschine hinüber.

»Ja, wahrscheinlich.«

»Würden Sie bitte einen Kaffee zubereiten?«

»Jetzt gleich?«

»Ja, zwei Tassen, bitte. Wir unterhalten uns und trinken Kaffee.«

So saßen die beiden einander gegenüber, den Kaffee zwischen sich. Yeong-ju trank den Kaffee, den Min-jun zubereitet hatte, und Min-jun sah ihr dabei zu. Bevor er den Kaffee gemacht hatte, war er vollkommen entspannt gewesen. Einen vernünftigen Kaffee zuzubereiten war ihm noch nie schwergefallen. Doch nun, wo er betrachtete, wie Yeong-ju den Kaffee probierte, ohne ein Wort zu sagen, wurde er doch ein wenig nervös. Yeong-ju nahm zwei Schluck, ganz langsam. Dann sah sie Min-jun an und fragte:

»Warum trinken Sie nicht? Probieren Sie mal. Schmeckt gut.«

»Ja.«

Sie unterhielten sich etwa zwanzig Minuten lang. Meistens sprach Yeong-ju, und Min-jun hörte zu. Yeong-ju meinte, der Kaffee sei sehr gut, und fragte, ob Min-jun nicht gleich mit der Arbeit beginnen könne. Min-jun erklärte sich, ohne zu zögern, einverstanden und meinte, dass dies ja ohnehin seine Absicht gewesen sei. Yeong-ju hob hervor, dass Min-jun sich hier im Laden ganz auf seine Tätigkeit als Barista konzentrieren könne und nichts anderes zu tun brauche. Er müsse sich nur um den Kaffee kümmern. Und ob es eventuell möglich sei, dass er die Kaffeebohnen selbst aussuche und einkaufe. Auf Yeong-jus wiederholte Nachfrage gab Min-jun kurz und knapp zu verstehen, dass dies kein Problem sei.

»Es gibt da eine Rösterei, bei der ich den Kaffee beziehe. Die Verantwortliche dort ist sehr freundlich.«

»Okay.«

»Jeder macht einfach seine Arbeit, so gut er kann. Und wenn einer viel zu tun hat, kann der andere ein bisschen helfen.«

»Okay.«

»Du kannst mich natürlich auch um Hilfe bitten, wenn du viel zu tun hast.«

»Okay.«

Yeong-ju schob Min-jun den Vertrag hin. Sie holte einen Kugelschreiber hervor und meinte, wenn er einverstanden sei, könne er unterschreiben. Und dann erklärte sie ihm den Inhalt des Vertrags noch einmal Punkt für Punkt.

»Du arbeitest fünf Tage pro Woche. Sonntag und Montag hast du frei. Die Arbeit beginnt mittags um halb eins und geht bis halb neun abends. Ist das in Ordnung?«

»Okay.«

»Der Laden hat sechs Tage in der Woche geöffnet. Ich habe nur am Sonntag frei.«

»Ah, okay.«

»Falls es zu Überstunden kommt, was allerdings kaum der Fall sein dürfte, werden diese extra abgerechnet.«

»Okay.«

»Der Stundenlohn beträgt 12 000 Won.«

»12 000 Won?«

»Wenn du fünf Tage in der Woche arbeiten willst, müsstest du dem zustimmen.«

Min-jun wandte unwillkürlich den Kopf zur Seite und sah sich noch einmal im Laden um. Ihm fiel auf, dass sich, seit er den Laden betreten hatte, kein einziger Kunde hatte blicken lassen. Ob der Ladeninhaberin das überhaupt bewusst war? Offenbar stellte sie zum ersten Mal jemanden bei sich ein und kannte sich mit diesen Dingen einfach nicht gut aus. Es kam ihm nun etwas seltsam vor, dass sich Yeong-ju, so gut gelaunt und bedenkenlos sie dasaß, die ganze Angelegenheit anscheinend sehr einfach vorstellte.

»Normalerweise bekommt man aber nicht so viel«, gab er unnötigerweise zu bedenken.

Yeong-ju blickte auf und sah ihn an. Dann nickte sie, als wisse sie schon, was er meine, und betrachtete den Vertrag.

»Ich weiß. Das ist ja normalerweise auch nicht so einfach. Die hohen Mietkosten und so weiter. Aber das ist schon in Ordnung. Keine Sorge.«

Wieder hob sie den Kopf und schaute Min-jun in die Augen. In ihnen lag etwas Gleichgültiges, aber auch eine gewisse Wärme. Das gefiel ihr. Ein Gesichtsausdruck, der sich nicht sofort entschlüsseln ließ. Auch Min-juns Haltung gefiel ihr. Schlicht und ungekünstelt. Ohne unbedingt einen guten Eindruck machen zu wollen. Trotzdem höflich und anständig.

»Wenn man arbeiten will, muss man Zeit zum Ausruhen haben, und trotzdem braucht man ja eine gewisse Summe zum Leben«, meinte sie.

