Winston Churchill - Christian Graf von Krockow - E-Book

Winston Churchill E-Book

Christian Graf von Krockow

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Beschreibung

Er war Politiker aus Leidenschaft, Schriftsteller von Weltrang und besaß einen untrüglichen Instinkt für die Bedrohung der Freiheit durch Diktatur und Tyrannei. Winston Churchill war eine überragende politische Erscheinung. Christian Graf von Krockow erzählt sein Leben als die Biographie eines Mannes, der aufgrund seiner Herkunft und seiner Überzeugung den Charakter und Willen besaß, Hitler wie auch Stalin entgegenzutreten. Er zeigt die Größe, aber auch die Widersprüche und Abgründe des Mannes, der sich als Gegenspieler der Gewaltherrschaft unsterblichen Ruhm erwarb und doch einen barbarischen Bombenkrieg zuließ. Unser Jahrhundert, so Krockow, war nicht geprägt vom Zweikampf der Diktaturen, sondern vom Kampf der liberalen Demokratie gegen die Feinde der Freiheit. Churchill lehnte Faschismus und Kommunismus gleichermaßen konsequent ab und wurde so zur Schlüsselfigur einer ganzen Epoche.

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Christian Graf von Krockow

Winston Churchill

Eine Biografie des 20. Jahrhunderts

Hoffmann und Campe

Vorwort

Dieses Buch berichtet von Winston Spencer Churchill, von seinem Leben und seinem Wirken als Staatsmann. Es schildert ihn als die Schlüsselfigur einer Epoche, als den exemplarischen Gegenspieler der Gewaltherrschaft.

Das mag ungewöhnlich sein. In der kontinentalen und zumal der deutschen Perspektive ist die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts von zwei radikalen Bewegungen geprägt worden: vom Marxismus und Kommunismus auf der einen, dem Faschismus und Nationalsozialismus auf der anderen Seite. Dem Anspruch nach ging es um schroff gegensätzliche Ziele, um die Durchsetzung der »klassenlosen Gesellschaft« dort, um die Herrschaft der »Herrenrasse« hier. In der Praxis allerdings gab es Ähnlichkeiten, wenn nicht gar Übereinstimmung. Beide Bewegungen wollten die bisherige Geschichte mit ihren überkommenen Ordnungen, Vorstellungen und Werten abschaffen, sie sozusagen als bloßen Baugrund planieren, um auf den Trümmern des Bestehenden das absolut Neue und dann End-Gültige zu errichten. Die Konsequenz war eine ohne Grenzen entfesselte Gewalt mit Abermillionen von Opfern.

Zur Sache gehörte gleichwohl der Jubel; die Führer der Bewegungen – LeninLenin, Wladimir Iljitsch, StalinStalin, Adolf HitlerHitler, Adolf – sind umschwärmt, angebetet, als Führer zum Heil und zur Erlösung fast zu Gottheiten erhoben worden. Am Ende allerdings stand das Scheitern: das schreckensvolle des »Dritten Reiches« 1945, das schmähliche des Sowjetimperiums um 1990.

Auch die geistige Auseinandersetzung, die intellektuelle Debatte des 20. Jahrhunderts ist im kontinentalen Europa von den beiden radikalen Bewegungen geprägt worden, sei es als Parteigängerschaft, sei es als Antikommunismus oder Antifaschismus. Entsprechend die Geschichtsschreibung. Soll man zum Beispiel von einem deutschen »Sonderweg« sprechen und auf die Einmaligkeit des Geschehens – besonders der Judenvernichtung – bestehen oder von einem europäischen Bürgerkrieg reden, in dem HitlersHitler, Adolf Gewaltherrschaft nur eine Antwort auf die Herausforderung des Kommunismus war? Wie kam es zur Verführbarkeit der Massen und zur Komplizenschaft der Intellektuellen? So oder ähnlich lauten die Fragen, zu denen sich inzwischen etwas wie Ratlosigkeit mischt, weil plötzlich gegenstandslos geworden ist, worum man so lange und so leidenschaftlich gestritten hat.

Gerade dies sollte Anlaß dafür sein, an der Jahrhundertwende den Jahrhundertrückblick einer entschiedenen Revision zu unterziehen. Denn an unserer Debatte und historischen Perspektive, mit welchem Pro und Contra auch immer, haftet etwas peinlich Provinzielles. Die Alternative zum Kommunismus war nicht der Faschismus (oder umgekehrt), sondern den wirklichen Gegenpol zu beiden Bewegungen bildeten die liberalen westlichen Demokratien, in erster Linie Großbritanniens und der Vereinigten Staaten von Amerika. Und der exemplarische Gegenspieler HitlersHitler, Adolf war nicht StalinStalin, sondern Winston Churchill. Dabei war er nicht nur der Mann, der HitlerHitler, Adolf den Weg zum »Endsieg« im Westen versperrte, sondern auch der strikte Antikommunist, für den 1945 erst die halbe Arbeit getan war. In seinem Sinne ist dann – mit den Kräften Amerikas – der Kalte Krieg bis zum Zusammenbruch des Kommunismus geführt worden.

Woran liegt es, daß Churchill – in der kontinentalen Verengung – allenfalls als farbige Figur, aber nicht als der exemplarische Gegenspieler wahrgenommen und gewürdigt wird? Eben daran offenbar, daß er alle die Heils- und Erlösungslehren verwarf, ja verachtete und sie einzig als Energien der Zerstörung und als militärische Bedrohung ernst nahm. Er glaubte nicht daran, daß man den alten Adam zum neuen kommunistischen Menschen oder zum Helden umprägen könnte; die Skepsis gegenüber radikaler Weltverbesserung war sein Glaubensprinzip. (Hinter dieser Skepsis verbirgt sich indessen als christliches Erbe die Überzeugung, daß in dieser Welt und aus menschlichem Vermögen keine Erlösung zum Heil erreicht werden kann.) Von den Intellektuellen, die sich für philosophische Systeme, Zukunftsentwürfe oder Wahnvorstellungen begeistern, trennten ihn Abgründe, und sie tun es bis heute. Was diesem Mann wichtig war, stellte er in historischer Anschauung dar, in literarischen Werken von Rang wie seiner großen MarlboroughMarlborough [Churchills Ahnherr]-Biographie, seiner Geschichte der englischsprachigen Völker oder seinen Berichten von den beiden Weltkriegen.

Churchill war ein Konservativer von Geblüt – in dem Sinne, daß er gegen den Ansturm der Geschichtsplanierer bewahren wollte, was ihm als gewachsene Ordnung bewahrenswert schien, von der parlamentarischen Demokratie über Freiheit und Recht bis zum britischen Commonwealth. Die Irrtümer sind dabei eingeschlossen: Zeitgemäßes und Überdauerndes mischt sich bei Churchill mit dem Überholten und Abgelebten.

Die Irrtümer widerlegen den Rang des Gegenspielers nicht, sondern bestätigen ihn; sie zeigen, daß es unter Menschen keine Unfehlbarkeit gibt – und daß überall dort, wo man sie beansprucht, wir nicht zum Heil geführt werden, sondern ins Unheil geraten. Wenn man so will, steckt darin die Botschaft, die aus den Schrecken des 20. Jahrhunderts in die Zukunft geleitet und vor den Versuchungen bewahrt, die uns dort erwarten.

Ein Wort noch zum Buch: Es folgt seinem Vorbild darin, daß es erzählt, statt zu spekulieren. Es will Anschauung vermitteln von dem Leben des Mannes, dem tatsächlich eine Schlüsselstellung zukommt, wenn wir die Geschichte des 20. Jahrhunderts verstehen wollen, statt uns bloß im nachhinein und immerfort besserwisserisch zu entrüsten.

Die Schauder einer Kindheit und Jugend

Kinder brauchen Liebe, die zärtliche Zuwendung ihrer Eltern, wenn sie gesund und glücklich aufwachsen sollen. Dies, so scheint es, ist ein eherner Lehrsatz, durch unsere Menschenkunde und nicht zuletzt aus Schreckensberichten belegt – davon zum Beispiel, daß vor allem die Kinder leiden und dann womöglich auf die schiefe Bahn geraten, wenn ihre Eltern sich entzweien. Genau betrachtet stellt dieser Lehrsatz freilich die noch ziemlich neue Entdeckung oder Erfindung einer Gesellschaft dar, die von bürgerlichen Vorstellungen, noch moderner ausgedrückt, von den Mittelschichten geprägt wird.

Jedenfalls sieht es in älteren Ordnungen anders aus. Da sind die Kinder kleine, leider noch unfertige Erwachsene, die man mit Strenge und auch mit Prügeln dazu antreibt, daß sie so schnell wie möglich groß und gebrauchstüchtig werden. In den armen, hart arbeitenden Unterschichten der Bauern, Handwerker und Tagelöhner – also bei der ganz großen Mehrheit der Bevölkerung – müssen die Kinder im Haus, im Garten und im Stall, auf dem Feld und beim Viehhüten, am Spinnrad und am Webstuhl mithelfen, sobald sie nur können. Von frühester Jugend an bis ins Alter wird das Leben geprägt von dem biblischen Fluch: »Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis daß du wieder zu Erde werdest, davon du genommen bist.« Und wenn man halbwegs gesund bleibt und sich satt essen kann, dann ist es schon viel.

Bei den europäischen Oberschichten, an Fürstenhöfen und beim Adel, geht es anders und doch wiederum ähnlich zu. Zwar muß man nicht arbeiten wie das gemeine Volk, aber man ist so vielfältig beschäftigt, daß für die Kinder keine Zeit bleibt. Ganz besonders gilt das für die auserlesenen Familien, nur ein paar hundert insgesamt, die Großbritannien seit unvordenklichen Zeiten regieren. Geselligkeit und Gespräch, das Dabeisein, das Ansehen und die Intrigen im eigenen auserlesenen Kreis, die Jagd und das Reiten, die Politik und der Sport: Immer hat man zu tun. Folgerichtig sagt das Sprichwort: »Die Engländer säugen ihre Jungen nicht« – sondern überlassen sie den Ammen, Kindermädchen und Gouvernanten, schließlich einer strengen Erziehung in berühmten Schulen wie Harrow oder Eton.

