Windjäger - Jim Butcher - E-Book

Windjäger E-Book

Jim Butcher

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Beschreibung

Kämpfe, Intrigen und Abenteuer in einer unvergesslichen Welt

Seit der Nebel die ganze Welt überzogen hat, leben die Menschen in festungsartigen Städten auf den Gipfeln der Berge. Den Nebel zu betreten kann tödlich sein. Dennoch fallen Truppen der Gipfelfestung Aurora in das Gebiet von Albion ein, und ein Krieg kann nicht mehr abgewendet werden. Der Gipfelfürst von Albion ruft seine Verbündeten zusammen und bereitet sein Volk auf den Kampf vor. Die Flotte ist stark, die Männer und Frauen sind gut ausgebildet. Doch seine größte Hoffnung setzt der Gipfelfürst auf die geheime Mission von Kapitän Grimm und dessen Luftschiff Jäger.

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Seitenzahl: 834

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Von Jim Butcher in der Reihe Codex Alera bei Blanvalet bereits erschienen:

1. Die Elementare von Calderon (26583)

2. Im Schatten des Fürsten (26584)

3. Die Verschwörer von Kalare (26585)

4. Der Protektor von Calderon (26779)

5. Die Befreier von Canea (26788)

6. Der Erste Fürst (26789)

Jim Butcher

Windjäger

Roman

Übersetzt von Andreas Helweg

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »The Cinder Spires: the Aeronaut’s Windlass« bei Orbit, London.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

1. AuflageDeutsche Erstausgabe April 2016 bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Copyright © der Originalausgabe 2015 by Jim Butcher

Published by Arrangement with Imaginary Empire LLC.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016

by Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Umschlaggestaltung und -illustration: © Melanie Miklitza, Inkcraft

Redaktion: Waltraud Horbas

JvN · Herstellung: sam

Satz: Mediengestaltung Vornehm GmbH, München

ISBN 978-3-641-15893-4V001Besuchen Sie uns auch auf www.facebook.com/blanvaletund www.twitter.com/BlanvaletVerlag.

www.blanvalet.de

Für Prima und Sirius, Leise Pfoten

PrologTurm Albion, Habbel Morgen, Haus Lancaster

»Gwendolyn Margaret Elizabeth Lancaster«, sagte Mutter entschieden und verärgert, »du hörst sofort mit diesem Unsinn auf.«

»Ach, Mutter«, erwiderte Gwendolyn zerstreut, »wir haben doch schon mehrfach über die Angelegenheit diskutiert.« Sie betrachtete mit gerunzelter Stirn den Kampfhandschuh an ihrer linken Hand und drehte ihn leicht. »Der Riemen Nummer drei sitzt zu stramm, Sarah. Der Kristall bohrt sich in meine Handfläche.«

»Augenblick, Miss.« Sarah beugte sich über die Schnallen des Kampfhandschuhs, betrachtete sie über den Rand ihrer Brille hinweg und nahm ein paar rasche Änderungen vor. »Besser so?«

Gwendolyn versuchte die Drehung erneut und lächelte. »Exzellent. Danke, Sarah.«

»Gern geschehen, Miss«, sagte Sarah. Sie lächelte ebenfalls, setzte jedoch nach einem Seitenblick auf Mutter rasch wieder ihre gut einstudierte, zurückhaltende Miene auf.

»Wir haben nicht diskutiert«, sagte Mutter und verschränkte die Arme. »Denn eine Diskussion setzt ein Gespräch voraus. Wenn ich dieses Thema anspreche, tust du so, als wäre ich gar nicht anwesend.«

Gwendolyn wandte sich um und schenkte ihr ein honigsüßes Lächeln. »Mutter, wir können uns gern noch einmal darüber unterhalten, aber ich habe meine Pläne nicht geändert. Ich werde nicht Lady Hadshaws Höhere-Töchter-Pensionat besuchen.«

»Mir würde es schon genügen, wenn du die Akademie für Ätheringenieurswissenschaften besuchst, und zwar mit …«

»Oh!« Gwendolyn verdrehte die Augen. »Mit solchen Systemen arbeite ich in der Experimentierwerkstatt, seit ich laufen gelernt habe, und es würde mich in den Wahnsinn treiben, wenn ich zwei Jahre Einführungskurse ertragen müsste.«

Mutter schüttelte den Kopf. »Gwendolyn, du kannst doch nicht glauben, dass …«

»Genug«, sagte Gwendolyn. »Ich trete in die Garde des Archons ein, ich lege den Eid ab, und ich werde mein Dienstjahr ableisten.« Sie drehte sich um, betrachtete sich in dem langen Spiegel, zupfte ihre Röcke zurecht und strich die Aufschläge ihrer kurzen Bolerojacke zurück. »Ehrlich, die Töchter anderer Hoher Häuser legen auch den Eid ab. Ich weiß überhaupt nicht, warum du so einen Aufstand deswegen machst.«

»Andere Häuser sind nicht die Lancasters«, gab ihre Mutter kühl zurück. »Andere Häuser stehen nicht dem höchsten Habbel im Turm vor. Andere Häuser sind nicht für eine der wichtigsten Aufgaben in Turm Albion verantwortlich.«

»Mutter«, seufzte Gwendolyn. »Die Leute, die in den unteren Ebenen des Turms wohnen, sind doch nicht weniger wert als wir. Außerdem kämen die Kristalle auch sehr gut ohne uns zurecht.«

»Du bist jung«, sagte Mutter. »Du weißt die Kristalle nicht wirklich zu schätzen, und du scheinst dir keinen Begriff davon zu machen, wie dringend sie gebraucht werden. Und zwar nicht nur bei den Einwohnern im Habbel Morgen oder der Flotte; wenn man bedenkt, wie viel Planung und Vorausschau bei der Herstellung eines einzigen Kristalls notwendig ist. Das dauert …«

»Generationen«, unterbrach Gwendolyn sie. »Nein, ganz offensichtlich wurde ich noch immer nicht zu deiner Zufriedenheit aufgeklärt – allerdings muss ich dir mittteilen, dass ein weiterer schulmeisterlicher Vortrag deinerseits mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit absolut nichts an der Situation ändern wird. Daher wäre es für alle Beteiligten die am wenigsten zeitraubende Vorgehensweise, das Thema fallen zu lassen, findest du nicht?«

»Gwendolyn.« Mutter kniff die Augen zusammen. »Du bist in zehn Sekunden in deinem Zimmer verschwunden, oder ich schwöre bei Gott im Himmel, dass ich dir eine Tracht Prügel verabreichen werde.«

Aha. Langsam kamen sie zur Sache. Gwendolyn unterdrückte einen kurzen Anflug kindlicher Angst und dann ihre noch viel verständlichere Wut. Sie zwang sich zu einer ruhigen und vernünftigen Einschätzung der Lage im Raum.

Mutters Ausbruch hatte Sarah erschreckt. Die Zofe stand starr da. Natürlich war ihr bewusst, dass eine derartige Zurschaustellung von Gefühlen seitens einer der führenden Damen von Habbel Morgen nicht für die Augen und Ohren eines Dienstmädchens bestimmt war. Mutter war in ihrem Zorn äußerst unbedacht gewesen, denn Sarah wagte es auch nicht, das Zimmer einfach zu verlassen. Wie sollte sich das arme Mädchen verhalten?

»Sarah«, sagte Gwendolyn, »ich glaube, Cook hat erwähnt, dass sie wieder unter Rückenschmerzen leidet. Wäre es möglich, dass Sie ihr heute Morgen bei der Arbeit helfen? Könnten Sie es wohl freundlicherweise übernehmen, Vater das Frühstück zu bringen, damit Cook nicht die Treppe hinaufsteigen muss?«

»Aber gewiss, Lady Gwendolyn«, sagte Sarah und knickste knapp. Sie schenkte Gwendolyn ein dankbares und entschuldigendes Lächeln und verließ bedächtig das Zimmer.