Min-jun las sich den Vertrag noch einmal durch. Damit er als Ladenhilfe ausreichend Zeit hätte, um sich zu erholen, hatte sie sich also zuerst überlegt, dass er nur fünf Tage pro Woche und acht Stunden am Tag arbeiten solle, und dann den Stundenlohn von 12 000 Won festgelegt, der ihr für einen Ladenassistenten angemessen schien. Vielleicht wollte sie als unerfahrene Ladeninhaberin einfach besonders freundlich sein. Vielleicht lief der Laden in Wirklichkeit auch besser, als es auf den ersten Blick den Anschein hatte. Als Yeong-ju ihn aufforderte, den Vertrag zu unterzeichnen, setzte er seine Unterschrift auf das Papier. Auch Yeong-ju unterschrieb. Dann nahm er den Vertrag und stand auf.

Sie brachte ihn noch nach draußen, und er verbeugte sich. Da sagte Yeong-ju:

»Es kann aber sein, dass dieser Laden nach zwei Jahren wieder schließen muss. Wäre das für dich trotzdem in Ordnung?«

Welcher Laden stellte eine Aushilfe für mehr als zwei Jahre ein? Sein längster Job bisher hatte sechs Monate gedauert. Selbst wenn Yeong-ju ihm nächsten Monat mitteilen würde, dass sie den Laden leider schließen müsse, würde sich sein Bedauern darüber in Grenzen halten. So antwortete er auch dieses Mal wieder nur mit einem knappen »Okay«.

Dass er sich über Yeong-ju gewundert und »okay« geantwortet hatte, lag nun schon ein Jahr zurück. Seitdem hatten sie sich an ihre Vereinbarung gehalten, und jeder war gewissenhaft seiner jeweiligen Aufgabe nachgekommen. Yeong-ju hatte sich hier und da neue Sachen für den Laden einfallen lassen und gespannt die Reaktion der Kunden verfolgt, und Min-jun hatte den Kaffee ausgesucht, in den Laden gebracht und zubereitet. Wenn der Kaffee gut schmeckte, gab es nichts, was Yeong-ju sonst von Min-jun verlangt hätte. Und manchmal kam es vor, dass sie, wenn Min-jun so unbeschäftigt herumsaß und vor sich hindämmerte, plötzlich in lautes Gelächter ausbrach, weil sein Anblick ihr so ulkig vorkam. Und Min-jun dachte in solchen Momenten zwar bei sich, dass dies ja nun nicht gerade sonderlich taktvoll sei, konnte sich aber das Grinsen schließlich selbst nicht verkneifen.

Nun wischte er sich den Schweiß aus dem Haar, öffnete die Ladentür und trat ein. Die kühle Luft der Klimaanlage wehte ihm entgegen.

»Hallo«, begrüßte er Yeong-ju, die dasaß und ein Buch las.

»Hallo, Min-jun, da bist du ja. Ganz schön heiß heute, was?«

»Hm, stimmt.«

Min-jun nahm seinen Platz hinter dem länglichen Bartisch ein. Auf einer Seite der Kasse war Min-juns Platz, auf der anderen Yeong-jus.

»Wie schmeckt der Kaffee heute?«, fragte Yeong-ju, während Min-jun sich die Hände abtrocknete, und Min-jun gab scherzhaft zurück:

»Tja, rate mal.«

Irgendwann stand eine Tasse Kaffee neben dem Buch, das Yeong-ju gerade las. Min-jun saß wieder auf seinem Platz und beobachtete, wie Yeong-ju ihren Kaffee trank. Sie stellte ihre Tasse wieder hin, hielt einen Moment lang inne und meinte dann:

»Schmeckt so ähnlich wie gestern, aber irgendwie noch etwas intensiver. Sehr lecker, wirklich.«

Min-jun lächelte und nickte. Sie wechselten noch ein paar Worte, und dann ging wieder jeder seiner Arbeit nach, so wie immer. Bis der Laden öffnete, würde Yeong-ju in ihrem Buch lesen und Min-jun die Kaffeebohnen für heute bereitstellen und vielleicht hier und da ein wenig Staub wischen. Zwar hatte Yeong-ju gestern vor ihrem Feierabend noch aufgeräumt, aber ein paar Dinge gäbe es für Min-jun sicher schon noch zu tun.

1 Muriel Barbery: L’Élégance du hérisson. Gallimard, Paris 2006

GESCHICHTEN VON MENSCHEN, DIE FORTGEGANGEN SIND

Bevor sie den Laden für die Kunden öffnete, las Yeong-ju Romane. So konnte sie ihre eigene Gefühlswelt für eine Weile vergessen und in diejenige anderer Menschen eintauchen. Gemeinsam mit den Figuren in den Geschichten empfand sie Bitterkeit oder Schmerz oder Heldenmut. Wenn sie die Gefühle der anderen in sich aufgesogen und das Buch schließlich zugeschlagen hatte, kam es ihr vor, als könnte sie jeden Menschen auf der Welt verstehen.