Winston Churchills Kindheit macht anschaulich, wovon die Rede ist. Er wird am 30. November 1874 in Blenheim geboren, im Hause des Großvaters, des Siebenten Herzogs von MarlboroughMarlborough, Herzog von [Winstons Großvater]. Nein, nicht im Hause, sondern im Schloß, im Palast von Blenheim, der vom ererbten Besitz, vom beinahe unermeßlichen Reichtum zeugt, den der erste Namensträger um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert zusammentrug. Da freilich nach dem englischen Adelsrecht nur der erstgeborene Sohn den Titel und das Vermögen erbt, heißt der Vater als ein Nachgeborener nur Lord RandolphChurchill, Lord Randolph [Winstons Vater] und dessen Sohn schlicht Winston Churchill.

Um hier für einen Augenblick zu verweilen: Das strenge englische Adelsrecht schafft andere Verhältnisse als auf dem Kontinent – nicht eine abgeschlossene Kaste, sondern eine offene Oberschicht. Die nachgeborenen Kinder treten ins Bürgertum über. In der Gegenrichtung können Aufsteiger für ihre Verdienste mit klingenden Titeln geschmückt werden, ohne daß eine Adelsinflation droht.[1] Nur politisch entsteht eine Spaltung: Die Lordschaften nehmen im Oberhaus Platz, ohne sich einer Wahl stellen zu müssen. Dafür sehen sie sich vom Unterhaus ausgeschlossen. Um seinen Sitz dort nicht zu verlieren, hat darum manch einer die Beförderung zum Lord oder – wie Churchill nach 1945 – zum Herzog ausgeschlagen.

Winstons Mutter, Jennie JeromeWinston, Jennie [Winstons Mutter], war die Tochter eines amerikanischen Emporkömmlings und New Yorker Finanzmaklers, in deren Adern, wie es heißt, auch ein Anteil von Indianerblut floß. Lord RandolphChurchill, Lord Randolph [Winstons Vater] sah sie, verliebte sich und setzte die Heirat durch, zum Entsetzen der herzoglichen Familie. Doch als blendende Schönheit wurde sie bald schon umschwärmt und genoß das aristokratische Leben in vollen Zügen. Darum wollte sie auch nicht auf Geselligkeit und Tanz verzichten, als sie bereits hochschwanger war. Aber das ungebärdige Kind hatte es eilig; plötzlich setzten die Wehen ein. Über die endlosen Palastflure erreichte JennieWinston, Jennie [Winstons Mutter] gerade noch die Damengarderobe und brachte dort Winston in einer Sturzgeburt zur Welt, um sieben Wochen zu früh. Sobald wie möglich wandte sie sich dann wieder ihren Vergnügungen zu.

Lady Churchill, die amerikanische Mutter, eine umschwärmte Schönheit, die der Sohn kaum zu sehen bekam. »Ich liebte sie zärtlich – aber von fern«, hat er gesagt.

[Copyright © Churchill Biography: Photographic Collection (reproduced with permission of Curtis Brown Ltd, London, on behalf of Winston S. Churchill. The Estate of Sir Winston S. Churchill and the Broadwater Collection)]

In seinen Jugenderinnerungen hat Churchill geschrieben: »Meine Mutter erschien mir immer wie eine Märchenprinzessin … Lord D’AbernonD’Abernon, Edgar hat sie mit Worten geschildert, für die ich ihm dankbar bleibe: ›Ich erinnere mich noch genau, wie ich sie zum erstenmal sah. Es war im Hause des Vizekönigs in DublinMarlborough, Herzog von [Winstons Großvater] [Churchills Großvater Marlborough]. Sie stand links seitlich vom Eingang. Am anderen Ende des Saales bemerkte man den Vizekönig auf einer Estrade, umgeben von glänzendem Gefolge. Aber die Blicke richteten sich nicht auf ihn oder seine Gattin, sondern auf die dunkle, biegsame Gestalt, die sich ein wenig abseits hielt und aus anderem Stoff gemacht schien als die Umstehenden: strahlend, wie von innen her leuchtend, sprühend von Leben. In ihrem Haar ein Brillantstern, ihr Lieblingsschmuck – sein Feuer gedämpft durch die blitzende Pracht der Augen. Der Blick war mehr der eines Panthers als der einer Frau, aber von einer edlen Geistigkeit, die dem Dschungel fremd ist. Sie war ebenso beherzt und mutig wie ihr Mann – ganz die Mutter für Nachkommen des großen Herzogs. Bei allem Glanz ihrer Erscheinung zugleich von einer Güte und Heiterkeit, die ihr allgemeine Zuneigung erwarben. Ihr Wunsch zu gefallen, ihre Freude am Dasein, ihr instinktives Bestreben, andern ihren frohen Glauben an das Leben zu übermitteln, machten sie zum Mittelpunkt eines ihr ergebenen Kreises.‹«[2]

»Auch mir«, fährt Churchill fort, »erschien meine Mutter als etwas glanzvoll Strahlendes. Sie leuchtete mir wie der Abendstern. Ich liebte sie zärtlich – aber von fern.« Ja, von so weit her wie einen Stern, im Grunde unerreichbar. Übrigens hat JennieWinston, Jennie [Winstons Mutter] nach dem Tode von Lord RandolphChurchill, Lord Randolph [Winstons Vater] noch zweimal geheiratet, zunächst einen Offizier, der zwanzig Jahre jünger war als sie und von dem man sagte, daß er der am besten aussehende Mann seiner Zeit gewesen sei. JennieWinston, Jennie [Winstons Mutter] wollte eben, statt in der Witwenschaft zu versinken, weiterhin gesellschaftlich glänzen. Sie starb 1921.

Vom Vater ist noch viel mehr zu sagen als von der Mutter. In seiner Jugend war er, was wir heute einen Playboy nennen, und die Skandale blieben nicht aus. In sich überkreuzenden Affären kam es sogar dazu, daß der Prince of Wales – später König Eduard VII. – Lord Randolph ChurchillChurchill, Lord Randolph [Winstons Vater] zum Duell forderte. Der Lord erwiderte, daß er sich mit jedem Stellvertreter schlagen werde, nur nicht mit dem künftigen König. Der Prinz wiederum erklärte, daß er kein Haus mehr betreten werde, das die Churchills empfange. Schließlich fand der weise alte Premierminister, Benjamin DisraeliDisraeli, Benjamin, den Ausweg: Er schickte den Herzog von MarlboroughMarlborough, Herzog von [Winstons Großvater] als Vizekönig nach Dublin – und Lord RandolphChurchill, Lord Randolph [Winstons Vater] dem Vater als Privatsekretär hinterher, sozusagen zur Abkühlung ins irische Exil. So kam es, daß die frühesten Kindheitserinnerungen des kleinen Winston aus Irland stammten.

Inzwischen entdeckte der Vater seinen politischen Ehrgeiz. Er wurde zum – natürlich konservativen – Parteimann und rückte bald zur Führungsfigur auf. »Tory Democracy« hieß sein zündendes Schlagwort. Er erkannte, daß die Whigs, die Liberalen, kaum mehr als eine begrenzte Mittelschicht verkörperten und daß man die Arbeitermassen, die inzwischen das Wahlrecht erreicht hatten, fürs konservative Feldlager gewinnen könne, wenn man sie nur gehörig, das heißt demagogisch, in ihrer eigenen Lebenswelt ansprach. Ein Radikaler im konservativen Gewand, ein mitreißender Redner, der seine Gegner wüst und in nie gehörten Wendungen beschimpfte: Den eigenen Parteifreunden war er damit höchst unheimlich. Lord SalisburySalisbury, Robert, der Parteiführer, sagte: RandolphChurchill, Lord Randolph [Winstons Vater] und der MahdiMahdi [der FührerAhmed, Mohammed eines fanatischen religiösen Aufstandes im Sudan] beschäftigen mich zu ungefähr gleichen Teilen. Der MahdiMahdi spielt verrückt, aber in Wirklichkeit ist er ganz klar im Kopf. Mit RandolphChurchill, Lord Randolph [Winstons Vater] steht es genau umgekehrt.«

Vielleicht war nur GladstoneGladstone, William, der liberale Premierminister, Lord RandolphChurchill, Lord Randolph [Winstons Vater] gewachsen. Seine Demagogie bestand im stets hochmoralischen Predigen, von Nüchternheit unterlegt. (Als GladstoneGladstone, William gestürzt wurde, flossen unter seinen Ministern reichlich die Tränen; GladstoneGladstone, William indessen spottete später über »jene verheulte Kabinettssitzung«.) Aber GladstoneGladstone, William war jetzt ein alter Mann, und bei den Unterhauswahlen von 1886 wurde er – dank Randolph ChurchillChurchill, Lord Randolph [Winstons Vater] – geschlagen. Was blieb SalisburySalisbury, Robert da übrig, als den Sieger zu seinem Schatzkanzler und zum Minister für das Unterhaus zu ernennen? Und wie lange wohl konnte es noch dauern, bis Churchill SalisburySalisbury, Robert im Amt des Premierministers beerbte?

Der exzentrische Vater, Lord Randolph Churchill, hielt den Sohn für einen Versager. Noch nach dem Tod von Lord Randolph kämpfte Winston Churchill um die Anerkennung seines Vaters und widmete ihm eine große Biographie.