Gwendolyn lächelte, bis Sarah hinausgegangen war, dann wandte sie sich um und sah ihre Mutter mit gerunzelter Stirn an. »Das war nicht sehr rücksichtsvoll von dir.«

»Versuch ja nicht, das Thema zu wechseln«, sagte Mutter. »Du ziehst sofort diesen lächerlichen Handschuh aus, oder du wirst sehen, was du davon hast.«

Gwendolyn zog eine Augenbraue hoch. »Dir ist klar, dass ich bewaffnet bin, oder?«

Mutter funkelte sie mit ihren dunklen Augen an. »Das wagst du nicht.«

»Eigentlich sollte es nicht notwendig sein«, erwiderte Gwendolyn. »Allerdings habe ich für Prügel noch weniger übrig als für die Aussicht, meine Tage in diesem trostlosen Mausoleum oder einem ähnlichen zu verbringen. Bei der Garde ist es mit Sicherheit interessanter.« Sie hob das Kinn und kniff die Augen zusammen. »Stell mich nicht auf die Probe, Mutter.«

»Du bist unmöglich, Kind«, sagte Mutter. »Ergreift sie.«

In diesem Moment begriff Gwendolyn, dass die Drohung und die Wut ihrer Mutter nur vorgetäuscht waren, um Gwendolyn abzulenken, damit sich ihr zwei Hauswachen lautlos von hinten nähern konnten. Sie trat rasch einen Schritt zur Seite und spürte, wie sie am linken Arm von kräftigen Händen gepackt wurde. Hätte sie sich nicht bewegt, hätte der zweite Mann im gleichen Augenblick ihren rechten Arm erwischt, und ihre Möglichkeiten wären arg eingeschränkt gewesen.

Stattdessen ergriff sie nun das Handgelenk des Angreifers, drehte sich mit Schwung zu ihm herum, brachte ihn aus dem Gleichgewicht und befreite sich gleichzeitig aus seinem Griff. Aus derselben Drehbewegung heraus warf sie ihn über die Hüfte zu Boden. Im Fallen riss der Mann die zweite Wache mit, und die beiden stürzten. Gwendolyn hob leicht die Röcke an und stieß der zweiten Wache, als diese sich gerade wieder aufrichten wollte, mit dem Fuß den Arm unter dem Körper weg. Der Mann landete auf dem ersten, ächzte überrascht und starrte sie böse an.

»Tut mir wirklich entsetzlich leid«, entschuldigte sich Gwendolyn. »Es ist nicht persönlich gemeint.« Dann trat sie ihm hart an den Kopf. Der Mann stöhnte kurz und brach benommen zusammen.

»Esterbrook!«, rief Mutter.

Gwendolyn drehte sich um. Esterbrook, Hauptmann der Wache des Hauses Lancaster, betrat das Zimmer. Esterbrook war ein schlanker, gefährlich wirkender Mann mit der wettergegerbten Haut eines Aeronauten und Marinesoldaten, der jahrelang der gnadenlosen Sonne ausgesetzt gewesen war. Er trug eine Jacke, die nach Art der Uniform der Marinesoldaten geschneidert war, denen er früher angehört hatte. An der einen Hüfte trug er die kurze, schwere und kupferkaschierte Klinge eines Marinesoldaten. Der Kampfhandschuh an seiner Linken bestand aus dickem, altem Leder, die kupferne Halterung um Unterarm und Handgelenk glänzte jedoch so blank wie Gwendolyns neueres Modell.

Gwendolyn konzentrierte sich, entfernte sich von den Männern am Boden und hob die Linke, um den Kristall an ihrer Handfläche auf Esterbrook zu richten. Sie visierte ihr Ziel, den grauen Kopf des Hauptmanns, durch das V zwischen Zeige- und Mittelfinger an. Inzwischen erwachte der Kristall durch ihre Konzentration zum Leben. Kaltes weißes Licht blitzte auf und veränderte die Schatten im Zimmer. Ihre Mutter blinzelte in der plötzlichen Helligkeit.

»Guten Morgen, Hauptmann Esterbrook«, grüßte Gwendolyn gelassen. »Ich sehe, dass Ihre Uniform mit Seide gefüttert ist. Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass ich auf Ihren Kopf ziele. Bitte zwingen Sie mich nicht zu einer Reaktion, die zu tragischer Verschwendung von Leben führt.«

Esterbrook betrachtete sie durch seine abgedunkelte Brille. Dann nahm er sie sehr langsam ab und blinzelte ins Ätherlicht der Waffe, die Gwendolyn auf ihn richtete. Seine Augen hatten eine unheimliche goldgrüne Farbe, und die katzenartigen Pupillen zogen sich im Licht zu vertikalen Schlitzen zusammen.

»Recht schnell«, lobte er.

Gwendolyn musste lächeln. »Ich hatte einen ausgezeichneten Lehrer, Sir.«

Der Anflug eines ironischen Grinsens huschte über Esterbrooks Gesicht, dann nickte er anerkennend. »Und wer hier im Turm hat Ihnen den Kampfstil des Wegs beigebracht?«

»Cousin Benedict, wer sonst?«, antwortete sie.

»Ha«, sagte Esterbrook. »Ich habe das Parfüm an ihm gerochen. Dachte schon, er hätte sich mit einer Frau eingelassen.«

Mutter gab einen angewiderten Laut von sich, der ihr kaum hörbar durch die aufeinandergepressten Lippen entschlüpfte. »Ich habe dir jeden näheren Umgang mit ihm ausdrücklich verboten, Gwendolyn.«

»Gewiss, Mutter, ja«, stimmte Gwendolyn zu. »Hauptmann, wären Sie so freundlich, Ihre Waffe abzulegen?«

Esterbrook starrte sie noch kurz an, ehe sich die Falten in seinen Augenwinkeln vertieften. Er neigte den Kopf in ihre Richtung und löste den Schwertgurt mit der rechten Hand. Die Waffe fiel zu Boden.

»Was tun Sie da?«, verlangte Mutter zu wissen.

»Mylady«, antwortete Esterbrook höflich, »Miss Gwen hält eine tödliche Waffe in der Hand, die sie auch einzusetzen weiß.«

»Sie wird sie nicht einsetzen«, sagte Mutter. »Nicht gegen Sie. Und nicht gegen ihre Familie.«

Gwendolyn fühlte sich ertappt. Natürlich hatte Mutter recht. Das wäre undenkbar – aber sie hatte genauso wenig die Absicht, ihr Leben im Sitz der Lancasters wie in einem Kloster zu verbringen und sich mit sinnlosen und todlangweiligen Dingen wie Bällen, Diners, Konzerten und der Schule zu befassen. Sie durfte Mutter nicht gestatten, sie auf die Probe zu stellen.

Daher drehte sie den Arm leicht und feuerte Strahlen aus Ätherenergie von dem Kristall an ihrer Handfläche ab.

Mit heulendem Kreischen zerschnitt ein blendender Blitz die Luft. Eine Sekunde später folgte ein Getöse wie Donner, und eine Marmorstatuette auf einem Beistelltisch hinter Esterbrook verwandelte sich in Staub und Splitter. Die Bruchstücke flogen durch den Raum, prallten von den Wänden ab, und erst nach einigen Sekunden kehrte wieder Stille ein.

Mutter starrte Gwendolyn bleich und mit offenem Mund an. Sie war zur Hälfte mit feinem Marmorstaub bedeckt. Auch Esterbrook war mit Staub überzogen, doch hatte er sich nicht gerührt und auch keine Miene verzogen.

»Hauptmann«, sagte Gwendolyn, »wenn Sie so freundlich wären und fortfahren würden.«

»Miss«, sagte er und nickte erneut. Er hielt den linken Arm vollkommen reglos, schnallte sehr langsam die Riemen des Kampfhandschuhs ab und ließ ihn auf den Boden fallen.

»Danke, Hauptmann«, sagte Gwendolyn. »Und jetzt treten Sie bitte zur Seite.«

Esterbrook sah Mutter an, breitete hilflos die Arme aus und entfernte sich ein paar Schritte von seinen Waffen.

»Nein«, fauchte Mutter. »Nein.« Rasch ging sie zu der unglaublich teuren und mit Messing beschlagenen Tür, deren Holz aus den tödlichen Nebelwäldern der Oberfläche stammte. Nun drehte sie den Schlüssel im Schloss und zog ihn ab. Als sie wieder auf ihren Platz zurückgekehrt war, reckte sie wütend das Kinn in die Höhe. »Du wirst gehorchen, Kind.«

»Ehrlich, Mutter«, erwiderte Gwendolyn, »wenn das so weitergeht, werden uns die Kosten für die Renovierung noch in den Ruin treiben.«

Gwendolyns Kampfhandschuh heulte erneut auf, und ein Teil der Tür verwandelte sich in Holzsplitter und verbogenes Messing. Der Rest wurde aus der Halterung gerissen, flog in den Gang und zerbrach auf dem Boden.

