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Heilsame Träume und Wintergenuss
Weil ihr Vater Unterstützung braucht, kehrt Imke zurück an die nordfriesische Küste. Nach langer Zeit atmet sie wieder die salzige Meerluft, spürt den kühlen Wind und geht am Winterstrand spazieren. Hier kann sie die Erinnerungen an ihre ehemals beste Freundin und an ihre große Liebe Simo nicht mehr verdrängen; beide hat sie hier zurückgelassen und seitdem nicht mehr gesehen. Bis jetzt. Hin und her gerissen zwischen Gewissensbissen und dem Wunsch, zumindest die Freundschaft zurückzugewinnen, bereitet Imke den Weihnachtsbasar und die Christandacht in St. Peter-Ording vor und spürt, wie ihre Hoffnung auf ein Winterwunder wächst und sie allmählich Heilung findet.
Vereiste Salzwiesen, zweite Chancen und eine familiäre Gemeinschaft, in der man sich aufgehoben fühlt
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Seitenzahl: 347
Veröffentlichungsjahr: 2025
Zum Buch:
Weil ihr Vater Unterstützung braucht, kehrt Imke zurück an die nordfriesische Küste. Nach langer Zeit atmet sie wieder die salzige Meerluft, spürt den kühlen Wind und geht am Winterstrand spazieren. Hier kann sie die Erinnerungen an ihre ehemals beste Freundin und an ihre große Liebe Simo nicht mehr verdrängen; beide hat sie hier zurückgelassen und seitdem nicht mehr gesehen. Bis jetzt. Hin und her gerissen zwischen Gewissensbissen und dem Wunsch, zumindest die Freundschaft zurückzugewinnen, bereitet Imke den Weihnachtsbasar und die Christandacht in St. Peter-Ording vor und spürt, wie ihre Hoffnung auf ein Winterwunder wächst und sie allmählich Heilung findet.
Zur Autorin:
Tanja Janz wollte schon als Kind Bücher schreiben und malte ihre ersten Geschichten auf ein Blatt Papier. Heute ist sie Schriftstellerin und lebt mit ihrer Familie und zwei Katzen im Ruhrgebiet. Neben der Schreiberei und der Liebe zum heimischen Fußballverein schwärmt sie für St. Peter-Ording, den einzigartigen Ort an der Nordseeküste.
Lieferbare Titel:
Winterlicht am Meer
Friesenherzen und Winterzauber
Nordseefunkeln
Friesenmeermagie
Winterstrandtage
Wintermeer und Bernsteinherzen
Dünenleuchten
Friesenwinterzauber
Leuchtturmträume
Wintermeer und Dünenzauber
Dünentraumsommer
Das Muschelhaus am Deich
Dünenwinter und Lichterglanz
Strandrosensommer
Mit dir auf Düne sieben
Friesenherzen und Winterzauber
Krabbe mit Rettungsring
Strandperlen
Himmelsee – Über den Wellen leuchtet das Glück
St.-Peter-Ording-Saga:
Wo der Seewind flüstert (1)
Was die Dünen verheißen (2)
Was die Gezeiten versprechen (3)
Tanja Janz
Winterlichtam Meer
Ein St.-Peter-Ording-Roman
HarperCollins
Originalausgabe
© 2025 by HarperCollins
in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH
Valentinskamp 24 · 20354 Hamburg
Covergestaltung von Hauptmann & Kompanie, Zürich
Coverabbildung von dugdax, Joule Sorubou, Personal Efficiency / Shutterstock
E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783749908820
www.harpercollins.de
Jegliche nicht autorisierte Verwendung dieser Publikation zum Training generativer Technologien der künstlichen Intelligenz (KI) ist ausdrücklich verboten. Die Rechte der Urheberin und des Verlags bleiben davon unberührt.
Für Judit,mit einer frischen Meeresbrise und Bratapfelduft.
Der Nordseewind singt leise Lieder,
trägt Salz und Schnee ans Dünenland.
Die Wellen rauschen hin und wieder,
berühren sanft den weiten Strand.
Am Pfahlbau flackern warme Kerzen,
ihr Licht erstrahlt im Wellensang.
Und tief in uns, in unsern Herzen,
erklingt der Weihnacht leiser Klang.
Der Strand liegt still in heller Weite,
die Sandbänke glitzern silbern hell.
Die Möwen tanzen, kreisen, gleiten,
am Horizont so frei und schnell.
Die Reetdächer schimmern weich,
ein sanftes Funkeln ruht im Reet.
Und überm Meer, in weiter Ferne,
strahlt hell ein Stern – und nie vergeht.
Ein Julitag in St. Peter-Ording, acht Jahre zuvor
Der Sommerhimmel über St. Peter-Ording leuchtete in einem intensiven Blau, durchzogen bloß von dünnen Wolkenschleiern, die wie zarte Federn wirkten. Die Sonne stand hoch, und der Ordinger Sandstrand glühte förmlich in der Hitze, während eine salzige Brise vom Meer herüberwehte und für ein wenig Abkühlung sorgte. Möwen zogen laut kreischend ihre Kreise über der Sandbank und übertönten damit die dumpfen Beats aus dem Event-Dorf des Surf-Cups.
Imke atmete tief ein und seufzte dann wohlig auf. Es roch herrlich nach Sommer und Strand in St. Peter-Ording, nach dieser besonderen Mischung aus Tang und Sonnencreme, die sie seit ihrer Kindheit mit den schönsten Wochen im Jahr verband, wenn die Nächte lau waren und die Tage scheinbar nie zu Ende gingen. Eine gewisse Sorglosigkeit herrschte dann vor, die sie so in keiner anderen Jahreszeit spürte. An diesem Tag lag zusätzlich Spannung in der Luft. Das Finale des Surf-Cups stand kurz bevor.
