Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Ein neuer Frühling – ein neuer Anfang Die junge Schriftstellerin Larissa Weiß hat sich in dem zauberhaften Eifelstädtchen Rodderbach eingemietet. Schreiben will sie hier und für ihren neuen Roman recherchieren. Auch sucht sie nach einer hässlichen Trennung Frieden für ihr verletztes Herz. Zwischen Gassen mit Kopfsteinpflaster, Bauernhöfen und einem uralten Kloster scheint sie endlich die ersehnte Ruhe zu finden. Doch die Mahlers, die sie freundlich aufnehmen, haben nicht nur hübsche Ferienwohnungen mit Familienanschluss zu bieten, sondern auch einen hochattraktiven Sohn. Mehr und mehr fühlt sie sich zu ihm hingezogen. Dabei hatte sie sich geschworen, sich niemals wieder auf eine Beziehung mit einem Mann einzulassen, der so ganz anders ist als sie. Schon bald muss sie sich die Frage stellen, was sie wirklich will und ob sie den Mut aufbringen kann, noch einmal ganz neu anzufangen.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 512
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Willkommen in Rodderbach: Frühlingsmorgen
Impressum
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Epilog
Nachwort 1 der Autorin zur ersten Ausgabe
Nachwort 2 der Autorin zur Neuauflage
Über Petra Schier: Newsletter, Kontakt, Website und mehr
Petra Schier
Willkommen in Rodderbach
Frühlingsmorgen
Roman
Playlist zur Pfingstkirmes in Rodderbach
YouTube: https://tinyurl.com/pfingstkirmesSpotify: https://sptfy.com/pfingstkirmes
Impressum
Dieser Roman ist unter demselben Titel und mit anderem Cover bereits 2023 als genehmigte Lizenzausgabe bei der Weltbild GmbH und Co. KG erschienen.
eBook Edition, Format ePub3Leicht überarbeitete Neuauflage Mai 2025
Version 2 Juni 2025
Copyright © 2022 by Petra Schier
Herausgeberin: Petra Schier, Lerchenweg 6, 53506 Heckenbach
Kontakt: [email protected]
www.mila-roth.de
Cover-Abbildung unter Verwendung von Adobe Stock:
ID #624256569 © kritsada
IDs #614440975, #614441631 @Nataliya Kunitsyna
ISBN 978-3-96711-052-4
Alle Rechte vorbehalten.
Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Kein Teil
des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung der Autorin reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen
insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG («Text und Data Mining») zu gewinnen, ist untersagt.
Die Personen und Handlungen im vorliegenden Werk sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
Erwähnungen von historischen bzw. realen Ereignissen, realen Personen oder Orten sind rein fiktional.
Prolog
Kurz vor der Autobahnabfahrt lenkte sie ihren Wagen auf einen Rastplatz, auf dem kein anderes Auto parkte. Ihr war übel, und je länger sie fuhr, desto schlimmer wurde es. Sie war erschöpft von der langen Fahrt, müde von dem inneren Kampf, den sie seit Stunden mit sich ausfocht. Sie wollte gar nicht hier sein! Was hatte sie sich nur dabei gedacht, so Hals über Kopf aufzubrechen?
Warum in drei Teufels Namen hatte sie nicht auf ihr Bauchgefühl gehört, sondern auf ihre Angst? Jetzt saß sie hier in ihrem Auto auf einem Rastplatz kurz vor dem Ziel und hätte sich am liebsten übergeben.
Sie war ein Feigling. Sie hatte ihre Heimat verlassen und Menschen, die ihr viel bedeuteten, um sich zu einem Ort zu begeben, der für ihr Gefühl auf einem anderen Stern, in einer anderen Welt lag.
Warum tat sie das? Mit einem Mal kam es ihr so vor, als würde sie über sich selbst schweben und sich beobachten, wie sie hinter dem Steuer ihres Wagens saß und durch die Windschutzscheibe starrte, hinter der alles durch den Regen verschwamm. Es regnete schon seit ihrem Aufbruch, fast so, als wolle das Wetter ihren Gemütszustand widerspiegeln.
Sie war dumm, sie war feige und ihr Herz schmerzte auf diese unerträgliche Weise, die nur einen Schluss zuließ: Es war gebrochen. Warum nur fügte sie sich selbst solche Schmerzen zu? Warum hörte sie nicht auf ihr Bauchgefühl – auf ihr Herz? Würde sie diesen beiden Ratgebern folgen, dann gäbe es nur eins für sie zu tun: nach Hause zurückkehren. Auf der Stelle.
Wenn sie noch einen Funken Verstand besaß, dann würde sie ihrer Angst die Stirn bieten und, indem sie das Richtige tat – und das Verrückte! –, dem Teufelskreis entfliehen, in dem sie sich seit Wochen, nein, Monaten befand.
Sie würde neu anfangen.
Doch eines musste sie zuvor noch erledigen, auch wenn es ihr zutiefst widerstrebte, den Weg, den sie eingeschlagen hatte, bis zu seinem Ziel fortzusetzen.
Sie atmete tief durch, ließ den Motor wieder an und fuhr weiter.
Kapitel 1
Stöhnend bog Larissa von der Autobahn ab und drückte kurz ihren Rücken durch. Ihr Navigationsgerät zeigte an, dass es nur noch zwölf Kilometer bis Rodderbach waren. Vorsorglich drehte sie das Radio leiser, damit sie keine Ansage der elektronischen Frauenstimme verpasste. Eine kluge Entscheidung, denn nach drei Kilometern Bundesstraße lotste das Navi sie auf eine gewundene Landstraße, die sich immer wieder durch enge, dicht bewaldete Täler schlängelte, ließ sie zwei Dörfer passieren und mehrmals abbiegen. Zwar war ihr Zielort bereits seit der Autobahn ausgeschildert, doch die Regenwolken hingen tief und schwer über der Eifellandschaft und machten den späten Nachmittag dunkler als gewöhnlich im Mai. Daher verließ Larissa sich lieber auf die Errungenschaften der Technik, anstatt an jeder Kreuzung mühsam die Straßenschilder zu entziffern. Hinter einer weiteren Ortschaft, die nur aus einer Durchgangsstraße zu bestehen schien, an der wie auf einer Perlenschnur links und rechts mehrere Wohnhäuser aufgereiht standen, tauchte sie erneut in das satte Hellgrün eines dicht belaubten Mischwaldes ein, das auch noch den Rest des Tageslichts verschluckte.
Sicherheitshalber unterschritt Larissa die in regelmäßigen Abständen angezeigte Höchstgeschwindigkeit von sechzig Kilometern pro Stunde deutlich, denn zweimal waren ihr bereits große Traktoren mit erschreckend riesenhaften Güllefässern entgegengekommen, die in den Kurven gefährlich weit auf ihre Fahrbahnseite ragten und sie zu Ausweichmanövern zwangen, die bei höherer Geschwindigkeit böse hätten enden können.
Endlich, nach drei weiteren Kilometern, lichtete sich der Wald unvermittelt. Bisher war ihr Weg beständig bergauf gegangen, sodass sie sich nun auf einer Anhöhe befand, von der aus sie ein weites Tal überblicken konnte. Grau in Grau mit braunen und schwarzen Schattierungen lag sie vor ihr, die Gemeinde Rodderbach.
Larissa lenkte ihren Golf nach links auf einen breiten Randstreifen und ließ das Bild eine Weile auf sich wirken. Der Ort war nicht besonders groß; im Internet hatte sie gelesen, dass er weniger als siebentausend Einwohner zählte. Von ihrem Aussichtspunkt aus überblickte sie Rodderbach fast zur Gänze. Sie erkannte die dichte Bebauung im Ortskern, konnte sogar sehen, wo die alte Stadtmauer entlangführte. An drei Stellen ragten mittelalterliche Türme empor. Rodderbach war vor Jahrhunderten einmal eine befestigte und wehrhafte Stadt gewesen. Der gotische Kirchturm reckte sich stolz empor und schien das höchste Gebäude der Ortschaft zu sein – und neben der Burg auch das älteste, wenn man den Artikeln im Internet glauben durfte.
Etwas jünger, jedoch ebenfalls von historischer Bedeutung, war das ehemalige Rodderbacher Zisterzienserinnenkloster, dessen Grundmauern aus dem frühen vierzehnten Jahrhundert stammten und dessentwegen Larissa unter anderem den Weg hierher auf sich genommen hatte. Da es immer trüber wurde, konnte sie es leider nicht erkennen. Die alte Burg jedoch war auch jetzt noch zu sehen, wenn sie den Kopf ein wenig nach rechts drehte. Sie thronte stolz auf dem Rodderberg und trotzte dort ebenfalls schon seit über siebenhundert Jahren dem Wetter und der wechselhaften Geschichte der Eifel.
Entschlossen riss sich Larissa von dem Anblick los und fuhr weiter. Wenig später passierte sie das Ortsschild und gleich darauf eine große Holztafel, die mit den geschwungenen Lettern »Willkommen in Rodderbach« grüßte. Linker Hand führte eine breit ausgebaute Straße auf ein Gewerbegebiet zu. Hinweisschilder zeigten an, dass es dort neben einer Autowerkstatt auch zwei Supermärkte, zwei Discounter sowie einen Bau- und Gartenmarkt gab und noch diverse weitere Firmen, deren Namen sie nicht weiter beachtete. Sie ließ sich von der elektronischen Stimme an gepflegten Ein- und Mehrfamilienhäusern vorbei bis zum Ortskern leiten. Kurz vor der Stadtmauer bog sie links ab. Ein paar Minuten später wurde die Bebauung wieder großzügiger, die Gärten weitläufiger. Stirnrunzelnd musterte sie das Ortsschild, das ihr verkündete, sie habe Rodderbach nun wieder verlassen. War sie noch auf dem richtigen Weg?