Gwendolyn hob den Arm, bis der Kristall parallel mit ihrem Gesicht war, und schritt langsam auf die Tür zu. Die Hauswachen hinter ihr stöhnten und rappelten sich auf. Gwendolyn war erleichtert. Sie hatte die beiden nicht wirklich verletzen wollen. Benedict hatte ihr erklärt, dass Schläge an den Kopf immer Gefahren bargen.

»Nein«, flüsterte Mutter, als sie an ihr vorbeiging. »Gwendolyn, nein! Das kannst du nicht machen. Du hast keine Ahnung, welches Grauen dir bevorstehen könnte.« Sie atmete heftig, und …

Gnädige Erbauer.

Mutter weinte.

Gwendolyn zögerte und blieb stehen.

»Gwendolyn, bitte, du bist mein einziges Kind«, flüsterte Mutter.

»Eben. Wer außer mir soll das Haus Lancaster in der Garde vertreten?« Gwendolyn sah ihre Mutter an. Die Tränen hinterließen Spuren in der dünnen Staubschicht auf ihrem Gesicht.

»Bitte, geh nicht.«

Gwendolyn zögerte. Wie alle Lancasters war sie ehrgeizig und distanziert, doch wie Mutter besaß sie auch ein Herz. Tränen … Tränen waren ohne Beispiel. Nur einmal hatte sie ihre Mutter weinen sehen, und das auch nur vor Lachen.

Vielleicht hätte sie sich etwas mehr Gedanken darüber machen sollen, wie sie ihrer Mutter die Entscheidung beibrachte, dass sie sich freiwillig meldete. Aber jetzt hatte sie keine Zeit mehr zum Reden. Die Anmeldung für die Garde fand heute Morgen statt.

Sie sah ihrer Mutter in die Augen. Weinen würde sie nicht. Nein, ganz bestimmt nicht. So gern sie das vielleicht auch getan hätte.

»Ich habe dich sehr lieb«, sagte sie leise.

Damit stieg Gwendolyn Margaret Elizabeth Lancaster über die Reste der zerschmetterten Tür und verließ das Haus.

Lady Lancaster schaute ihrer Tochter mit Tränen in den Augen hinterher. Sie wartete, bis sie hörte, dass sich die große Haustür des Familiensitzes geschlossen hatte, ehe sie sich an Esterbrook wandte.

»Alles in Ordnung, Hauptmann?«

»Ein bisschen überrascht vielleicht, aber sonst ist alles in Ordnung«, sagte er. »Männer?«

»Lady Gwen«, sagte eine der Wachen, berührte seine Wange und zuckte zusammen, »geht ganz schön zur Sache.«

»Ihr habt dem Gegner einfach nicht den nötigen Respekt erwiesen«, meinte Esterbrook amüsiert. »Geht frühstücken. Wir beschäftigen uns heute Vormittag damit, wie man Personen ergreift.« Die Männer schlurften betreten hinaus, und Esterbrook schaute ihnen hinterher, offensichtlich zufrieden. Dann wandte er sich Lady Lancaster zu. »Mylady … weinen Sie?«

»Gewiss«, antwortete sie mit Stolz in der Stimme. »Haben Sie das gesehen? Sie hat sich gegen Sie drei durchgesetzt.«

»Gegen uns vier«, berichtigte Esterbrook sie milde.

»Gwendolyn hatte noch nie ein Problem damit, sich gegen mich durchzusetzen«, erwiderte Lady Lancaster trocken.

Esterbrook schnaubte. »Ich verstehe noch immer nicht, warum diese Dramatik notwendig war.«

»Weil ich meine Tochter kenne«, sagte sie. »Und es gibt nur einen Weg, um sicherzugehen, dass sie etwas auch ganz bestimmt tut: wenn ich es ihr verbiete.«

»Erinnert mich an jemand anders, der unbedingt den Dienst ableisten wollte, Mylady«, sagte Esterbrook. »Nun ja …«

»Ich war jung und stur, wie Sie sehr wohl wissen. Aber ich habe bei meinem Aufbruch nicht so ein Theater gemacht.«

»Natürlich nicht«, lachte Esterbrook. »Soweit ich mich entsinne, Mylady, haben Sie drei Türen zu Kleinholz verarbeitet, nicht nur eine.«

Lady Lancaster sah den Hauptmann streng an. »Ehrlich, Esterbrook. Sie übertreiben.«

»Und ein halbes Dutzend Statuen.«

»Es waren geschmacklose Repliken, nichts weiter.«

»Und ein drei Meter breites Stück einer steinernen Wand.«

»Mutter stand in der Tür. Wie sollte ich sonst hinaus?«

»Sehr wohl, Mylady«, meinte Esterbrook ernst. »Danke für die Richtigstellung. Von Ähnlichkeit zu sprechen wäre wirklich übertrieben.«

»Ich habe mir gedacht, dass Sie es so sehen würden«, sagte sie. »Sie sind ein kluger Mann.«

»Ja, Mylady. Aber …« Esterbrook runzelte die Stirn. »Sie soll also unbedingt ihren Dienst ableisten. Ich verstehe nur nicht ganz den Grund dafür.«

Lady Lancaster musterte ihn einen Augenblick lang nachdenklich. Esterbrook war ein treuer Soldat, ein wertvoller Gefolgsmann und ihr Freund und Verbündeter, seit sie denken konnte – doch mit diesen Katzenaugen eines Kriegerstämmigen nahm er meist nur die unmittelbare Umgebung wahr. Wenn sie Esterbrook bitten würde, dann könnte er ihr jetzt mit geschlossenen Augen den Platz jedes einzelnen Gegenstandes im Raum nennen. Aber er würde nicht wissen, wo sich dieser Gegenstand vor der letzten Renovierung des Zimmers befunden hatte oder wohin er nun gebracht würde, nachdem die wichtigste Statuette zerstört war. Der Kriegerstämmige befasste sich am besten mit der Gegenwart, wohingegen sie sich, wie alle Lancasters vor ihr, mit der fernen Vergangenheit beschäftigte – und mit der nahen Zukunft.

»In den Türmen geraten Dinge in Bewegung«, sagte sie leise. »Es gibt Vorzeichen und Omen. Vier Aeronauten der Flotte haben von der Sichtung eines Erzengels berichtet, und sie schwören, sie wären weder betrunken gewesen, noch hätten sie geschlafen. Turm Aurora hat seine Gesandten aus Turm Albion abberufen, und unsere Flotten führen bereits einzelne Gefechte. Die unteren Habbel werden zunehmend unruhig, und …«

Esterbrook legte den Kopf schief. »Mylady?«

»Die Kristalle. Sie verhalten sich seltsam.«

Esterbrook zog fragend die Augenbrauen hoch.

Lady Lancaster schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. Aber ich arbeite seit meiner Kindheit mit ihnen, und irgendetwas stimmt da nicht.« Sie seufzte und wandte sich der zerschmetterten Tür zu. »Es liegen dunkle Zeiten vor uns, alter Freund. Ein Konflikt, wie wir ihn nicht gesehen haben seit dem Bruch der Welt. Meine Tochter muss selbstständig werden. Sie muss etwas über ihre Gegner erfahren, und sie muss begreifen, was auf dem Spiel steht. In der Garde wird sie darauf vorbereitet wie nirgendwo sonst.«

»Konflikt«, sagte Esterbrook. »Konflikt scheint ja bereits der stete Begleiter der Lady Gwen zu sein.«

Lady Lancaster betrachtete die zerstörte Tür und den Staub, der immer noch durchs Zimmer wallte.

»Ja«, sagte sie leise. »Gott im Himmel, Erzengel, gnädige Erbauer, bitte. Bitte schützt mein Kind.«

1  Albionisches HandelsschiffRaubtier

Kapitän Grimm klappte den Teleskopaufsatz von der rechten Augenmuschel seiner schweren Schutzbrille nach oben. Das aurorische Luftschiff war nur als blasser Fleck vor den dicken Wolken unten zu erkennen, während die Raubtier sich hoch oben in der Aerosphäre im grellen Licht der Sonne verbarg. Durch die Mezzosphäre, die Schicht aus schweren Wolken und Nebel unter ihnen, brauste ein Sturm, aber es war noch Zeit, das feindliche Schiff zu erreichen, ehe der Orkan die Systeme der Schiffe stören würde.