[Copyright © Churchill Photograph Albums, Broadwater Collection (reproduced with permission of Curtis Brown Ltd, London, on behalf of Winston S. Churchill. The Estate of Sir Winston S. Churchill and the Broadwater Collection)]

Die Ernennung erfolgte im August 1886 – und nur Monate später, im Dezember, war Lord RandolphChurchill, Lord Randolph [Winstons Vater] ein politisch erledigter Mann. Aus nichtigem Anlaß, weil – wie stets – der Kriegsminister mehr Mittel forderte, die er nicht gewähren wollte, reichte er seinen Rücktritt ein, und SalisburySalisbury, Robert ergriff die Gelegenheit, um den Rivalen in die Wüste zu schicken. Man hat dann gesagt, daß der rechthaberische RandolphChurchill, Lord Randolph [Winstons Vater] den sensationellsten politischen Selbstmord des Jahrhunderts beging.

Oder steckt mehr, etwas Schlimmeres dahinter? »Der Mann ist geisteskrank«, sagte die Königin ViktoriaVictoria, Königin. Tatsächlich gab es Vorzeichen eines paralytischen Zusammenbruchs, der einige Jahre später erfolgte und Lord RandolphChurchill, Lord Randolph [Winstons Vater]1895 in Finsternis sterben ließ, nur 45 Jahre alt.

Der Sohn hat den Vater glühend verehrt – nur eben, wie auch die MutterWinston, Jennie [Winstons Mutter], als einen unerreichbar fernen und dann schnell versinkenden Stern. Die wenigen Gelegenheiten einer persönlichen Begegnung mit dem VaterChurchill, Lord Randolph [Winstons Vater] hat Winston Churchill sich stets als kostbare Erinnerung bewahrt, und später hat er ihm eine große Biographie gewidmet.

Was aber blieb für das Kind, wo fand der kleine Winston seinen Halt? Zuerst und vor allem bei der Kinderfrau, Mrs. EverestEverest, Mrs. [Winstons Kinderfrau]. Sie und eigentlich nur sie bot ihm Geborgenheit, Zärtlichkeit, Liebe. Als sie 1895 starb, weinte der junge Husarenleutnant an ihrem Grab. Nur leider: Neben Mrs. EverestEverest, Mrs. [Winstons Kinderfrau] tauchte sehr bald die dunkle Gestalt einer Gouvernante auf, bei der es nicht um Liebe, sondern ums Lernen ging. Und dann der Schrecken der Schule! Den Siebenjährigen brachte die Mutter in das für ihn ausgewählte Internat, St. George’s in Ascot,[3] und was dort sich zutrug, hat niemand so eindringlich erzählt wie Churchill selbst.

»Als das letzte Geräusch der Räder verklungen war, die meine Mutter davonführten, forderte mich der Direktor auf, ihm alles Geld auszuhändigen, das ich besaß … Dann verließen wir das Zimmer des Direktors und den behaglichen Privatflügel des Hauses und betraten die frostigen Schlaf- und Wohnräume der Zöglinge. Ich wurde in ein Klassenzimmer geführt und mußte mich an ein Pult setzen. Die anderen Jungen waren alle draußen, und ich sah mich allein mit dem Klassenlehrer. Er zog ein dünnes Buch in grünlich-braunem Umschlag hervor, angefüllt mit Wörtern in verschiedenen Drucktypen.

›Latein hast du bisher noch nicht gehabt, nicht wahr?‹ sagte er.

›Nein, Sir.‹

›Dies ist eine lateinische Grammatik.‹ Er schlug eine stark abgegriffene Seite auf und wies auf zwei Reihen eingerahmter Wörter. ›Das hast du jetzt zu lernen‹, sagte er. ›In einer halben Stunde komme ich wieder und höre dich ab.‹

Da saß ich denn an einem trüben Spätnachmittag in einem trübseligen Schulraum, Weh im Herzen und die erste Deklination vor mir:

mensa

der Tisch

mensa

o Tisch

mensam

den Tisch

mensae

des Tisches

mensae

dem Tische

mensa

von oder mit dem Tisch

Was zum Henker sollte das bedeuten? Was hatte das für einen Sinn? Reines Kauderwelsch schien es mir. Nun, eines konnte ich wenigstens tun: auswendig lernen. Also nahm ich, soweit meine eigenen Kümmernisse es erlaubten, die rätselhafte Aufgabe in Angriff.

Zur gehörigen Zeit erschien wieder der Lehrer. ›Hast du’s gelernt?‹ fragte er.

›Ich glaube, ich kann es aufsagen‹, antwortete ich und schnurrte die Lektion herunter.

Er schien sehr befriedigt, und das gab mir Mut zu einer Frage.

›Was bedeutet denn das eigentlich, Sir?‹

›Das, was da steht: Mensa, der Tisch. Mensa ist Hauptwort der ersten Deklination. Fünf Deklinationen gibt es. Du hast den Singular der ersten Deklination gelernt.‹

›Aber‹, wiederholte ich, ›was bedeutet denn das?‹

›Mensa bedeutet der Tisch‹, war die Antwort.

›Warum bedeutet dann aber mensa auch: o Tisch‹, forschte ich weiter, ›und was heißt das: o Tisch?‹

›Mensa, o Tisch, ist der Vokativus.‹

›Aber wieso: o Tisch?‹ Meine angeborene Neugier ließ mir keine Ruhe.

›O Tisch – das wird gebraucht, wenn man sich an einen Tisch wendet oder ihn anruft.‹ Und da er merkte, daß ich ihm nicht folgen konnte: ›Du gebrauchst es eben, wenn du mit einem Tisch sprichst.‹

›Aber das tue ich doch nie‹, fuhr es mir in ehrlichem Erstaunen heraus.

›Wenn du hier frech bist, wirst du bestraft werden, und zwar ganz gehörig, das kann ich dir versichern‹, lautete seine endgültige Antwort.

Der sechsjährige Winston. Aus dem Bild spricht schon der Trotz, der den Jungen in einen hartnäckigen Lernstreik trieb.

[Copyright © Getty Images]

Dies war meine erste Einführung in die Klassiker, aus denen, wie man mir gesagt hatte, unsere großen Männer soviel Nutzen und Erquickung geschöpft haben.

Der Hinweis des Klassenlehrers auf Bestrafung sollte sich nur allzu gut bestätigen. Prügel mit der Birkenrute, nach dem Vorbild von Eton, waren große Mode in der St.-James-Schule. Aber ich bin überzeugt, daß kein Schüler von Eton und ganz bestimmt keiner in Harrow zu meiner Zeit je so furchtbare Schläge bekommen hat, wie sie der Direktor den kleinen Jungen verabreichen ließ, die seiner Obhut und seiner Gewalt anvertraut waren. Die Härte der Bestrafung übertraf sogar das, was in staatlichen Besserungsanstalten geduldet worden wäre. Die Lektüre späterer Jahre hat mir Aufschluß gegeben über die möglichen Hintergründe solcher Grausamkeit. Regelmäßig ein- oder zweimal im Monat wurde die ganze Schule in der Bibliothek versammelt; dann wurden ein oder mehrere Delinquenten von zwei Klassenältesten in einen Nebenraum gezerrt und dort geprügelt, bis das helle Blut herunterlief, während wir anderen zitternd und auf die Schreie horchend beisammen saßen …

Wie haßte ich diese Schule, in der ich mehr als zwei Jahre ein Leben voller Ängste verbrachte! Ich machte nur geringe Fortschritte im Lernen und gar keine im Sport. Tage und Nächte zählte ich, bis ich aus dieser verhaßten Knechtschaft wieder zu den Ferien nach Hause käme …

Meine größte Freude in jener Zeit war Lesen. Mit neuneinhalb Jahren schenkte mir mein Vater Treasure Island [›Die Schatzinsel‹ von Robert Stevenson], und ich weiß noch, mit welcher Begeisterung ich das Buch verschlang. Meine Lehrer stellten einen Rückgang der Leistungen und Frühreife fest, da ich Bücher las, die meinen Jahren nicht entsprachen, und dabei der letzte in der Klasse war. Das ging ihnen gegen den Strich. Sie hatten Zwangsmittel in weitgehendem Maße zur Verfügung, aber alles prallte an mir ab. Wo nicht meine Interessen geweckt, meine Vernunft und Vorstellungskraft beteiligt waren, da wollte und konnte ich nicht lernen. In den ganzen zwölf Jahren meiner Schulzeit hat nie jemand mir beizubringen vermocht, einen richtigen lateinischen Satz zu schreiben oder vom Griechischen mehr zu lernen als das Alphabet.«[4]

Schlimme Kindheits- und Jugendgeschichten von später berühmten Männern sind nicht gerade selten. Man denke an Friedrich den GroßenFriedrich der Große. Oder an BismarckBismarck, Otto von: Er erzählt, daß die Lehranstalt, in die der Ehrgeiz der Mutter den Sechsjährigen schickte, ihm »wie ein Zuchthaus« vorgekommen sei, und daß er immer weinen mußte in der Sehnsucht nach heimatlicher Geborgenheit. Aber die Plamannsche Anstalt in Berlin war im Geiste der Reformpädagogik PestalozzisPestalozzi, Johann Heinrich begründet worden, und ihre Erziehungsmethoden waren denen von St. George in Ascot gewiß um Lichtjahre voraus, obwohl Churchill die Schule sechzig Jahre später bezog als BismarckBismarck, Otto von. (Insgesamt, und keineswegs zum Nachteil Preußens, wäre es reizvoll, die Bildungssysteme des 19. Jahrhunderts zu vergleichen. Doch das ist ein eigenes Thema.)

Nach den Sommerferien 1884 wurde Winston in eine andere Schule in dem Seebad Brighton geschickt. Sie war weniger vornehm als die in Ascot, aber auch milder, und wurde von zwei ältlichen Jungfern geleitet. Churchill selbst sagt, daß er krank geworden sei und daß der Schulwechsel stattfand, um ihn an der Seeluft wieder zu kräftigen. Wahrscheinlicher ist, daß Mrs. EverestEverett, Mrs. [Winstons Kinderfrau], die geliebte Kinderfrau, seine Prügelstriemen entdeckte und bei der Mutter protestierte.[5] In Brighton machte der Junge sogar einige Fortschritte, zum Beispiel in Französisch, Geschichte, dem Auswendiglernen von Gedichten, dazu und »ganz besonders« im Reiten und im Schwimmen.