Ihr Navigationsgerät gab keinen Mucks von sich, also folgte sie der Straße im Schritttempo, bis nach fast zweihundert Metern unvermittelt die Ansage kam, sie solle nun links abbiegen und habe damit ihr Ziel erreicht.
Larissa zog die Stirn in Falten und hielt an. Linker Hand blickte sie auf eine übermannshohe, dichte Hecke; keine Straße und kein Weg weit und breit.
»Mist«, grummelte sie und sah sich nach einer Wendemöglichkeit um. Langsam ließ sie den Wagen wieder anrollen und bremste unvermittelt, als sie die Zufahrt doch noch entdeckte. Dann atmete sie auf. Sie hatte ihr Ziel tatsächlich erreicht. Vor ihr lag die breite Einfahrt eines Bauerngehöfts. Das hölzerne Schild auf der rechten Seite hieß sie auf dem Lärchenhof willkommen. Darunter schaukelte ein weiteres Schild an zwei Ketten und verkündete: Zimmer und Ferienwohnung frei. Dabei war das Wort Ferienwohnung mit einem schwarzen Klebestreifen durchgestrichen.
Erleichtert lenkte Larissa ihren Golf in den großen Hof und parkte neben einem in die Jahre gekommenen Opel Astra Kombi und einem riesenhaften Geländewagen wesentlich neueren Jahrgangs direkt neben der dreistufigen Treppe, die zum Eingang des Wohnhauses hinaufführte.
Bevor sie ausstieg, blickte sie sich um. Ein riesiges beleuchtetes Gebäude zur rechten Hand war eindeutig ein Stall. Auf der linken Seite erhob sich ebenfalls ein Gebäude, dessen großes Rolltor verschlossen war. Auch die Fensterscheiben waren dunkel, sodass sie nicht erkennen konnte, welchem Zweck es diente. Aber sie würde es schon noch herausfinden, denn immerhin wollte sie ganze drei Monate hier verbringen. Zeit genug also, den Hof und die Umgebung kennenzulernen.
Rasch schaltete sie die Innenbeleuchtung ein und warf einen prüfenden Blick in den Spiegel. Ihre Augen wirkten nach der wegen vieler Staus mehr als sechsstündigen Fahrt von Hannover müde, um den Mund lag ein angestrengter Zug, doch ansonsten fand sie ihren Anblick ganz passabel. Sie zupfte mehr aus Gewohnheit denn Notwendigkeit an ihrem honigblonden, etwas mehr als schulterlangen Haar herum, das sie für die lange Autofahrt mit einer silbernen Spange im Nacken zusammengefasst hatte. Dann zwickte sie sich kurz in die Wangen, streckte sich die Zunge heraus und stieg aus.
Sogleich schlug ihr unverkennbare Landluft entgegen. Aus dem Stall vernahm sie vereinzeltes Muhen und ein Scharren wie von einer Schaufel. Überlagert wurde das Ganze von einem sonoren Brummen, das sie nicht einordnen konnte.
Ohne weiter darauf zu achten, strich sie ihren dunkelblauen Hosenanzug glatt und steuerte auf die Eingangstür zu, die sich bereits öffnete, noch bevor sie die letzte der drei Stufen betreten hatte. Eine leicht rundliche Frau mit blondem Haar und entzückenden Apfelbäckchen strahlte sie an. »Frau Weiß, nicht wahr? Willkommen bei uns auf dem Lärchenhof! Haben Sie gut hergefunden? Kommen Sie doch herein.«
Larissa schätzte die Frau auf Mitte fünfzig und vermutete, dass es sich um die Hausherrin handelte. Lächelnd streckte sie ihr die Hand entgegen, die auch sogleich mit festem Druck ergriffen wurde. »Frau Mahler? Vielen Dank für die herzliche Begrüßung. Ja, ich habe sehr gut hergefunden. Zwar musste ich mich durch drei Staus quälen, aber …«
»Ja, ja, wir haben es in den Verkehrsnachrichten gehört. Schlimm, diese Unfälle immer!« Frau Mahler lächelte unvermindert weiter und lotste Larissa ins Haus. »Nennen Sie mich doch bitte Erika, das tun alle. Und wenn Sie schon so lange bei uns wohnen möchten, ist es doch so viel persönlicher, nicht wahr? Kommen Sie, Sie müssen ja völlig erschöpft sein nach der langen Fahrt. Ich zeige Ihnen Ihre Wohnung, und dann ruhen Sie sich erst einmal aus.«
Dagegen hatte Larissa nichts einzuwenden und folgte der resoluten Frau eine Treppe hinauf in den ersten Stock.
»Hier ist es schon.« Erika Mahler schloss eine Tür auf, die dem Treppenabsatz genau gegenüber lag, und führte Larissa in ein hübsches kleines Apartment mit Doppelbett, zwei großen Wandschränken und einer Couch mit Sessel und Tisch. An der Wand hing ein Flachbildfernseher. Unter einem der beiden Fenster stand ein großer Schreibtisch mit einem Telefon und einer langen Steckdosenleiste. Neben der Tür hing ein riesiger Spiegel, daneben führte ein Durchgang ins Badezimmer.
»Sie haben Glück, momentan beherbergen wir keine weiteren Gäste, sodass Sie vorerst garantiert Ihre Ruhe haben. Der Blick über den Garten und die Felder ist wunderschön. Nun ja, wenn das Wetter besser ist.« Erika wies lachend auf die beiden großen Fenster, hinter denen die Landschaft in einem tristen Einheitsgrau dalag. »Im Bad gibt es sowohl eine Dusche als auch eine Badewanne sowie Waschmaschine und Trockner, und in der Kochnische können Sie sich, wenn Sie mögen, selbst versorgen. Ich habe mir erlaubt, Ihnen ein frisches Brot hinzulegen. Im Kühlschrank sind zehn Eier, Butter, ein Glas Marmelade und Aufschnitt und Käse. Aber Sie dürfen selbstverständlich auch die Mahlzeiten unten mit uns zusammen einnehmen, wenn Ihnen das lieber ist. Kostet auch nichts extra.«
Larissa hob überrascht den Kopf. »Das ist doch nicht nötig. Ich kann mir wirklich selbst etwas zusammenbrutzeln.« Oder es zumindest versuchen, denn Kochen gehörte nicht unbedingt zu ihren Stärken.
»Zusammenbrutzeln?« Erika lachte. »O je, mein Kind. Sie wollen sich doch nicht drei Monate lang von Fastfood und Schnellgerichten ernähren! Und es macht mir wirklich keinerlei Umstände. Früher habe ich jeden Tag für sechs oder mehr Personen gekocht, das steckt mir noch in den Knochen. Wissen Sie, jetzt, wo die Kinder alle groß sind, muss ich mich regelrecht bremsen, um nicht zu viel in die Töpfe zu werfen. Eine Esserin mehr ist mir immer herzlich willkommen.« Damit schien für Erika Mahler das Thema erledigt zu sein, denn sie ging zur Tür. »Mein Mann hilft Ihnen gerne, Ihr Gepäck heraufzutragen. Sagen Sie nur kurz Bescheid. Abendessen gibt es um acht, also haben Sie noch reichlich Zeit, sich einzurichten und auszuruhen. Wir essen abends immer so spät, weil vorher die Tiere versorgt werden müssen. Kommen und gehen Sie bitte, wie es Ihnen beliebt, und fühlen Sie sich ganz wie zu Hause. Ich wünsche Ihnen einen schönen Aufenthalt bei uns!« Sie drückte Larissa Zimmer- und Haustürschlüssel in die Hand und war schon zur Tür hinaus.
Kaum hatte sich besagte Tür hinter ihr geschlossen, da legte Larissa die Schlüssel auch schon rasch auf den Couchtisch und warf sich erst einmal mit einem tiefen Seufzen auf das Bett.
* * *
Sie war eingeschlafen, wachte jedoch gegen kurz vor acht wieder auf. Da ihr Magen vernehmlich knurrte, beschloss sie spontan, Erikas Angebot anzunehmen. An der Tür zögerte sie kurz, doch dann befahl sie sich, nach unten zu gehen und die Familie ihrer Gastgeberin kennenzulernen. Sie wollte ihr Leben wieder in den Griff bekommen. Das funktionierte aber nicht, wenn sie sich in ihrer Ferienwohnung verkroch.
Verführerische Düfte zogen durch das Haus und führten Larissa schnurgerade zu der großen Wohnküche im vorderen rechten Flügel des Hauses, in der Erika bereits eifrig an einer riesigen buchefarbenen, sich über zwei Wände erstreckenden Küchenzeile werkelte. Der Tisch, der zu einer großen Essecke mit Eckbank und vier Stühlen gehörte, war bereits für vier Personen gedeckt und mit einem hübschen Frühlingsgesteck geschmückt, das farblich mit den hellblau, weiß und violett gemusterten Vorhängen harmonierte.