Grimm nickte entschlossen. »Wir gehen in die Strömungen. Klar zum Gefecht. Geschütze bereitmachen. Das Netz oben, unten und an den Flanken ausbreiten. Volle Kraft auf den Schleier. Kurs auf das aurorische Schiff.«

»Klarmachen zum Gefecht!«, brüllte Kommandant Creedy. Die Schiffsglocke wurde dreimal geläutet und erneut dreimal, während ringsum Tumult entstand. »Geschütze bereitmachen!« Der Befehl wurde überall auf der Raubtier wiederholt, während die Geschützmannschaften zu ihren Türmen liefen. »Das Netz vollständig spannen!« Wettergegerbte Männer mit Schutzbrillen und aeronautischer Ledermontur sprangen in die Masten und Takelage des Schiffes und antworteten mit Bestätigungsrufen. Creedy ging ans Sprachrohr und rief: »Maschinenraum!«

»Maschinenraum, aye!«, kam die blecherne Antwort.

»Volle Kraft auf den Schleier, wenn es recht ist, Mister Journeyman.«

»Volle Kraft auf den Schleier, aye. Und sagen Sie dem Kapitän, er soll sie in die Luft jagen, bevor sie unseren Schleier erwischen. Wir sind verdammt dicht dran an diesem Sturm. Wenn die Abstimmung nicht hundertprozentig passt, stehen wir nackt da.«

»Disziplin, Mister Journeyman«, verlangte Creedy.

»Ohne Disziplin würde hier unten gar nichts laufen, Idiot«, knurrte der Ingenieur. »Sagen Sie mir nicht, was ich zu tun habe, Sie arroganter Grünschnabel.«

»Lassen Sie nur, IO«, sagte Grimm gelassen zu Creedy. Er lächelte kaum merklich über Journeymans Antwort. Der Ätheringenieur war in seiner Position unersetzlich, und das wusste er leider nur allzu gut.

Der große junge Mann verschränkte die Arme und starrte finster durch seine Schutzbrille. »Er sollte seinen Männern ein Vorbild sein, Kapitän.«

Grimm zuckte mit den Schultern. »Ist er aber nicht, Kommandant. Manche Dinge sind eben schlicht unmöglich.« Er faltete die Hände ruhig hinter dem Rücken. »Davon abgesehen hat er vielleicht recht.«

Creedy sah den Kapitän scharf an. »Sir?«

»Es wird knapp werden«, erwiderte Grimm.

Creedy starrte hinüber zu dem aurorischen Schiff und schluckte. Es war eines der Schiffe aus der Cortez-Klasse des rivalisierenden Turms – ein großer Handelskreuzer, wesentlich massiver gebaut als die Raubtier und mit schwereren Geschützen ausgestattet, dazu mit einem dichteren Schleier. Obwohl die Schiffe der Cortez-Klasse offiziell als Handelsschiffe und nicht als Kriegsschiffe galten, waren sie gut bewaffnet und hatten bekanntermaßen eine ganze Kompanie aurorischer Marinesoldaten an Bord. Dieses Schiff, dessen war sich Grimm sicher, war verantwortlich für die jüngsten Verluste in der Handelsflotte von Albion.

»Sollen sich Männer zum Entern vorbereiten, Sir?«, fragte Creedy.

Grimm zog eine Augenbraue hoch. »Wir sind tapfer und waghalsig, Kommandeur, aber nicht verrückt. Das überlasse ich lieber Kommodore Rook und seinen Freunden in der Flotte. Die Raubtier ist ein privates Schiff.«

»Aye, Sir«, antwortete Creedy. »Vermutlich sollten wir keine Zeit verlieren.«

»Wenn wir ihr Netz hart beharken, sie zur Landung zwingen und eine Boje abwerfen, kann Rook sich um sie kümmern«, bestätigte Grimm. »Wenn wir uns auf einen Kampf einlassen, könnte uns dieser Sturm den Schleier zerfetzen.«

»Ihren aber auch«, zeigte Creedy auf. In der Flotte war es üblich, dass ein guter Erster Offizier den Advocatus Diaboli spielte. Grimm fand diese Praxis eher ärgerlich. Wenn er Creedys Schwester nicht noch einen Gefallen geschuldet hätte …

»Sie haben mehr und größere Geschütze als wir«, gab Grimm zurück. »Und das Schiff ist größer als unseres. Wenn wir ungeschützt vor einer Cortez fliegen, würde uns noch der schlechteste Kapitän der Flotte zur Oberfläche schicken.«

Creedy schauderte. »Aye, Sir.«

Grimm klopfte dem jungen Mann auf die Schulter und lächelte dünn. »Immer mit der Ruhe. Wenn die Flotte junge Offiziere so entschlossen diszipliniert, dann nur, um Eindruck zu machen – damit sie, wenn sie in der Flotte wieder ihre Aufgaben übernehmen, ihren Fehler nicht wiederholen. Natürlich wollen sie, dass man seinen Posten wieder übernimmt, sonst würden sie einen schlicht entlassen. Bald können Sie die Raubtier verlassen und bekommen wieder einen ordentlich gepanzerten Rumpf.«

»Die Raubtier ist ein gutes Schiff, Kapitän«, erwiderte Creedy entschieden. »Nur … ein wenig zerbrechlicher, als mir lieb ist.«

Und, dachte Grimm, beträchtlich weniger zerbrechlich, als er ahnte. »Kopf hoch, IO. Auch wenn wir selbst keine Prise aufbringen, bekommen wir einen Bonus, wenn wir das Schiff ein wenig aufhalten und Rook überlassen. Mindestens hundert Kronen pro Kopf.«

Creedy verzog das Gesicht. »Während Rook hunderttausende Kronen an Prise einstreicht. Und seinem Haus weitere Ratssitze erkauft.«

Grimm schloss die Augen und hob das Kinn leicht, während die Männer das fast durchsichtige Netz aus Ätherseide abspulten. Er musste nicht extra hinsehen, um zu wissen, dass sich das Äthernetz verändern würde, wenn über die Anschlüsse die Elektrizität floss, bis es sich aufrichtete und scheinbar schwerelos schwebte. Die durchsichtigen Seidenstränge, die wie ein riesiges Spinnweben gute siebzig Meter um das Schiff gespannt wurden, fingen die unsichtbaren Ströme der Ätherenergie ein, die durch den Himmel floss, und zogen die Raubtier vorwärts. Das schlanke Schiff gewann rapide an Geschwindigkeit. Kalter, trockener Wind kam auf. Durch die dünne Luft grollte der Donner des Sturms heran.

Der Umstand, dass Kommodore Hamilton Rook im Turm noch mehr Einfluss gewinnen könnte, störte Grimm nicht besonders. Die meisten Angelegenheiten von Turm Albion kümmerten ihn nicht. Sollten die Ballerköpfe in den Türmen sich doch gegenseitig fertigmachen, wenn es ihnen Spaß machte. Solange er die Raubtier hatte, war ihm alles andere egal.

Kettle, der Mann am Steuer des Schiffes ein Stück hinter ihm und oberhalb von Grimm und Creedy, stieß einen kurzen Pfiff aus. Grimm drehte sich um und zog eine Augenbraue hoch. »Mister Kettle?«

Der grauhaarige Pilot deutete mit dem Kopf auf den heranbrausenden Sturm. »Käpt’n, vielleicht sollten Sie überlegen, ob wir nicht ein bisschen steiler als gewöhnlich hinabstoßen. Durch die Schwerkraft werden wir schneller, und wenn es nicht so läuft, wie wir uns das vorstellen, könnten wir in den Wolken verschwinden.«

»Also, bitte, Aeronaut«, grummelte Creedy. »Wenn Sie einen Vorschlag zu machen haben, dann richten Sie ihn an mich, und ich leite ihn an den Kapitän weiter. So sind die Vorschriften auf einem Flottenschiff.«

»IO, wir sind kein Flottenschiff«, widersprach Grimm ruhig. »Es ist mein Schiff. Ich muss kurz nachdenken.«

Mister Kettles Vorschlag hatte Vorteile. Die Geschwindigkeit, die sie durch das Abtauchen gewannen, würde die Arbeit der Geschützmannschaften erschweren, aber ihr Schiff war in Ordnung, und deshalb brauchten sie eigentlich keine Wunderschüsse, um das feindliche Schiff bei einem Überraschungsangriff auszuschalten – und sie würden das Feuer ein paar Augenblicke eher und vor dem Sturm eröffnen. Er sah wesentlich bessere Chancen für die Raubtier, wenn ihr Schleier intakt war.

