Winterflockentanz - Birgit Gruber - E-Book
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Birgit Gruber

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Beschreibung

Kann denn Lügen Sünde sein?
Zwei Schwestern, ein Skispringer – und das Winterchaos ist perfekt.

Emma dachte eigentlich, aus der Zwillingsnummer herausgewachsen zu sein. Aber als ihre Zwillingsschwester Sophie sich spontan dazu entschließt, zwischen den Jahren in die Südsee zu verreisen, kann Emma sie nicht hängen lassen. Sie gibt sich für sie aus und versucht Sophies Job zu retten. Dass ihre Schwester ausgerechnet einen Vertrag mit dem Skispringer Benjamin Dreier aushandeln soll, konnte Emma nicht wissen. Denn Benjamin ist für Emma kein Unbekannter, hat er ihr doch in einer ihrer härtesten Stunden zugesetzt. Zwar ist er unausstehlich, aber auch unglaublich attraktiv.
Keine guten Voraussetzungen für eine Zusammenarbeit!
Doch als plötzlich ein Schneesturm hereinbricht und Benjamin ihr anbietet, sein Hotelzimmer mit ihr zu teilen, sprühen die Funken …

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Winterflockentanz

Birgit Gruber

Dies ist ein Roman.

Die Namen der behandelten Personen sind frei erfunden. Eventuelle Ähnlichkeiten mit real existierenden (lebenden oder toten) Menschen wären reiner Zufall.

Prolog

»Bitteee ...«, flehte Sophie, und Emma hielt das Handy ein Stück weiter weg. Sie konnte ihre Schwester dennoch hören. »Du kannst das. Das weiß ich. Und du würdest mir nicht nur einen riesengroßen Gefallen tun. Wenn du Ja sagst, stehe ich auf immer und ewig in deiner Schuld.«

Pah! Das tat sie schon, seitdem Emma denken konnte. Wie oft hatte sie ihr bereits aus der Patsche geholfen? Sophie war nicht nur ihre Schwester, sondern ihre Zwillingsschwester. Sie glichen sich wie ein Ei dem anderen – äußerlich. Vom Wesen her waren sie jedoch komplett unterschiedlich. Sie liebten einander, das stand außer Frage, ihre Vorstellungen vom Leben gingen aber extrem auseinander. Sophie war seit jeher der Wirbelwind gewesen. Von klein auf tat sie, was ihr in den Sinn kam. Mögliche Konsequenzen nahm sie billigend in Kauf. Sie war ein Lebemensch, auch jetzt noch, da sie beide erwachsen waren. Während Emma immer versuchte, alles richtig zu machen, sich anzupassen und ihren Weg zu finden, sprang Sophie weiterhin umher und unternahm, was ihr gefiel.

»Also, was ist jetzt? Der Flieger geht in ein paar Minuten«, hallte Sophies Stimme aus dem Hörer. Emma schob ihn wieder an ihr Ohr.

»Das ist doch der pure Irrsinn. Wir sind nicht mehr in der Schule. Hier geht es um einen Job. Um deinen Job! Ich kann nicht so tun, als wäre ich du, und dir schon wieder die Haut retten.«

Sophie schnappte hörbar nach Luft. Auch ohne ihre Schwester zu sehen, wusste Emma, dass sie die Augen verdrehte. »Das merkt keiner. Glaub mir. Es geht schließlich um Marketing, und du bist doch kreativ. Lass dir was einfallen.«

Emma rümpfte die Nase. »Wenn das so einfach ist, warum hast du das Zeug dann studieren müssen?«

»Jetzt sei doch nicht so pedantisch. Du sollst weder Konzepte ausarbeiten, bei denen du Hintergrundwissen brauchst, noch große Reden schwingen. Es geht lediglich darum, dass du an meiner Stelle diesen Typen bei Laune hältst und dafür begeisterst, sich profitabel vermarkten zu lassen. Und mit Menschen umgehen kannst du doch.«

Konnte sie das? Wahrscheinlich schon. Sollte sie zumindest. Denn immerhin war sie Krankenschwester – oder neudeutsch Gesundheits- und Krankenpflegerin.

»Aber ich hab doch überhaupt keine Ahnung vom Skispringen«, wandte sie zu Recht ein, denn sie war ein ziemlicher Sportmuffel.

»Hätte mich auch überrascht.« Ihre Schwester kicherte. »Musst du auch gar nicht haben. Wie gesagt, du sollst nur präsent sein und …«

»Dafür sorgen, dass du deinen Auftrag bekommst und kein anderer ihn dir wegschnappt«, beendete Emma den Satz. Schließlich hatte Sophie ihr das in den letzten zehn Minuten gefühlte hundert Mal vorgebetet.

»Ganz genau«, erklärte ihre Schwester fröhlich. »Also, machst du das für mich?« Im Hintergrund war dumpf der Aufruf zum Boarding zu hören.

»Wo willst du eigentlich hin?«, fragte sie.

»In die Karibik!«

Emma staunte nicht schlecht. Andererseits waren solche Aktionen nichts Neues für Sophie und genau ihre Kragenweite. Wie sie es nur immer schaffte, damit durchzukommen? Sie würde sich das nie trauen, eben mal schnell abzuhauen. Dafür war sie viel zu pflichtbewusst. Und wahrscheinlich lag genau darin Sophies Vorteil. Solange sie Emma immer wieder für ihre Zwecke einspannen konnte ...

»Du musst mich ja nur eine kleine Weile vertreten«, bohrte Sophie weiter, als ahnte sie, dass sie sie schon fast so weit hatte. Aber vermutlich tat sie das sogar. Sie war ihre Zwillingsschwester und wusste besser als jeder andere, welchen Knopf sie bei ihr drücken musste.