»Da sind Sie ja!« Erika winkte sie zu sich heran. »Ich hoffe, Sie mögen Jägerschnitzel mit Kartoffeln und Gemüse? Ich habe gar nicht überlegt, ob sie vielleicht Vegetarierin oder Veganerin sind. In dem Fall kann ich Ihnen ganz schnell etwas anderes zu den Kartoffeln und dem Gemüse zaubern. Setzen Sie sich doch schon mal. Die Männer werden gleich aus dem Stall kommen, dann können wir essen.«
»Nein, schon gut, ich esse so gut wie alles.« Larissa lächelte ihrer Wirtin zu. »Sie brauchen sich keine Umstände zu machen.«
In diesem Moment klappte die Haustür, Augenblicke später betraten zwei hochgewachsene Männer den Raum. Obwohl der Jüngere um die Dreißig und der ältere mindestens fünfundzwanzig Jahre älter war, sahen sie einander verblüffend ähnlich. Beide waren breitschultrig und kräftig, wobei der ältere jedoch nicht mehr ganz so schlank wirkte, sondern einen leichten Bauchansatz nicht verbergen konnte. Beide Männer hatten dunkelbraunes kurzes Haar, das bei dem Älteren an den Schläfen bereits ergraut war, und ein kantiges, markantes Kinn. Ohne Frage waren dies Vater und Sohn, die von der Stallarbeit hereinkamen. Die Ähnlichkeit wurde noch dadurch unterstrichen, dass beide dunkle Arbeitshosen, Stiefel und karierte Holzfällerhemden trugen. Lediglich ihre Augenfarbe unterschied sie frappierend. Während die des Vaters dunkelbraun war, hatte der Sohn offensichtlich die blauen Augen seiner Mutter geerbt.
»Stiefel aus!«, fuhr Erika die beiden grob an. »Wie oft muss ich euch das eigentlich noch sagen? Ich will keinen Stallmist in meiner Küche.« Sofort machten die beiden kehrt und kamen Augenblicke später auf Socken zurück.
»Na bitte, geht doch.« Mit einem beifälligen Nicken stellte Erika eine Platte mit panierten Schnitzeln und eine Schüssel mit gemischtem Gemüse auf den Tisch zu den anderen Speisen. »Mein Mann Jochen und mein Sohn Thorben«, stellte sie die beiden Larissa vor. »Dies ist unser Frühlingsgast, Frau Weiß«, erklärte sie den Männern und setzte sich auf ihren Platz.
»Larissa bitte«, antwortete diese mit einem Lächeln, das ihr leichter fiel als gedacht.
Die beiden Männer nickten ihr zu und machten sich ohne Umstände über das Essen her.
»Nehmen Sie sich«, forderte Erika sie freundlich auf. »Die Raubtiere werden erst gesprächig, wenn sie satt sind.«
Larissa suchte sich das kleinste Schnitzel heraus, nahm sich eine Portion Kartoffeln, Soße und Gemüse.
Zuvorkommend schenkte Erika ihr Apfelwein aus einer Flasche ein. »Wir waren sehr erstaunt, als wir die E-Mail mit Ihrer Anfrage wegen der Ferienwohnung bekamen«, erzählte sie. »So prominente Gäste haben wir sonst nie. Und als Sie mir dann schrieben, dass Sie hier für Ihr neues Buch recherchieren wollen, bin ich fast vom Stuhl gefallen. Ich habe nämlich alle Ihre Bücher gelesen, müssen Sie wissen. Und als Sie im Frühjahr in Koblenz diese Lesung hatten, wollte ich unbedingt hinfahren, aber es ging nicht, weil meine Schwiegermutter sich den Fuß gebrochen hatte, und … Ach was, jetzt sind Sie ja hier. Ich habe noch nie eine Schriftstellerin persönlich kennengelernt.«
Larissa lächelte. »Ich bin auch nur ein ganz normaler Mensch.«
»Aber mit ein bisschen mehr Fantasie als die anderen«, brummte Jochen Mahler zwischen zwei Bissen.
»Da hast du recht«, stimmte Erika zu. »Ich lese ja für mein Leben gern, aber selbst eine Geschichte schreiben? Nein, das könnte ich nicht.«
»Sie wollen also Ihr nächstes Buch über Rodderbach schreiben?«, mischte sich nun der Sohn des Hauses ins Gespräch. Neugierig musterte er sie und nahm sich dann ein zweites Schnitzel von der Platte.
Larissa nickte vage. »Ich habe es vor. Aber zuerst muss ich die historischen Hintergründe recherchieren und ein Konzept erstellen. Das wird eine ganze Weile dauern, weil ich gleichzeitig noch an anderen Projekten arbeite und natürlich auch den ganzen alltäglichen Kram nicht vernachlässigen darf. Vor dem Sommer werde ich wahrscheinlich nicht mit dem Schreiben beginnen können.«
»Und da reisen Sie also an die Orte des Geschehens und mieten sich dort ein, um zu recherchieren?«, hakte Jochen nach.
Larissa nippte an ihrem Wein und nickte. »Ja. Das heißt, normalerweise reicht es, wenn ich ein paar Tage an den Schauplätzen verbringe und die Fakten in Archiven und Bibliotheken recherchiere. Es ist nur so …« Sie zögerte kurz, entschied sich dann aber, die Wahrheit zu sagen, zumindest in abgespeckter Version. »Ich musste nach meiner Scheidung meine Wohnung in Hannover verlassen, und mein neues Apartment liegt in einem Haus, das gerade grundsaniert wird. Zwar ist es während der Bauarbeiten bewohnbar, aber der Lärm ging mir scheußlich auf die Nerven. Ich hätte zwar auch vorübergehend bei meinen Eltern bleiben können, aber das wollte ich nicht.«
»Warum nicht?« Thorben hob erneut den Kopf und musterte sie fragend.
Larissa lachte. »Mit achtundzwanzig wieder bei den Eltern einziehen? Das würde mir im Leben nicht einfallen.«
Nun fiel auch Erika in ihr Lachen mit ein. »Sie würden sich wundern, wie viele junge Leute hier in der Gegend in Ihrem Alter noch zu Hause wohnen. Thorben ist schon zweiunddreißig und auch noch nicht ausgezogen. Ich warte schon mit Schmerzen darauf, dass er endlich eine Frau findet, die ihn mir abnimmt, aber es hat sich noch keine erbarmt.«
»Mama!« Entrüstet runzelte Thorben die Stirn. »Ich habe doch wohl meine eigene Wohnung drüben, oder etwa nicht?«
Wieder lachte Erika. »Ja, zu deiner Ehrenrettung kann man das sagen. Aber zum Essen kommst du noch immer hierher.« Sie wandte sich an Larissa. »Thorben ist nach seiner Prüfung zum Landwirtschaftsmeister als Partner bei uns auf dem Hof mit eingestiegen und wird ihn später einmal ganz übernehmen. Also wird er wohl auch zukünftig hier leben und vielleicht auch mal eine Familie gründen. Platz dafür ist hier im Haus genug. Drüben auf der anderen Hofseite haben wir einen sehr schönen Bauplatz. Eines Tages werden Jochen und ich uns dort ein kleines Häuschen bauen, wenn es hier mit der nächsten Generation weitergeht. Aber erst einmal muss Thorben natürlich sein Fernstudium abschließen. Er studiert Agrarmanagement, wissen Sie? Und er hat viele Pläne mit unserem schönen Hof hinsichtlich ökologischer Landwirtschaft und so. Man muss mit der Zeit gehen, wenn man in der Landwirtschaft bestehen und konkurrenzfähig bleiben will. Aber da mache ich mir gar keine Sorgen, denn Thorben hat einen hellen Kopf und nicht nur ein ansehnliches Äußeres.«
»Mama!« Diesmal klang Thorbens Stimme wesentlich ruppiger. »Versuchst du gerade, mich anzupreisen?« Er schüttelte den Kopf. »Hören Sie nicht auf meine Mutter«, bat er Larissa. »Sie glaubt, wer über dreißig und noch unverheiratet ist, wird zum Ladenhüter.«
Erika tat beleidigt. »Darüber würde ich mir bei dir ja gar keine Sorgen machen, Junge. Du siehst gut aus, bist ein guter Fang …« Wieder wandte sie sich an Larissa. »Er ist halt ein Landwirt. Nicht viele Frauen wollen auf einen Bauernhof einheiraten. Es gibt ja nicht umsonst diese unsäglichen Verkupplungsshows im Fernsehen.«
Larissa schmunzelte, sagte jedoch nichts.
»Kommt Heinz später noch rüber?«, wechselte Jochen das Thema.
Erika nickte. »Gegen neun, sagte er.« Sie bot Larissa noch von dem Gemüse an, doch diese wehrte ab. »Wir lassen das Fremdenzimmer neben Ihrer Wohnung renovieren«, erklärte sie. »Leider kann der Zimmermann – unser Nachbar Heinz – diese Woche nur abends herkommen. Es könnte ein bisschen laut werden; ich hoffe, das stört Sie nicht. Immerhin sind Sie gerade auf der Flucht vor Baulärm. Wenn ich das gewusst hätte … Aber lange dauert die Renovierung nicht mehr, versprochen!«
Larissa schüttelte den Kopf. »Machen Sie sich bitte keine Gedanken. Solange er die Wand zu mir nicht einreißt, werde ich es überleben. Jetzt sollte ich aber langsam meine Sachen aus dem Auto holen.« Sie legte ihr Besteck beiseite. »Vielen Dank für das ausgezeichnete Essen.«
»Sie sind schon satt?« Erika schmunzelte. »Sie essen ja wie ein Vögelchen! Kein Wunder, dass Sie so schlank sind. Thorben, hilf unserem Gast mit dem Gepäck.«
»Aber nein, das kann ich auch selbst, so viel ist es gar nicht«, wehrte Larissa ab, doch Thorben war bereits aufgestanden.