Oft geschah es, dass Yeong-ju ein Buch las, weil sie nach etwas suchte. Allerdings war es keineswegs so, dass sie sich, wenn sie die erste Seite eines Buches aufschlug, stets vollkommen klar darüber gewesen wäre, was sie eigentlich finden wollte. In vielen Fällen kam ihr erst nach ein paar Dutzend Seiten plötzlich der Gedanke, dass diese Geschichte genau das sei, wonach sie gesucht habe. In anderen Fällen aber wusste sie von vornherein ganz genau, wonach sie suchte. Die Geschichten, die Yeong-ju seit etwa einem Jahr las, hatten alle etwas gemeinsam. Sie alle handelten von Menschen, die von irgendwo fortgegangen waren. Für ein paar Tage oder für ihr ganzes Leben. Aufbrüche ganz unterschiedlicher Art, die aber alle das Leben der betreffenden Person verändert hatten.

Damals hatten die Leute zu ihr gesagt: »Wir verstehen dich nicht. Warum denkst du nur an dich selbst?«

Die Stimmen jener Leute, die sie so getadelt hatten, klangen immer wieder wie aus einem Traum zu ihr herüber. Schwächer werdend zwar, so schien es ihr, aber immer wieder ganz plötzlich, aus den Tiefen ihres Gedächtnisses. Jedes Mal erlebte sie dann einen kleinen inneren Zusammenbruch. Irgendwann hatte sie davon genug und sie begann, sich in Bücher zu vertiefen, die von Menschen handelten, die fortgegangen waren. So als wollte sie alle Geschichten dieser Welt zusammentragen, die jemals über Menschen geschrieben worden waren, die von irgendwo fortgegangen oder irgendwohin aufgebrochen waren. Irgendwo in ihr schien es einen Ort zu geben, an dem sich all diese Menschen versammelt hatten und der überquoll von Informationen über diese Menschen. Über die Gründe für ihren Aufbruch, ihre Gefühle im Moment des Aufbruchs, den Mut, den sie dafür hatten aufbringen müssen, ihr anschließendes Leben, die allmähliche Veränderung ihrer Gefühle und Einstellungen, ihr Glück und Unglück, ihre Freude und ihre Trauer. Wann immer sie wollte, konnte sie sich an jenen Ort begeben, sich an der Seite dieser Menschen niederlassen und ihren Geschichten lauschen. Und sich durch das Leben dieser Menschen trösten lassen.

»Wir verstehen dich nicht. Warum denkst du nur an dich selbst?« Die Stimmen derjenigen, die dies zu ihr gesagt hatten, überdeckte Yeong-ju nun mit den Stimmen derjenigen, die fortgegangen waren. Die Stimmen dieser Menschen, die sie in sich trug, gaben ihr Kraft, und mit neu gewonnenem Mut konnte sie nun zu sich selbst sagen:

»Damals ging es nicht anders.«

Seit einigen Tagen las sie nun schon Animal triste von Monika Maron. Die Hauptfigur dieses Buches war eine Frau, die einen sehr radikalen Aufbruch wagte, indem sie Ehemann und Tochter verließ, denn sie hatte sich in einen anderen Mann verliebt. Und sie dachte, dass es im Leben nichts Wichtigeres gebe als die Liebe. Da sie gar nicht anders konnte, als aufzubrechen, hatte sie auch kein schlechtes Gewissen. Nachdem der Mann, den sie liebte, sie dann verlassen hatte, tat sie alles, damit die Erinnerung an ihre gemeinsame Zeit nicht durch spätere Eindrücke überdeckt würde. Für die Erinnerungen an diesen Mann gab sie alles auf, was man als lebenswertes Leben bezeichnen könnte, und blieb jahrzehntelang allein, bis sie schließlich hundert Jahre alt war. Oder neunzig.

Eine gute Geschichte war für Yeong-ju eine Geschichte, die sie an einen Ort führte, den sich nicht erwartet hätte. Dieses Buch handelte also von einer »Frau, die der Liebe wegen fortgegangen war«, und Yeong-jus Interesse hatte sich dabei vor allem auf die »Frau, die fortgegangen war« gerichtet; doch nun dachte sie darüber nach, was Menschen »der Liebe wegen« alles taten. Die Frau in der Geschichte hatte begonnen, die Brille zu tragen, die ihr geliebter Mann zurückgelassen hatte, und sich so die Augen ruiniert. Die Brille war für sie die einzige Möglichkeit gewesen, ihrem Mann noch irgendwie nahe zu sein.

Yeong-ju fragte sich, wie es wohl möglich war, dass ein Mensch einen anderen so sehr liebte. Wie man die Erinnerung an eine 40 oder 50 Jahre zurückliegende Liebe über einen so langen Zeitraum hinweg aufrechterhalten konnte. Wie es sein konnte, dass man nichts bereute, und wie man sicher sein konnte, dass dieser Mensch wirklich die einzige Liebe im eigenen Leben sei. Yeong-ju wusste es nicht. Aber sie fand die Frau in der Geschichte bewundernswert. Das Leben, das sie gewählt hatte, war voller Intensität, und ihr Weg, es zu verwirklichen, glühend und leidenschaftlich.