»Von wie lange sprechen wir überhaupt?«

»Ach, ich melde mich«, antwortete Sophie ausweichend. Absolut kein gutes Zeichen! Es war der Zeitpunkt, an dem sie einfach Nein hätte sagen und auflegen sollen. Doch da sprudelte Sophie schon hervor: »Super, dass du das für mich machst. Ich schick dir alle Daten und Angaben per Mail. Ich muss los! Du bist die Beste! Gaaanz lieben Dank, Schwesterchen!« Sie beendete das Gespräch, bevor Emma es tun konnte.

»Aber ich hab doch gar nicht zugestimmt!«, rief sie noch, was Sophie schon nicht mehr hörte.

1

Es war laut, kalt, voll, und obendrein schneite es. Suchend schob Emma sich durch die Massen. Wie sollte sie Viktor hier nur finden? Sie hätten sich vor dem Eingang treffen sollen, aber er hatte gemeint, dass er nicht genau sagen könnte, wann er da sein würde. Sie zog ihr Handy aus der Jacke und warf einen prüfenden Blick darauf. Kein Anruf, keine Nachricht. Zögernd ließ sie es zurück in die Tasche gleiten. Sie war sich nicht sicher, ob sie es merken würde, wenn er sich meldete. Bei dem Tohuwabohu!

Warum hatte sie nur darauf bestanden, sich hier mit ihm zu treffen? Weil du dich von Sophie wieder mal hast einwickeln lassen. Und weil es praktisch auf dem Weg liegt, sagte ihre innere Stimme. Beides war richtig.

Sie hob den Kopf und schaute – soweit es möglich war – über die Arena. Vor ihr lag fast übermächtig die große Sprungschanze von Oberstdorf. In wenigen Minuten würde das Auftaktspringen der Vierschanzentournee beginnen. Es war ihr erster Kontakt mit diesem Wintersportvergnügen überhaupt. Wobei das Vergnügen für sie bisher nicht zu spüren war. Im Grunde war sie nur hier, um sich ein Bild von allem zu machen. Sie wollte nicht vollkommen unwissend ihren ›neuen‹ Job antreten, den Sophie ihr eben mal schnell aufs Auge gedrückt hatte.

Skispringen! Natürlich hatte Emma schon vom Skispringen gehört, hatte ansonsten davon aber keine Ahnung. Ihr sagten weder Namen noch Erfolge aus dieser Sportart irgendetwas. Ein Wintersportfan war sie noch nie gewesen. Sie liebte den warmen Süden und das Meer. Doch das musste sich jetzt ändern. Wie sollte sie sonst einen Mann davon überzeugen, dass er aufgrund seiner Bekanntheit mit Merchandise-Artikeln viel Geld verdienen konnte, wenn sie nicht einmal wusste, was er eigentlich machte?

Natürlich hätte sie sich auch einfach vor den Fernseher setzen können, aber sie wollte Viktor treffen. Sie hatte Sehnsucht und vermisste ihn. Das letzte Mal, dass sie sich gesehen hatten, war schon viel zu lange her – der Nachteil einer Fernbeziehung. Seit knapp zwei Jahren waren sie nun ein Paar. Sie hatten sich beruflich kennengelernt – wie könnte es auch anders sein.

Bei einem Kongress in Berlin war er als aufstrebender Chirurg dort gewesen und sie als eine der Vertreterinnen des Pflegepersonals ihrer Klinik. Bei dem Versuch, pünktlich zu einem der Vorträge zu erscheinen, hatte er eiligen Schrittes im Treppenhaus immer gleich zwei Stufen auf einmal erklommen, war ausgerutscht und ihr praktisch vor die Füße gefallen. Es musste Bestimmung gewesen sein, denn sie hatten sich sofort ineinander verliebt.

Einziger Schwachpunkt waren ihre unterschiedlichen Wohnorte. Während Viktor in Heidelberg lebte, war Emma in Regensburg zu Hause. Anfangs war die Entfernung kein Problem gewesen. Es hätte schließlich schlimmer kommen können, wenn einer von ihnen zum Beispiel im hohen Norden gewohnt hätte. Dagegen war die Wegstrecke, die sie zu überwinden hatten, durchaus machbar. Aber je länger sie zusammen waren, desto mehr wünschte sie sich, dass sie auch den Alltag miteinander bestreiten könnten. Nur wollte Viktor seinen Job in Heidelberg nicht aufgeben. Er hatte dort alles, was er anstrebte, gefunden – einen Mentor und Aufstiegsmöglichkeiten. Sie hingegen hatte schon einige Male darüber nachgedacht, zu kündigen und zu ihm zu ziehen. Es war bisher nicht dazu gekommen, weil Viktor meinte, er verbringe so viel Zeit in der Klinik, weshalb er sie nicht drängen wollte, ihr Leben komplett umzukrempeln.

Doch jetzt war alles anders. Jetzt war es so weit. Wieder schien es eine Fügung des Schicksals gewesen zu sein. Das Krankenhaus, in dem sie bisher angestellt war, hatte mit einem anderen fusioniert. Seitdem wurden noch mehr Überstunden vom Pflegepersonal verlangt als vorher. Nie konnte sie sich darauf verlassen, tatsächlich dann freizuhaben, wenn es eingeplant war. Für Emma war das umso schwerer, da sie sich auch immer mit Viktors Dienstplan arrangieren musste, hinzu kam die Fahrtzeit. Doch das Mantra der neuen Stationsleitung, die zunehmend unberechenbar wurde, lautete ›Flexibilität‹. Es war nicht absehbar, dass sich daran wieder etwas ändern würde. Die Moral unter ihren Kolleginnen sank. Und eines Nachts hatte Emma beschlossen, ihre Unzufriedenheit im Job nicht weiter hinzunehmen. Sie hatte gekündigt und es nicht bereut. Sie würde endlich den längst überfälligen Schritt wagen und nach Heidelberg ziehen. Zu Viktor!

Heute wollte Emma ihm die Neuigkeit verraten. Sie hatte es ihm nicht am Telefon sagen wollen, sondern persönlich und war schon sehr gespannt darauf, wie er reagieren würde. Auf jeden Fall würde er ebenso glücklich sein wie sie. Da konnte sie sich sicher sein.