Sie saß in einer blauen, ausklappbaren Strandmuschel und hielt die Knie angezogen. Die Zehen schob sie in den warmen Sand, der sich angenehm und körnig anfühlte. Über ihrem Badeanzug trug sie ein leichtes weißes Sommerkleid, das im Wind herrlich flatterte. Das blonde Haar hatte sie mit einem gelben Tuch gebändigt. Neben ihr lag ihre beste Freundin Sinja auf ihrem türkisfarbenen Handtuch. Sie trug eine überdimensional große Sonnenbrille auf der Nase und hielt sich eine eiskalte Cola-Dose an die Stirn, die sie kurz zuvor aus der Kühltasche gezogen hatte.
Um die blendenden Reflexionen der Wellen abzuschirmen, hob Imke die Hand über die Augen.
»Der Wind ist heute zwar perfekt, aber er bringt keine Abkühlung«, stellte Sinja fest und setzte sich nun ebenfalls auf. Ihr Blick war auf die Nordsee gerichtet, wo die Wellen in kraftvollen Sets heranrollten und ihre Schaumkronen in der Sonne glitzerten. »Simo hat gute Chancen, den Wettbewerb zu gewinnen, wenn er die eine, richtige Welle erwischt. Er ist doch der beste Surfer unserer Truppe.«
»Ich hoffe es so sehr für ihn! In den letzten Wochen hat er wie ein Wahnsinniger trainiert.« Imke ließ ihren Blick über den weitläufigen Strand schweifen. Unzählige Strandkörbe mit blau-weiß gestreiften Dächern standen in geraden Reihen, jeder Platz war besetzt. Kinder bauten eifrig Sandburgen, eine Gruppe Jugendlicher spielte Beach-Volleyball und feierte lautstark jeden Punkt. Ihre Rufe vermischten sich mit dem Rauschen der Brandung und dem Wummern der Beats, die aus leistungsstarken Boxen drangen. Imkes Aufmerksamkeit galt jedoch den Surfern, die sich am Spülsaum versammelt hatten. Ihre Windsurfbretter mit den bunten Segeln lagen startklar neben ihnen, an den entschlossenen Mienen der Teilnehmer war abzulesen, dass sie bereit für die finale Runde des St.-Peter-Surf-Cups waren.
»Da sind unsere Helden ja endlich!«, rief Sinja und sprang auf. Sie deutete mit der Cola-Dose in der Hand aufgeregt in die Richtung von drei Gestalten, die sich gerade durch die Menge der Schaulustigen schoben. Als Imke Simo in seinem Neoprenanzug unter ihnen erspähte, musste sie lächeln. Sie liebte seine breiten Schultern und die lässige Art, wie er das Windsurfbrett trug, seine hellblonden, fast schon weißen, von der Sonne gebleichten Haare, die mit oder ohne Wind immer zerzaust waren. Ewig könnte sie ihn anschauen – und das, obwohl sie sich schon seit ihrer Kindheit kannten. Neben ihm gingen breit grinsend Piet, groß und ein wenig schlaksig, und Leif, etwas kleiner und von eher stämmiger Statur. Leif lachte offenbar über etwas, das Simo sagte.
Imke kam nun ihrerseits auf die Füße und klopfte den Sand von ihren Beinen. Vorfreudig griff sie nach Sinjas Hand und zog sie mit sich. »Komm, wir gehen näher ran.«
Barfuß liefen sie in Richtung des Event-Dorfs, eines bunten Mikrokosmos, in dem sich Stände mit Surf-Ausrüstung an Foodtrucks reihten und Surfer mit fokussierten Blicken ihre Bretter präparierten. Vor der provisorischen Absperrung hatte sich bereits eine Menschentraube versammelt. Das Sportspektakel hatte gleichermaßen Einheimische, Touristen, Kinder mit Eiswaffeln und auch Leute älteren Semesters angezogen.
Die Musik erstarb abrupt. Dann erklang aus den Lautsprechern ein lautes Knacken, darauf folgte ein schriller Pfeifton.
»Meine armen Ohren!« Sinja verzog ihr Gesicht zu einer schmerzverzerrten Grimasse.
Imke hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu.
»Wir kommen nun zum letzten Durchgang im Finale der Männer«, erschallte einen Moment später eine tiefe Stimme aus den Boxen. »Die Teilnehmer sind Simo Jensen, Piet Lönne und Leif Krohn aus St. Peter-Ording sowie Lukas Meier aus Husum!«
In diesem Moment drehte Simo sich zu ihnen um. Sein Blick fand Imkes, und ihr Herz klopfte schneller. Er winkte ihr kurz mit einem selbstbewussten Lächeln auf den Lippen zu, das ihre Nerven ein wenig beruhigen sollte, stattdessen aber ihre innere Anspannung noch weiter anfachte. Sie winkte zurück und nickte ihm aufmunternd zu. Wie wichtig dieser Sieg für ihn war, hatte er ihr in den letzten Tagen bei jeder Gelegenheit erzählt. Dabei ging es ihm nicht um das Preisgeld oder den Pokal, den es zu gewinnen gab. Vielmehr wollte er sich selbst beweisen, dass er der beste Surfer an Nordfrieslands Westküste war. Imke verstand ihn gut und drückte ihm so fest die Daumen, wie sie konnte.