Creedy, der einen Sturm leicht aushalten konnte, ohne blass zu werden, wirkte allerdings etwas grünlich im Gesicht, als er die Ansichten des Kapitäns hinsichtlich der Flottenvorschriften hörte. Dennoch blickte er Kettle über die Schulter an und versuchte tapfer, seine Pflichten wahrzunehmen, wie er sie sah. »Ein steilerer Sturzflug ist nicht notwendig, Sir. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden sie uns nicht einmal bemerken, ehe wir das Feuer eröffnen.«

»Wir sind weit von zuhause entfernt, IO. Daher würde ich mich lieber nicht auf Wahrscheinlichkeiten verlassen.« Grimm nickte dem älteren Aeronauten zu. »Wir machen es, wie Sie vorgeschlagen haben, Mister Kettle. Sagen Sie den Geschützmannschaften, sie sollen die Schusswinkel anpassen.«

»Aye, Sir.«

Grimm legte den Kopf schief und bezog den starken Wind, der über das Deck wehte, in seine strategischen Überlegungen mit ein. »Mister Creedy, lassen Sie die Männer Segel setzen, bitte.«

Creedy blinzelte verblüfft. »Kapitän?«

Grimm nahm dem jüngeren Mann seine Reaktion nicht übel. Nur wenige Luftschiffe verfügten heutzutage noch über Windsegel. Dampfbetriebene Propeller und die neuen schraubenähnlichen Turbinen waren die bevorzugten Antriebsmittel, falls ein Schiff aus der Aerosphäre geriet oder in einem Teil des Himmels in eine Flaute geriet, wo die Ätherströme nicht stark genug waren, um es voranzubewegen. Segel hatten jedoch Vorteile: Sie funktionierten ohne große, schwere Dampfmaschinen und waren im Vergleich zu diesen nahezu lautlos.

Es ist schon komisch, dachte Grimm, wie oft im Leben sich ein bisschen Stille als praktisch erwies.

»Im Augenblick bleiben sie noch gerefft«, meinte Grimm. »Aber sie sollen einsatzbereit sein.«

»Aye, Sir«, sagte Creedy. Man hörte ihm an, dass er noch weniger Begeisterung verspürte als Augenblicke zuvor, trotzdem gab er die Befehle entschlossen weiter.

Danach blieb nur noch abzuwarten, bis die Raubtier die Position für den Sturzflug erreicht hatte. Die Standard-Kampfausrüstung umfasste ein Gurtzeug mit verschiedenen Halterungen. Daran wurde eine schwere, geflochtene Rettungsleine aus Leder von sechs bis neun Fuß Länge befestigt, die an jedem Ende einen Karabinerhaken hatte. Jeder Mann sollte drei dieser Leinen bei sich führen, sobald Gefechtsalarm gegeben wurde. Grimm und Creedy hakten zwei Leinen an verschiedenen Stangen und Ösen ein.

Nachdem er sich gesichert hatte, nahm sich Grimm einen Moment Zeit, um seine Uniform zu richten. Als Kapitän auf einem albionischen Handelsschiff musste er keine tragen, doch die Mannschaft hatte ihm nach ihrem äußerst erfolgreichen Einsatz als Kaperer eine machen lassen. Sie war identisch mit einer Flottenuniform, doch statt des tiefen Blaus mit Goldbesatz war sie schwarz und blutrot besetzt. Die beiden breiten Streifen eines Luftschiffkapitäns zierten die Manschetten der langen Jacke. Die Silberknöpfe in Form von Totenschädeln erschienen ihm übertrieben, doch musste er einräumen, dass sie dem Ganzen einen glaubwürdigen, piratenmäßigen Anstrich gaben.

Als Letztes schnallte er, wie immer, die Riemen seiner Schirmmütze zu und sicherte sie damit auf seinem Kopf. Aeronauten hielten es für ein großes Unglück, wenn ihr Kapitän im Sturzflug die Mütze verlor, und Grimm hatte schon viele seltsame Dinge erlebt, so dass er sich selbst nicht von Aberglauben freisprechen konnte.

Es dauerte einige Augenblicke, bis sie die Meilen zurückgelegt hatten, die sie von dem aurorischen Schiff trennten. Die Anspannung stieg und war in der kühlen Luft förmlich greifbar. Besonders gut ablesbar war sie an der Haltung der Schützen und Aeronauten. Der Kampf zwischen zwei Schiffen gehörte zu den brutalsten Gewaltakten überhaupt, und natürlich war das jedem auf der Raubtier bewusst.

Wie immer spielte Grimm seine Rolle. Die Männer durften nervös und ängstlich sein – das war die einzige vernünftige Reaktion auf ihre Situation. Aber Angst war eine Krankheit, die sich ausbreiten und eine Mannschaft kampfunfähig machen konnte, so dass sie dies genau zu der Zerstörung führte, die man ursprünglich befürchtet hatte. Der Kapitän durfte sich diesen Luxus nicht leisten. Die Männer mussten sicher sein – und nicht nur annehmen, sondern absolut sicher sein –, dass ihr Kapitän genau wusste, was er tat. Ihr Kapitän war unbesiegbar, unfehlbar und immun gegen die Niederlage. Das war äußerst wichtig für die Mannschaft – denn es erlaubte den Männern, ihre Angst zu ignorieren und sich auf ihre Pflichten zu konzentrieren, für die sie ausgebildet waren.

Männer, die taten, wofür sie ausgebildet waren, und zwar auch im höllischsten Chaos des Luftkampfes, waren wiederum absolut unabkömmlich für den Sieg. Eine solche Mannschaft hatte in der Regel weniger Verwundete und Tote zu beklagen – und Grimm würde sich lieber selbst auf die Ventralmasten der Raubtier schwingen, als sinnlos auch nur einen Tropfen Blut seiner Männer zu vergeuden. Deshalb tat er, was er konnte, damit sie so effizient und gnadenlos kämpften wie möglich.

Er tat gar nichts.

Grimm stand ruhig an Deck, hatte seine Rettungsleinen ordentlich gespannt und die Hände hinter dem Rücken gefaltet. Er starrte nach vorn und verkniff sich alle Gefühlsregungen. Natürlich spürte er die Blicke, die man ihm gelegentlich zuwarf, und er verkörperte weiterhin den ruhigen und zuversichtlichen Kapitän.

Creedy eiferte seinem Kapitän nach, hatte dabei jedoch nur beschränkten Erfolg. Er umklammerte die Reling so fest, dass seine Knöchel weiß wurden; außerdem atmete er viel zu laut.

»IO, wie wäre es mit Handschuhen?«, fragte Grimm leise und lächelte.

Creedy sah auf seine Hand und zog sich eilig von der Reling zurück. Er kramte seine Handschuhe aus den Taschen und zog sie über.

Grimm konnte dem jungen Mann keinen Vorwurf machen. Es war sein erstes Gefecht an Bord der Raubtier, einem zivilen Schiff. Sie war vor allem aus Holz gebaut und verfügte nicht über die mit Messing und Kupfer verkleidete Stahlpanzerung eines militärischen Schiffes. Sollte der Feind ihren Schleier durchdringen, würde jeder Treffer üblen Schaden an dem Schiff und unter der Mannschaft anrichten – und ein unglücklicher Treffer konnte den Kernkristall zerstören und eine Explosion auslösen, die Mannschaft und Schiff meilenweit in den Himmel schleudern würde.

Creedys Ängste gründeten auf seiner jahrelangen Erfahrung mit den Kriegsschiffen der Flotte von Turm Albion. Er wusste, dieses Gefecht konnte leicht in gegenseitiger Vernichtung enden, denn Grimm ging ein erhebliches Risiko ein.

Es war nicht die Schuld des Ersten Offiziers, dass er noch nie auf der Raubtier gekämpft hatte.

Es war so weit. Das Schiff befand sich in Position, vielleicht eine Meile oberhalb des aurorischen Schiffes.

»Alles klar zum Gefecht!«, rief Grimm.

Die Schiffsglocke läutete hektisch und warnte alle an Bord zum letzten Mal, die Sicherheitsleinen anzulegen, ehe die Raubtier zum Angriff überging.

Grimm spürte, wie sich sein Mund zu einem wölfischen Grinsen verzog. Er zog den Riemen seiner Schirmmütze nochmals fest und nickte seinem Piloten zu. »Mister Kettle, wenn Sie den Sturzflug beginnen würden.«

2  AHSRaubtier

Grimm stand starr da, während Journeyman die Energiezufuhr zur Halterung des Steigekristalls unterbrach. Die Raubtier begann zu fallen wie ein Stein.