Yeong-ju hob den Kopf und dachte noch einmal darüber nach, was die Frau in dem Buch gesagt hatte: Dass es nichts Tragischeres gebe, als im Leben seine Liebe zu verpassen. Ob das wirklich so war? Dass es nichts Tragischeres gab als eine verpasste Liebe? War denn Liebe wirklich etwas so Großartiges? Yeong-ju dachte auch, dass Liebe als solche natürlich etwas Gutes sei, aber dass die Liebe größer und wichtiger sei als alles andere, fand sie nicht. Es gab auch Leute, die leben konnten, ohne jemand anderen zu lieben. So wie es andererseits auch Leute gab, die nur von der Liebe allein leben konnten. Yeong-ju hatte das Gefühl, dass sie, wenn sie die Frau gewesen wäre, auch ohne Liebe gut hätte leben können.

Während sie sich so diese Gedanken machte, trocknete Min-jun die Kaffeetassen mit einem harten, starren Geschirrtuch ab. Da klingelte der auf ein Uhr mittags eingestellte Wecker. Minjun hängte das Geschirrtuch zurück an seinen Platz und ging zur Eingangstür, um das Ladenschild mit der Aufschrift »Open« umzudrehen. Als Yeong-ju hörte, wie Min-jun an der Tür herumklapperte, schrak sie aus ihren Gedanken auf. Min-jun kam an seinen Platz zurück. Sie hätte ihn gern gefragt, was er über die Liebe denke. Aber sie beschloss, es bleiben zu lassen. Sie konnte sich schon denken, was er antworten würde. Er würde einen Moment lang nachdenken und dann so etwas antworten wie: »Tja … gute Frage …« Yeong-ju hätte gerne gewusst, was ihm in den Momenten, da er zögerte, wohl durch den Kopf ging, aber Min-jun sprach kaum über seine Gedanken.

Nachdem er das Ladenschild umgedreht und sich wieder an seinen Platz begeben hatte, griff er erneut nach dem Handtuch und begann, die bereits abgewischten Tassen ein weiteres Mal abzuwischen. Yeong-ju betrachtete ihn und kam zu der Einsicht, dass es gut sei, ihn nicht gefragt zu haben. Es gab sowieso nur eine richtige Antwort. Die Antwort, auf die sie selbst in diesem Moment gekommen war, war in diesem Moment die richtige Antwort. Yeong-ju wusste, dass das Leben darin bestand, immer wieder die richtige Antwort für sich anzunehmen und zu testen. Irgendwann käme dann der Moment, in dem sich die bis dahin richtige Antwort als falsch erwies. Dann suchte man eine neue richtige Antwort, und auf diese Weise pflegte sich das Leben für gewöhnlich fortzusetzen. So waren die richtigen Antworten im Leben ständigem Wandel unterworfen.

Yeong-ju sah Min-jun, der immer noch die Tassen abwischte, und sagte:

»Also dann, Min-jun, auch heute einen guten Arbeitstag!«

KÖNNEN SIE MIR EIN GUTES BUCH EMPFEHLEN?

Bevor Yeong-ju sich dazu entschlossen hatte, die Buchhandlung zu eröffnen, hatte sie sich keine Gedanken darüber gemacht, ob sie überhaupt dafür geeignet sei, einen solchen Laden zu führen. Sie hatte gemeint, der Umstand, dass sie gerne Bücher lese, sei doch Voraussetzung genug, aber schon bald nach der Eröffnung des Ladens war ihr aufgegangen, dass sie eine entscheidende Bedingung nicht erfüllte. Wenn nämlich ein Kunde sie bat, ihm ein gutes, ein interessantes Buch zu nennen, dann wusste sie keine Antwort, sondern stammelte herum. Und einmal war es vorgekommen, dass sie einem Kunden, einem Mann, der vielleicht Ende vierzig gewesen sein mochte, ein vollkommen unpassendes Buch empfohlen hatte.

»Der Fänger im Roggen von J. D. Salinger, das fand ich interessant. Kennen Sie das?«

»Nein.«

Der Mann schüttelte den Kopf.

»Das hab ich bestimmt fünfmal oder noch mehr gelesen. Also, so richtig ›interessant‹ ist das Buch nicht unbedingt. Ähm … Also interessant im allgemeinen Sinn. Also so, dass man laut lachen muss oder so gespannt darauf ist, wie es weitergeht, dass einem schwindelig wird. Also in diesem Sinne ist das Buch nicht so interessant. Aber es gibt da etwas, was über diese Art von Interessantheit hinausgeht, und das macht das Buch dann wieder … interessant. Also, in dem Buch gibt es … keine richtige Handlung und keine besonderen Ereignisse. Es sind einfach die Gedanken von einem Jungen. Über ein paar Tage hinweg. Aber ich … fand das interessant.«

»Was denkt der Junge denn?«, fragte der Kunde mit irritiertem Gesichtsausdruck. Yeong-jus Nervosität nahm zu.

»Es sind Gedanken über die Welt aus der Sicht eines Kindes. Über die Schule, Lehrer, Freunde, Eltern …«

»Wäre das Buch denn auch für mich interessant?«, wollte der Mann wissen und blickte nach wie vor verunsichert drein. Yeongju sagte nichts mehr. Wäre das Buch für diesen Kunden interessant? Warum habe ich ihm gerade dieses Buch empfohlen? Während Yeong-ju noch ratlos dastand, bedankte sich der Kunde für die Empfehlung, blätterte ein wenig in verschiedenen Büchern herum und kaufte schließlich ein Sachbuch mit dem Titel Die historische Entwicklung Eurasiens. Er interessierte sich also für Geschichte. Yeong-ju erinnerte sich noch daran, was der Kunde zum Abschied zu ihr gesagt hatte.