Hoffentlich kam er bald, sie platzte bereits vor Aufregung. Ob er irgendwo im Stau stand? Er hatte Weihnachten mit seiner Familie in Meran verbracht und kam auf direktem Weg aus Italien hierher. Deshalb hatte Emma auch die Idee gehabt, sich in Oberstdorf mit ihm zu treffen. Sie hatte gehofft, ihm damit eine Freude zu machen. Denn Viktor liebte den Schnee, er war leidenschaftlicher Skifahrer, und im Gegensatz zu ihr war ihm die Vierschanzentournee durchaus ein Begriff. Deshalb hatte sie sich gedacht, sie könnte sozusagen zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen und ganz nebenbei ein wenig Hintergrundrecherche betreiben.

Die Musik, die über die Lautsprecher die Arena erfüllte, wurde etwas heruntergedreht, und ein Sprecher begrüßte das Publikum. Wer nicht schon auf den Rängen einen Platz gefunden hatte, beeilte sich, noch einen zu ergattern. In Kürze würde der erste Springer starten.

Ach ja, das hätte sie vor lauter Tagträumerei über ihre Zukunft fast vergessen, obwohl sie mitten im Geschehen stand. Dank ihrer lieben Schwester würden ihre Umzugspläne nun noch ein bisschen warten müssen. Die konnte sie erst vollends in Angriff nehmen, wenn sie ihren ›Aushilfsjob‹ erledigt hatte.

Was für ein Glück für Sophie, dass Emma gerade Zeit hatte, um ihren Unsinn mitzumachen. Als sie ihr von ihren Zukunftsplänen erzählt hatte, wäre Emma nie auf die Idee gekommen, dass Sophie sie eben mal schnell für ihre Zwecke einspannen würde. Aber so war ihre Zwillingsschwester schon immer gewesen. Spontanität lag ihr im Blut. Vielleicht war Sophie deshalb so gut in ihrem Job. Alles, was sie sich in ihren Kopf setzte, bekam sie – auf die eine oder andere Weise. Irgendetwas machte Emma da falsch. Sie selbst war zielstrebig, auf jeden Fall. Aber die Portion Abenteuerlust und Risikobereitschaft, die Sophie obendrein besaß, fehlte ihr meist.

Die versprochene Mail hatte Emma noch nicht erhalten, obwohl ihr Telefonat nun schon zwei Tage her war. Nur eine SMS war eingegangen, in der ihre Schwester ihr mitteilte, dass ein erstes Treffen gleich im neuen Jahr stattfinden sollte. Das wäre nächste Woche.

»Einhundertachtunddreißig Meter«, hörte sie den Moderator jubeln, und die Menge tat es ihm nach. Der erste Springer schien gelandet zu sein. Und sie hatte es nicht gesehen. Sie befingerte wieder ihr Handy in der Jackentasche. Sollte eine Nachricht oder ein Anruf eingehen, müsste sie es durch die Vibration merken. Na dann würde sie sich jetzt einen Platz suchen, von dem aus sie gute Sicht auf die Schanze hatte. Deshalb war sie schließlich hier – um die Skispringer in Aktion zu erleben, von dem Kommentator ein paar weise Worte aufzusaugen und ein bisschen etwas von dem Flair mitzubekommen.

***

Zehn Minuten. Er brauchte nur zehn Minuten für sich allein. Mit tief ins Gesicht gezogener Mütze ließ sich Ben auf den Schneehaufen hinter dem Gebäude fallen. Er wusste nicht einmal genau, was sich in dem kleinen Häuschen befand, obwohl er schon so oft hier gewesen war. Aber es interessierte ihn auch nicht großartig. Er war bereits froh, endlich einen Platz abseits der Menschen gefunden zu haben. Die Leute waren überall. Und seine Laune im Keller.

Es war das erste Mal, dass er in Oberstdorf war und nicht aktiv als Springer teilnahm. Der zweite Durchgang hatte eben begonnen. Seine Kameraden machten sich gut. Bisher war es ein ziemlich erfolgreicher Tag für die deutschen Springer. Alle hatten sich im Eins-zu-eins-Duell für den zweiten Durchgang qualifiziert. Mit ein bisschen Glück und den richtigen Windverhältnissen wäre durchaus ein erster Platz drin. Egal für wen. Er wünschte jedem seiner Kumpane den Sieg.

Doch tatsächlich war das sein Ziel gewesen! Die Vierschanzentournee war etwas Besonderes. Hier auf das Podium zu springen und damit vielleicht die Aussicht, als Sieger in der Gesamtwertung das Turnier zu beenden, das hatte er unbedingt gewollt. Er war in Top-Form gewesen, das hatte er gespürt. Es hätte tatsächlich klappen können. Doch dann kam jener Sommertag, der seine Hoffnungen und Träume auf einen Schlag beendet hatte. Der Tag, an dem er sich während des Trainings einen Kreuzbandriss zugezogen hatte. Dabei war es nicht anders gewesen als sonst. Eine Minute, eine Sekunde, eine falsche Bewegung, schon war alles vorbei gewesen.

Müde fuhr er sich mit den Händen übers Gesicht. Natürlich war es nicht für immer. Es war nicht sein Karriereende, sondern betraf nur diese Saison. Trotzdem machte es ihm zu schaffen. Mehr als er gedacht hatte. Seitdem waren bereits Monate vergangen. Die OP war gut verlaufen und er inzwischen die lästigen Krücken auch wieder los. Als er damals die Folgen seines daraus resultierenden ›Zwangsurlaubs‹ begriffen hatte, hatte er an der Erkenntnis schon knabbern müssen. Aber er wäre nicht er selbst, wenn er sich nicht schließlich damit abgefunden und arrangiert hätte. Das Leben war nun einmal so. Nie vorhersehbar. Gerade als Sportler wusste er das nur zu gut. Er hatte Höhen und Tiefen erlebt. Es war umso bitterer, weil er zum Zeitpunkt seiner Verletzung in Top-Form gewesen war. Aber alles Zetern half nichts.