Grinsend bedeutete er ihr mit Gesten, voranzugehen. »Anordnung des Feldwebels«, sagte er und fing sich von seiner Mutter einen Klaps gegen den Arm ein. »Kommen Sie, bevor sie mit der Bratpfanne zuschlägt.«
* * *
Kaum hatten die beiden die Küche verlassen, ließ Jochen ebenfalls sein Besteck sinken und sah seine Frau strafend an. »Hör auf, den Jungen in Verlegenheit zu bringen. Er ist schon selbst imstande, sich eine Frau zu suchen, wenn er eine haben will.«
»Larissa Weiß ist ein hübsches Mädel«, antwortete Erika, ohne auf die Worte ihres Mannes einzugehen. »Und sie wirkt nett. Ein bisschen reserviert vielleicht oder schüchtern, aber das kann auch daran liegen, dass sie hier noch fremd ist.«
»Sie ist Schriftstellerin, vergiss das nicht.«
»Wie könnte ich!« Erika lachte. »Ich weiß schon, was du sagen willst. Eine Frau, die Bücher schreibt, wird keinen Mann wollen, der die meiste Zeit des Tages Mist an den Stiefeln kleben hat. Aber Thorben hat ihre Bücher auch gelesen.«
»Das macht die beiden noch nicht zum idealen Paar«, gab Jochen zu bedenken.
»Ist ja schon gut, ich werde nichts mehr sagen und den Dingen ihren Lauf lassen.« Erika stand auf und trug die leeren Schüsseln und Teller zur Spüle. »Ich mag sie jedenfalls. Sie hat allerdings etwas Trauriges um sich, wie eine dunkle Aura. Vielleicht liegt das an ihrer Scheidung. Ich wusste zwar, dass sie sich von ihrem Mann getrennt hat, weil sie das mal in ihrem Blog erwähnt hat, aber ich hätte nicht gedacht, dass sie das noch so belasten könnte. Immerhin ist das schon fast ein Jahr her.«
»Eine traurige Aura?« Jochen runzelte halb skeptisch, halb amüsiert die Stirn. »Fällt das nicht in den Bereich deiner Schwester? Überlass den Psychokram lieber ihr, sie hat das studiert.« Die letzten Worte hatte er mit einem gutmütigen Grinsen ausgesprochen.
Prompt traf auch ihn ein Klaps gegen den Arm. »Ich muss nicht Psychologie studiert haben, um zu erkennen, wenn jemand traurig oder einsam ist. Sie ist so sympathisch, da mache ich mir nun mal so meine Gedanken.«
Jochen lehnte sich auf der Eckbank bequem zurück. »Die junge Frau ist gerade mal zwei Stunden hier, von denen du sie vielleicht eine dreiviertel Stunde erlebt hast. Was ist, wenn sie ein paar Leichen im Keller hat, die dir nicht gefallen?«
»Ach was, Leichen im Keller! Du schaust dir zu viele Krimis im Fernsehen an!« Erika kicherte. »Sie ist ein nettes Mädchen und damit basta. Mein erster Eindruck täuscht mich nie, das weißt du ganz genau.«
Kapitel 2
Irgendwo hatte Larissa gelesen, dass der Traum, den man in der ersten Nacht in einem neuen Heim oder an einem fremden Ort hatte, in Erfüllung gehen würde. Als sie am Morgen vom Brummen eines Traktormotors erwachte, konnte sie sich nur daran erinnern, von Hannover und ihrer Fahrt hierher geträumt zu haben. Und von Bäumen, vielen frühlingshaft grünen Bäumen. Dem Blick auf Rodderbach von der Anhöhe aus. Was bitte sollte ihr dieser Traum sagen? Benommen starrte sie in die Dunkelheit. Sie wurde nur von einzelnen Lichtstrahlen durchbrochen, die durch die Ritzen der Rollläden fielen. Wie gerne hätte sie im Traum einen kleinen Hinweis darauf erhalten, wie ihr Leben weitergehen sollte.
Offiziell befand sie sich auf einer Recherchereise für ihren nächsten Roman, vielleicht gar eine ganze Romanreihe. Nebenher würde sie, um ihren Lebensunterhalt zu finanzieren, unter einem streng geschlossenen Pseudonym an einer romantischen Thrillerserie arbeiten müssen, die sie für einen großen Verlag schrieb und in der pro Jahr bis zu vier Bände erschienen. Glücklicherweise musste sie sich hierbei um nichts weiter kümmern, weil der Verlag die komplette Werbung übernahm. Die Serie lief ausgesprochen gut, und sie war ihrer Agentin dankbar, dass sie sie auf diese zusätzliche Einkommensmöglichkeit aufmerksam gemacht hatte. Mit nur einem Standbein konnte sie als Autorin trotz ihres Erfolgs nicht überleben, zumindest nicht, seit sie geschieden war und keinen Partner mehr an ihrer Seite hatte, der die laufenden Kosten mittrug.
Der Gedanke an ihre Scheidung ließ ihr Herz wie immer kurz schneller schlagen; hinzu gesellte sich ein ungutes, flaues Gefühl tief in der Magengrube. Es fiel ihr auch nach einem dreiviertel Jahr immer noch schwer, sich mit dem Scheitern ihrer Ehe auseinanderzusetzen. Felix hatte die Schuld daran ausschließlich ihr in die Schuhe geschoben. Sie hatte ihn verlassen. Sie hatte die Scheidung eingereicht. Sie war nicht in der Lage gewesen, seine Erwartungen zu erfüllen. Sie hatte sich auf die faule Haut gelegt und sich von ihm aushalten lassen. Sie hatte seine wohlmeinenden Ratschläge bezüglich ihrer unglücklichen Berufswahl stets in den Wind geschlagen. Sie hatte es nicht einmal geschafft, den Haushalt ordentlich zu führen, obwohl sie doch den ganzen lieben langen Tag zu Hause hockte. Sie … Sie … Sie …
»Nein!« Entschlossen setzte Larissa sich im Bett auf und schüttelte den Kopf, um diese zerstörerischen Gedanken zu vertreiben. »Hör sofort auf damit!« Sie schwang ihre Beine über die Bettkante, schaltete gleichzeitig die Nachttischlampe an, dann stand sie auf, tappte zu einem der beiden großen Fenster und zog die Rollläden hoch.
Gleißendes Licht flutete das Zimmer und ließ sie mehrmals blinzeln. Als sich ihre Augen an die neuen Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, betrachtete sie still den Ausblick, der sich ihr bot. Vor ihr lag ein großer Bauerngarten wie aus dem Bilderbuch mit diversen Beeten und Hochbeeten, die von Sträuchern, Natursteinwegen und Blühstauden unterteilt wurden. Jetzt, Mitte Mai, waren die Stauden noch nicht sehr hoch und auch noch nicht erblüht, dafür ließ der frühmorgendliche Sonnenschein die bunten Polsterstauden in der Trockenmauer, die den Garten umgab, lieblich erstrahlen.
Hier und da wuchsen Birken und Kastanien, deren Blattwerk gerade in frühlingshaftem Hellgrün die Blicke auf sich zog. Hinter dem Garten lagen Felder und Wiesen sowie eine große Weide, auf der Kühe grasten. Als Larissa das Fenster öffnete, drang vielstimmiges Vogelgezwitscher an ihr Ohr, unterlegt vom leisen Gebrumm eines Traktors, der sich im Stall oder auf dem Hof befinden musste.
Der Anblick dieses pittoresken Frühlingsmorgens vertrieb umgehend alle negativen Gedanken und rief stattdessen einen wohligen Schauer in Larissa hervor, der sich in Unternehmungslust verwandelte sowie in etwas, das sich wie Hoffnung anfühlte.
Fast schon automatisch ging sie zum Nachttisch, nahm ihr Smartphone in die Hand, rief eine App auf und diktierte ihre Eindrücke, um sie später vielleicht irgendwann einmal in einer Geschichte zu verwenden– oder in einem Blogartikel über ihre Recherchereise. Danach blieb sie noch eine Weile still am Fenster stehen und lauschte dem Vogelkonzert.
Ein Blick auf ihre Armbanduhr sagte ihr, dass es kurz vor sieben war. Eigentlich noch zu früh, um etwas zu unternehmen. Larissa war kein ausgemachter Morgenmensch und schlief gerne länger, insbesondere wenn sie abends noch gearbeitet hatte. Heute war es jedoch anders. Die frische Morgenluft und der warme, golden schimmernde Sonnenschein lockten sie. Vielleicht sollte sie sich einfach auf eine erste Besichtigungstour durch Rodderbach begeben, um ein Gefühl für den Ort und die Atmosphäre zu bekommen. Dazu eignete sich ein früher Morgen recht gut, wenn, wie sie vermutete, im Ort noch nicht viel los sein würde.
Später konnte Erika ihr bestimmt sagen, ob die Burg besichtigt werden konnte und an wen sie sich wegen des Klosters wenden musste. Auch standen diverse Besuche in Bibliotheken, dem Kreis- sowie dem Landeshauptarchiv in Koblenz auf ihrem Plan. Aber alles der Reihe nach.
Sie überlegte, ob sie erst noch duschen sollte, da sie dies aber schon am Vorabend getan hatte, entschied sie sich stattdessen für eine Katzenwäsche nebst Zähneputzen, band ihr Haar zu einem lockeren Knoten auf, schlüpfte in Jeans, einen hellroten Pulli und farblich passende Sneakers, schnappte sich Zimmer- und Hausschlüssel sowie ihr Handy und verließ ihr Apartment.
Bevor sie die Tür hinter sich schloss, fiel ihr Blick auf die noch nicht ausgepackten Koffer und Taschen. Sie hatte sie am Abend einfach mitten im Raum liegen lassen und stattdessen an ihrem Laptop einen Blogartikel für ihre Website verfasst. Sie wollte ihre Recherchereise auch für ihre Leserinnen und Leser dokumentieren und eine Art Tagebuch darüber führen. Danach hatte sie keine Lust mehr gehabt, sich um das Gepäck zu kümmern. Nun bildete sie sich ein, Felix’ Stimme zu hören, der sich genervt darüber ausließ, dass man solche lästigen Arbeiten am besten sofort erledigte, dann waren sie vom Tisch. Oder vielmehr sie sollte diese lästigen Arbeiten erledigen, denn er selbst fühlte sich dafür nicht zuständig.