»Tut mir leid. Ich hätte Sie nicht fragen sollen. Es hat ja schließlich jeder seinen eigenen Geschmack.«

Da entschuldigte er sich dafür, dass er als Kunde die Buchhändlerin um eine Buchempfehlung gebeten hatte … Dabei wäre es doch an ihr gewesen, sich dafür zu entschuldigen, dass sie ihm kein passenden Buch hatte empfehlen können. Yeong-ju kam der Gedanke, dass es nicht ihre Aufgabe als Buchhändlerin sei, den Kunden ihre privaten Lieblingsbücher aufzudrängen. In Zukunft wollte sie sich angemessener verhalten. Worauf hatte sie dabei zu achten? Immer wenn sie zwischendurch bei der Arbeit ein wenig Zeit hatte, versuchte sie, ihre Gedanken zu ordnen.

Objektiver Blick

Betrachte die Bücher mit objektivem Blick. Wenn du ein Buch empfehlen willst, das nicht dir, sondern dem Kunden gefallen würde, brauchst du einen objektiven Blick.

Frage

Bevor du ein Buch empfiehlst, frage zunächst den Kunden: »Welches Buch, das Sie zuletzt gelesen haben, hat Ihnen besonders gefallen? Welches Buch hat bei Ihnen einen besonders tiefen Eindruck hinterlassen? Welche Sorte von Büchern lesen Sie in letzter Zeit? Was beschäftigt Sie im Augenblick besonders? Gibt es einen Autor oder eine Autorin, den oder die Sie besonders gerne lesen?

Aber auch, wenn sie sich vorab solche Fragen zurechtlegte, gab es Situationen, in denen ihr einfach kein passendes Buch einfiel. Beispielsweise, wenn der Kunde, wie jetzt gerade in diesem Moment, zu ihr sagte:

»Empfiehl mir doch mal ein Buch, das so richtig erfrischend und befreiend ist!«

Min-cheols Mutter meinte, ihr fehle heute die Kraft, in die Volkshochschule zu gehen, und bestellte sich einen Iced Americano. Ein Buch, das so richtig erfrischend und befreiend ist … Das war als Hinweis für Yeong-ju nicht gerade viel. Mit ihren prima vorbereiteten Fragen konnte sie da nicht kommen. Irgendetwas fragen musste sie allerdings.

»Fühlen Sie sich in letzter Zeit irgendwie bedrückt?«

»Ja, das geht jetzt schon ein paar Tage. Es ist ein Gefühl, als wäre mir der Hals zugeschnürt.«

»Was ist denn los?«, fragte Yeong-ju.

Das reglose Gesicht von Min-cheols Mutter begann zu zittern. Sie leerte ihren Eiskaffee in einem Zug bis zur Hälfte, aber ihre Augen blieben kraftlos und leer wie zuvor.

»Es ist wegen Min-cheol.«

Ein Familienproblem. Yeong-ju hatte vonseiten ihrer Kunden schon öfter private Geschichten zu hören bekommen. Irgendwo hatte sie gelesen, dass Leuten, die Bücher schrieben, dies besonders häufig passiere. Dass die Leute ihnen private Dinge anvertrauten, weil sie dachten, dass jemand, der schreibe, ihr Innerstes sofort verstehen würde, besser als der beste Freund oder die beste Freundin. Ihr als Buchhändlerin schien man offenbar ähnlich viel Vertrauen entgegenzubringen. Ob die Leute wirklich davon ausgingen, dass eine Frau, die Bücher verkaufte, unmittelbaren Zugang zur Gefühlswelt ihrer Kunden habe?

»Was ist denn mit Min-cheol?«

Yeong-ju erinnerte sich an Min-cheol. Sie hatte ihn irgendwann einmal gesehen. Ein hübscher Junge, groß und schlank, Oberstufenschüler. Das Gesicht ebenso hellhäutig wie das seiner Mutter, mit klarem, strahlendem Lächeln.

»Min-cheol sagt … er findet das Leben uninteressant.«

»Das Leben?«

»Ja.«

»Warum denn?«

»Das weiß ich auch nicht. Vielleicht hat er das auch einfach nur so dahingesagt … Jedenfalls hat mich das … sehr geschmerzt. Ich habe keine Energie mehr, irgendwas zu machen.«

Min-cheols Mutter meinte, dass ihr Sohn sich für nichts so richtig interessierte. Nicht für die Schule, nicht für seine Computerspiele, nicht für seine Freunde. Das bedeutete jedoch nicht, dass er mit all diesen Dingen absolut nichts am Hut gehabt hätte. Vor Prüfungen lernte er durchaus; war ihm langweilig, beschäftigte er sich schon mit Computerspielen, und mit Freunden traf er sich auch. Aber seine generelle Lebenseinstellung war »null Bock«. Nach der Schule kam er nach Hause, legte sich aufs Bett, surfte im Internet und schlief dann eine Weile. Offenbar ein Fall von schlimmer Lethargie. Mit 17 Jahren.