Also konzentrierte er sich auf die Genesung und nutzte die ungewohnte Freizeit, um sich Gedanken über seine Zukunft zu machen. Darüber, was er einmal tun wollte, wenn er irgendwann – in einigen Jahren – seine Ski an den Nagel hängen würde. Die Dreißig war nicht mehr allzu weit entfernt. Er hatte keine Ahnung, wie lange er das Leben als Sportler führen wollte. Vereinzelt gab es Springer, die ihrer Leidenschaft noch mit weit über vierzig nachgingen. Doch ob er selbst da noch fit genug sein und den nötigen Kampfgeist aufbringen würde, konnte er beim besten Willen nicht sagen.

Gerade jetzt fielen ihm solche Überlegungen sowieso mehr als schwer. Hier vor Ort zu sein, brachte ihn völlig aus dem Konzept. Er dachte, er hätte seinen Ausfall für diesen Winter verarbeitet und sich damit abgefunden. Aber die Teamkameraden über den Schanzentisch fliegen zu sehen und dazu noch einen Kommentar vor laufender Fernsehkamera abgeben zu müssen, hatte ihn dann doch unvorbereitet übermannt. Er hatte das getan, was man von ihm erwartete. Gelächelt, geplaudert und sich nichts mehr gewünscht, als eine Minute für sich allein zu sein.

Hier, hinter dieser Mauer, hatte er seine Rückzugsmöglichkeit nun endlich gefunden und konnte sich wieder sammeln.

***

Emmas Hände zitterten. Wie eine Bekloppte starrte sie auf ihr Handy und las wieder und wieder die SMS. In ihren Augen brannten heiße Tränen. Sie riss sich so gut wie möglich zusammen. Loszuheulen war das Letzte, was sie wollte, mitten unter den tausenden von Leuten. Obwohl das wahrscheinlich nicht einmal jemandem aufgefallen wäre. Jeder war mit sich beschäftigt, Grüppchen in Partystimmung sangen die Après-Ski-Hits mit, mit denen die Besucher in der Pause nun wieder beschallt wurden. Andere sprachen und diskutierten über die sportlichen Leistungen der Skispringer vom ersten Durchgang. Ihr persönlich aber war das im Moment völlig einerlei. Vor den Verpflegungsbuden herrschte reger Andrang. Emma hätte ebenso gut unsichtbar sein können. Trotzdem ermahnte sie sich zur Ruhe. Aber sie musste hier raus!

Sie stopfte ihr Handy in die Tasche und ließ sich blindlings von der Menge treiben. Der zweite Durchgang würde gleich beginnen, und alles, was hier noch unterwegs war, wollte zurück auf die Tribünen. Irgendwo würde sie sich bestimmt von der Traube lösen können und den Ausgang finden. Der Geruch von Glühwein stieg ihr in die Nase. Sie schielte auf den Mann neben sich. Er balancierte zwei Becher vor sich her – in dem Gedränge kein leichtes Unterfangen. Hoffentlich wurde er nicht angerempelt und schüttete die schwere rote Flüssigkeit über sie. Auf ihrer hellrosa Winterjacke wären die Rotweinflecken wohl auf immer verewigt. Das würde ihren Tag noch krönen, dachte sie grimmig und versuchte sich zurückfallen zu lassen. Aber hinter ihr lief eine Gruppe junger Menschen, die sich wie ein Knäuel nicht voneinander lösten. Also drängte sie sich hinter dem Mann vorbei zur Seite. Und landete genau vor einem Getränkestand. Weil jeder nun wieder die Skispringer im Sinn hatte und nichts verpassen wollte, herrschte gähnende Leere vor der Bude. Kurzentschlossen bestellte sie sich selbst ein Heißgetränk mit einem Schuss extra. Den konnte sie wahrlich gebrauchen!

Während alle interessiert die Sprungschanze fixierten, mit den Springern ihrer Herzen mitfieberten und der Sprecher das Geschehen kommentierte, stand Emma allein an einem kleinen Stehtischchen und betrachtete die eben erhaltene Nachricht erneut.

Vielleicht hatte sie sich in dem Gewühl ja verlesen, und es stand dort gar nicht das, was sie geglaubt hatte zu entziffern. Sie genehmigte sich einen großzügigen Schluck, verbrühte sich dabei fast den Gaumen, atmete tief ein und blinzelte kurz. Dann war sie bereit, sich Viktors Botschaft zu stellen.

Sie war knapp und unmissverständlich.

Meine liebe Emma, seit Tagen überlege ich, wie ich es dir am besten sagen soll. Ich werde heiraten. Es tut mir schrecklich leid, dass du es so erfahren musst. Ich wünsche dir alles Gute und hoffe, zwischen uns ist alles okay. Gruß Viktor.

Emma schnaubte und kippte sich den gesamten Inhalt ihrer Tasse in den Rachen. Sie hatte sich nicht verlesen. Der hatte sie doch nicht mehr alle!

Okay? Ob zwischen ihnen alles okay war? Nichts war okay! Gar nichts! Sie schnappte nach Luft und drehte sich um.

»Noch einen bitte«, orderte sie am Ausschank.

Als sie ihr Kleingeld aus der Tasche zog, füllten sich ihre Augen mit Tränen. Nur mit Mühe und verschwommenem Blick fischte sie schließlich den nötigen Betrag heraus. In ihrer Kehle bildete sich ein dicker Kloß.

»Danke«, krächzte sie gerade noch, dann schnappte sie sich den neuen Becher und machte sich eilig davon. Sie musste irgendwohin, wo sie allein war. Irgendwohin, wo sie sich wieder in den Griff bekommen konnte, bevor sie sich hinters Steuer setzte, um nach Hause zu fahren und sich dort zu vergraben.