In diesem Moment stieß Sinja sie amüsiert in die Seite. »Guck nicht so verspannt! Simo holt für dich den ersten Platz, wetten?«
»Hoffentlich. Aber mir würde es schon reichen, wenn er nur für sich siegen würde«, entgegnete sie, ohne den Blick von Simo abzuwenden.
Die Surfer trugen ihre Bretter ins Meer, stiegen auf und zogen den Baum hoch. Die Segel wirkten wie bunte Pfeile auf dem Wasser.
Imke hielt den Atem an, als die erste große Welle kam. Piet erwischte sie und schnitt auf seinem Surfbrett durchs Wasser, doch eine falsche Bewegung ließ ihn kurz darauf in die Nordsee stürzen. Ein Raunen ging durch die Zuschauermenge.
Als Nächstes folgte Leif. Seine Leistung war solide, aber unspektakulär, während Lukas aus Husum eine nahezu perfekte Welle ritt. Auf der Schulter einer Welle führte er einen scharfen Cutback aus und landete mit einem professionellen Sprung. Die Menge johlte begeistert.
Imke biss sich auf die Lippe. Der Husumer war eine echte Konkurrenz.
Jetzt war Simo an der Reihe. Er ließ sich Zeit und wartete geduldig auf eine passende Gelegenheit. Imke glaubte, seine angespannten Muskeln unter dem Neoprenanzug zu erkennen. Die nächste Welle kam. Sie war perfekt, hoch, glatt und hatte eine weiße Krone. Imke hielt den Atem an, als Simo auf sie zusteuerte. Er schien fest auf dem Board zu stehen und schnitt kraftvoll durch die See, drehte dann einen Cutback, wobei das Sprühwasser in der Sonne glitzerte. Scheinbar mühelos hielt er die Balance, während die Welle ihn trug. Doch dann wankte er auf einmal und kippte mit dem Segel schließlich in die Nordsee. Die Leute klatschten höflich.
»Oh, nein!« Imke vergrub ihr Gesicht in beiden Händen. Sie wusste, dass nun alles von der Punktevergabe abhing. Vielleicht hatte Simo noch eine Chance auf einen guten Platz angesichts des Schwierigkeitsgrads.
»So ein Pech! Simo war gut, aber Lukas war besser, wenn du mich fragst«, resümierte Sinja. »Piet hatte etwas Pech mit seiner Welle.«
Imke nickte bloß. Ihr Herz hämmerte, als die Punkte verkündet wurden: Lukas 8.5, Simo 8.2, Piet 7.8 und Leif 7.5.
Lukas Meier aus Husum gewann den Wettbewerb.
»Immerhin hat er sich den zweiten Platz gesichert«, meinte Sinja mit einem aufmunternden Lächeln.
»Lass uns zu ihm gehen!« Das Ergebnis war tatsächlich so knapp, dass Imke vor Stolz fast platzte. Für sie blieb Simo ohnehin der Gewinner – nicht nur des Wettbewerbs, sondern auch ihres Herzens.
Sie schoben sich vorbei an den Umherstehenden, bis sie freie Sicht auf die Surfer hatten.
Als Simo ihren Blick auffing, kam er zu ihr, das Salzwasser tropfte ihm vom Gesicht.
Sobald er vor ihr stand, zog er Imke in eine nasse Umarmung. »Fast hätte ich es geschafft.« In seiner Stimme schwang ein wenig Enttäuschung mit, aber er lächelte.
»Du warst wirklich unglaublich, Simo!« Imke lachte, als das erfrischende Meerwasser durch den Stoff ihres Kleids drang. »Der zweite Platz von über fünfzig Teilnehmern! Ich meine, das ist doch riesig!«
»Das liegt alles nur an dir«, behauptete er kühn, schenkte ihr ein offenes Lächeln und küsste sie auf den Mund. Seine Lippen schmeckten salzig und lagen warm auf ihren.
Die Sonne war untergegangen, sodass der Himmel über St. Peter-Ording noch in tiefem Orange glühte, das allmählich in Violett und Dunkelblau überging. Das Finale des Surf-Cups war Geschichte. Nun bildete das Strandfest auf dem Event-Gelände den idealen Ausklang des Tages. Bunte Lichterketten leuchteten an einem Pfahlbau, dessen Silhouette sich dunkel gegen den Abendhimmel abzeichnete. Der Geruch von gegrilltem Fisch aus einem Foodtruck und einer kühleren, salzigen Meeresbrise erfüllte die Luft der anbrechenden Nacht. Basslastige Club-Sounds dröhnten aus Lautsprechern über den Strandabschnitt, zu denen einige Besucher ausgelassen im Sand tanzten. Andere saßen auf Decken in Grüppchen zusammen und hielten Cola- und Bierdosen in Händen.
Imke lehnte sich an Simos Schulter. Seine Körperwärme fühlte sich gut an, sie bildete den perfekten Gegensatz zur kühlen Abendluft, die über ihre nackten Arme strich und ihr immer wieder eine Gänsehaut bescherte. Simo hatte längst seinen Neoprenanzug gegen lässige Jeans und ein ausgewaschenes T-Shirt getauscht. Seine Haare waren wie immer zerzaust. Sinja hockte mit gekreuzten Beinen ihnen gegenüber und stocherte mit einer Plastikgabel in einer Portion Pommes herum, während Piet und Leif noch vor einem der Foodtrucks anstanden.
»Das war heute so was von verdammt knapp«, sagte Sinja zum wiederholten Mal.