Larissa fletschte die Zähne, dann streckte sie dem Gepäck die Zunge heraus und zog energisch die Tür ins Schloss. Im nächsten Moment zuckte sie heftig zusammen, als sie Erikas Stimme vom unteren Treppenabsatz vernahm.
»Larissa? Guten Morgen! Sie sind aber schon früh auf den Beinen. Haben Sie gut geschlafen? Ist alles zu Ihrer Zufriedenheit?«
Eilig stieg sie die Treppe hinab. »Guten Morgen, Erika. Ja, danke, ich habe ausgezeichnet geschlafen. Das Apartment ist genau richtig.«
»Wie schön.« Erika strahlte sie an. »Möchten Sie vielleicht nachher mit uns frühstücken?«
Erneut zögerte Larissa kurz und ärgerte sich über sich selbst, weil sie sich doch vorgenommen hatte, spontaner zu werden. »Ich möchte einen Morgenspaziergang machen, dann verpasse ich das Frühstück doch bestimmt.«
»Ach was, da müssten Sie aber eine lange Wanderung machen. Wir frühstücken so gegen halb neun, wenn die Kühe gemolken sind und der Stall fertig ist. Ich gehe auch gleich raus, um den Männern zu helfen. Jochen und Thorben sind schon seit halb sechs draußen und unsere Aushilfen seit halb sieben. Normalerweise fangen wir erst um sechs im Stall an, aber heute früh hat eine Kuh gekalbt, da mussten die beiden früher raus.« Erika musterte Larissa wohlwollend, dann lächelte sie erneut. »Sie sehen wirklich ausgeschlafen aus. Viel besser als gestern Abend nach der langen Autofahrt. Genießen Sie den Spaziergang. Das Wetter soll sich heute halten und auch schon richtig warm werden. Im Augenblick ist es aber noch kühl, dieser Pulli ist also genau richtig, der sieht schön kuschelig aus. Also … Wie gesagt, gegen halb neun, wenn Sie dann Frühstückshunger haben sollten.« Während sie sprach, war Erika zur Tür gegangen und in ein Paar hoher graugrüner Gummistiefel geschlüpft. Erst jetzt bemerkte Larissa, dass ihre Wirtin ähnliche grauschwarze Arbeitshosen trug wie die Männer am Vorabend, dazu ein graues Poloshirt und eine ebenfalls grauschwarze Arbeitsjacke. »Sie brauchen übrigens nicht abzuschließen, das tun wir so gut wie nie oder nur, wenn wir, was selten genug vorkommt, alle gleichzeitig den Hof verlassen. Bis später!« Erika winkte kurz und verließ das Haus.
Larissa folgte ihr eilig und sah ihr nach, wie sie hinüber zum Stall ging und im Inneren verschwand. Für einen kurzen Moment war sie versucht, Erika zu folgen und sich die Stallungen von innen anzusehen, doch sie verwarf den Gedanken sofort wieder. Die Mahlers waren jetzt mit ihrer Morgenroutine beschäftigt, da wollte sie nicht im Weg herumstehen. Außerdem lockte sie der Sonnenschein noch mehr, deshalb begab sie sich rasch zum Hoftor und blickte sich aufmerksam um, bevor sie den Weg in den Ort einschlug.
Ihr gestriger Eindruck von Rodderbach bestätigte sich. Es handelte sich um eine hübsche Kleinstadt mit überwiegend sehr gepflegten Ein- und Mehrfamilienhäusern, Vorgärten, in denen bereits die ersten Frühlingsblumen blühten, und einer gemächlichen, ruhigen Ausstrahlung. Zu dieser frühen Stunde entdeckte sie wie erwartet nur vereinzelt Menschen auf den Straßen, doch das war ihr gerade recht.
Sie konnte genau erkennen, dass am Ortsrand Neubaugebiete erschlossen worden waren, während die Häuser, die sich näher am Ortskern befanden, offensichtlich zu unterschiedlichen Zeiten gebaut worden waren. Sie sah Baustile aus den Neunziger-, Achtziger- und Siebzigerjahren ebenso wie noch ältere Gebäude und Wohnhäuser aus Fachwerk, die teilweise bereits weit über hundert Jahre alt sein mussten. An manchen dieser alten Häuser entdeckte sie Schilder oder Plaketten mit dem Jahr ihrer Erbauung. Zu ihrem Staunen und ihrer Freude stammten die ältesten dieser Gebäude bereits aus dem siebzehnten Jahrhundert. Diese Epoche lag zwar nicht in der Zeitspanne, in der ihr geplanter Roman spielen sollte, dennoch interessierten sie solche alten Häuser sehr. Später würde sie den historischen Stadtkern erkunden, denn sie hatte bereits im Internet gelesen, dass es dort sogar Bauwerke aus dem Spätmittelalter gab. Sie liebte es, historische Orte zu besichtigen, sich in ihre Geschichte hineinziehen zu lassen und sich ganz und gar in den Details vergangener Epochen zu verlieren.
Doch zunächst wollte sie sich nur orientieren und ein erstes Bild von Rodderbach machen. Deshalb bemühte sie sich, als sie das Eifeltor, eines der alten Stadttore, durchquerte, ihren Blick nicht zu sehr auf die Details zu richten, sondern auf das große Ganze. Sie ließ die Atmosphäre der engen Gassen, die zu Fußgängerzonen umfunktioniert worden waren, auf sich wirken, ebenso wie den fröhlichen Blumenschmuck an vielen Fenstern und die teilweise aufwendig restaurierten Fassaden und Wandmalereien aus verschiedenen Epochen. Rodderbach war das, was ihre Mutter vermutlich als entzückendes Urlaubsstädtchen bezeichnet hätte. Es gab viele Cafés, Restaurants und Kneipen, diverse Einzelhandelsgeschäfte, die von Postkarten über Büro- und Schulbedarf, Wolle, Kleidung und Souvenirs bis hin zu Elektronik- und Computerbedarf so gut wie alles boten, was man im Alltag brauchte. Auch einen kleinen Lebensmittelladen gab es, vermutlich für den schnellen Einkauf der direkten Anwohner zwischendurch. Ganz sicher erledigten die meisten Rodderbacher ihre regelmäßigen Lebensmitteleinkäufe drüben im Gewerbegebiet.
Während sie über das uralte Kopfsteinpflaster der Innenstadtgassen streifte, entdeckte sie auch eine Buchhandlung, einen Juwelier, zwei Optiker, die Namensschilder mehrerer Arzt- und Anwaltspraxen und eines Notars. Es gab eine Postfiliale, einen Handyshop, in dem man ebenfalls Pakete über einen bekannten Versanddienstleister versenden konnte, gleich drei Friseursalons – in einem davon gab es anscheinend auch ein Kosmetik- und Tattoo-Studio – und mehrere Bäckereien. Ein typisches Touristenstädtchen also. Nichts Ungewöhnliches, sah man einmal von der besonderen Schönheit der historischen Altstadt ab, die wiederum sicherlich für jede Menge Tourismus sorgte.
Die Bäckereien hatten bereits geöffnet, und durch die offenen Türen drangen verführerische Düfte nach allerlei Gebäck und frischem Kaffee an Larissas Nase. Zu ihrer Überraschung waren hier in der Ortsmitte schon mehr Leute unterwegs. Alles in allem war es aber noch recht ruhig, sodass sie ihren Morgenspaziergang ungestört genießen konnte.
Als sie den Marktplatz im Herzen Rodderbachs erreichte, blieb sie beeindruckt stehen. Rechter Hand ragte die große gotische Kirche empor, genau gegenüber lag das historische Rathaus, in dem auch heute noch die Stadtverwaltung untergebracht war. Dazwischen lag ein großer, ovaler Platz, der von überwiegend historischen Gebäuden mit Gastronomie gesäumt wurde. Vor den Lokalen waren Tische und Stühle oder Bänke aufgestellt, die zum Verweilen einluden. Auch um den großen Marktbrunnen standen steinerne Bänke, und überall gab es Hochbeete, Kübel und Rabatten voller Azaleen, Freesien, Bartnelken und sogar, an sehr geschützten Stellen, früher Hortensien. Auch Pfingstrosenbüsche entdeckte sie, doch deren Knospen würden wohl noch ein Weilchen brauchen, bis sie erblühten.
Für eine geraume Weile blieb Larissa einfach nur mitten auf dem Platz stehen und schaute sich um. Ein seltsames Gefühl ergriff sie. Fast war es, als sähe sie das alles nicht zum ersten Mal, obwohl sie noch nie zuvor in Rodderbach gewesen war. Es war eine Empfindung, die sie an ein Déjà-vu erinnerte. Gleichzeitig war alles neu, fremd und dennoch seltsam vertraut. Vielleicht lag es daran, dass sie schon viele historische Altstädte besucht hatte, um für ihre Romane zu recherchieren. Allerdings hatte sie dort nie dieses eigenartige Kribbeln in der Magengrube verspürt, diese unterschwellige Vorfreude – auf was eigentlich? Ihren Roman? Ihre Recherche? Ganz früher, als Kind, hatte sie ein ähnliches Gefühl gehabt, wenn sich die Sommerferien dem Ende zuneigten und ein neues Schuljahr bevorstand. Auch dann hatte sie stets so ein gewisses Kribbeln und eine angenehme Aufregung empfunden, weil ein neuer Lebensabschnitt, ein neues Schuljahr vor ihr lag.