Übermorgen war Silvester. Sie würde es allein verbringen. Auf ihrem Sofa, zusammen mit einer Flasche Sekt oder Rotwein und einem großen Becher Eiscreme. Ihre Pläne, in Heidelberg ins neue Jahr und in eine rosige Zukunft zu starten, waren zerstört. Einfach so. Von jetzt auf gleich.

Viktor würde heiraten! Wen eigentlich? Und warum? Sie waren seit zwei Jahren zusammen. Hatte seine Zukünftige hübsch als Geschenk verpackt unterm Weihnachtsbaum gelegen, oder wie? Emma hatte Viktors Eltern und Geschwister nur einmal flüchtig kennengelernt. Sie waren ihr etwas kühl erschienen, aber sie hatte es dem Umstand der Begegnung zugeschrieben. Das Aufeinandertreffen war geschehen, als die Familie gerade auf dem Weg zu einer Geburtstagsfeier irgendeiner Tante und Emma auf dem Sprung zurück nach Hause gewesen war, weil sie arbeiten musste. Damals hatte sie sich nicht viel dabei gedacht. Doch jetzt – rückblickend – hätte sie das bereits als ›Zeichen‹ erkennen müssen? Dass sie überhaupt nicht eingeladen worden war? Hatten Viktors Eltern sie nicht gemocht und ihm deshalb nun zu Weihnachten die passende Braut geschenkt?

Sie wusste selbst, wie verrückt diese Gedanken waren. Aber sie stand unter Schock. Sie hatte keine Ahnung, was sie denken sollte und wie das alles zusammenpasste. Ein Tränenschleier überzog ihr Gesicht. Ihre Beine versagten. Sie sackte auf einen Schneehaufen. Immerhin war sie hier hinten allein. Versteckt vor neugierigen Blicken. Sie hätte nicht sagen können, wie sie diesen ungestörten Platz entdeckt hatte. Er war plötzlich einfach da und sie mehr als dankbar dafür.

***

Ein Wimmern und leises Schluchzen lagen in der Luft. Bildete Ben sich das nur ein? Bei dem Geräuschpegel um ihn herum war es schier unmöglich, solche Feinheiten gezielt herauszuhören, oder? Erschrocken riss er die Augen auf. Kamen die jämmerlichen Laute etwa von ihm selbst? Er hielt den Atem an. So ein Quatsch. Er mochte eine Fünf-Minuten-Krise haben, aber er war ein Mann und keine Memme! Auch wenn sein Leben derzeit nicht ganz so lief, wie er es sich vorstellte, war er so tief doch noch nicht gesunken.

Da war es schon wieder. Ein lautes, deutliches Schniefen. Es gab nur eine Erklärung: Er war nicht allein. Langsam beugte er sich nach vorn, aber der Schneehaufen war zu mächtig, als dass er auf die andere Seite hätte schauen können. Er rutschte weiter nach vorn und spürte ein Ziehen im Knie. Sein Groll kehrte zurück. Verletzt zu sein, war schon bescheiden genug, jetzt störte ihn auch noch jemand an seinem mühsam aufgestöberten Rückzugsort. Mit einem Ruck erhob er sich und trat um den Haufen herum.

***

Aus dem Nichts tauchte plötzlich ein Mann vor ihr auf. Emma erschrak derart, dass sie dachte, ihr würde das Herz stehen bleiben. Die eine Hand ein Taschentuch in der Jackentasche suchend, zuckte die andere mit dem Glühweinbecher in die Höhe, und es regnete rote gewürzhaltige Tropfen über ihren Arm und in den weißen Schnee. Wie hypnotisiert starrte sie auf ihren Ärmel. Was für eine Bescherung! Ihre Nase lief immer noch. Anstatt weiter nach einem Taschentuch zu angeln, zog sie die Nase einfach hoch und blinzelte ihre Tränen weg. Nur im Zeitlupentempo konnte sie ihren Blick lösen und sich dem Störenfried zuwenden. Wie ein Racheengel stand er vor ihr und strafte sie mit Verachtung. Es dauerte eine Sekunde, bis sie ihre Sprache wiederfand.

»Haben Sie noch alle Tassen im Schrank?«, fuhr sie ihn dann an.

Er schob die Unterlippe leicht nach vorn und musterte sie eingehend.

»Ich schon, aber Sie ganz offenbar nicht«, antwortete er und betrachtete das neukreierte Muster ihres linken Jackenärmels.

Sie schnappte nach Luft. Das war ja wohl die Höhe. Er schoss wie ein Wilder auf sie zu, und nun pöbelte er sie auch noch an, anstatt sich zu entschuldigen. Was für ein Hinterwäldler!

»Das ist alles Ihre Schuld! Sehen Sie sich das nur an. Die Jacke ist eine O`Neill. Wissen Sie, wie viel die kostet? Die Flecken kriege ich bestimmt nie mehr raus.«

»Meine Schuld? Das hätten Sie wohl gern. Sie sollten nicht so viel trinken, wenn Sie es nicht vertragen«, konterte er so kalt, wie der Untergrund war, auf dem sie saß.

Dachte der Typ, sie wäre betrunken? Machte sie diesen Eindruck? Sie sah wahrscheinlich schrecklich aus. Verheult und verschmiert. Aber was ging ihn das an?

»Was tun Sie hier? Haben die anderen Leute Sie vertrieben, weil Sie ihnen mit Ihrer schroffen Art auf den Geist gegangen sind?« Der Alkohol wirkte tatsächlich. Jedoch nicht so, dass man sie auch nur ansatzweise als betrunken bezeichnen konnte. Hatte sie sich noch eben selbst bemitleidet, breitete sich nun Kampfgeist in ihr aus. Sie hatte mehr als genug davon, nicht für voll genommen zu werden. Weder von Viktor noch von diesem Kerl würde sie sich irgendwelche Unverschämtheiten gefallen lassen. Wenn der Typ da dachte, er könnte so leicht davonkommen, hatte er sich gründlich getäuscht. »Diese Jacke ist einhundertsechzig Euro wert. Und Sie werden die Reinigung bezahlen, Mister!«

Mit gestrafften Schultern und in die Höhe gestreckter Nase stierte sie ihn an. Es hätte womöglich noch einen Tick hochmütiger wirken können, wenn ihr dabei nicht aufgefallen wäre, dass ihre Nasenspitze durch die Kälte und Heulerei einen glänzenden Rotstich angenommen hatte.