»Gibt es nicht ein Buch, das einem in so einem Fall weiterhelfen könnte?«, fragte Min-cheols Mutter und saugte den verbliebenen Kaffee zwischen den Eiswürfeln aus ihrem Becher.

Yeong-ju fielen ein paar Bücher ein, die sie Min-cheol hätte empfehlen können. Die Literatur war schließlich voll von Helden, die an Lethargie litten oder in ihrer eigenen Gedankenwelt umherirrten. Aber welches Buch sollte man einer Mutter empfehlen, deren Sohn an Lethargie litt? Sosehr Yeong-ju auch überlegte, ihr fiel kein passendes Buch ein. Auch keines, das von einer Mutter-Sohn-Beziehung gehandelt hätte, und Bücher, in der familiäre Erziehungsmethoden besprochen wurden, hatte sie auch keine gelesen. Yeong-ju brach der Schweiß aus. Aber nicht, weil sie keine Idee hatte, welches Buch sie Min-cheols Mutter empfehlen könnte, sondern weil sie das Gefühl hatte, dass ihr Buchladen plötzlich zu einem unglaublich engen Raum geworden war. Ein Raum, der durch ihre eigenen Grenzen beschränkt war. Ein Raum, der eben nur so groß war wie ihre eigenen Vorlieben, ihre eigenen Interessen und ihr eigenes Lesevermögen. Wie sollte dieser kleine Raum den Leuten irgendeine Hilfe bieten können? Yeong-ju antwortete Min-cheols Mutter ganz ehrlich.

»Mir fällt kein Buch ein, das in so einer Situation erfrischend und befreiend sein könnte.«

»Ach so … ja, verstehe.«

»Aber eben ist mir ein Buch eingefallen, da geht es um das Verhältnis einer Mutter zu ihrer Tochter. Das Buch heißt Amy & Isabelle2. Eine Mutter und ihre Tochter leben zusammen. Na ja, und es ist so, dass sie einander eigentlich sehr lieben, aber gleichzeitig auch schrecklich hassen. Zwischen Eltern und Kindern herrschen ja nicht immer nur Verständnis und Rücksichtnahme. Als ich das Buch gelesen habe, hatte ich das Gefühl, dass Eltern und Kinder sich schließlich in gewisser Weise voneinander trennen müssen.«

Min-cheols Mutter meinte, das klinge nach einem guten Buch, und wollte es gleich kaufen. Als Yeong-ju ihr anbot, sie könne es zur Sicherheit auch erst einmal nur ausleihen, lehnte Min-cheols Mutter ab. Während sie, das Buch in der Hand, den Laden verließ, dachte Yeong-ju darüber nach, welche Wirkung ein Buch mit sich bringen könne. Ob es auf der Welt wirklich ein Buch gebe, das den Leser mit einem Schlag von seinen Sorgen befreien könnte. Ob ein einziges Buch solch eine Wirkung entfalten könnte.

Etwa zehn Tage später kam Min-cheols Mutter wieder vorbei. Sie wolle nur mal kurz vorbeischauen.

»Ich muss gleich wieder los. Aber ich wollte nur kurz sagen, das Buch, das du mir empfohlen hast, war sehr gut. Ich musste beim Lesen so viel weinen. Ich habe mich an meine Mutter und mich erinnert. Wie oft wir uns damals gestritten haben. Wenn vielleicht auch nicht ganz so schlimm wie Amy und Isabelle.«

Min-cheols Mutter unterbrach sich und schien einen Moment lang nachzudenken. Dann sprach sie weiter, die Augen leicht gerötet.

»Das Ende hat mir besonders gefallen. Wo die Mutter immer wieder den Namen der Tochter ruft. Da musste ich so weinen. Min-cheol wird mir später bestimmt ganz genauso fehlen, hab ich mir da gedacht. Und ich habe mich gefragt, wie lange ich ihn wohl noch so im Arm halten kann. Ich glaube, ich muss ihn jetzt auch ein Stück weit loslassen. Auf jeden Fall vielen Dank für den Tipp. Empfiehl mir ruhig mal wieder ein gutes Buch! Also dann!«

Min-cheols Mutter hatte das Buch, das Yeong-ju ihr nach einigem Zögern empfohlen und das eigentlich gar nichts mit ihrer ursprünglichen Frage zu tun gehabt hatte, gerne gelesen. So richtig befreit und erfrischt worden war sie davon nicht, aber sie hatte sich an ihre Mutter erinnern und auch ein wenig über die Beziehung zu ihrem Sohn nachdenken können. So gesehen war Yeong-jus Empfehlung offenbar nicht schlecht gewesen. Auch wenn ein Buch die ursprüngliche Erwartung des Lesers vielleicht nicht erfüllte, solange es ein gutes Buch war, würde er doch eine schöne Leseerfahrung mitnehmen können.

Ob ein gutes Buch eben einfach immer ein gutes Buch war?