Doch natürlich diente der Aufenthalt in Brighton bei den Fräulein Thomson nur der Vorbereitung auf die wirklich wichtige Schule in Harrow. Hier wurde er im Frühjahr 1888 aufgenommen und blieb bis 1892. Das heißt: Eigentlich reichten seine Kenntnisse zur Aufnahme nicht; sie war wohl nur dem Ansehen und Einfluß seiner Familie zu verdanken. Und ständig gab es Probleme mit dem Versagen und dem Sitzenbleiben; ein halbwegs guter Schüler ist Churchill niemals geworden. Nur hier oder dort zeichnete er sich aus, etwa beim Fechten, wie später als Husarenleutnant beim Polo. Das war keineswegs unwichtig, denn an britischen Internatsschulen spielte der Sport eine unvergleichbar wichtigere Rolle als das Turnen an deutschen Gymnasien. Viel später freilich, als alter Mann, soll Churchill auf die Frage nach dem Schlüssel zum Gesundbleiben gesagt haben: »No sports!« Aber für seine Jugend traf das keineswegs zu, obwohl er ein vielseitiger Athlet niemals werden wollte und auch nicht geworden ist.

Mrs. EverestEverest, Mrs. [Winstons Kinderfrau], das Kindermädchen, bei dem das Kind fand, was es entbehrte: Verständnis, Zärtlichkeit, Liebe.

[Copyright © Churchill Biography: Photographic Collection (reproduced with permission of Curtis Brown Ltd, London, on behalf of Winston S. Churchill. The Estate of Sir Winston S. Churchill and the Broadwater Collection)]

Für den Schüler von Harrow stellte sich zunehmend dringlich die Frage, was er denn werden sollte. Lord Randolph ChurchillChurchill, Lord Randolph [Winstons Vater] kam mit Bedauern und mit einem Zusatz von Verachtung, aus dem er kein Geheimnis machte, zu dem Schluß, daß sein Sohn wohl nur für die Offizierslaufbahn zu gebrauchen sei. Hierbei fordert dieses »nur« zum Vergleich heraus. Die preußisch-deutsche Armee des Kaiserreichs stand in höchstem Ansehen; der Mann in der Uniform galt mehr als der Zivilist. Und wenn man schon nicht die aktive Offizierslaufbahn einschlug, mußte man

es zumindest bis zum Leutnant oder Hauptmann der Reserve bringen. Dann konnte man etwa als Gymnasialprofessor am Sedantag die Uniform anziehen und in der Aula eine patriotische Rede halten. Auch der Reichskanzler BismarckBismarck, Otto von trat ja vorzugsweise in Uniform vor den Reichstag.[6]

Für einen britischen Premierminister wäre es undenkbar gewesen, sich im Unterhaus so martialisch zu zeigen. Die kleine Berufsarmee blieb zwar nicht ohne Glanz, aber für die Söhne der Oberschicht bildete sie doch nur eine mindere Möglichkeit. Man konnte Beamter werden, und das Empire bot viele verlockende Positionen. Vor allem konnte man, sei es als Whig oder als Tory, politisch Karriere machen, seinen Sitz im Ober- oder im Unterhaus einnehmen und darauf hoffen, zum Minister berufen zu werden.

Offizier also – und zwar bei der Kavallerie statt bei der Infanterie. Denn dafür brauchte man zwar Geld, um sich Pferde zu halten, aber entsprechend weniger Kenntnisse. Gleichwohl mußte man ein Examen bestehen, um in die Kadettenschule aufgenommen zu werden. Harrow bot dafür Vorbereitungskurse an. Indessen scheiterte Churchill zweimal und gelangte schließlich nur in einer Art von »Presse« ans Ziel. Man fühlt sich an Theodor FontanesFontane, Theodor Altersroman »Der Stechlin« erinnert, in dem vom Titelhelden gesagt wird: »Von jung an lieber im Sattel als bei den Büchern, war er erst nach zweimaliger Scheiterung siegreich durch das Fähnrichsexamen gesteuert und gleich danach bei den brandenburgischen Kürassieren eingetreten, bei denen selbstverständlich auch schon sein Vater gestanden hatte.« Dieses »selbstverständlich« gilt für England gerade nicht; hier gab es solch eine Tradition weit eher für den Platz im Parlament.

Leider war auch die Kadettenakademie in Sandhurst, die Churchill in den Jahren 1893 und 1894 besuchte, zunächst einmal Schule. In vielen Fächern mußte man Kenntnisse erwerben und sie dann nachweisen, mühsam genug, um die »Punkte« zu sammeln, die schließlich in ihrer Summe zum begehrten Leutnantspatent führten.

Alles in allem: Churchill war gewiß nicht unbegabt. Lebenslang hat er später seine schnelle Auffassungsgabe bewiesen. Er hat sich in immer neuen Aufgaben, in manchmal fast verzweifelt komplizierten Situationen zurechtgefunden und bewährt. Er hat unerhört viel gelesen und geschrieben. Als Redner und als Schriftsteller hat er eine Sprachmeisterschaft entwickelt, die jedem Vergleich standhält, auch mit den größten Geistern seiner Zeit. Nur brauchte er bei allem, was er tat, nicht bloß Verstandeskräfte, sondern einen tieferen Antrieb: das eigene Interesse, die Neugier, eine Leidenschaft, die aus dem Herzen kam. Und nichts davon hatte er in seiner Schulzeit gefunden; bereits sein erster Schultag beim heiligen Georg samt der mensa-Deklination hatte ihn gegen den von außen auferlegten Lernzwang für immer verriegelt. Was dann noch blieb, war einzig die Auflehnung, eine niemals endende Rebellion gegen die Übermacht der Verhältnisse.

Manchmal, so scheint es, ist diese Auflehnung in Verzweiflung umgeschlagen und sehr nahe an den Abgrund der Todessehnsucht geraten. Einmal, schon in der Seeluft von Brighton, erkrankte der Junge so lebensgefährlich an einer Lungenentzündung, daß die Ärzte kaum glaubten, ihn durchbringen zu können. »Noch kämpfen wir die Schlacht um Ihren Jungen«, heißt es in einem Brief des Arztes vom 15. März 1886 an Lord RandolphChurchill, Lord Randolph [Winstons Vater]. Ein andermal, im Januar 1893, sprang er mutwillig von einer neun Meter hohen Brücke und verletzte sich schwer.

In seinen Erinnerungen hat Churchill geschrieben: »Mein Aufenthalt in der königlichen Kadettenakademie bildete eine Zwischenstation meines Lebens. Damit kam meine Schulzeit von fast zwölf Jahren zum Abschluß. Sechsunddreißig Trimester, jedes viele Wochen lang, unterbrochen nur von allzu kurzen Ferien; und in dieser ganzen Zeit konnte ich nur wenige und geringe Erfolge verbuchen, hatte kaum jemals etwas lernen dürfen, was für mich vom geringsten Interesse oder leisesten Nutzen war, und niemals so spielen können, daß ich daran Freude hatte. Im Rückblick bedeuten diese Jahre nicht bloß die unerfreulichste, sondern auch die ödeste und unfruchtbarste Zeit meines Lebens. Als Kind war ich glücklich inmitten meiner Spielsachen. Und seitdem ich erwachsen bin, werde ich mit jedem Jahr glücklicher. Aber die Jahre dazwischen sind auf der Landkarte meines Lebens nur als ein finsterer Fleck verzeichnet. Sie bildeten eine ununterbrochene Folge von Betrübnissen, die damals gewiß nicht gering erschienen, und von Mühen, denen alle Freude des Fruchttragens fehlte: eine Zeit voller Mißbehagen, Zwang und trostloser Eintönigkeit.«[7]

Keine Verkleidung half, denn der Halbwüchsige war vor allem eins: sehr einsam.

[Copyright © Getty Images]

Doch vielleicht gibt es neben dem offensichtlichen Unheil auch eine verborgene und positive Bilanz. Weil Winston Churchill so eigenwillig und gegen alle Erziehungskünste so hartnäckig verriegelt blieb, daß es mißlang, aus ihm den wohlpolitierten, im Panzer guter Manieren langweiligen und gelangweilten Gentleman zu machen, darum sammelte er in sich eine Sprungkraft zum Außergewöhnlichen, die bald schon seine Zeitgenossen verblüffen und ins Staunen bringen sollte. In Churchills eigenen Worten: »Einzeln stehende Bäume, falls sie überhaupt wachsen, werden stark, und ein Junge, dem die Fürsorge seines Vaters fehlt, wird – sofern er die Kindheit überdauert – für diesen bitteren Verlust oft entschädigt durch die Unabhängigkeit und die Kraft des Denkens, die er entwickelt.«[8]

Das Leben als Abenteuer

»Die Jahre von 1895 bis 1900 übertrafen an Buntfarbigkeit, Abwechslung und Erlebnisreichtum alles, was ich jemals gekannt habe … Blicke ich darauf zurück, so kann ich den Göttern nur danken für das Geschenk meines Lebens. Alle Tage waren schön und jeder neue noch schöner als der vorhergehende. Höhen und Tiefen, Abenteuer und Reisen und dabei stets das Gefühl der Bewegung und das Traumbild der Hoffnung. Vorwärts, all ihr jungen Leute, alle auf der ganzen Welt! … Nicht eine Stunde habt ihr zu verlieren. Ihr müßt euren Platz in der Kampffront des Daseins besetzen. Zwanzig bis fünfundzwanzig: Das sind die richtigen Jahre. Begnügt euch nicht damit, die Dinge hinzunehmen wie sie sind. ›Euer ist die Erde mit all ihrer Fülle.‹ Tretet das Erbe an, übernehmt die Verantwortung! Erhebt wieder die ruhmreichen Fahnen, tragt sie gegen die Feinde, die sich vor den Fronten der Menschheit stets neu versammeln. Ihr braucht sie nur mutig anzugreifen, dann stieben sie davon. Unterwerft euch nie dem Mißlingen. Laßt euch nicht abspeisen mit Erfolg und Anerkennung für eure Person allein. Ihr werdet Irrtümer jeder Art begehen, aber solange ihr groß denkt, wahrhaftig bleibt und angreift, werdet ihr die Welt nicht zu Schaden bringen oder ernsthaft gefährden. Sie ist dazu gemacht, daß die Jugend sie begehrt und gewinnt.«

Das schreibt Churchill in Rückblick auf die eigene Jugend.[9] Und wahrlich: Wenn man den vertrotzten, oft verzweifelten Schuljungen vor Augen hat, dann möchte man kaum glauben, daß es sich bei dem Mann zwischen zwanzig und fünfundzwanzig Jahren um dieselbe Person handelt. Aus der trägen Raupe ist ein Schmetterling, aus dem Versager und Sitzenbleiber bereits ein geachteter Schriftsteller geworden, ein erfolgreicher dazu, der ein kleines Vermögen erwirbt – und eine Art von Nationalheld, dessen Name in aller Munde ist.