Ein Angriff im Sturzflug war bei kleineren Schiffen ein beliebtes Manöver. Der eigentliche Fall würde zwar bei Schiffen jeder Größe wenig Schaden anrichten, doch die plötzliche Reduktion der Geschwindigkeit am Ende des Sturzflugs bedeutete eine starke Belastung für den Rumpf. Größere Schiffe, die weitaus schwerer gepanzert waren, litten heftiger unter diesen Kräften. Deshalb verlor ein großes Schiff, um langsam genug abzubremsen, so viel an Höhe, dass es oftmals nicht schnell genug auf die Ebene des Kampfes zurückkehren konnte. Wenn man einen Sturzflug effektiv durchführen wollte, war eine sehr kurze, sehr heftige Geschwindigkeitsreduktion erforderlich, und Grimm hatte von Schlachtschiffen gehört, bei denen sich der Steigekristall losgerissen hatte, weil sie den Sturzflug zu abrupt abgebremst hatten. Vernünftige Kapitäne wagten solche Manöver höchstens mit leichten Kreuzern, doch für einen relativ kleinen Zerstörer wie die Raubtier bildete dieses gefährliche Kunststück die bevorzugte Taktik.

Kettle hielt das Steuer fest in den Händen und ging in den Sturzflug über, wobei er das Schiff mithilfe der Tragflächen an Rumpf und Heck stabil hielt. Das Äthernetz schob das Schiff erneut voran, doch nun raste es auch noch abwärts und stieß praktisch aus der Mittagssonne auf das aurorische Schiff hinab.

Mit zunehmender Geschwindigkeit verzog sich das Deck. Balken ächzten und bogen sich widerstrebend, und der Neigungswinkel wurde immer steiler. Nur sein Gurtzeug und seine Leinen hielten Grimm, und er war froh, dass er nur von mittelgroßer Statur war – der arme Creedy versuchte zwar, Grimms eiserne Haltung zu imitieren, doch sein Kopf wurde wild hin und her geworfen, während sie ins Gefecht hinabstürzten.

Das aurorische Schiff wurde größer und größer, und das Ächzen des eigenen Rumpfes wurde schriller und lauter. Bei einem Sturzflug erzeugte jedes Schiff seine eigenen Geräusche, und niemand wusste genau warum. Als Fähnrich hatte Grimm auf einem Zerstörer namens Fleck gedient. Es hatte geheult wie eine Seele in der Verdammnis, wenn es auf sein Opfer herabstieß. Andere Schiffe jammerten wie riesige Dampfpfeifen oder erzeugten einen gleichmäßigen, pochenden Rhythmus, als würde eine gigantische Trommel geschlagen. Einmal, an Bord des leichten Kreuzers Zorn, hatte Grimm gehört, wie dieser beim Angriff regelrecht fauchte.

Aber sein Schiff übertraf sie alle.

Denn wenn die Raubtier in den Kampf zog, sang sie.

Der rauschende Wind und das schrille Kreischen vermischten sich zu einem harmonischen Ton. Die Leinen der Takelage und die Rahen und Masten vibrierten im Rhythmus und fügten ihre eigenen Töne im Einklang mit den anderen hinzu. Mit wachsender Geschwindigkeit wurde der Akkord höher und höher und schwoll an zu einem Crescendo aus unmenschlicher, gespenstischer Rage.

Grimm spürte die Musik, er fühlte, wie sich das Schiff begierig auf seine Aufgabe stürzte, und sein Herz klopfte jubelnd im Takt mit der Raubtier. Plötzlich nahm er alles um sich herum mit größerer Schärfe wahr: die Leinen, die Flecken auf dem Deck und auf den Ledermonturen seiner Aeronauten. Er spürte die Bewegung des Schiffes nach vorn und nach unten, den Fahrtwind und die wachsende Furcht bei seiner Mannschaft. Ein Mann schrie – einer schrie immer, und dann fiel die ganze Mannschaft in das Lied der Raubtier ein und brüllte ihren eigenen Schlachtgesang. Grimm wusste, das Schiff würde sie nicht enttäuschen; er fühlte es an der Art, wie ihm die Sonne ins Gesicht schien und der Wind durchs Haar wehte.

Und er wusste auch, dass ihre Geschwindigkeit, ihr Kurs und ihre Position absolut perfekt waren.

»Jetzt!«, brüllte er und riss den Arm scharf hoch.

Kettle zog die Drosselklappe zur Höhenregulierung von Null in ihre normale, neutrale Stellung und zerrte an den Steuergriffen. Obwohl Grimm es nicht sah, wusste er, was jetzt passierte: Im Maschinenraum beobachtete man die Drosselanzeige, und Journeyman und seine Helfer würden die Energie vom Kernkristall wieder auf den Steigekristall umleiten. Ächzend wurde das Schiff langsamer.

Gleichzeitig drehte sich die Raubtier um ihre Mittelachse, neigte sich nach Backbord und feuerte eine Breitseite auf das aurorische Schiff ab. Selbst durch die dunkle Schutzbrille war der Blitz der sieben Ätherkanonen so grell, dass Grimm zusammenzuckte und zur Seite sah, während die Ladungen kreischend auf die Auroraner zuflogen.

Jede Kanone bestand aus einem Rahmen aus Kupfer und Messing, in dem sich ein kupferkaschiertes Stahlrohr befand. Eine Reihe Waffenkristalle schwebte exakt in der Mitte des Rohrs an Kupferdrähten, und wenn die Waffe aktiviert wurde, verhielt sie sich ähnlich wie ein gewöhnlicher Kampfhandschuh – nur in viel größerer Dimension. Die Energie eines Kanonenkristalls vereinigte sich mit der hinausströmenden Elektrizität, und das Ergebnis war pure Zerstörungskraft.

Ein Kanonenblitz setzte beim Einschlag ungeheure Energiemengen frei. Ein einziger Treffer aus einer Kanone der Raubtier konnte, wenn er die richtige Stelle erwischte, große Teile eines ungepanzerten Schiffes in Brand setzen. Sieben solche Waffen waren nun auf das aurorische Schiff gerichtet und zielten auf die Mastspitzen, wo die Äthernetze um sie herum gespannt waren. Grimm beobachtete aufmerksam die Auswirkungen der ersten Salve.

Theoretisch konnte die Lichtkanone an Bord der Raubtier einen Blitz abfeuern, der noch in zwei Meilen Entfernung verheerende Wirkung hatte. Allerdings brauchte man in der Praxis ein ruhiges Schiff, ein unbewegliches Ziel, höchst erfahrene Schützen und eine ordentliche Portion Glück, um über eine halbe Meile hinweg ein Ziel zu treffen – vielleicht sogar ein bisschen weiter, wenn sie die schwerere Bugkanone benutzten, das einzige mittelschwere Geschütz an Bord der Raubtier. Die leichte Bordartillerie erhöhte die Manövrierfähigkeit und Geschwindigkeit, und Schiffe bewegten sich während eines Gefechts nur selten ruhig genug. Derartig kaltblütige Schießübungen waren schwereren Kriegsschiffen vorbehalten, die gut gepanzert waren und mehrfache Treffer aushielten; außerdem hatten sie meist Waffen an Bord, die zehnmal so groß wie die der Raubtier waren.

Seine Geschützmannschaften waren erfahrene Aeronauten aus der Flotte, die es mit der Mannschaft eines jeden Kriegsschiffes aufnehmen konnten. Obwohl die Raubtier so schnell geflogen war und das Ziel knapp zweihundert Meter vor ihnen lag, hatten die Männer genau gewusst, in welchem Winkel Kettle das Schiff halten würde.

Auf diese Entfernung wich ein Schiff einer Breitseite nicht aus. Im Gefecht konnte man die Kanonenschüsse kaum verfolgen. Es ging einfach zu schnell. Es gab einen Blitz, und dann sah man einen leuchtenden Kometen mit einem Funkenschweif. Im nächsten Augenblick und ohne wirklich wahrnehmbare Verzögerung spürte man bereits den Einschlag.

Keine der beiden Mannschaften hatte ihr Ziel verfehlt.

Und keine einzige hatte einen Treffer gelandet.

Stattdessen flammte etwa zwanzig Meter vor dem feindlichen Schiff ein smaragdgrüner Schein auf, als die Kanonenschläge den Schleier des feindlichen Schiffes trafen.