Simo nickte und nahm einen Schluck Cola, während sein Arm locker um Imke lag. »Lukas hat mich um Haaresbreite geschlagen. Das schreit nach Revanche.«
»Aber dein Cutback war der Hammer«, kam es von Piet, der sich nun mit einer Schale Currywurst und Pommes neben Sinja setzte. »Ich dachte echt, du holst dir den ersten Platz.«
»Nächstes Mal bestimmt«, meinte Leif grinsend und gesellte sich ebenfalls zu ihnen. »Hauptsache, wir haben Husum gezeigt, dass die Crew aus St. Peter locker mithalten kann.«
Imke lächelte und drückte Simos Hand. »Ein zweiter Platz, was heißt das schon? Für mich hast du den ersten gemacht«, sagte sie, woraufhin er leise lachte. Es war dieser tiefe, warme Klang seines Lachens, der sie jedes Mal mitten ins Herz traf.
Sinja schüttelte belustigt den Kopf. »Ihr zwei seid echt süß – fast schon eklig süß. Ich glaub, ich brauche dringend eine neue Cola.« Sie stand auf, um sich eine weitere Dose aus der Kühltasche zu nehmen. Piet und Leif lachten.
»Lass sie doch, Sinja«, meinte Piet. »Liebe macht eben glücklich.«
»Ja, und lieber glücklich als blind«, warf Imke ein, woraufhin Simo sie auf die Stirn küsste.
Das Rauschen der Brandung nahm zu, sodass die Wellen bald kraftvoll an den Strand schlugen. Imke genoss den Augenblick und entdeckte die ersten Sterne am Firmament.
»Ich liebe das Surfen ja wirklich«, sagte Simo, den Blick auf das dunkle Meer gerichtet. »Aber mit euch allen hier zu sein, das ist viel besser als jeder erste Platz eines Surf-Cups, ehrlich.«
Glücklich lehnte Imke den Kopf an seine Halsbeuge und lauschte seinem Herzschlag, der den gleichen Takt wie die Wellen zu haben schien.
Ihr Blick wanderte dann zu Sinja, deren Augen in der anbrechenden Dunkelheit leuchteten, dann weiter zu Piet und Leif, die sich über irgendeinen Witz kringelten, den sie nicht mitbekommen hatte. Die Musik wechselte zu einem langsamen Song.
»Ich bin so glücklich«, flüsterte Imke in Simos Ohr und schmiegte sich fester an ihn. Sie hörte Sinja kichern und mit den beiden Jungs herumalbern; der Moment war so schön.
In diesem Augenblick war es für sie kaum vorstellbar, dass dies alles jemals enden könnte. Ihre große Liebe zu Simo, die Freundschaft mit Sinja und den Jungs, dieser unglaubliche Sommer, der sich anfühlte wie ein ewiger Traum. Die Wellen sangen ihre vertraute Melodie. Es schien alles perfekt zu sein, so, wie es war – unzerstörbar, für immer.
»Ist das richtig so?«, fragte der kleine Junge und hielt ihr ein buntes Papier hin, das er versucht hatte, in der Form eines Sterns auszuschneiden.
»Das ist dir schon ganz gut gelungen, David.« Imke strich sich eine blonde Haarsträhne hinter das Ohr und lächelte ihn aufmunternd an. Dann trat sie zwei Schritte weiter und beugte sich zu weiteren Kindern, die an dem großen Tisch saßen, und half ihnen beim Ausschneiden. In der Mitte hatte sie eine große Kiste voller Bastelmaterialien platziert. Glitzer, Moosgummi, kleine Holzsterne und buntes Papier, ein paar Scheren, Klebestifte und bunte Filzmaler standen den Kindern zur Verfügung.
Seit mehreren Tagen arbeiteten die Grundschulkinder nun schon nach der Hausaufgabenbetreuung an Weihnachtsdekorationen für sich zum Mit-nach-Hause-Nehmen und für das Jugendzentrum, das vor dem nächsten Wochenende festlich geschmückt werden sollte.
»Imke, kannst du mir auch helfen? Meine Sterne kleben irgendwie nicht richtig zusammen!«, rief ein Mädchen mit Sommersprossen und wedelte mit zwei Glitzerkarton-Sternen.
»Lass mich mal sehen, Maja. Das haben wir gleich.« Imke kniete sich neben sie, nahm einen der Sterne in die Hand und betrachtete ihn eingehend. »Vielleicht brauchst du nur ein bisschen mehr Kleber.« Sie griff nach der Flasche Bastelkleber und tupfte vorsichtig etwas auf die Ränder. »So, und jetzt drückst du sie ganz fest zusammen und wartest ein bisschen. Manchmal dauert es einen Moment, bis alles richtig hält.«
Maja nickte eifrig und drückte die Sterne mit aller Kraft zusammen. Lächelnd nickte Imke und schaute zufrieden zu den anderen Kindern. Es herrschte ein fröhliches Chaos.
Nachdem ihre Kirche in Warendorf geschlossen worden war, in der sie mehr als fünf Jahre als Pastorin gearbeitet hatte, hatte Imke in einem Jugendzentrum mitten in Münster eine neue Aufgabe gefunden. Sie half bei der Organisation von Freizeitangeboten für Kinder und Jugendliche, bot Seelsorgegespräche an und versuchte, für die jungen Menschen eine verlässliche Ansprechpartnerin in jeder Lebenslage zu sein. Nicht alle von ihnen bekamen zu Hause die nötige Aufmerksamkeit. Oft wandten sich auch Mütter oder Väter mit ihren Sorgen an sie, da sich herumgesprochen hatte, dass Imke eigentlich Pastorin war.
»Jetzt ist es fertig!«, rief Maja fröhlich und hielt den funkelnden Stern stolz hoch. »So kann er an unseren Weihnachtsbaum!«
»Prima! Das wird bestimmt wunderschön aussehen«, sagte Imke und zwinkerte ihr zu.