Ein neuer Lebensabschnitt – war es das vielleicht? War ihr Aufenthalt in Rodderbach der Beginn von etwas Neuem, Besserem? Sie hoffte es, denn sie wollte nichts lieber, als die Vergangenheit hinter sich lassen. Ihre Recherchen hätte sie ganz sicher auch in wesentlich kürzerer Zeit durchführen können, doch sie hatte sich entschlossen, sich ganze drei Monate aus ihrem alten Leben zurückzuziehen, aus ihrer alten Umgebung, um wieder zu sich selbst zu finden und zu entscheiden, wie ihr zukünftiges Leben aussehen sollte.
Viel zu lange hatte sie sich fremdbestimmen lassen und es eine geraume Zeit lang nicht einmal wirklich bemerkt. Sie war erst zweiundzwanzig gewesen, als sie Felix geheiratet hatte. Zu dem Zeitpunkt waren sie bereits seit mehr als vier Jahren ein Paar gewesen. Eine typische Jugendliebe, die zu mehr geworden war. Dabei war sie immer davon ausgegangen, dass es gerade ihre unterschiedlichen Persönlichkeiten gewesen waren, die sie gegenseitig angezogen und fasziniert hatten. Erst nach mehreren Jahren war ihr nach und nach bewusst geworden, dass Felix und sie nicht nur sehr unterschiedliche Ansichten zum Leben hatten, sondern in manchen Bereichen gänzlich inkompatibel waren. Dennoch hatte sie immer gehofft, dass er sie irgendwann besser verstehen würde. Er liebte sie doch! Zumindest hatte er das immer gesagt. Offenbar hatte er gehofft, dass sie sich für ihn ändern würde. Doch das war nicht geschehen; sie war nicht fähig dazu.
Inzwischen war sie weit genug, um für sich zu entscheiden, dass sie sich gar nicht ändern wollte. Sie war sie, mit allen guten und weniger guten Eigenschaften, ihren Ecken, Kanten und Schrullen. Sie ertrug es nicht mehr, dass jemand ihr vorschreiben wollte, wie sie zu leben oder zu arbeiten hatte. Und schon gar nicht wollte sie sich wegen ihres Lebensentwurfs ein schlechtes Gewissen machen oder einreden lassen, dass sie die alleinige Schuld am Scheitern ihrer Ehe trug.
Ganz sicher hatte sie Fehler gemacht, der größte war vermutlich gewesen, zu hoffen und zu erwarten, dass der Mann, den sie liebte und den sie geheiratet hatte, sie so lieben würde, wie sie war, ohne sie ändern oder verbiegen zu wollen. Aus diesem Grunde hatte sie sich geschworen, niemals wieder einem Menschen so viel Macht über sich zu gewähren. Lieber blieb sie für den Rest ihres Lebens allein, als sich noch einmal so eingeengt, so unverstanden und am Ende sogar missachtet zu fühlen.
All diese Gedanken streiften sie in nicht mehr als ein, zwei Atemzügen, verflüchtigten sich jedoch gleich wieder. Zurück blieb nur weiterhin dieses verheißungsvolle Kribbeln. Nicht schlecht für den Anfang.
Langsam ging sie den Weg zurück, auf dem sie gekommen war, und blieb für einen Moment sinnierend vor der geöffneten Eingangstür der Bäckerei Adams stehen. Der Duft ließ ihren Magen knurren.
Sie schrak zusammen, als hinter ihr eine Fahrradklingel ertönte und gleich darauf die Stimme eines Mannes.
»Tuut, tuuut! Achtung, du stehst auf meinem Parkplatz!«
Hastig sprang sie zur Seite, bevor ein großes Dreirad sie streifen konnte. Ein untersetzter Mann mit hellbraunem, leicht verstrubbeltem Haar, den sie auf Mitte oder Ende dreißig schätzte, sprang behänd vom Sattel und lächelte sie ebenso freundlich wie neugierig an. »Guten Morgen. Du musst aufpassen, ich parke jeden Morgen da vor der Bäckerei. Fast hätte ich dich umgefahren.« Zu ihrer Überraschung streckte er ihr leutselig die rechte Hand hin. »Ich bin der Franz-Josef. Und du? Bist du auf Urlaub hier? Ich hab dich noch nie in Rodderbach gesehen.«
Höflich ergriff sie seine Hand und hätte beinahe über seinen festen, aber extrem kurzen Händedruck gelacht. »Guten Morgen. Ich heiße Larissa und bin für drei Monate in Rodderbach, um für mein neues Buch zu recherchieren.«
»Oh, du bist eine Schriftstellerin?« Franz-Josef machte große Augen. »Dann bist du bestimmt die, die bei den Mahlers eingezogen ist, oder? In die Ferienwohnung? Die Jessie und der Thorben und der Holger haben davon erzählt, als wir letzte Woche den Tag der offenen Tür bei der Feuerwehr hatten. Und die Erika hat gemeint, du wärst sogar ganz berühmt. Stimmt das?«
Larissa schmunzelte. »Na ja, berühmt vielleicht nicht, aber auch nicht ganz unbekannt.«
»Ich lese auch manchmal, aber nur Comics und die Zeitung. Bücher sind mir zu lang und zu anstrengend.« Franz-Josef schien es nicht eilig zu haben, denn er lehnte sich bequem gegen sein Dreirad und musterte sie aufmerksam. »Aber schon cool, wenn wer so was schreiben kann. Das ist bestimmt schwer, oder? Und jetzt schreibst du also ein Buch über Rodderbach? Was steht denn da drin?«
Larissa hob die Schultern. »Im Moment habe ich erst nur eine grobe Idee. Es soll ein historischer Roman werden, der zum Teil im alten Rodderbacher Kloster spielt. Im Mittelalter«, setzte sie hinzu, als er die Stirn runzelte.
»Das alte Kloster ist gar kein Kloster mehr«, antwortete er schließlich. »Das war ganz, ganz früher mal eine Herberge oder so und jetzt steht es leer, weil niemand weiß, wem es richtig gehört. Die Deckers sagen, es ist ihres, weil sie es vom alten Napoleon gekauft haben oder so. Das ist schon ziemlich lange her, aber es gibt keine Kaufurkunde. So was braucht man ja, sonst sagt der Staat, das gehört dir nicht. Blöd, oder? Dabei kümmern sie sich schon seit immer um den Grund und halten alles sauber und so. Und der Ben Decker, der will eigentlich ein Hotel oder so was draus machen. Aber das geht ja nicht, wenn er keine Kaufurkunde hat.« Franz-Josef rieb sich übers Kinn. Ihm war deutlich anzusehen, was er von solch einer Ungerechtigkeit hielt. »›Ist wahrscheinlich alles im Krieg verschwunden‹, sagt Richard, das ist der Vater von Ben. Und jetzt können sie sehen, wo sie bleiben. Aber sie haben ja noch den Rodderbacher Hof hinten beim Kloster am Markt. Das ist eine Wirtschaft und da gibt es die besten Bratkartoffeln der Welt.« Grinsend rieb Franz-Josef sich über den Bauch. »Musste mal probieren, wenn du so lange hier bist.«
»Das werde ich bestimmt tun«, versprach Larissa.
»Wenn du übers Mittelalter schreiben willst, hättest du mal vor drei Jahren hier sein müssen, da hatten wir nämlich unsere große Tausendjahrfeier. So lange gibt es Rodderbach nämlich schon, also mindestens. Da war vielleicht was los hier!« Seine hellblauen Augen leuchteten bei der Erinnerung an dieses Großereignis. »Da war Kirmes und ein großer Festumzug mit Wagen und historischen Kostümen und all so was. Und der Bürgermeister hat damals eine dicke Chronik rausgeben lassen, die steht bei uns im Regal. Martin hat sie, glaube ich, ganz gelesen. Er liest total gerne. Also Martin, das ist mein Bruder, der … Ach, da kommt er ja!« Heftig winkte Franz-Josef jemandem hinter Larissa zu. »Hey, Martin, bist du nicht arbeiten? Guck mal, ich hab Larissa getroffen. Sie ist Schriftstellerin und schreibt ein Buch über Rodderbach.«
Noch ehe Larissa sich umdrehen konnte, tauchte der Bruder bereits neben ihr auf und gab Franz-Josef ein kumpelhaftes High-Five. »Guten Morgen, großer Bruder. Na, bist du auf dem Weg in die Bäckerei?«
»Klar, wie immer. Die Bäckerei Adams hat die besten Hörnchen und Schoko-Croissants«, vertraute er Larissa an. »Ich hole jeden Morgen welche für die Mutter und mich. Und am Wochenende auch für Martin, wenn er nicht arbeiten muss.«
»Übertreib es nicht mit den Schoko-Croissants.« Martin klang wie ein besorgter Vater. »Du weißt, dass du mit deinem Zucker aufpassen musst.«
»Ich nehm jeden Tag meine Medikamente. Gestern hatte ich nur Brot, und die Frau Dr. Klöppel hat gesagt, dass ich jeden zweiten Tag ein Schoko-Croissant darf.« Erneut streckte Franz-Josef Larissa seine Rechte hin, und als sie sie ergriff, schüttelte er sie wie zuvor kräftig, aber überaus kurz. »Ich geh dann mal rein, bevor es nix mehr gibt. Tschö, Larissa!«
»Tschüss.« Larissa sah ihm lächelnd nach.