Der Schleier war ein Energiefeld, das vom Energiekernkristall eines Schiffes erzeugt wurde. Wenn ein Schuss den Schleier traf, leuchtete dieser wie eine kugelförmige Nebelwolke auf, absorbierte blitzend das feindliche Feuer und verteilte die feindliche Energie, ehe sie das Schiff erreichte. Schleier waren eine Belastung für den Kern eines Schiffes, da sie enorme Ansprüche an die Energiereserven stellten. Man segelte nicht einfach mit aufgespanntem Schleier durch die Gegend.

Grimm riss die Augen auf. Die Zeit schien stehen zu bleiben.

Die Geschütze der Raubtier hatten sich tief in den feindlichen Schleier gebohrt und das defensive Energiefeld zerschossen, fast bis zum Rumpf der Auroraner. Aber wirklichen Schaden hatten sie nicht angerichtet.

Der Schleier des Auroraners war demnach aufgespannt gewesen.

Sie hatten die Raubtier kommen sehen.

Also hatten sie mit ihr gerechnet.

Die Auroraner hatten es darauf angelegt, entdeckt zu werden. Sie hatten sich faul und fett auf einer trägen Luftströmung knapp über der Mezzosphäre eingerichtet als perfektes Ziel – waren jedoch bereit, das Feuer zu erwidern.

Noch während Grimm dies dachte, sah er auf dem Auroraner Signalraketen aufflammen – als hätte das Donnertosen der Geschütze die Verbündeten der Auroraner nicht längst alarmiert.

Creedy brüllte vor Wut. Offensichtlich war er zum gleichen Schluss gelangt wie Grimm und glaubte vermutlich, seinen Todesschrei auszustoßen. Schließlich konnte kein Schiff von der Größe der Raubtier ohne Panzer den Beschuss überleben, mit dem die Auroraner jetzt reagieren würden.

Im nächsten Augenblick erwiderten die Auroraner das Feuer.

Das Deck wurde überstrahlt, als der Lichtblitz durch den Schleier der Raubtier drang, nachdem die aurorischen Kanonen gesprochen hatten. Das feindliche Schiff konnte zwölf leichte Geschütze gegen die sieben der Raubtier zum Einsatz bringen, und obwohl die einzelnen Kanonen ein wenig stärker waren, spielte der Unterschied kaum eine Rolle. Das feindliche Feuer brachte den Schleier der Raubtier wie eine Nebelbank zum Leuchten.

Aber der Schleier hielt und stoppte den Großteil des feindlichen Feuers wenige Meter vor dem Rumpf. Auf dem Schiff breitete sich der scharfe Geruch von Ozon aus.

Creedys Schreckensruf ging in ein ersticktes Würgen über.

Später würde Grimm darüber lachen, jedenfalls, wenn er die nächsten Augenblicke überlebte. Zuerst musste er jetzt allerdings sein Manöver beenden – und dieser Falle entkommen.

»Kettle«, brüllte er und gab gleichzeitig mit den Händen ein Signal, »Sturzflug beenden und rein in den Nebel!«

»Aye, Sir!«, antwortete der erfahrene Lotse; dann stemmte er die Füße in den Boden und zog, die Zähne zusammengebissen und die Halsmuskeln vor Anstrengung angespannt, an den Steuergriffen.

Die Raubtier hatte sich von oben Richtung Steuerbord des Auroraners gestürzt. Jetzt, während sie unter dem anderen Schiff hindurchtauchten, drehte Kettle sie weit nach Backbord auf die Seite und richtete die Steuerbord-Breitseite auf den unteren Rumpf und die Ventraltakelage des Auroraners.

Erneut heulten die Geschütze der Raubtier wütend auf, doch diesmal gab es einen Unterschied. Leutnant Hammond, der Steuerbord-Artillerieoffizier, hatte den Schleier des Feindes entdeckt und in den wenigen Sekunden zwischen dieser verblüffenden Enthüllung und dem Augenblick, in dem seine Mannschaften wieder feuern konnten, die Ziele neu festgelegt. Jetzt schossen die Geschütze der Raubtier in rascher Abfolge nacheinander – und alle zielten sie in die Mitte des Auroraners.

Dieses so genannte Schnellfeuer war eine alte Taktik, um den Schleier eines anderen Schiffes zu durchdringen, aber es erforderte enorme Übung und Fähigkeiten. Der erste Schuss riss ein Stück aus dem Schleier und schlug eine Delle in die Abwehr. Der zweite bohrte sich tiefer hinein und zerstörte ebenfalls ein Stück vom Schleier. Dann ging es mit dem dritten und vierten weiter und immer so fort.

Der sechste Schuss hinterließ eine erste schwarze Brandnarbe auf dem feindlichen Rumpf.

Nummer sieben explodierte fast genau in der Mitte des gegnerischen Schiffes. Ein Bereich des Rumpfes von gut zehn Metern Durchmesser verschwand einfach und verwandelte sich in eine Wolke aus Rauch und tödlichen Splittern, die durch das Schiff über ihnen flogen wie Speere. Feuer hüllte den Rumpf um das Loch herum ein und verschlang lodernd die verwundbaren Innereien des aurorischen Schiffes. Zerschmetterte Masten für das Netz am Bauch des Schiffes lösten sich vom Rumpf und verfingen sich in ihrer Takelage und im feinen, fast unsichtbar schimmernden Ventralnetz. Der plötzliche Widerstand und das abrupte Verschwinden des Ventralnetzes wirkten sich sowohl auf die Vorwärtsbewegung als auch auf den Schwerpunkt aus, und das gegnerische Schiff krängte stark nach Backbord. Der Treffer hatte auch eine der beiden Bauchplatten zertrümmert, und das Schiff begann zu gieren.

Creedy, Kettle und die anderen Flieger an Deck stießen ein Triumphgeheul aus. Zwar hatten sie dem Auroraner noch lange nicht den Todesstoß versetzt, doch für den Augenblick war das Schiff außer Gefecht. Noch immer drohte tödliche Gefahr angesichts der zahlreichen Geschütze, die sicher hinter dem noch immer überwiegend intakten Schleier lagen, doch in einem Duell zwischen den beiden Schiffen würde die Raubtier nun die Oberhand gewinnen.

Grimm sah sich die nachfolgenden Explosionen auf dem anderen Schiff nicht an, die flackernden Entladungen ätherischer Energie, die an Bord des Auroraners auf flüchtige Kristalle stieß, möglicherweise Kampfhandschuhe in einem Waffenschrank. Er hatte seinen Teleskopaufsatz nach unten geklappt und suchte den Himmel mit Augen und Objektiv nach demjenigen ab, dem der Auroraner ein Signal gegeben hatte.

Das zweite Schiff stieg aus dem Dunst der Mezzosphäre auf. Düstere Wolken trübten Spieren und Takelage, doch die gepanzerten Flanken glänzten, während das Schiff ins Sonnenlicht aufstieg. Das Banner des Turms Aurora flatterte an Bauch- und Rückenmasten, zwei blaue Streifen auf weißem Grund mit fünf roten Sternen zwischen den blauen Streifen. Am Bug prangte in Goldbuchstaben ihr Name: Itasca.

Grimm starrte sie an. Ihm wurde heiß und kalt. Die Itasca war eine Legende. Die Liste der Schlachten, an denen sie teilgenommen hatte, reichte über fünfhundert Jahre zurück. Es war eine Ehre, das Schiff zu kommandieren, und sie wurde nur an verdiente aurorische Kapitäne übergeben, die schon bald in die Admiralität aufgenommen werden würden. Grimm fiel zwar der Name des gegenwärtigen Kommandanten nicht ein, aber mit Sicherheit gehörte er zu Auroras Besten.

Schlimmer noch, die Itasca war ein Schlachtkreuzer, der speziell zu dem Zweck gebaut worden war, Schiffe wie die Raubtier zu verfolgen und in brennendes Kleinholz zu verwandeln. Die Geschütze der Raubtier würden ihr nicht viel anhaben, und die eigenen Kanonen – ungefähr viermal so viele wie Grimms und dabei fast so schwer wie die eines Schlachtschiffes – würden den Schleier der Raubtier zerfetzen und Schiff und Mannschaft mit einer einzigen Salve in den Untergang schicken. Dazu kam noch, dass sich die Itasca auf ihre Panzerung und ihren Schleier verlassen und aus einer Entfernung auf die Raubtier schießen konnte, bei der Grimm ihr nichts entgegenzusetzen hatte. Und selbst das war noch nicht das Schlimmste: Die Itasca verfügte über mehrere Energiekerne eines Panzerschiffes und konnte ein wesentlich größeres Netz halten und laden als die Raubtier, so dass Grimm der Itasca nicht einmal würde davonfliegen können, ehe ihre Geschütze das Rennen zu einem vorzeitigen Ende brachten.