Sie rieb sich etwas Glitzer von den Fingern und richtete sich wieder auf. An der gegenüberliegenden Wand hing bereits eine Lichterkette, die dem Raum einen gemütlichen und fast heimeligen Touch verlieh. Die Kinder hatten beschlossen, in diesem Jahr ihre eigene Weihnachtswelt zu erschaffen, und Imke freute sich, sie dabei unterstützen zu können. Sie konnte die Sehnsucht der Kinder nach Weihnachten förmlich spüren und hoffte, dass sie ihren Teil dazu beitragen konnte, damit es für sie ein zauberhaftes Fest wurde. Die passende Deko war jedenfalls ein wichtiger Schritt in diese Richtung.
Schritte erklangen vom Flur, und kurz darauf betrat ihre Kollegin Bettina den Raum. Die Sozialpädagogin war Anfang fünfzig, hatte dunkle Locken, durch die sich ein paar silberne Haare zogen, und strahlte eine mütterliche Art aus, die die Kinder oft in ihren Familien vermissten. Sie trug ein Tablett voller mit dampfendem Kakao gefüllten Henkeltassen und stellte es auf den Nebentisch, auf dem bereits ein Teller mit Weihnachtskeksen bereitstand. »Hier kommt noch eine kleine Stärkung für unsere fleißigen Bastler«, rief sie mit einem herzlichen Lächeln.
Sofort stürzten sich die Kinder auf die Tassen, während Imke zu Bettina trat und mit ihr die bereits fertiggestellten Dekosterne betrachtete, die auf dem kleineren Tisch an der Seite trockneten. »Es ist schön zu sehen, wie viel Mühe sie sich geben. Für viele von ihnen ist Weihnachten zu Hause bestimmt nicht besonders fröhlich«, meinte Imke ein wenig bekümmert.
Bettina nickte nachdenklich. »Da magst du recht haben. Für manche ist das hier das Einzige, was sie an Gemeinschaft und festlicher Stimmung in dieser Zeit erleben. Sie brauchen dringend Menschen, die ihnen Aufmerksamkeit schenken und ihnen wenigstens teilweise das Gefühl vermitteln, dass die Welt da draußen doch ganz schön sein kann. Ich bin wirklich froh, dass du in unserem Team bist, Imke.«
»Danke, Bettina. Ich bin auch froh, hier gelandet zu sein.« Imke lächelte, doch im Stillen hegte sie Zweifel. Sosehr sie ihre Arbeit in dem Jugendzentrum auch schätzte, der sie seit fast einem Jahr nachging, richtig angekommen fühlte sie sich noch nicht, wenn sie ehrlich war. Ob es an der Umstellung nach all den Jahren in einer Kirchengemeinde lag? Manchmal glaubte sie, dass ihr etwas fehlte, was sie nicht konkret benennen konnte. Allerdings war sie auch nicht sicher, ob sie in einer anderen Kirchengemeinde besser aufgehoben wäre.
»Ich hoffe, dass du uns noch lange erhalten bleibst und dein Vertrag im nächsten Jahr verlängert wird«, fügte Bettina hinzu und nahm sich einen Weihnachtskeks vom Teller. »Du hast dich erstaunlich schnell in die Kinder- und Jugendarbeit eingefunden. Ich meine, es ist ja doch etwas ganz anderes als vorher.«
Imke lehnte sich an die Tischkante und zog die Schultern hoch. »Das schon. Andererseits ist es doch auch eine schöne Arbeit. Ich kann vieles von dem, was mir wichtig ist, hier einbringen. In der Kirche habe ich ja auch mit Kindern und Jugendlichen gearbeitet. Aber natürlich hast du recht … Es ist nicht dasselbe wie in der Gemeinde. Manchmal frage ich mich schon, ob ich lieber in der Kirche geblieben wäre, wenn es eine andere Möglichkeit gegeben hätte«, gab Imke zu. »Und dann wiederum kann ich es mir kaum vorstellen.«
Bettina berührte mitfühlend ihren Oberarm. »Das ist wohl normal. Und jede Veränderung braucht ihre Zeit. Wer weiß, vielleicht führt dich dein Weg ja irgendwann doch noch zurück in eine Gemeinde.«
Imke lachte auf. »Zurück? Das kann ich mir gerade nicht vorstellen, wo doch an jeder Ecke die Gemeinden zusammengestrichen werden. So traurig es auch ist. Der Glaube müsste erst wieder in Mode kommen …«
Bevor Bettina etwas darauf erwidern konnte, forderten Maja und Clara ihre Aufmerksamkeit. Die Mädchen hielten eine Handvoll selbst gebastelter Sterne in Händen, die in verschiedenen Farben glitzerten und funkelten.
»Guck mal, Imke!«, rief Maja aufgeregt. »Die haben wir gerade fertig gemacht. Ganz allein! Die glitzern so toll!«
Imke warf Bettina einen entschuldigenden Blick zu, dann betrachtete sie lächelnd die Sterne, während ihre Arbeitskollegin sich zu den Kindern an den Tisch setzte und sie beim Basteln unterstützte. »Wie wunderschön! Ihr habt euch wirklich viel Mühe mit den Sternen gegeben«, lobte sie die Mädchen.
Maja strahlte übers ganze Gesicht, schaute auf einen Stern, dann wurde ihr Blick plötzlich nachdenklich. »Du bist doch Pastorin, oder?«
»Ja.«
Maja hob den Blick. »Glaubst du eigentlich, dass Gott uns sehen kann, wie wir für Weihnachten basteln?«, fragte sie und schaute Imke mit großen Augen an.