Wie soll man die Verwandlung erklären? Wahrscheinlich daraus, daß die Lernziele jetzt nicht mehr, uneinsichtig genug, von anderen gesetzt werden; eben darum kann Churchill seine aufgestaute Wißbegier, seine Lust aufs Neue und Unbekannte geradezu explosiv entfalten. Oder spielt vielleicht die Befreiung vom Vater eine Rolle, der ihn aus seiner Ferne und Fremdheit doch deutlich genug die Mißbilligung, um nicht zu sagen die Verachtung spüren ließ? Im Januar 1895 starb Lord RandolphChurchill, Lord Randolph [Winstons Vater], sozusagen genau passend zum neuen Lebensabschnitt des Sohnes. Die Verehrung, die Winston für den Vater empfand, enthielt gewiß auch eine Last, einen Bannstrahl, eine Form von Lähmung. Mit Sicherheit ist darum die große Biographie über Lord RandolphChurchill, Lord Randolph [Winstons Vater], die Churchill bald darauf schrieb, psychologisch gesehen in ihrem Zwiespalt zu verstehen: Sie enthält – wie so viele Bücher von Rang – mit der Zuwendung und Liebe zugleich die Ablösung, die sich in der Arbeit des Autors vollzieht.

In Churchills Aufruf an die Jugend der Welt spiegelt sich natürlich seine eigene Einstellung – und ein beinahe »unenglisches« Verhalten, das sehr bald Anstoß erregte. Denn wie einer seiner Biographen gesagt hat, wurde es mißbilligt, wenn junge Leute ihren Eigenwillen zur Schau stellten. »In Wirklichkeit gilt die Jugend als ein bedauerliches Zwischenspiel, das mit gebührender Geduld und Bescheidenheit durchzustehen ist, und Ehrgeiz wird nur dann toleriert, wenn er in schicklicher Verkleidung auftritt.«[10]

Diese Verkleidung lieferte zunächst noch die Leutnantsuniform beim 4. Husarenregiment in Aldershot, in das Churchill im März 1895 eintrat. Im Kreis der Offiziere fand er wenn nicht Freunde, dann doch Kameradschaft. Man konnte nach Herzenslust reiten und Polo spielen. Die Liebe zum Reiten weist wohl auf eine Mutterbindung zurück; zu den frühen Erinnerungen des kleinen Winston gehörte, daß Lady JennieChurchill, Jennie [Winstons Mutter] von ihren Jagdritten zurückkehrte, »herrlich mit Dreck bespritzt«. Und die Liebe zum Polo hat noch der gereifte Mann sich bewahrt; sein letztes Spiel bestritt er im 52. Lebensjahr.

Nur eines bereitete den jungen Leuten Kummer: Wo eigentlich konnte man sich bewähren und Ruhm erwerben? Die letzte britische Verwicklung in einen europäischen Konflikt lag weit zurück. Sie fand von 1853 bis 1856 im Krimkrieg statt, und es galt als ausgemacht, daß solch eine Barbarei nie mehr wiederkehren würde, jedenfalls nicht mit britischer Beteiligung.[11] Inzwischen gab es grauhaarige Obristen und Generale, die noch niemals im Feuer gestanden hatten. Allenfalls weitab, in den Randzonen der Zivilisation, ließ sich vielleicht noch etwas erhoffen.

Ein Teil der britischen Armee tat seinen Dienst in Indien, und im Jahre 1896 wurde das 4. Husarenregiment routinemäßig dorthin verlegt. Weil der Aufenthalt mehrere Jahre dauern sollte, wurde vorher ein großzügiger Urlaub gewährt. Churchill nutzte ihn, um über New York nach Kuba zu reisen. Denn dort immerhin fand eine Art von Krieg statt, der einzige, der sich finden ließ, ein Aufstand der Bevölkerung gegen die spanische Kolonialherrschaft.[12] Um seine Reise zu finanzieren, schloß Churchill einen Vertrag mit dem »Daily Graphic«; er berichtete aus Kuba, und schon bei dieser ersten Schreibprobe machten seine farbigen Darstellungen von sich reden.

Beim Zwischenaufenthalt in Amerika entdeckte er »ein großes, ungeschliffenes, aber starkes junges Volk«. Es wirkt, so notierte er, »wie ein ungestümer gesunder Junge unter schwachbrüstigen, aber wohlerzogenen Ladies und Gentlemen«.[13] Schon wieder eine verkappte Selbstdarstellung: War er denn nicht ein Halbamerikaner? Wenn später im guten alten England manche Leute ihn so nannten, war es abfällig gemeint. Er aber sah in dieser Tatsache einen Anlaß zum Stolz. Als im Zweiten Weltkrieg die amerikanische Hilfe für Großbritannien überlebenswichtig war, ist er ausdrücklich darauf zurückgekommen.

In Kuba begleitete Churchill die spanischen Truppen auf ihren Märschen kreuz und quer durch die Aufstandsgebiete und erlebte am 1. Dezember 1895 seine Feuertaufe: »Der Tag war heiß, und mein Begleiter und ich überredeten einige Offiziere, mit uns im Fluß zu baden. Das Wasser war herrlich, warm und klar, und der Platz sehr schön. Als wir uns am Ufer wieder anzogen, hörten wir plötzlich einen Schuß und noch einen und noch einen. Dann kam eine Salve. Die Kugeln zischten über unsere Köpfe …« In der Nacht durchlöcherte eine das Zelt, in dem der Husarenleutnant schlief, und am nächsten Tag fand die »Schlacht von La Reforma« statt. Der Munitionsverbrauch war groß, das Ergebnis gering; die Spur der Aufständischen verlor sich in der Wildnis.[14]

Die Raupe, in den Schmetterling verwandelt: Als junger Offizier, vom Lernzwang befreit, fand Churchill, was er suchte: Kameradschaft und Abenteuer. Leidenschaftlich spielte er Polo, und leidenschaftlich las er, um die versäumte Bildung nachzuholen.

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Der Garnisonsdienst im indischen Bangalore, der im Herbst 1896 begann, langweilte den Leutnant. Zwar führten die britischen Offiziere ein Herrenleben, und es gab viel Freizeit. Aber wie sie füllen, wenn nicht mit Schlafen, Trinken und Kartenspiel? Churchill machte sich ans Lesen, fast unersättlich, um die Bildung zu erwerben, die seine Altersgenossen sich als Studenten in Oxford oder Cambridge aneigneten; immerfort wurde die Mutter um Büchersendungen bestürmt. Zur Lektüre gehörten die Historiker Edward GibbonGibbon, Edward (1737–1794), berühmt durch seine »Geschichte des Verfalls und Untergangs des Römischen Reiches«, und Thomas MacauleyMacauley, Thomas (1800–1859), dessen »Geschichte Englands seit der Thronbesteigung Jacobs II.Jacob II.« Churchill an den Ahnherrn MarlboroughMarlborough [Churchills Ahnherr] heranführte. Daneben standen »Hansard«, die Sammlung der Parlamentsreden, und das »Annual Register«, die Chronik der laufenden Ereignisse.