Auch bei ihrem Gegenüber blieb das nicht unbemerkt.

»Sagte die Frau mit der Schnapsnase. Netter Versuch«, knurrte er prompt und verschränkte die Arme vor der Brust.

Einen Moment lang fixierten sie sich gegenseitig.

Eigentlich sah er ganz ordentlich aus, um nicht zu sagen attraktiv. Sie schätzte ihn auf Ende zwanzig. Er war lang und schmal. Aber nicht im Sinne von dürr, sondern eher athletisch. Das zumindest glaubte sie, obwohl er in einem modischen rot-schwarzen Skifahrer-Outfit steckte. Sein Haar verbarg er unter einer Mütze, doch sie tippte darauf, dass es ebenso braun war wie seine Brauen, die er in diesem Moment zusammenzog, sodass sie fast einen Strich bildeten. Sein ovales Gesicht war frisch rasiert, und die dunkelbraunen Augen schimmerten gefährlich schwarz.

Ja, unter anderen Umständen – in einem anderen Leben! – hätte sie ihn durchaus anziehend finden können. Aber mit diesem Thema war sie durch. Ein für alle Mal. Mit Männern war sie fertig. Definitiv! Ein kleines Seufzen entschwand ihrer Kehle.

Der Typ hörte es.

»Wird Ihnen jetzt auch noch schlecht?«, fragte er und verdrehte dabei die Augen.

Sie schüttelte kaum merklich den Kopf und wühlte wieder in ihrer Tasche herum. »Warum gehen Sie nicht einfach und nerven andere Leute?«

Endlich fand sie die blöden Taschentücher und dabei auch gleich ihre Sonnenbrille. Sie klappte das Gestell auf und schob es sich blasiert auf die Nase. Die Sonne schien zwar nicht, und hier hinten schon gar nicht, aber das war ihr egal. Irgendwann an diesem Tag hatte sie sie herausspitzen sehen, doch die dunklen Gläser verhüllten wenigstens ihre verheulten geröteten Augen. Sie fühlte sich sofort ein bisschen besser.

»Glauben Sie, das Ding da kann Ihren Zustand verbergen?«, meinte der Kerl prompt.

»Wer sind Sie? Die Modepolizei?«

Sie faltete das weiße Papiertaschentuch auf und begann, an den Flecken auf ihrer Jacke herumzureiben. Es war vergebliche Liebesmüh. Sie merkte, wie ihr erneut Tränen in die Augen stiegen. Wenigstens konnte es dieser überhebliche Typ dank der Brille nun nicht sehen. Verbergen?, ging es ihr durch den Kopf. Als ob sie ihren Gemütszustand verbergen könnte. In ihr tobte der Bär. Sie hatte noch immer keine Gelegenheit gefunden, die verwirrenden Puzzleteile ihres Privatlebens zu sortieren und zu ordnen. Aber es war so oder so klar, dass das Ergebnis verheerend war. Sie knüllte das Tuch zusammen und schmiss es neben sich in den Schnee. Ihr Blick fiel auf den halbleeren Becher, den sie dort hineingesteckt hatte. Sie griff danach und trank den letzten Rest aus. Der Inhalt war inzwischen kalt und schmeckte schrecklich. Sie verzog das Gesicht.

»Das hier ist eine Sportveranstaltung, keine Saufparty! Gehen Sie sich frischmachen. Dort drüben ist die Damentoilette«, forderte er sie in herablassendem Tonfall auf.

Hatte sie für heute nicht schon genug durchgemacht? Musste sie sich jetzt auch noch mit diesem Rüpel herumärgern? Konnte er sie nicht einfach in Ruhe lassen?

Emma hob den Kopf und beschloss, dass es die Sache nicht wert war.

»Wissen Sie was? Sie haben gewonnen«, murmelte sie mehr zu sich selbst. Sie würde gehen. Aber nicht, weil er es ihr befahl, sondern weil sie schlichtweg keine Lust hatte, sich weiter beleidigen zu lassen. Er wollte sie hier nicht haben. Bitte schön! Sie würde sich garantiert nicht aufdrängen. Und um ehrlich zu sein, auf die Gesellschaft dieses ungehobelten Klotzes konnte sie wahrlich gut verzichten.

Sie erhob sich langsam und spürte kühle Feuchtigkeit. Was war das? Sie hielt in der Bewegung inne und plumpste zurück auf ihren Sitzplatz. Sie schielte zu dem Mann hoch, der wie ein Schießhund vor ihr stand und darauf wartete, dass sie sich erhob. Seine Gesichtszüge waren durch die Dunkelheit ihrer Sonnenbrille schwer zu erkennen. Sie stopfte ihr zerknülltes Papiertaschentuch in die Tasche und befühlte dabei so unauffällig wie möglich ihr Gesäß. Scheibenkleister! Die Jeans, die sie trug, war komplett durchnässt. Klar, sie hatte ja auch im Schnee gesessen. Und anders als der Typ steckte sie nicht in wasserabweisenden Skihosen. Was hatte sie also erwartet?

Nichts. Gar nichts. So weit hatte sie nicht gedacht, als sie sich hier niedergelassen hatte. Beschäftigt mit Viktors Nachricht war sie unfähig gewesen, an solche Nichtigkeiten überhaupt einen Gedanken zu verschwenden, und dank diesem lächerlichen Disput, den sie gerade zu führen gezwungen worden war, hatte sie nicht einmal bemerkt, wie die Nässe allmählich durch den Stoff drang. Und jetzt? Wenn sie aufstand, würde der knurrige Wachhund auf zwei Beinen vielleicht noch glauben, dass sie ... Nein, diese Überlegung wollte sie nicht zu Ende bringen.