Vielleicht ja. Vielleicht genügte es schon, wenn der Kunde, auch wenn das Buch, das Yeong-ju ihm empfohlen hatte, eventuell nicht seinem Geschmack entsprach, doch am Ende das Gefühl hatte, dass es trotz allem irgendwie ein »gutes Buch« gewesen sei. Wenn sie natürlich einem erwachsenen Mann, der sich für geschichtswissenschaftliche Abhandlungen interessierte, einen Roman empfahl, der vom berühmtesten antisozialen Highschool-Schüler der Literaturgeschichte handelte, konnte es natürlich sein, dass der Kunde das Buch unbeachtet links liegen ließ. Aber wenn er irgendwann einmal Lust auf einen Roman bekäme oder seinen Sohn oder seine Tochter besser verstehen wollte, dann würde er das Buch vielleicht doch wieder aus dem Regal holen. Und vielleicht würde es ihm dann sogar gefallen. Wie bei allen Dingen im Leben kam es schließlich auch beim Lesen auf das richtige Timing an.

Was aber war dann das Kriterium für ein gutes Buch? Nach Yeong-jus eigenem Maßstab zu urteilen, waren das einfach Bücher, die sie interessant fand. Aber sie musste über ihren eigenen Maßstab hinausdenken.

Noch mal überlegen. Was machte ein gutes Buch aus?

Ein Buch, das vom Leben erzählt. Nicht einfach nur so, sondern mit ehrlichem und tiefgehendem Blick.

Yeong-ju dachte an die geröteten Augen von Min-cheols Mutter. Und schrieb dann noch eine Antwort.

Das Buch eines Autors oder einer Autorin, der oder die das Leben verstanden hat. Ein Buch über Mutter und Tochter, über Mutter und Sohn, über sich selbst, über die Welt, über den Menschen. Wenn das tiefe Verständnis des Schriftstellers oder der Schriftstellerin das Herz des Lesers oder der Leserin berührt und ihm oder ihr dabei hilft, das Leben besser zu verstehen – das ist ein gutes Buch.

2 Elizabeth Strout: Amy and Isabelle. Random House, New York 1998

ZEIT ZUM SCHWEIGEN, ZEIT ZUM REDEN

Kunden bedienen, Kaffee zubereiten, Bücherbestelllisten schreiben – es gab kaum Zeit, um Atem zu holen. Irgendwann aber kam der Zeitpunkt, da sie aufblickten und alle Arbeit getan und der letzte Kunde gegangen war und kein Kaffee mehr zubereitet werden musste. Dann waren Yeong-ju und Min-jun allein im Laden geblieben. Yeong-ju legte Wert darauf, den Arbeitstag in dieser Zeit entspannt ausklingen zu lassen. Auch wenn noch irgendwo Bücher herumlagen, die eigentlich hätten eingeräumt werden müssen, ging sie stattdessen lieber an die Spüle, um ein wenig Obst zu schälen. Wenn sie den Obstteller dann zu Min-jun brachte, reichte der, so als habe er schon darauf gewartet, ihr sogleich den eben zubereiteten Kaffee.

Danach war es still. Und Yeong-ju empfand es als angenehm, dass es so still war. Mit jemand anderem den Raum zu teilen, sich aber nicht unbedingt mit ihm unterhalten zu müssen, das hatte für sie etwas geradezu Beglückendes. Etwas zu sagen, obwohl man eigentlich gar nichts sagen wollte, konnte natürlich auch Ausdruck von Rücksichtnahme gegenüber dem anderen sein. Aber oft war es so, dass sie aus Rücksicht dem anderen gegenüber die Rücksicht sich selbst gegenüber vernachlässigte. Wenn sie notgedrungen einfach irgendetwas sagte, fühlte sie schon bald eine innere Leere und den Wunsch, sich einfach schnell irgendwohin zu verdrücken.

Yeong-ju hatte gelernt, dass das Schweigen zwischen ihr und Min-jun auch eine Art gegenseitiger Rücksichtnahme darstellte. Es war eine Situation, in der niemand sich aus Rücksicht für den anderen irgendwelche Äußerungen einfallen lassen musste. Und sie hatte gelernt, sich an die Stille zu gewöhnen, die in dieser Situation herrschte.

Während dieser Zeit der Stille, die 10, 20 oder auch mehr als 30 Minuten dauern konnte, waren die Tätigkeiten, die Min-jun verrichtete, immer ähnlich. Auch in den Pausen holte er nie sein Handy hervor. Irgendwo in seinem Lebenslauf hatte seine Telefonnummer gestanden, aber Yeong-ju hatte noch nie mit ihm telefoniert. Manchmal las auch er in einem Buch, schien aber kein besonderes Vergnügen daran zu finden. Das Einzige, was er in dieser übrig gebliebenen Zeit manchmal tat, war, dass er mit den Kaffeebohnen dies und das ausprobierte und dabei wirkte wie ein Forscher in einem Labor. Vielleicht tat er das nur, weil ihm eben nicht Besseres einfiel, aber angesichts des Umstandes, dass sich der Geschmack des Kaffees tatsächlich immer weiter verbesserte, schien er sich tatsächlich ziemlich ernsthaft in diese Experimente zu vertiefen.