Aber weiter nur, immer weiter: die Bibel, Charles DarwinDarwin, Charles, am Ende gar Arthur SchopenhauerSchopenhauer, Arthur. Dessen Hauptwerk, »Die Welt als Wille und Vorstellung«, von Pessimismus unterlegt, hat viele beeinflußt, von Richard WagnerWagner, Richard und Friedrich NietzscheNietzsche, Friedrich bis Thomas MannMann, Thomas. Und eben auch einen jungen Engländer in Bangalore. Je länger, desto deutlicher gehörte zu seinem Grundgefühl, daß er in einer Zeit des Verfalls lebte, dem man nur in der heroischen und tragischen Auflehnung, als ihr Gegenspieler begegnen konnte, stets schon vom Unheil umspült, vom Untergang bedroht. »Triumph und Tragödie« heißt, kaum zufällig, der abschließende Band seiner Geschichte des Zweiten Weltkriegs.[15]

Churchill las nicht nur; er schrieb einen Roman: »Savrola – Ein Bericht von der Revolution in Laurania«. In den Jugenderinnerungen heißt es dazu: »Als Thema wählte ich eine Revolution in einer erdachten Republik auf dem Balkan oder in Südamerika und zeichnete das Schicksal eines liberalen Führers, der eine Willkürherrschaft über den Haufen wirft, um dann seinerseits von einer sozialistischen Revolution weggefegt zu werden. Meine Kameraden amüsierte die Geschichte, und sie machten Vorschläge, um die Sache durch Ausbau der Liebestragödie noch schöner zu gestalten; aber darauf konnte ich nicht eingehen. Dagegen gab es viel Kampf und Politik, gemischt mit philosophischen Betrachtungen, wie sie mir damals zu Gebote standen … Der Roman wurde in etwa zwei Monaten beendet. ›Macmillans Magazine‹ veröffentlichte ihn, und zusammen mit den nachfolgenden Abdrucken brachte er mir im Lauf der Jahre 700 Pfund ein. Aber meine Freunde bat ich inständig, ihn nicht zu lesen.«[16]

Natürlich fließen kubanische Erinnerungen ein, und wer will, mag etwas wie Prophetie entdecken, nämlich den Helden der Geschichte gewissermaßen als einen jungen Fidel CastroCastro, Fidel, der von der Befreiung träumt und dann, nach seinem Sieg, in die dogmatische Erstarrung gerät, mit der er sich selbst beiseite stößt. Doch wenig Anschauung gibt es, dafür Gestalten von der Streckbank der Ideen statt aus Fleisch und Blut, eine Kopfgeburt: Nein, einem frühen und sei es noch unreifen Geniestreich begegnen wir hier nicht. Churchill hat auch schnell erkannt, daß der Roman seine Sache nicht war und sich nie mehr an einem zweiten versucht. Aber bald schon entdeckte er das weite Feld, das ihn zu seiner wirklichen Begabung und zur Meisterschaft herausforderte.

Im Nordwesten Indiens, im stets unruhigen Grenzgebiet zu Afghanistan, gab es wieder einmal einen Aufruhr, und Churchill gelang es, sich von seiner Truppe zu entfernen, um als Berichterstatter vor Ort zu sein. Er erlebte die Märsche, die Überfälle, das Gemetzel; er geriet in wirkliche Gefahr und bewies seinen Mut. Aus seinen Erlebnissen entstand das Buch »The Story of the Malakand Field Force«, das im Jahr 1898 erschien. Es erregte Aufsehen, es wurde zum Erfolg und machte den Autor bekannt.

Doch wie nun weiter? Aufregender als in Indien ging es im Sudan zu, weit nach Süden den Nil hinauf. Dort hatte im Jahre 1881Mohammed AhmedAhmed, Mohammed als Führer einer religiösen Bewegung sich gegen die ägyptisch-britische Herrschaft erhoben. Von seinen Anhängern wurde er als MahdiMahdi, als der von Gott gesandte Stifter des endzeitlichen Friedens verehrt – der, wie sich versteht, erst einmal kriegerisch durchgesetzt werden mußte. Nach vier Jahren, 1885, eroberten die Truppen des MahdiMahdi die Hauptstadt Khartum und töteten den britischen Gouverneur, General GordonGordon, Charles. Jetzt aber, 1898, leitete Lord KitchenerKitchener, Horatio den Rachefeldzug der Zivilisation. Um jeden Preis wollte Churchill Augenzeuge sein, und es gelang ihm auch, sich in Indien beurlauben zu lassen.

Leider hatte KitchenerKitchener, Horatio von dem quecksilbrigen und darum in seinen Augen höchst unsoldatischen Leutnant schon gehört und wollte ihn um keinen Preis bei sich haben. Churchill mußte alle seine Beziehungen, vor allem die seiner MutterWinston, Jennie [Winstons Mutter], ins Spiel bringen, am Ende sogar den Premierminister Lord SalisburySalisbury, Robert, um ans Ziel zu kommen. Gerade noch rechtzeitig traf er ein, um am 2. September 1898 an der Entscheidungsschlacht bei Omdurman und am letzten Kavallerieangriff der britischen Geschichte teilzunehmen.

Moderne Militärtechnik im Zusammenprall mit dem Mittelalter; der Feind zu Mauern gefügt: »Ich sah, wie der Sturmwind des Todes in diese Menschenmauer fegte. Ihre Fahnen sanken zu Dutzenden in den Staub, die Männer zu Hunderten. Breite Lücken und wirre Haufen zeigten sich in der Schlachtlinie. Man sah sie taumeln und stürzen unter den Explosionen der Schrapnells, aber nicht einer wandte den Rücken. Reihe auf Reihe strömte über die Ausläufer der Höhe hinweg und schob sich gegen unsere Stellung vor …«[17]

Und dann der Angriff: »Ich befand mich auf dem festen, leicht gekräuselten Sand der Ebene, mein Pferd im Trab. Ich hatte den Eindruck von ringsum verstreuten Mahdi, die in allen Richtungen hin und her rannten. Hart vor mir warf sich einer zu Boden. Der Leser möge sich erinnern, daß ich als Kavallerist ausgebildet war in der Überzeugung, daß die Infanterie, wenn ihre Linie erst einmal durchbrochen wird, völlig der Gnade der eingedrungenen Reiter ausgeliefert ist. Mein erster Gedanke war daher, der Mann wäre vor Schreck umgefallen. Im selben Augenblick aber sah ich das Aufblitzen seines Krummsäbels, mit dem er zum Hieb gegen die Fesseln meines Pferdes ausholte. Ich hatte gerade noch Zeit und Platz genug, um mein Pony aus seiner Reichweite fortzudrücken, und indem ich mich weit aus dem Sattel lehnte, feuerte ich auf knapp drei Meter zwei Schüsse in ihn hinein. Als ich mich wieder aufrichtete, sah ich unmittelbar vor mir einen anderen Mann mit geschwungenem Säbel. Ich hob meine Pistole und schoß. Wir waren so dicht aneinandergeraten, daß ich ihn mit meiner Pistolenmündung berührte. Mann und Säbel verschwanden unter und hinter mir. Zu meiner Linken, zehn Meter entfernt, sah ich einen arabischen Reiter in hellem Waffenrock mit Schutzhelm und Kettenpanzer. Ich feuerte auf ihn. Er machte sich davon. Ich zügelte mein Pferd zum Schritt und blickte mich um.«[18]

Mit der Vernichtungsschlacht bei Omdurman war der Feldzug praktisch beendet. Was für Churchill folgte, war die Arbeit des Schriftstellers. Aber viel gründlicher als bei seinem Bericht aus Nordindien ging er diesmal zu Werk. Er las alle Dokumente, die er finden konnte. Sein »historischer Bericht über die Rückeroberung des Sudan« mit dem Obertitel »The River War«, erschien 1899 in einer zweibändigen Ausgabe und erregte noch weit mehr Aufsehen als die Geschichte von der Malakand Field Force. Denn erstens handelte es sich um eine höchst farbige, nun wirklich schon meisterliche Darstellung. Zweitens ließ der Verfasser sein Verständnis für den Feind durchblicken. Drittens scheute er weder die politische noch die militärische oder die persönliche Kritik. Was zum Beispiel sollte der Leser denken, wenn er erfuhr, daß der berühmte KitchenerKitchener, Horatio sich aus dem Schädel des MahdiMahdAhmed, Mohammed ein Trinkgefäß machen ließ, während gleichzeitig die Versorgung der Verwundeten im argen lag? Die ironischen Rösselsprünge, die die Geschichte liebt, haben es übrigens gefügt, daß KitchenerKitchener, Horatio und Churchill später im gleichen Kriegskabinett als Minister beisammensaßen.

In einer Besprechung des Buches vom 7. November 1899 hieß es in der »Daily Mail«: »Mr. Winston Spencer Churchill ist ein erstaunlicher junger Mann, und sein ›River War‹ ist ein erstaunlicher Triumph. Es ist gut geschrieben, unparteiisch und überzeugend, und es ist kaum vorstellbar, daß irgend jemand sonst dies Buch hätte schreiben können. Natürlich hat es auch Fehler. Zum Beispiel ist es viel zu lang.«

Den Fehler gibt es tatsächlich, übrigens auch als Gefahr für die Zukunft. Churchills Schreiben gleicht einer Sturmflut, die alle Deiche durchbricht und weithin das Hinterland überschwemmt. Seine Berichte über den Ersten und den Zweiten Weltkrieg sind vielbändige Werke. Selbst wenn man die Geschichte dieser Kriege zu kennen glaubt, liest man die Berichte mit angehaltenem Atem, weil sie hinreißend erzählt sind. Gleichwohl überschlägt man immer wieder die endlos eingestreuten Dokumente, die besser im Anhang oder in Ergänzungsbänden Platz gefunden hätten.

Um noch ein Beispiel anzuführen: Für seine MarlboroughMarlborough [Churchills Ahnherr]-Biographie vereinbarte der Autor mit dem Verlag ein Buch von etwa zweihunderttausend Worten. Am Ende entstand ein barockes Kolossalgemälde mit mehr als dem fünffachen Umfang. Eine Ausnahme bilden die »Weltabenteuer im Dienst«, vielleicht gerade, weil es sich um ein Nebenwerk, eine Gelegenheitsarbeit handelte. Zu ihr notierte der langjährige Premierminister Stanley BaldwinBaldwin, Stanley mit Recht: »Es ist eine bemerkenswerte Arbeit, die ich mit Vergnügen gelesen habe. Ich dachte ständig: ›Meine Güte‹ – oder etwas in der Art –, ›ist das gut.‹«

Die Zeit war nun reif dafür, im Abenteuer des Lebens einen neuen, den entscheidenden Schritt zu wagen. Im Frühjahr 1899 verließ Churchill die Armee. Sie war ja nur ein Notbehelf gewesen, weil die mangelhaften Schulleistungen etwas anderes nicht erlaubten, und sie genügte seinem Ehrgeiz nicht. Nein, die Politik war das Ziel, die Leidenschaft seines Lebens. Einmal mehr spielte das zwiespältige Vorbild des VatersChurchill, Lord Randolph [Winstons Vater] eine Rolle; seinem Höhenflug zu folgen und ihn, wenn möglich, zu übertreffen, darauf kam es an. Bald genug ergab sich auch eine praktische Möglichkeit; im Wahlkreis von Oldham fand eine Nachwahl für das Unterhaus statt, und die konservative Partei, wohl wiederum in Erinnerung an den Vater, bot dem Sohn an, für sie zu kandidieren. Freilich handelte es sich um einen schwierigen Wahlkreis, überwiegend von Arbeitern bewohnt, und die wußten wenig vom vergangenen Ruhm oder vom brandneuen des Schriftstellers. Churchill fiel durch; seine politische Karriere begann mit einem Fehlstart.