»Entschuldigung, äh … Larissa?« Martin wandte sich ihr mit einem verlegenen Lächeln zu. »Ich hoffe, mein Bruder hat Sie nicht aufgehalten. Er kann sehr anhänglich und redselig sein, wenn er jemanden sympathisch findet.«
»Nein, schon gut, wir haben uns sehr nett unterhalten.« Sie musterte ihn aufmerksam. Er war größer und schlanker als sein Bruder, mit breiten Schultern und schmalen Hüften. Sein Haar war eine Spur dunkler, seine Augen hinter der silbern gerahmten Brille mehr grau als blau und im rechten Ohrläppchen trug er einen winzigen dunkelblauen Ohrstecker. »Ich bin Larissa Weiß.«
»Martin Schmittbauer.« Er schüttelte ihre Hand mit angenehmem festem Druck. »Ich war eigentlich nur auf dem Weg zum Optiker, um meine neue Brille abzuholen. Die hier tut es nicht mehr lange. Hab mich neulich mal draufgesetzt, das ist nicht zu empfehlen.« Wie zum Beweis rüttelte er leicht an einem der Brillenbügel, sodass das ganze Gestell heftig wackelte. Er grinste und ähnelte plötzlich seinem Bruder deutlich mehr. »Sorry, vollkommen uninteressant, oder? Sie sind also Schriftstellerin? Dann sind Sie diejenige, die jetzt bei Mahlers in der Ferienwohnung wohnt?«
Larissa gluckste. »Das scheint sich ja bereits herumgesprochen zu haben.«
»Das ist in Rodderbach kein großes Kunststück. Immerhin wohnen Sie bei der Schwester der frischgebackenen Bürgermeisterin. Und die beiden wiederum sind beste Freundinnen von Heidi Decker, unserer neuen Presse- und Social-Media-Frau.« Er lachte. »Seit die drei im Rathaus das Zepter übernommen haben, wird Rodderbach modern. Wir haben jetzt sogar eine Seite auf Facebook und eine auf Instagram und eine Handy-Chatgruppe für den ganzen Ort. Irre, oder? Das hat Heidi alles mit programmiert. Hätte ich nie gedacht, dass sie so was kann. Aber ich rede und rede, dabei haben Sie bestimmt Besseres zu tun, als mir zuzuhören.«
»Nein, also …« Larissa warf einen Blick in die Bäckerei, wo Franz-Josef nun heftig gestikulierend mit der Verkäuferin plauderte. »Ich habe nur einen ersten Morgenspaziergang durch den Ort gemacht. Weder Sie noch Ihr Bruder haben mich aufgehalten oder gestört.«
»Franz-Josef kann schon manchmal wie eine Klette sein.« Martin zuckte mit den Achseln. »Meistens, wie gesagt, wenn er jemanden wirklich nett findet. Zögern Sie bitte nicht, ihn in die Schranken zu weisen, falls er es mal übertreiben sollte. Er wird es Ihnen nicht übel nehmen. Er kennt nur einfach seine Grenzen nicht – oder die anderer Menschen.«
»Sie kümmern sich um ihn?« Larissa hüstelte. »Entschuldigen Sie bitte, da spricht die neugierige Autorin aus mir.«
»Schon gut.« Martin winkte ab. »Es ist ja kein Geheimnis. Ich habe schon immer auf ihn aufgepasst. Das hat sich einfach so ergeben nach dem Tod unseres Vaters. Unsere Mutter war auch lange krank und so … Jetzt geht es ihr so weit wieder gut, aber sie ist nicht belastbar. Einer muss ja alles zusammenhalten, so ist das in einer Familie.« Er lächelte leicht. »Er ist nun mal mein großer Bruder.« Diese schlichte Feststellung enthielt mehr Zuneigung, als Martin vielleicht selbst bewusst war, denn er wechselte übergangslos das Thema. »Sie schreiben also wieder einen historischen Roman? Ich habe schon zwei von Ihnen gelesen. Die sind wirklich gut. Drüben im Rathaus können Sie sich unsere Ortschronik holen. Hochinteressant. Der frühere Bürgermeister hat zur Erstellung mit dem Heimatverein und zwei Historikern zusammengearbeitet.« Er hüstelte. »Eines der wenigen Projekte, für die wir ihm dankbar sein können. Ansonsten … Nun ja, es gibt gute Gründe dafür, dass jetzt Hanne Mahler das Bürgermeisteramt innehat. Wenn Sie wirklich drei Monate hier verbringen wollen, werden Sie bestimmt eine Menge von allem mitbekommen, was hier so hinter den Kulissen abläuft.«
Larissa runzelte die Stirn. »So schlimm?«
»Ach nein.« Beschwichtigend hob Martin die Hände. »Nicht schlimm, nur manchmal kurios. Auf Hanne liegen viele Hoffnungen, dass sie wieder eine gerade Linie in unsere Stadtpolitik bringt. In den letzten Jahren gab es einfach zu viel Kuddelmuddel, wie man so schön sagt. Oft hört man so etwas ja eher aus den großen Städten, aber wir hier in der schönen Eifel können das auch ziemlich gut.« Nun lachte er doch wieder. »Wie gesagt, Sie werden es noch selbst erleben. Ich wünsche Ihnen auf jeden Fall eine schöne Zeit bei uns in Rodderbach. Und auf Ihr neues Buch bin ich schon sehr gespannt.«
Larissa erwiderte sein Lächeln. »Erst einmal muss ich recherchieren. Noch habe ich nicht ein Wort geschrieben. Aber was ich bisher vom Ort gesehen habe, gefällt mir sehr gut. Inklusive der Bewohner«, setzte sie mutig hinzu. Sie war sonst nicht so geradeheraus, aber Martin und auch Franz-Josef waren ihr beide sehr sympathisch, und sie hatte sich ja vorgenommen, ein neues, freieres Leben zu beginnen.
Martin lachte auf. »Ich hoffe, das messen Sie nicht nur an den Schmittbauer-Brüdern. Immerhin sind wir schon ein bisschen … eigen.« Er zwinkerte ihr zu. »Allerdings trifft das auch auf ein paar andere Rodderbacher zu, insofern warten Sie vielleicht mit Ihrem Urteil noch eine Weile ab und leben sich erst einmal ein.«
Larissa kicherte. »Wollen Sie mir Rodderbach nun ans Herz legen oder madigmachen?«
»Ersteres natürlich.« Er grinste jungenhaft. »Aber ich nehme an, Sie haben noch nie in einem Eifelkaff gelebt. Machen Sie sich einfach auf ein buntes Völkchen gefasst. Alles in allem sind wir aber ganz gut genießbar.« Er hob die Hand zum Abschied. »Ich muss jetzt wirklich los, sonst setzen sie in meinem Betrieb noch eine Suchmeldung ab, wenn ich nicht bald wieder dort bin. Man sieht sich.« Er zwinkerte noch einmal. »Das meine ich wörtlich. Rodderbach ist so klein, da sieht man sich zwangsläufig. Also, bis dann!« Er wandte sich ab und ging mit ausholenden Schritten auf das linke der beiden gleich nebeneinanderliegenden Optikergeschäfte zu.
Larissa sah ihm erheitert nach, dann warf sie einen Blick zur Bäckerei. Gerade kam Franz-Josef wieder heraus und ging zielstrebig zu seinem Dreirad. »Ich muss los«, sagte er zusammenhanglos zu Larissa. »Die Mutter wartet auf die Frühstücksbrötchen.« Schon stieg er auf und radelte in flottem Tempo davon.
Larissa drehte sich unschlüssig einmal im Kreis, dann beschloss sie, Martins Rat zu folgen, sich im Rathaus diese Chronik zu besorgen und danach in ihre Ferienwohnung zurückzukehren. Der Glockenschlag am Kirchturm gemahnte sie daran, dass sie sich beeilen musste, wenn sie Erikas Angebot mit dem Frühstück wahrnehmen wollte.
Kapitel 3
Es war gerade kurz vor halb neun, als Larissa durch das Hoftor trat. Sie wollte nicht gleich am ersten Morgen zu spät kommen, wenn man sie schon so freundlich eingeladen hatte, und war deshalb außer Atem. Als Erstes hastete sie hinauf in ihre Wohnung, um die fast fünfhundert Seiten starke Ortschronik von Rodderbach auf den Schreibtisch zu legen. Das Buch war bleischwer, weil es unzählige farbige Fotoseiten und einen sehr dicken Einband besaß. Kurz warf Larissa noch einen Blick in den Badezimmerspiegel, rein aus Gewohnheit, und zupfte an ihrem Zopf herum. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie vollkommen ungeschminkt losgezogen war. Sie trug sowieso meist nur wenig Make-up, und wenn sie zu Hause in ihrer Arbeit versunken war, kümmerte sie sich um solche Details auch nicht regelmäßig. Es störte ja auch niemanden, wenn sie im Schlafanzug am Schreibtisch saß. Wenn sie jedoch ausging – und sei es auch nur einkaufen oder spazieren – bemühte sie sich normalerweise doch um ein gepflegtes Äußeres inklusive Make-up und einem Hauch Blush und Lippenstift. Tja, nun hatte Rodderbach sie also schon mal ungeschminkt gesehen. Das war bestimmt kein Beinbruch, doch wenn sie sich beeilte, konnte sie noch getönte Tagescreme und einen Hauch Puder auflegen, bevor sie hinunter in die Küche ging.
Fünf Minuten später blieb sie vor der Küchentür stehen, als sie zwei Frauenstimmen vernahm, die offenbar über sie redeten.