Es gab jemanden, mit dem sich Yeong-ju den ganzen Tag über Min-juns Wortkargheit hätte auslassen können. Das war Ji-mi, die Leiterin des Röstereibetriebs, der die Buchhandlung von Hyunam-dong mit Kaffeebohnen versorgte. Alles, was Yeong-ju über Kaffee wusste, hatte sie von Ji-mi gelernt. Yeong-ju, die gerne Scherze machte, und Ji-mi, die gerne welche hörte, hatten sich von Anfang an gut verstanden. Die zehn Jahre Altersunterschied stellten für die beiden kein Problem dar.

Anfangs war Ji-mi meistens in die Buchhandlung gekommen, aber später waren sie dazu übergegangen, sich bei Yeong-ju zu Hause zu treffen. Wenn Yeong-ju Feierabend machte, nach Hause ging und an ihrer Wohnung ankam, hockte Ji-mi schon vor dem Eingang, stand dann auf und klopfte sich den Hintern ab. Immer hatte sie reichlich zu essen mit dabei. Sie konnten zusammen über alles reden. Wenn die eine anfing, einfach draufloszureden, hörte die andere ganz selbstverständlich zu. Und wenn das Gespräch irgendwann plötzlich verebbte, kam es doch kurz darauf gleich wieder in Fahrt. Dabei war es nicht so, dass eine von beiden das Gespräch an sich gerissen hätte, sondern eher flogen kurze Sätze pingpongartig zwischen ihnen hin und her.

Sie saßen bei Yeong-ju zu Hause, tranken Bier und redeten. Auch darüber, wie wenig gesprächig Min-jun war, hatten sie sich schon ausgiebig unterhalten.

»Der sagt ja echt kaum was. Am Anfang dachte ich, das ist ja der reinste Begrüßungsautomat. Die Begrüßung war ja echt das Einzige, was man von ihm zu hören bekam.«

Ji-mi knabberte einen Augenblick an ihrem getrockneten Tintenfisch herum und fuhr dann fort:

»Aber seltsam, antworten tut er ganz gut, wenn man ihn was fragt.«

»Stimmt, jetzt wo du’s sagst …«

Yeong-ju, ebenfalls ein Tintenfischbein zwischen den Zähnen, nickte heftig.

»Stimmt, antworten tut er gut. Jetzt verstehe ich das erst … Wenn ich mich mit ihm unterhalte, ist es irgendwie nie krampfig. Das hängt wahrscheinlich mit seinen Reaktionen zusammen.«

»Wenn ich so überlege, ist Min-jun auch nicht der Einzige, der so schweigsam ist«, meine Ji-mi, immer noch intensiv mit ihrem Tintenfisch beschäftigt.

»Die Männer sind irgendwie alle so. Nach der Heirat sagen sie nichts mehr. Man stößt auf ein Schweigen, das so viel bedeutet wie: Der ganze Ehealltag ödet mich total an.«

Yeong-ju stellte sich Ehemänner vor, die die Langeweile in ihrem Eheleben mit Schweigsamkeit zu besiegen suchten. Dann bekannte sie, welche Gedanken sie sich infolge von Min-juns Schweigsamkeit schon alles gemacht habe.

»Erst habe ich gedacht, der sagt deshalb so wenig, weil er mich irgendwie nicht mag. Und ich hab mich gefragt, ob ich echt so schlimm bin.«

»Wie kommst du denn auf so was? Wirst du irgendwie gedisst, dass du dich so zum Opfer machst?«

»Na ja, das nicht unbedingt, aber … Ich hatte nie das Gefühl, besonders gut mit anderen klarzukommen. Das hat sich irgendwie so angefühlt: Ich laufe wie verrückt immer weiter und weiter geradeaus und höre das Klack-Klack meiner Stöckelschuhe und auf einmal drehe ich mich um und sehe, wie die Leute in meiner Umgebung alle an mir vorbeihasten, so, als wäre ich überhaupt nicht da. Da ist niemand, der mir mal ins Ohr flüstert: ›Hier, probier mal! Ich hab was Leckeres für dich!‹ Heißt das, ich werde gedisst?«

»Würde ich sagen.«

»Ja, dann war es das.«

Yeong-ju seufzte übertrieben laut. Ji-mi nahm das Tintenfischbein, an dem sie die ganze Zeit herumgekaut hatte, ruckartig aus dem Mund, als ginge ihr plötzlich ein Licht auf.

»Mensch …«

»Was ist?«

»Vielleicht redet Min-jun deshalb so wenig mit uns, weil wir Ajummas, Frauen in mittlerem Alter, sind?«

»Glaub ich nicht. So viel älter als Min-jun bin ich ja nun auch nicht.«

Yeong-ju hielt Ji-mi mit gespielter Koketterie ihre ausgebreiteten Handflächen vors Gesicht und klappte dann beide Daumen weg.

»Acht Jahre?«

Ji-mi lachte über Yeong-jus putziges Gebaren.

»Dann ist Min-jun also über dreißig?«

»Als er im Laden anfing, war er dreißig.«

»Ach so. Na ja, dann sind acht Jahre ja wirklich nicht so viel. Aber Min-jun hat sich irgendwie ein bisschen verändert. Hast du das nicht bemerkt?«

»Wieso?«

»In letzter Zeit redet er etwas mehr.«

»So?«

»Jetzt fragt er auch manchmal was von sich aus.«

»Ja?«