Nur eines hatte sie vielleicht gerettet: blindes Glück. Das aurorische Kriegsschiff war in zweitausend Metern aus dem Dunst aufgetaucht – Grimm berechnete im Kopf, dass die Raubtier allerdings, wenn sie den Standardangriffswinkel anstelle von Kettles waghalsigem Sturzflug gewählt hätten, keine hundert Meter neben dem Feind liegen würde. Der Kapitän der Itasca, wer immer es auch sein mochte, hatte Glück bei der Wahl seiner Position gehabt – denn schließlich hätte sich der albionische Freibeuter aus jedem Winkel auf das Handelsschiff stürzen können, und der Kapitän der Itasca konnte nicht wissen, woher sie kommen würde. Aber er hatte Grimm durchschaut und seinen Angriff erfolgreich vorhergesehen. Über ein solches Glück durften sich nur tüchtige Kapitäne freuen.

»Kettle!«, brüllte er. »Sturzflug! Sofort!«

Der Pilot bewegte gehorsam die Hand in Richtung des Hebels, als er überrascht blinzelte und beobachtete, wie die Itasca ihnen ihre beeindruckende Breitseite zuwandte.

Wieder sank das Schiff, jedoch ohne Vorwarnung, so dass viele überrascht wurden. Man hörte Schreie. Leutnant Hammond flog vom Deck aufwärts und hing nur an einer Sicherheitsleine – der Artillerieoffizier musste die Reihe der Schützen auf- und abgelaufen sein und seinen Mannschaften Anweisungen für das Schnellfeuer gegeben haben. Grimm dankte Gott im Himmel, dass der Mann daran gedacht hatte, trotz der Eile wenigstens eine Leine anzulegen.

Einen Moment lang glaubte Grimm schon, sie wären der Itasca entkommen, doch als die Raubtier die obersten Schichten des Dunsts erreichte, eröffnete der Feind das Feuer.

Grimms Schiff gab nur ein kleines Ziel ab: Die Raubtier war kaum größer als ein Zerstörer. Sie bewegte sich außerdem schnell und in schrägem Winkel. Angesichts der Entfernung musste es auf der Itasca einen höllisch guten oder einen vom Glück begünstigten Schützen geben, um das kleine Ziel zu treffen, vor allem, da der Gegner aus dem düsteren Nebel ins grelle Licht der Aerosphäre aufstieg.

Jemand auf der Itasca war höllisch gut. Oder hatte sehr viel Glück.

Das schwere Geschütz des Kriegsschiffes riss ein Loch in den Schleier der Raubtier, als würde ein Stein durch ein Spinnweben fliegen. Der hintere Dorsalmast wurde getroffen, und nur der steile Winkel ihres erneuten Sturzflugs rettete sie. Die Explosion zerstörte alle oberen Masten und verschlang gierig das Dorsalnetz mit seinen Flammen. Trümmerstücke und gesplittertes Holz flogen durch die Luft. Aeronauten schrien, als eine Wolke tödlicher Geschosse die Geschützmannschaften an Steuerbord traf. Ein Schrapnell erwischte den Hauptkristall der Steuerbordkanone Nummer drei, die in einem weißen Leuchtfeuer in die Luft ging und ihre Mannschaft in den Tod riss. Danach klaffte ein vier Meter großes Loch in der Schiffsflanke. Ein Aeronaut namens Aricson von einer der benachbarten Mannschaften schrie auf, als sich der Teil des Decks, an dem seine Sicherheitsleinen befestigt waren, losriss und ihn mit sich zerrte. Einen Moment lang brüllte er in Todesangst, dann verschwand er mitsamt der Trümmer im Nebel, der wallend die gesamte Raubtier verschlang.

»Ausweichmanöver!«, befahl Grimm. Man hörte immer noch den fernen Donner der Geschütze auf der Itasca und das hungrige Zischen der Geschosse, die um sie herum durch den Nebel peitschten und ihn mit höllischem Licht zum Leuchten brachten. Sie hatten Glück gehabt, dass sie den Treffer überlebt hatten. Dreißig Kanonen harkten durch den Dunst. Grimm stellte sich vor, wie sich das feindliche Schiff auf die Steuerbordseite rollte, damit die Schützen die geschätzte Bahn ihres Sturzflugs nachvollziehen konnten. Falls der gleiche Schütze oder einer seiner Kollegen noch einmal Glück hätte, würde die Raubtier nicht zum Turm Albion zurückkehren.

Sobald sie in den kalten Nebel eingetaucht waren, riss Kettle das Steuer herum, und das Schiff sank im Slalom tiefer in die Mezzosphäre. Grimm wartete auf die Salve, die sein Schiff und seine Mannschaft endgültig vernichten würde, und zwang sich, ruhig weiterzuatmen. Währenddessen sang die Raubtier ihr trotziges Lied in den Nebel. Der Klang änderte sich mit jeder Korrektur des Kurses und hallte hinter ihnen her wie spöttisches Gelächter.

Grimm ballte die Fäuste und biss die Zähne zusammen. Natürlich war es in Ordnung, wenn sich sein Schiff auf diese Weise benahm, aber manchmal wünschte er, die Raubtier könnte so gut denken, wie sie den Feind verspottete. Doch daran war nichts zu ändern. Grimm musste einfach hoffen, dass der Nebel der Mezzosphäre den Lärm dämpfte und den Ursprung verschleierte, damit die Schützen der Itasca ihr Ziel nicht orten konnten.

Er wartete, so lange er es nur wagte, fast eine Minute, dann brüllte er: »Zieht sie hoch!«

Kettle gab das Signal für den Maschinenraum, und der wilde Sturzflug wurde langsamer. Einige Atemzüge später hatte sich die Raubtier stabilisiert. Auf Deck herrschte völlige Stille, während Kettle das verwundete Schiff in die Waagerechte brachte.

Nach einer Weile atmete Grimm tief durch, neigte den Kopf und nahm die Schutzbrille ab. Die feuchte Luft fühlte sich kalt und klebrig auf der Haut um die Augen an.

»Sie verfolgen uns nicht«, flüsterte Creedy und nahm ebenfalls die Schutzbrille ab.

»Natürlich nicht. Dafür ist die Itasca viel zu groß«, gab Grimm zurück. Seine Stimme klang in seinen Ohren heiser und dünn. Hals und Schultern fühlten sich an, als hätte man sie gegen Messingstangen getauscht. »So ein Monster kann keinen Sturzflug machen wie die Raubtier. Außerdem würde sich kein aurorischer Kapitän in diese Dunkelheit wagen, weil er Angst hätte, sich lächerlich zu machen. Zwei blinde Männer können keine würdige Jagd veranstalten.«

Creedy schnaubte.

»Schadensübersicht«, verlangte Grimm ruhig und löste seine Sicherheitsleinen. »Sorgen Sie dafür, dass Doktor Bagen alles zur Verfügung steht, was er für die Versorgung der Verwundeten braucht. Überprüfen Sie die Anwesenheit. Ich bin in meiner Kabine.«

Creedy nickte und blickte sich langsam um. »Sir?« Grimm wandte sich ihm zu. »Unser Schleier ist ausgesprochen stark für ein Schiff unserer Größe.« Der junge Offizier hatte seine Frage noch nicht gestellt, doch sie hing unausgesprochen in der Luft. Grimm mochte keine Umschweife. Sie machten das Leben kompliziert. Doch obwohl er den jungen Offizier für einen anständigen Kerl hielt, brachte er ihm nicht so viel Vertrauen entgegen. Noch nicht. Also blickte er seinen Ersten Offizier nur an. »Kümmern Sie sich um das Schiff, wenn ich bitten darf, Mister Creedy.«

Creedy nahm Haltung an und salutierte in bester Akademiemanier. »Ja, Sir. Kapitän.«

Grimm drehte sich um und zog sich in seine Kabine zurück. Er schloss die Tür hinter sich und setzte sich auf seine Koje. Die Schlacht war vorbei.

Seine Hände begannen zu zittern, dann seine Arme und sein Bauch. Er zog die Knie vor die Brust und saß einen Augenblick lang still da, bebte vor Angst und Aufregung, die er während des Gefechts komplett unterdrückt hatte.

ENDE DER LESEPROBE