Clara verzog daraufhin den Mund. »Mein großer Bruder sagt immer zu mir, dass es gar keinen Gott gibt. Dass das nur Märchengeschichten für kleine Kinder sind, damit sie an das Christkind glauben.«
»So? Sagt dein Bruder das wirklich?« Imke zog die Augenbrauen hoch.
Clara nickte bekümmert. »Für ihn bin ich ein Baby, weil ich ganz fest an den lieben Gott glaube.«
Imke musste sich das Lachen verkneifen. »Na ja, ein Baby bist du bestimmt nicht mehr. Es ist aber eine schwierige Frage«, sagte sie verständnisvoll. »Wisst ihr, viele Menschen glauben an den lieben Gott, weil sie spüren, dass er uns zum Beispiel jeden Tag begleitet. Andere Leute sind sich unsicher oder glauben gar nicht an Gott. Und das ist okay. Wichtig ist, dass ihr euch eure eigenen Gedanken macht und tief in eurem Herzen fühlt, was für euch stimmt.«
Maja nickte. Dann sagte sie: »Ich finde, den lieben Gott muss es geben. Sonst würde sich Weihnachten doch nicht so toll anfühlen.«
Imke lächelte ob der kindlichen Logik. »Ja, das ist ein sehr schöner Gedanke.« Sie strich dem Kind sanft über den Kopf.
»Ich finde es ungerecht, was mein Bruder sagt«, beharrte Clara. »Es soll keinen Gott geben, aber trotzdem will er immer viele Geschenke zu Weihnachten. Das ist doch voll doof!«
Nun musste Imke herzlich lachen. »Ach, Clara, es ist vielleicht gar nicht so wichtig, ob dein Bruder an Gott glaubt oder nicht. Das Wichtigste ist doch, er mag Weihnachten und ihr könnt schön zusammen feiern.«
Die Mädchen sahen sich kurz an, dann strahlte Maja wieder. »Wir machen dann einfach noch viel mehr Sterne, Clara! Damit es bei euch total nach Weihnachten aussieht. Dann fühlt dein Bruder ja vielleicht auch, dass es den lieben Gott gibt.«
»Au ja!« Clara klatschte begeistert in die Hände.
»Das ist eine wunderbare Idee.« Imke beobachtete, wie die beiden fröhlich zurück zum Basteltisch hüpften.
Eine Stunde später saß Imke mit ihrer Kollegin Lena, einer Sozialarbeiterin im Anerkennungsjahr, im Büro des Jugendzentrums. Als ihr Handy klingelte, nahm sie es aus ihrer Umhängetasche und runzelte die Stirn nach einem Blick auf das Display. Ihre Mutter. Ein Anruf von ihr um diese Uhrzeit bedeutete meistens nichts Gutes. Wenn sie lediglich plaudern wollte, meldete sie sich für gewöhnlich abends.
»Entschuldige mich bitte kurz, das ist meine Mutter«, sagte sie zu Lena und ging in den Nebenraum, in dem eine Liege stand und Verbandszeug für Notfälle aufbewahrt wurde, um das Gespräch anzunehmen. »Hallo, Mama?«
»Imke! Ach, gut, dass ich dich gleich erreiche!« Ihre Mutter klang atemlos.
»Was ist denn? Du klingst ziemlich aufgeregt!«, fragte sie besorgt.
»Ja … Es ist etwas passiert! Dein Vater ist heute Nachmittag ausgerutscht. Auf dem vereisten Gehweg auf der Dorfstraße in der Nähe der Kirche … Er hat sich das Bein gebrochen.«
Imke riss erschrocken die Augen auf. »Was? Wie geht es ihm? Liegt er im Krankenhaus?«
»Ja, in Husum, aber es ist nichts Lebensgefährliches. Ich bin gerade bei ihm«, beruhigte ihre Mutter sie schnell. »Glücklicherweise kamen gerade die Hansens aus dem kleinen Schuhhaus und haben gesehen, wie er gestürzt ist. Sie haben sofort Hilfe geholt. Papa konnte sich von allein nicht mehr aufraffen.«
»Ein Glück waren sie zur Stelle! Wie schlimm ist die Verletzung denn?«
»Leider wirklich schlimm. Der Bruch ist kompliziert, deshalb wird er gerade operiert. Die Ärzte meinen, wenn er sich schont, heilt alles wieder gut. Trotzdem muss er sich natürlich die nächsten Wochen aus allem ausklinken. Statt in die Kirche zu gehen, wird er zur Reha müssen. Er kann nicht predigen, nichts organisieren … gar nichts. Und das ausgerechnet zur Weihnachtszeit. Sonntag ist doch schon der erste Advent. Es ist wirklich eine Katastrophe, Imke. Dein Vater ist richtig niedergeschlagen deswegen.«
»Was für ein unglaubliches Pech!« Imke atmete trotzdem erleichtert aus, es hätte schließlich weitaus schlimmer kommen können. Doch sie wusste, was der Unfall bedeutete. Sie kannte ihren Vater. Er war ein Macher und hasste nichts mehr, als untätig herumzusitzen. Wochenlang nutzlos ausharren, das würde ihm zu schaffen machen. Und dann noch in der Vorweihnachtszeit, wo es in der Gemeinde mehr zu tun gab als sonst im ganzen Jahr. »Wer übernimmt denn für Papa die Weihnachtsplanung und die Gottesdienste?«, erkundigte sie sich.
»Das ist es ja!« Ihre Mutter seufzte schwer. »Bis jetzt übernimmt niemand!«
»Wie … niemand?«, fragte Imke nach.