Man mag fragen, ob das Scheitern nicht unausweichlich war. Verstand der Husarenleutnant außer Diensten, von weither zugereist, denn überhaupt etwas vom komplizierten Getriebe der englischen Innenpolitik? Doch, durchaus. Sehr genau hatte er die Parlamentsdebatten wie die Chronik der laufenden Ereignisse verfolgt, und berühmte Reden, besonders die von Lord RandolphChurchill, Lord Randolph [Winstons Vater], hatte er geradezu studiert und im Geiste nachvollzogen. Er wußte außerdem, daß dem Redetalent eine zentrale Bedeutung zukam, und hatte sich vorbereitet. Er arbeitete daran, dem leichten Sprachfehler abzuhelfen, der ihn behinderte – nicht gerade ein Lispeln, aber doch nahe dabei. Besonders fiel es ihm schwer, das »S« richtig auszusprechen. Also übte er schon unter der indischen Sonne unermüdlich, beinahe wie bei George Bernard ShawShaw, George Bernard und später im Musical »My Fair Lady« das unbedarfte Mädchen, das zur Dame gemacht werden soll: »Ich sehe das spanische Schiff nicht, weil es nicht in Sicht ist.«

Harte Arbeit hat Churchill ohnehin nie gescheut, sofern nur sein Ehrgeiz, seine Begeisterung und sein Dienst an der Sache sich halbwegs verbinden ließen. Darum ist er später in vielen und sehr verschiedenartigen Ämtern ein bedeutender Fachminister geworden. Vielleicht sollte man noch hinzufügen: Dieser Arbeitseifer unterschied ihn von den meisten englischen Politikern der Jahrhundertwende, auch oder gerade von den Führungsfiguren. Fast alle waren sie wohlhabende und vornehme Herren, Angehörige der seit unvordenklichen Zeiten regierenden Oberschicht. Die Politik bildete für sie eine standesgemäße Beschäftigung, mit einigem Nervenkitzel verbunden – ähnlich wie die Pferderennen von Ascot. Daher wäre es undenkbar gewesen, in der Ascot-Woche Kabinetts- oder Parlamentssitzungen abzuhalten. Kurz gesagt: Politik war, auf höchstem Niveau, eigentlich eine Sache für Amateure. Churchill aber wollte ein Profi sein und ist es geworden, nicht gerade zum Wohlgefallen der Amateure.

Was sollte Churchill tun, nachdem er die Nachwahl zum Unterhaus verloren hatte? Einen rettenden Ausweg eröffnete ihm der Beginn des Burenkriegs im Oktober 1899.

Um den Sachverhalt knapp zu skizzieren: Die Buren waren Nachkommen der Holländer, die sich seit 1662 an der Südspitze Afrikas angesiedelt hatten, untermischt mit hugenottischen und zum Teil auch deutschen Zuwanderern. Vor dem zunehmenden Druck der britischen Herrschaft wichen sie im Großen Treck von 1835 bis 1838 nach Norden aus; sie gründeten die Republik Transvaal und den Oranje-Freistaat. Als aber in Transvaal reiche Goldvorkommen entdeckt wurden, entstand seit 1886 aus einer Goldgräbersiedlung die Stadt Johannesburg, in die Scharen von Engländern strömten. Bald bildeten sie die Hälfte der Bevölkerung, aber in der Furcht, überfremdet zu werden, verweigerten ihnen die Buren das Bürger- und das Wahlrecht. Die Spannungen wuchsen und aus ihnen der Krieg.[19]

Churchill entschied sich, als Kriegsberichterstatter nach Südafrika zu fahren und schloß dazu einen Vertrag mit der »Morning Post«. Die Bekanntheit, die er bereits mit seinen Berichten aus Kuba, aus Indien und vom Nil erworben hatte, half ihm: »Es war wahrscheinlich der günstigste Vertrag, den überhaupt ein Kriegsberichterstatter bis dahin abgeschlossen hatte, und er führte allgemein dazu, die Bezahlung von Journalisten zu verbessern.«[20]

Am 14. Oktober verließ der Reporter Southampton mit demselben Schiff, auf dem sich General BullerBuller, General, der künftige Befehlshaber, sein Stab und weitere Journalisten befanden, und nur eine Sorge beherrschte die Reisegesellschaft: Würde man überhaupt in Südafrika ankommen, bevor der Krieg zu Ende war? Welchen Widerstand konnten ein paar bewaffnete Bauern der britischen Berufsarmee denn schon leisten?

Die Sorge war unberechtigt; in den ersten Kriegsmonaten gab es nur Niederlagen. Die schwerfällig marschierenden und schlecht geführten britischen Verbände, von den berittenen und beweglichen, im Umgang mit dem Gewehr wie mit dem Gelände vertrauten Buren umschwärmt, verloren ein Gefecht nach dem anderen. Bald wurden sie in den Feldlagern von Ladysmith, Mafikeng und Kimberley eingeschlossen und belagert. Zwar fehlte es den Buren an schwerer Artillerie, um die Lager sturmreif zu schießen, aber sie verlegten sich aufs Aushungern. Schleunigst mußten neue Truppen zum Ersatz herangeschafft werden, auch neue Befehlshaber mit dem Feldmarschall Roberts und seinem Generalstabschef KitchenerKitchener, Horatio.

Die englische Öffentlichkeit reagierte auf die Hiobsbotschaften aus Südafrika mit Verwirrung und Entsetzen. Nur eine ehrwürdige alte Dame, die Königin ViktoriaVictoria, Königin, verhielt sich beispielhaft britisch. Als ihr Minister, James BalfourBalfour, Arthur James, sie aufsuchte, um die »schwarze Woche« der Rückschläge zu erörtern, schnitt sie ihm das Wort ab: »Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, daß in diesem Hause niemand niedergeschlagen ist. Wir sind an der Möglichkeit einer Niederlage nicht interessiert. Eine solche Möglichkeit existiert nicht.«[21]

Irgendwo Krieg? Ob auf Kuba, an der indischen Grenze, im Sudan oder in Südafrika: Churchill war zur Stelle. 1899, in burischer Gefangenschaft, resignierte er nicht, wie andere in der gleichen Lage, sondern plante schon seine Flucht.

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Während aber die Siege auf sich warten ließen, sorgte Churchill für willkommene Ablenkung. Kaum in Südafrika angekommen, zog es ihn an die Front. Er begleitete einen britischen Panzerzug, den die Buren in einen Hinterhalt lockten, zum Entgleisen brachten und dann heftig beschossen. Der Reporter beschränkte sich nicht aufs Zusehen, sondern griff ein. Er sorgte dafür, daß die Lokomotive und ein Teil des Zuges mit den Verwundeten entkommen konnte. Gleich darauf mußte er sich den Buren ergeben, die ihn nach Pretoria in ein Offizierslager brachten. »Panzerzug in der Falle – Mr. Churchill gefangen – Seine Kaltblütigkeit und Tapferkeit«, hießen die Schlagzeilen der »Morning Post« vom 15. November. Ein paar Tage später verbreitete sich die Nachricht, daß die Buren ihren Gefangenen erschossen hätten. Abwegig war das durchaus nicht; schließlich war er ja kein Soldat, vielmehr als Freischärler auf frischer Tat ertappt worden.

Aber er lebte, kletterte nach einigen Wochen über die Lagermauer und begann eine Flucht, die eigentlich aussichtslos war. Denn er befand sich weit im feindlichen Hinterland, der Sprache wie des Weges unkundig, und bald schon wurde er mit Steckbriefen gesucht. Von seiner Müdigkeit fast überwältigt, von Durst und Hunger gepeinigt, klopfte er schließlich an eine Haustür – und traf auf den wohl einzigen Mann weit und breit, dem er sich anvertrauen konnte, einen britischen Bergwerksingenieur, der noch dazu aus Oldham stammte. Der versteckte ihn erst in einem nicht mehr benutzten Stollen und dann auf einem Güterzug, der ins neutrale, portugiesische Mosambik fuhr. »Churchill nach verwegener Flucht wieder frei!« hieß jetzt die Sensationsmeldung.

Churchill ließ sich als Offizier reaktivieren und nahm an dem Vormarsch teil, der nach der Kriegswende begann. Noch vor der Armee hielt er seinen Einzug in Pretoria, das die Buren gerade räumten, und befreite die Gefangenen des Lagers, in dem er selbst ein Insasse gewesen war. Bald danach kehrte er nach England zurück, weil er wie alle Heeresfachleute glaubte, daß mit der Eroberung der feindlichen Hauptstadt der Krieg zu Ende sei. Tatsächlich schleppte er sich noch über zwei zunehmend bittere Jahre hin.

In der Heimat wurde er als ein Nationalheld gefeiert. Anstoß erregte er nur, als er Versöhnung predigte und in der »Morning Post« schrieb: »Ich hoffe, ich erwarte, ich fordere, daß man eine großherzige und verzeihende Politik betreiben wird.« Und natürlich schrieb er auch gleich wieder ein Buch, diesmal nicht über den Krieg allgemein, sondern über seine persönlichen Erlebnisse: »London to Ladysmith via Pretoria«, das schon im Jahre 1900 erschien.