***

Ben wusste selbst nicht, warum er so schroff zu der Frau war. Im Grunde war er ein recht umgänglicher Mensch. Er war ein Teamplayer und besaß durchaus Mitgefühl. Nur konnte er ihr das im Moment einfach nicht entgegenbringen. Sie war nicht volltrunken, das wusste er, auch wenn er ihr genau das vorwarf. Aber er war frustriert und wollte allein sein. Diese Frau störte nun mal seinen Frieden. Ihr Geschniefe nervte ihn. Was immer ihr Problem war, er hatte seine eigenen. Sollte sie doch woanders ihren Kummer im Schnee vergraben.

Endlich war sie im Begriff, aufzustehen, aber dann ließ sie sich schon wieder nieder. Hatte er sich getäuscht mit seiner Einschätzung, und sie hatte doch mehr Alkohol intus, als er dachte? Sollte er ihr aufhelfen? Unschlüssig stand er vor ihr und trat von einem Bein aufs andere.

Plötzlich waren Stimmen zu hören, die näherkamen. Er drehte sich um, sah aber niemanden. Hinter der Hauswand waren sie für die Allgemeinheit nicht zu entdecken. Als er sich wieder zurückwandte, hatte die Heulsuse sich ihrer Jacke entledigt und band sie sich gerade um die Taille.

»Und was wird das jetzt?«, wollte er wissen, während er ihren Rolli begutachtete. Das dunkle Grün stand ihr. Die lockigen schwarzbraunen Haare fielen ihr über die Schultern und betonten ungewollt ihre Oberweite, die in dem enganliegenden Wollstoff gut zur Geltung kam. Sie war jung, vermutlich in seinem Alter oder etwas jünger, aber deutlich kleiner als er. Er schätzte sie auf höchstens eins fünfundsechzig.

»Ich wüsste nicht, was Sie das angeht. Aber wenn Sie es genau wissen wollen, mir ist heiß. Wenn Sie mich nun bitte entschuldigen würden? Meine Gruppe sucht mich bestimmt schon. Kennen Sie sie: Die Schnapsdrosseln vom Schauertal?«, erklärte sie pampig und stapfte, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, an ihm vorbei.

Ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel, als er ihr hinterhersah. Immerhin besaß die Kleine Humor.

2

 

 

Emma saß an einem der Tische und starrte zum Fenster hinaus. Der Himmel war trüb. Graue Wolken schoben sich darüber hinweg und hinterließen ein Gemisch aus Regen und Schnee. Der Kalender schrieb den ersten Januar. Neujahr! Und sie war gar nicht in der Stimmung dafür. Irgendwo klapperte Besteck. Gemurmel von anderen Gästen und leise Musik als Hintergrundbeschallung drangen an ihr Ohr.

Jeanette, ihre beste Freundin, hatte sie zu einem Brunch in dem Café um die Ecke überredet. Sie schob einen vollbeladenen Teller auf den Tisch und setzte sich.

»Du solltest bald nochmal ans Buffet und dir einen Nachschlag holen. Vom Obstsalat ist schon nicht mehr viel da. Den magst du doch so gern.« Jeanette griff nach ihrer Gabel.

Emma schüttelte den Kopf und stocherte lustlos in ihrem bereits kalt gewordenen Rührei herum. »Vielleicht später. Die füllen sowieso alles wieder auf. Wozu die Eile?«

Jeanette zuckte mit den Schultern und aß weiter.

»Möchten die Ladys ein Glas Sekt?«, fragte ein Kellner und kam mit einem Tablett zu ihnen.

»Auf jeden Fall!« Jeanettes Hände schossen nach oben, und bevor sich Emma versah, stand einer der Kelche vor ihr.

»Frohes neues Jahr!« Der Kellner zwinkerte ihnen zu und setzte seine Runde fort.

»Los, lass uns mal anstoßen! Wenn ich gewusst hätte, dass du da bist ... Warum bist du denn nicht vorbeigekommen? Ich habe dir doch von der Silvesterfete erzählt.«

»Mir war eben nicht nach Feiern.«

»Ja, kann ich auch irgendwie verstehen. Aber vielleicht hätte es dir gerade deshalb gutgetan. Rauskommen und etwas anderes sehen. Das wirkt manchmal Wunder.« Die Freundinnen stießen miteinander an. »Ich wünsche dir trotz allem ein supertolles neues Jahr!«

Emma grummelte etwas Unverständliches.

»Das wünsche ich dir auch«, erwiderte sie dann lahm.

Jeanette ließ sich davon nicht beeindrucken und grinste wissend. »Du wirst sehen, dieses Jahr wird klasse. Ich habe das im Gefühl.«

»Du und dein Gefühl.« Emma lachte. »Ich erinnere mich, dass du – wann war das? Vorletztes Jahr? – behauptet hast, in diesem Jahr würdest du richtig reich werden. Und was ist daraus geworden?«

Unbekümmert stellte ihre Freundin ihr Glas ab und fuhr mit dem Essen fort. »Ja, na ja. Ich gebe zu, dass ich nicht die große Kohle gemacht habe, wie ich anfangs dachte. Aber ich hatte trotzdem recht. In diesem Jahr wurde ich reich an Erfahrung. Oder etwa nicht?«

Das stimmte. Jeanette hatte BWL studiert und war als angehende Unternehmensberaterin in einem Laden gewesen, der sie schamlos ausgenutzt hatte. Zu der Zeit hatten die Freundinnen höchstens per SMS Kontakt gehabt, weil Jeanette permanent beruflich im Einsatz gewesen war. Sie hatte etwa vierzehn Stunden am Tag geschuftet, sogar an den Wochenenden, war eben mal nach Berlin oder Hamburg geflogen, manchmal auch nach London. Und alles dafür, dass ihr Vorgesetzter die Lorbeeren einheimste. Erst als sie völlig ausgelaugt einen gesundheitlichen Warnschuss von ihrem Körper erhalten hatte und in einer Notaufnahme erwacht war, hatte sie die Konsequenzen gezogen. Sie hatte sich selbstständig gemacht und es nicht bereut.