»Wir werden natürlich versuchen, Ersatz zu finden. Aber du weißt ja selbst, wie die Lage ist … So kurzfristig und dann noch mitten in der Adventszeit bekommen wir wohl keinen Pastor, der bei uns in St. Peter einspringen kann«, fuhr ihre Mutter fort. »Die Weihnachtszeit steht vor der Tür, die Gottesdienste, der Weihnachtsbasar, das Krippenspiel … All das droht nun auszufallen, wenn sich niemand findet, der sich kümmert. Es ist ein echtes Drama!«
Langsam dämmerte es Imke, worauf ihr Gespräch hinauslief. Sie wechselte das Handy ans andere Ohr und setzte sich auf die Liege. »Hör mal, Mama … Du willst, dass ich komme und die Sache für Papa übernehme, richtig?«, stellte sie mehr fest, als dass sie fragte.
»Hm … na ja … Es wäre auch wirklich nur vorübergehend … bis Papa wieder einsatzfähig ist«, sagte ihre Mutter schnell. »Wir brauchen jemanden, der sich in der Gemeinde auskennt und gleich loslegen kann, ohne lange Einarbeitung … So viel Zeit haben wir nicht bis zum ersten Advent. Imke, und du kennst doch die Menschen hier, du weißt, wie alles abläuft. Es wäre auch wirklich nur für ein paar Wochen … Außerdem würde dein Vater wahrscheinlich schneller wieder auf die Beine kommen, wenn er wüsste, dass du dich als seine Vertretung kümmerst.«
Imke schwieg. Ihr Blick fiel auf den Kalender an der Wand. Es waren nur noch wenige Wochen bis Weihnachten und sechs Tage bis zum ersten Advent. Sie hatte sich nicht aus freien Stücken entschieden, ihren Beruf hinter sich zu lassen und einen neuen Weg einzuschlagen. Dies war eher der Tatsache geschuldet gewesen, dass es keine freie Pastorenstelle gegeben hatte. Zeitweise unterrichtete sie sogar Religion in einer Grundschule. Im Jugendzentrum fühlte sie sich zwar gebraucht, aber wenn sie ganz ehrlich war, hing ihr Herz an der Gemeindearbeit. Mit Lena hatte sie eine Weihnachtsaktion für benachteiligte Kinder geplant. Konnte sie sie damit einfach allein lassen? Andererseits war der Unfall ihres Vaters tatsächlich ein familiärer Notfall …
»Ich verstehe natürlich, wenn du zögerst«, sprach ihre Mutter in das Schweigen hinein. »Aber vielleicht besteht ja doch die Möglichkeit, dass du kommen kannst … Es würde uns in St. Peter so sehr helfen.«
Imke seufzte und massierte sich mit der freien Hand die Schläfen. »Das kommt alles ziemlich plötzlich, Mama. Ich habe hier doch auch Verantwortung – zumindest bis zum Ende des Jahres. Ich hoffe, du verstehst, dass ich das nicht einfach von jetzt auf gleich entscheiden kann. Aber … ich verspreche dir, mit meinen Kollegen und auch mit meinem Vorgesetzten zu sprechen. Okay?«
»Natürlich! Mehr verlange ich gar nicht von dir«, sagte ihre Mutter sanft. »Danke, mein Schatz.«
Nachdem sie aufgelegt hatte, blieb Imke noch einen Moment auf der Liege sitzen. Dann schaute sie zur Tür.
Im Türrahmen lehnte Lena. »Imke? Ich gehe mal zum Proberaum, ja?«
»Okay«, antwortete sie gedankenverloren. Ihr Herz zog sich sehnsuchtsvoll zusammen, wenn sie an St. Peter-Ording und die Kirche ihres Herzens, ihre Kindheit und Jugend an der Küste dachte. Alles, was sie einst hinter sich gelassen hatte, schien sie in diesem Moment zu rufen.
Lena runzelte die Stirn. »Ist alles in Ordnung bei dir?«
Kurz lachte sie auf und schüttelte den Kopf. »Ich glaube, ich habe gerade das verrückteste Angebot meines Lebens bekommen.«
Nachdem die Kinder nach Hause gegangen waren, saß Imke in dem kleinen Besprechungsraum des Jugendzentrums, die Hände um eine Tasse voll dampfendem Tee gelegt. Ihr gegenüber rührte ihre Kollegin Bettina gedankenverloren in ihrem Cappuccino. Ihr Gespräch hatte sich um die übervollen To-do-Listen der Weihnachtsplanung gedreht, sodass Imke noch nicht von dem Anruf aus St. Peter-Ording erzählt hatte. Imke gelang es jedoch nicht, sich ganz auf die Programmpunkte des Jugendzentrums zu konzentrieren. Immer wieder schweiften ihre Gedanken ab.