»Nun sag schon, wie ist sie? Kommt sie zum Frühstück runter oder bin ich ganz umsonst an meinem freien Freitag so früh aufgestanden?«
»Zumindest hat sie gesagt, dass sie mit uns frühstücken möchte.« Larissa erkannte Erikas Stimme. »Sie ist spazieren gegangen. Das Wetter ist doch geradezu einmalig dafür. Nett ist sie auch, soweit ich es nach der kurzen Bekanntschaft sagen kann. Sie ist doch gestern Abend erst angekommen. Aber sie wird bestimmt nicht erpicht darauf sein, noch vor dem Frühstück von dir mit Fragen überfallen zu werden, also lass sie bitte in Ruhe.«
»Ich will sie doch nicht überfallen, Mama. Aber wann hat man schon mal das Glück, jemanden, der so spannende Romane schreibt, ganze drei Monate in der Nähe zu haben?«
»Eben«, antwortete Erika. »Sie ist drei Monate hier. Kein Grund, sie schon am ersten Tag zu vergraulen. Gieß bitte den Kaffee in die große Kanne um und stell die Brötchen auf den Tisch.«
Larissa schmunzelte und öffnete leise die Tür. Sogleich nickte Erika ihr lächelnd zu. »Da sind Sie ja, pünktlich wie die Maurer! Setzen Sie sich doch bitte, wir sind hier so gut wie fertig.«
»Danke sehr.« Larissa wandte sich an die zierliche junge Frau, die eben den Brötchenkorb auf dem Tisch abgestellt hatte, und reichte ihr die Hand. »Wir kennen uns noch nicht.«
»Doch.« Die Frau lachte und ihre dunkelbraunen Augen funkelten vergnügt. »Oder besser gesagt, kenne ich Sie und Ihre Bücher schon lange. Mein Name ist Jessica. Als meine Mutter mir erzählte, dass Sie die nächsten drei Monate hier wohnen würden, konnte ich es erst kaum glauben. Eine so bekannte Schriftstellerin bei uns im Haus …« Wieder lachte sie und schüttelte dabei ihre langen dunkelbraunen Locken. »Ich habe alle Ihre Romane geradezu verschlungen und warte jetzt sehnlichst auf den nächsten. Auf Ihrer Website steht, er soll im nächsten Herbst erscheinen. Stimmt das?«
»Ja, das ist richtig, mein nächstes Buch kommt im September heraus. Ich werde in Kürze das Manuskript von meiner Lektorin bekommen, um es noch einmal zu überarbeiten.« Sie blickte zu Erika hinüber. »Außerdem habe ich bei der Post einen Nachsendeantrag gestellt; ich hoffe, das ist in Ordnung.«
Erika nickte. »Aber selbstverständlich, Sie müssen doch Ihre Briefe und Pakete bekommen.«
Jessica ließ sich neben Larissa nieder, nahm sich ein Brötchen und brach es in der Mitte durch. Erika räusperte sich vernehmlich und schüttelte tadelnd den Kopf. Sofort legte Jessica das Brötchen auf ihren Teller und griff stattdessen nach der Kaffeekanne. »Kaffee?«, fragte sie und schenkte Larissa auf deren Nicken hin ein.
Im gleichen Augenblick erschienen Jochen und Thorben in der Küche, wiederum auf Socken und mit fast identischer schwarzgrauer Arbeitskleidung. Sie setzten sich zu den Frauen. Nach einem kurzen Gruß in die Runde blickte Thorben Jessica abschätzend an. »Seit wann bist du denn hier?«
Jessica zuckte mit den Schultern. »Knappe halbe Stunde.«
Auf seinen Lippen erschien ein herausforderndes Grinsen. »Also hast du heute frei? Wenn du schon freiwillig vor neun Uhr aufstehst, hättest du auch ruhig im Stall mit anpacken können. Zwei unserer Aushilfen sind krank. Wir können von Glück sagen, dass Mirko und Jan noch da sind und helfen. Aber wenn sie im Herbst zur Uni gehen, fehlen uns vier Arme und Hände.«
Jessica grinste keck zurück. »Nee, Schätzchen, aus der Sache bin ich raus. Sieh zu, dass du einen Auszubildenden bekommst, den du schikanieren kannst. Oder eine Frau.«
»Ich schikaniere niemanden!«, erwiderte Thorben gespielt beleidigt. »Ich leite an.«
Lachend winkte Jessica ab. »Hör bloß auf. Mit dir zusammenzuarbeiten ist wie ein Spaziergang im Minenfeld. Die Einzige, die das länger als zehn Minuten am Stück aushält, ist Isabella. Und das auch nur, weil sie dir die Mistgabel an den Kopf wirft, wenn es ihr zu viel wird.«
Thorben tippte sich nur bedeutungsvoll an die Stirn. Jessica wandte sich wieder Larissa zu. »Lassen Sie sich bloß nie überreden, im Stall mitzuhelfen. Thorben ist der reinste Sklaventreiber. Ich habe das jahrelang mitgemacht. Am Ende hat nur noch die Flucht geholfen.«
Larissa lachte herzlich. »Davon lasse ich lieber die Finger. Ich bin ja schon froh, wenn ich bei einer Kuh vorne und hinten unterscheiden kann.«
»Sie wohnen in Hannover, nicht wahr?«
»Ja, seit frühester Kindheit«, bestätigte Larissa. »Geboren bin ich zwar nicht weit von hier, in Adenau …«
»Ach was!« Jochen blickte sie überrascht an. »Dann sind Sie ja ein echtes Eifler Mädchen!«
»Na ja, nicht wirklich.« Larissa hob abwehrend die Hände. »Meine Mutter ist mit mir von hier weggezogen, als ich noch ganz klein war.«
»Dann haben Sie keine Verwandten hier in der Gegend?«, hakte Erika interessiert nach.
Larissa schüttelte den Kopf. »Damit kann ich leider nicht dienen. Inzwischen gibt es nur noch meine Mutter und mich und natürlich meinen Stiefvater.«
»Ist ja nicht Ihre Schuld«, brummelte Jochen und begann ohne Übergang ein Gespräch mit Thorben über irgendwelche Melksysteme.
»Was machen Sie denn beruflich?«, fragte Larissa an Jessica gewandt.
»Ich arbeite in der Tourist-Info in der Hauptstraße, und nebenbei organisiere ich für die Touristen Führungen durch den historischen Ortskern und rauf zur Burg.«
Larissas Interesse war schlagartig geweckt. »Das ist ja ein glücklicher Zufall. Ich hatte gerade überlegt, wen ich wohl wegen einer Führung ansprechen muss. Da sitze ich ja genau an der Quelle.«
»Aber ja doch!« Jessica strahlte sie begeistert an. »Wenn Sie möchten, mache ich mit Ihnen eine private Führung durch Rodderbach und eine durch die Burg. Beides an einem Tag könnte allerdings ein bisschen viel werden.«
»Und das Kloster?« Erwartungsvoll sah Larissa Jessica an.
Die runzelte kurz die Stirn. »Da müssen wir bei der Stadtverwaltung nachfragen, aber ich denke, das lässt sich einrichten, oder, Mama?«
Erika nickte. »Ganz bestimmt. Hanne freut sich garantiert, dass jemand sich für unsere Stadtgeschichte interessiert und sogar ein Buch darüber schreiben will.«
»Soweit ich gehört habe, sind die Besitzverhältnisse des Klosters nicht geklärt«, hakte Larissa nach. Ihr Recherchegeist, wie sie es bei sich nannte, war geweckt.
»So ist es leider«, bestätigte Erika und beugte sich ein Stück vor. »Während der Säkularisation nach der Französischen Revolution kaufte ein Vorfahr der Familie Decker das Kloster und baute es zu einer Gastwirtschaft mit Fremdenzimmern um. Während des Zweiten Weltkrieges ging jedoch die Besitzurkunde verloren und die Grundbücher wurden fast vollständig zerstört, deshalb können die Deckers, so absurd es sich anhört, leider bis heute ihre Besitzansprüche nicht mehr korrekt nachweisen. Denn auch ihre notariell beglaubigte Kopie der Besitzurkunde ist seit dem Krieg nicht auffindbar – vermutlich auch zerstört. Nach dem Krieg fiel das Kloster deshalb zur Verwaltung bis auf Weiteres an die Gemeinde. Leider wird die alte Bausubstanz nur so weit erhalten, dass sie nicht verfällt. Eine Schande ist das, wo doch die Deckers seit so vielen Generationen eine Wirtschaft am Ort führen und das Hotel im Kloster so gerne modernisiert und weitergeführt hätten. Aber ihnen gehört leider rein rechtlich nur noch der Gasthof vor dem Kloster, der Rodderbacher Hof.«
»Die letzten beiden Bürgermeister haben sich aber auch zusätzlich quergestellt«, fügte Jessica hinzu. »Vater und Sohn, beide … na ja.« Sie verdrehte die Augen. »Sie wollten immer wieder versuchen, das alte Gemäuer zu verkaufen, allerdings an irgendwelche Investoren von außen. Zum Glück hat der Stadtrat sich dagegen ausgesprochen, weil eben auch die Stadt nur das Verwaltungsrecht besitzt, nicht das Veräußerungsrecht, aber für die Deckers war und ist das natürlich zusätzlich zermürbend.«
»Hanne hat schon versprochen, sich dieser Sache anzunehmen«, übernahm Erika das Wort. »Vielleicht lässt sich über Erbpacht oder dergleichen etwas arrangieren, damit Richard und Heidi das Kloster bewirtschaften können. Oder Ben, falls er irgendwann aus der Schweiz zurückkehren sollte. Er managt ein großes Vier-Sterne-Hotel in Zürich«, fügte sie erklärend an Larissa gewandt an. »Früher hat er immer gesagt, dass er hier in Rodderbach ein Hotel eröffnen will, aber jetzt ist er dort unten so erfolgreich … Das muss er wirklich selbst wissen, ob er diese gute Stellung gegen so ein Projekt wie das alte Kloster eintauschen will. Richard und Heidi werden sich das auch gut überlegen, denn Isabella hat bestimmt auch andere Pläne, und nur zu zweit wird das doch ziemlich viel. Immerhin haben sie ja den Rodderbacher Hof und sind damit schon voll ausgelastet.« Sie seufzte. »Sie hätten eben so gerne ihren Familienbesitz wieder vollständig in der Hand, das kann man natürlich verstehen. Darum kämpfen ja nun schon Generationen von Deckers.«
Larissa nickte verständnisvoll. »Besichtigen kann man das Kloster aber?«