Die Regierung, die die Siegesstimmung ausnutzen wollte, setzte für den Oktober Neuwahlen an; zum zweitenmal kandidierte Churchill in Oldham, und diesmal gewann er mit deutlichem Vorsprung. Aber erst im Februar 1901 nahm er seinen Sitz im Unterhaus ein. Vorher trat er eine Vortragsreise durch Großbritannien und die Vereinigten Staaten an. Sie war auch wichtig genug. Churchill brauchte Geld, er lebte von der Hand in den Mund und doch nur zu gern auf großem Fuß. Diäten für die Abgeordneten gab es ohnehin noch nicht, sie wurden erst im Jahre 1911 eingeführt – mit 400 Pfund nicht etwa im Monat, sondern pro Jahr. Churchill schrieb und redete sich ein kleines Vermögen von 10000 Pfund zusamen, mit dem er für einige Zeit auskommen konnte.

Bei dem Vortrag in New York führte sein berühmter Schriftstellerkollege Mark TwainTwain, Mark ihn mit den Worten ein: »Meine Damen und Herren, ich habe die Ehre, Ihnen Winston Churchill vorzustellen: Held von fünf Kriegen, Autor von sechs Büchern und künftiger Premierminister von England.«[22]

Zwischenbemerkung über menschliche Leidenschaften

Wir verlassen für eine Weile die öffentlichen Angelegenheiten und wenden uns dem Privatmann, dem Menschen zu. Denn eine moderne Auffassung oder vielleicht bloß die Neugier besagt, daß wir von niemandem etwas wissen, wenn wir nicht in seine Intimsphäre ins Reich der Leidenschaften vordringen und vor allem die Geheimnisse lüften, die mit dem Triebleben, mit Sex zu tun haben.

In Churchills Jugenderinnerungen »Weltabenteuer im Dienst«, die bis ins Jahr 1908 führen, heißt der letzte Satz des Buches: »Zu dieser Zeit heiratete ich und lebte seitdem immer glücklich.« Aber so enden allenfalls die Märchen von verwunschenen Königskindern; um so mehr wird unser Mißtrauen geweckt. Der Autor war immerhin schon 34 Jahre alt, als er heiratete. Was war davor? Was in den Jahrzehnten danach?

Kaum eine Lebensgeschichte ist so gründlich untersucht worden wie die von Winston Churchill. Die Bücher, die sich mit ihm befassen, sind kaum zu zählen, und sozusagen jeden Stein hat man umgewendet, um zu sehen, was darunter ist. Aber beinahe nichts wurde zutage gebracht. Gewiß, wir begegnen Miss Pamela PlowdenPlowden, Pamela, der Tochter eines Kolonialbeamten, die der Husarenleutnant in Indien kennenlernte. In viktorianischer Ehrbarkeit gedieh die Beziehung bis zur offiziellen Verlobung, aber weiter auch nicht.[23] Ähnliches wird von einer Miss Muriel WilsonWilson, Muriel und Miss Ethel BarrymoreBarrymore, Ethel berichtet. Der Freier, so scheint es, klopfte stets nur zaghaft an, ohne einzutreten.

Auch die erste Begegnung mit Clementine HozierHozier, Clementine, Churchills späterer Frau, im Jahre 1904, führte keineswegs zu entschlossener Werbung. ClementineChurchill, Clementine hat darüber berichtet: »Winston starrte nur. Er sprach überhaupt nicht und war sehr linkisch. Nie forderte er mich zum Tanz auf, nie lud er mich zum Essen ein. Natürlich hatte ich schon viel von ihm gehört – nur Schlechtes.« In einem Kommentar heißt es dazu: »Sein Leben lang blieb Churchill linkisch, wenn er Frauen zum erstenmal traf. ›Small talk‹ lag ihm nicht. Am liebsten sprach er über sich selbst. Das konnte er mit Fremden schlecht tun; daher die peinliche Verlegenheit, die er oft verursachte.«[24]

Die zweite Zusammenkunft fand erst vier Jahre später statt, nicht ohne wechselseitige Scheu. Wie Frauen in solchen Fällen es tun, behauptete ClementineHozier, Clementine, daß sie nichts anzuziehen habe, und Winston erklärte: »Ich möchte nicht hingehen. Ich werde nicht hingehen. Ich werde doch bloß ein Langweiler sein.« Beide überwanden sich schließlich, und am 15. August 1908 meldete die »Times«, was bevorstand: »Mr. Churchill. Eine Heirat wird angezeigt zwischen Mr. Churchill MP und Miss Clementine HozierHozier, Clementine, Tochter des verstorbenen Sir Henry HozierHozier, Henry und Lady Blanche HozierHozier, Blanche.«

ClementineHozier, Clementine freilich fiel noch einmal in ihre Bedenken zurück, und nur ihr jüngerer Bruder, nach dem Tode des Vaters sozusagen als Familienoberhaupt, rettete die Hochzeit, indem er der Schwester erklärte: Sie habe schon einmal eine Verlobung aufgelöst, und einen zweiten Fall dieser Art könne er nicht dulden, besonders, weil es sich um eine öffentliche Figur wie Churchill handle. Und so wurde das Paar denn am 12. September getraut.

Winston seinerseits war offenbar nur halb bei der Sache. Sogar »nach der Hochzeitszeremonie fing er in der Kapelle an, über Politik zu reden … und schien völlig vergessen zu haben, daß er die Braut hinausgeleiten mußte«.[25] Wer will, mag also von einer Liebesheirat sprechen, falls damit gemeint ist, daß es nicht um den materiellen Vorteil ging. Denn die Braut besaß keine nennenswerte Mitgift. Aber von stürmischer Leidenschaft kann schwerlich die Rede sein.

ClementineHozier, Clementine war eine Schönheit und eine kluge, charakterstarke FrauChurchill, Clementine. Wenn in einer Gesellschaft ihr Mann die Unterhaltung an sich riß, wie es in der Regel geschah, hörte sie nur zu. Aber im eigenen Haus war sie es, die regierte und entschlossen verhinderte, daß ihr Gemahl sich zum Haustyrannen entwickelte. Vielleicht war es genau das, was Churchill brauchte: nicht Schwäche, sondern eine Form von Stärke, an der er sich ausruhen konnte.[26]

Das Brautpaar Clementine Hozier und Winston Churchill; die Hochzeit fand im September 1908 statt. Man kann von einer insgesamt glücklichen Beziehung, aber kaum von einer großen Leidenschaft sprechen.

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Übrigens war er ein zärtlicher und nachsichtiger Vater, der seine Kinder eher verzog, als daß er ihnen mit Strenge begegnete. Wahrscheinlich wollte er an ihnen gutmachen, was ihm selbst widerfahren war. DianaChurchill, Diana wurde im Jahre 1909 geboren, RandolphChurchill, Randolph1911, SarahChurchill, Sarah1914, MarigoldChurchill, Marigold1918 und MaryChurchill, Mary1922. MarigoldChurchill, Marigold starb schon im Alter von dreieinhalb Jahren, vom Vater tief betrauert. Bei den anderen Kindern war die Nachsicht dringend geboten, je älter sie wurden, desto mehr. DianaChurchill, Diana heiratete und ließ sich scheiden, SarahChurchill, Sarah wollte Tänzerin werden – was sich für eine Lady nun wirklich nicht schickte –, und der Erbe RandolphChurchill, Randolph, »schön wie ein griechischer Gott und doppelt so arrogant«, brach sein Studium ab; mit dem Problem, der Sohn eines berühmten Vaters zu sein, ist er niemals fertig geworden. Aber wem gelingt das schon?[27] Bei alledem verschlang die Ausbildung der Kinder viel Geld.

Wenn es in Churchills späteren EhejahrenChurchill, Clementine jemals eine Krise gegeben hat, dann ging sie von ClementineHozier, Clementine aus, nicht von Winston. Im Jahre 1934 unternahm sie eine mehrmonatige Schiffsreise nach Indonesien, in die Verzauberung durch eine damals noch nicht vom Modernisierungsfieber geschüttelte Inselwelt, und der gutaussehende, um einige Jahre jüngere Kunsthändler Terence PhilipPhilip, Terence wurde ihr »ständiger Begleiter«. Was dabei geschah oder nicht geschah, bleibt der Spekulation überlassen.

Alles in allem, mit Sebastian HaffnerHaffner, Sebastian zu reden: »Man wird sich damit abfinden müssen, daß in diesem abenteuerlichen Leben eines leidenschaftlichen Mannes das große Liebesabenteuer und die große Liebesleidenschaft nicht vorkommen. Es gibt im Leben Churchills keine Katharina OrlowOrlow, Katharina, wie sie BismarckBismarck, Otto von, keine Inessa ArmandArmand, Inessa, wie sie LeninLenin, Wladimir Iljitsch fast aus der Bahn geworfen hätte. Was ihn – mehrfach – wirklich aus der Bahn warf, waren politische Leidenschaften und militärische Abenteuer; niemals erotische.«[28]

Manche Biographen, von ihrem vergeblichen Steineumdrehen enttäuscht, haben daraus einen Mangel an Sinnlichkeit oder gar eine Triebschwäche ableiten wollen.[29] Doch das trifft den Sachverhalt schwerlich. Churchill war kein Stubenhocker, kein schmallippig versponnener Grübler und ein Asket schon gar nicht. Er liebte das Leben in all seiner Vielfalt und Farbenpracht. Kaum zufällig ist er in seinen Mußestunden zum Maler geworden,[30] und seine Meisterschaft als Redner und Schriftsteller beruhte darauf, daß er sich nicht in Abstraktionen verlor, sondern die Anschauung suchte und dabei seinen Sinn für symphonische Qualitäten, für die Orchestrierung, für die Sprachmusik entwickelte.[31] Im übrigen aß und trank er nur zu gern und nicht selten mehr, als ihm guttat.

Ebensogern ließ er sich von wohlhabenden Freunden ein