Emma seufzte. »Dann hoffe ich mal, dass es mir ebenso gelingt, beruflich wieder Fuß zu fassen und etwas Neues zu finden.«

»Ach, das glaub ich fest. Pflegefachkräfte werden doch überall händeringend gesucht.«

»Schon. Aber wenn ich gewusst hätte, dass ich nicht nach Heidelberg umziehen werde, hätte ich vielleicht nochmal darüber nachgedacht, ob ich wirklich hinschmeißen sollte.«

»Also, ich freue mich, dass du dableibst. Denk mal an unseren Mädelsabend. Wir treffen uns, solange ich denken kann, jeden ersten Freitag im Monat. Was hätte denn daraus werden sollen?«

»Du hast ja recht. Man soll immer das Positive sehen«, stimmte Emma ihr zu, auch wenn ihr das im Moment gar nicht so leichtfiel. Doch es war schön, zu wissen, dass sie nicht allein war. Jeanette, Sophie und sie kannten sich schon aus dem Sandkasten. Aber während Sophie sich haufenweise mit Freunden und Bekannten umgeben hatte, war Jeanette zu Emmas bester Freundin geworden. Oftmals fühlte Emma sich ihr enger verbunden als ihrer eigenen Zwillingsschwester. Emma kannte die Geschichten über Zwillingspärchen, die so unzertrennlich waren, dass sie manchmal sogar ein Leben lang zusammenblieben. Bei Sophie und ihr war das definitiv nicht der Fall.

»Was ist denn nun genau passiert?«, fragte ihre Freundin. »Ich habe das noch nicht richtig verstanden.«

»Das geht mir ähnlich.« Emma schnaufte und rührte lustlos in ihrem Cappuccino. »Ich dachte, mit mir und Viktor würde alles perfekt laufen. Klar, wir haben nicht wahnsinnig viel Zeit miteinander verbracht – auf die Entfernung. Aber alles schien bestens. Wir versuchten, uns so oft wie möglich zu sehen. Zumindest habe ich das angenommen. Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, gab es schon öfters mal was, das ihm dazwischenkam, sodass er mir deswegen absagte. Aber er ist Chirurg – Herrgott nochmal! –, da ist es doch normal, dass er Überstunden schieben oder einspringen muss. Oder? Na, wahrscheinlich war ich einfach zu doof, um es zu bemerken ...«

»Du meinst, dass er zweigleisig gefahren ist?«

Emma zuckte mit den Schultern. »Die Tussi, die er heiraten will, wird ihm ja wohl kaum der Weihnachtsmann gebracht haben.«

»Und das hat er dir per SMS geschrieben?« Jeanette runzelte fassungslos die Stirn.

Sie schob ihrer Freundin ihr Handy über den Tisch.

»Was für eine Arschgeige! Und dann will er noch, dass ihr Freunde bleibt? Der hat sie doch nicht mehr alle!«

»Nett, oder?«

»Pass bloß auf, der ist so selbstverliebt, dass er dir noch eine Einladung zur Hochzeit schickt.«

Der Löffel in ihrer Hand plumpste klirrend in die Tasse. »Was? Meinst du echt?«

»Wer weiß. Zutrauen würde ich es ihm. Ich wollte es dir nicht sagen, weil du so glücklich gewesen bist, aber um ehrlich zu sein, so richtig mochte ich Viktor nie.«

»Wieso nicht?« Emma setzte sich aufrecht hin, und Jeanette biss von ihrem Käsebrötchen ab.

»Hm, ich fand ihn immer so glatt. Zu glatt, wenn du verstehst, was ich meine. Ein typischer Halbgott in Weiß eben. Womöglich ist ihm sein Job zu Kopf gestiegen, vielleicht liegt es auch an seinen Eltern. Du hast zwar nicht viel über sie erzählt, aber so wie ich das verstanden habe, loben die ihn doch über den grünen Klee.«

»Mag sein. Ich kenn die ja auch kaum. Besonders sympathisch wirkten sie das eine Mal, als ich sie traf, jedenfalls nicht.«

»Und woran lag das? Bitte rede dir nur nicht ein, an dir! Die denken, sie wären was Besseres. Warum hast du sie denn bitte schön innerhalb von zwei Jahren nie zu Gesicht bekommen?«

»Du glaubst, die Zukünftige ging damals schon ein und aus bei seiner Familie?« Sie wusste nicht, wie sie darauf kam. Aber plötzlich war Emma sich ziemlich sicher, dass genau das der Fall gewesen war. Wie konnte sie nur die ganze Zeit über so blöd gewesen sein?

»Schon möglich«, bestätigte Jeanette, und Emma trank den restlichen Inhalt ihres Sektglases leer. Warum war sie nicht ein bisschen mehr wie Sophie? Der passierte sowas garantiert nicht. Schon deshalb, weil sie selbst ihre Kerle abschoss, bevor diese dazu Gelegenheit bekamen. Ihre Schwester war ein Schmetterling im Wind. Bunt, schillernd, abenteuerlustig, frei und ungebunden.

»Was sagt denn Sophie dazu?«, fragte jetzt Jeanette, als könnte sie Gedanken lesen.

»Sie ist verreist und weiß noch nichts davon.«

»Und warum hast du dich nicht bei mir gemeldet? Dafür sind doch Freundinnen da?«

»Keine Ahnung. Ich musste mich erst mal allein damit auseinandersetzen. Ich meine, mein gesamtes Leben hat sich von der einen Minute auf die andere in Luft aufgelöst. Mann weg, Job weg, Wohnung gekündigt ...« Sie schnappte nach Luft und schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. »Oh mein Gott. Ich habe meine Wohnung gekündigt!«, rief sie, weil es ihr jetzt erst bewusst wurde. »Ich muss gleich morgen versuchen, das rückgängig zu machen.«