»Du bist gerade mit dem Kopf ganz woanders, was?«, stellte Bettina schließlich fest und lächelte verständnisvoll. »Denkst du an Claras ungläubigen Bruder oder an deinen noch nicht verlängerten Vertrag?«
Imke schüttelte den Kopf und ergriff die Gelegenheit. »Weder noch. Vorhin hat meine Mutter angerufen. Mein Vater hat sich das Bein gebrochen. Die Gemeinde steht jetzt ohne Pastor da – und das kurz vor Weihnachten. Sie hat mich um Hilfe gebeten.«
Bettina zog die Augenbrauen hoch. »Überlegst du etwa, ob du hinfahren sollst?«
»Schon die ganze Zeit«, bestätigte Imke ihre Vermutung. »Aber wie soll ich es machen, ohne mich zweizuteilen? Ich habe doch auch Verantwortung hier im Jugendzentrum.« Sie strich mit einem Finger über den Rand ihrer Tasse. »Mit meinem Vater konnte ich noch gar nicht sprechen. Er wurde gerade operiert, als meine Mutter anrief. Vielleicht liegt er gerade im Aufwachraum.«
Bettina lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und betrachtete sie nachdenklich. »Lass mich dir mal eine Frage stellen: Würdest du es bereuen, wenn du nicht hilfst?«
Imke presste die Lippen zusammen. Natürlich würde sie es bereuen. Sie erinnerte sich an ihre Kindheit in St. Peter-Ording, an den Duft von Tannennadeln und warmem Wachs in der Kirche, an das Flackern der Kerzen am Adventskranz und das wohlige Gefühl, das sie als Kind empfunden hatte, wenn ihr Vater aus der Weihnachtsgeschichte vorlas. Ihr war bewusst, dass nicht nur eine beliebige Aufgabe auf sie wartete. Vielmehr war es ihre Bestimmung und gleichzeitig auch eine familiäre Pflicht. Doch es hatte damals auch Gründe gegeben, aus denen sie die nordfriesische Küste verlassen hatte. Nun schien es fast, als könnte sie die Vergangenheit nicht länger so abschütteln, wie sie geglaubt hatte. »Vermutlich schon.«
»Na dann.« Bettina zuckte mit den Schultern. »Ich an deiner Stelle wüsste, was ich tun würde.«
»Schon.« Imke nickte. »Aber ihr braucht mich doch auch hier bei den Kindern.«
»Ach!« Bettina winkte ab. »Mach dir mal um uns keine Sorgen. Wir werden klarkommen. Mit Lenas Hilfe bekomme ich unsere Adventsfeierlichkeiten schon gewuppt. Du weißt ja, wie tatkräftig sie uns unterstützt.«
»Das stimmt. Trotzdem möchte ich mich nicht einfach so aus der Verantwortung stehlen.«
»Eine Verantwortung hast du auch deiner Familie gegenüber«, stellte Bettina fest. »Außerdem hast du bisher keinen Tag gefehlt und nicht mal Urlaub in Anspruch genommen. Vielleicht kann man es darüber laufen lassen? Herr Pothmann wird bestimmt Verständnis für deine Lage haben.«
»Wenn man dich so hört, könnte man fast glauben, du willst mich loswerden.« Imke grinste ihre Kollegin an.
Bettina lächelte, doch ihr Blick war ernst, als sie antwortete: »Ganz und gar nicht! Ich möchte eher verhindern, dass du später etwas bereust.«
Imke schwieg. Dann griff sie nach ihrem Handy und blickte nachdenklich auf das Display. »Ich muss dann wohl bald mal mit unserem Vorgesetzten telefonieren.«
»Das würde ich an deiner Stelle auch tun.« Bettina lächelte und nippte an ihrem Getränk. »Solltest du fahren, dann schreib mir eine Postkarte von der Nordsee.«
Am Abend saß Imke in ihrer Wohnung auf dem Sofa und starrte auf ihr Handy. Vor wenigen Stunden hatte sie ihrem Chef auf die Mailbox gesprochen und um Rückruf gebeten, der nach Feierabend erfolgt war. Herr Pothmann hatte verständnisvoll reagiert und ihr eine offizielle Beurlaubung angeboten. Immerhin bestand eine familiäre Notsituation. Außerdem hatte er angemerkt, dass sie sich in den letzten Monaten bewährt hätte und er sich für die Verlängerung ihres Arbeitsvertrages einsetzen wollte. Zum Schluss hatte die Entscheidung ganz bei ihr gelegen.
Sie atmete tief durch, dann wählte sie die Nummer ihrer Mutter.
»Imke?«, erklang die vertraute Stimme sofort am anderen Ende.
»Moin, Mama …« Imke drückte das Handy fester ans Ohr und spürte plötzlich eine unfassbare Erleichterung in sich. »Sag Papa, dass ich nach Hause komme.«
In der Bahnhofshalle zog es wie Hechtsuppe. Imke fröstelte. Sie schlang sich den Schal noch einmal um den Hals und zog sich die Mütze ganz über die Ohren. Der Münsteraner Hauptbahnhof war, wie eigentlich an jedem Freitagmittag, voller Menschen. Geschäftsreisende mit Laptop-Taschen eilten an ihr vorbei, Jugendliche mit Kopfhörern und Rücksäcken schlängelten sich durch die Menge, eine Familie mit Kindern suchte hektisch nach dem richtigen Gleis.
Imke blieb für einen Moment stehen, um die Ankündigungen auf der Anzeigetafel zu überfliegen. Der Zug nach Husum sollte bald abfahren. Gleis 12, Abfahrt in weniger als zehn Minuten – sogar pünktlich! Hastig zog sie sich noch ein paar Wollhandschuhe über, bevor sie ihren Koffer hinter sich herzog und den Bahnsteig ansteuerte.
Leichter Nieselregen hatte eingesetzt, als sie sich zu den Wartenden ans Gleis stellte. In die feuchte, klamme Luft mischten sich das Aroma von Kaffee aus einem nahen Kiosk und der metallische Geruch der Schienen. Die Lautsprecherdurchsage verkündete die bevorstehende Ankunft des Zuges. Imke trat einen Schritt zurück, hielt den Griff ihres Koffers fest in der Hand und sah in die Ferne. Es war schon länger her, dass sie diese Strecke das letzte Mal gefahren war. Ihre Eltern waren meistens mit dem Auto zu ihr nach Warendorf gekommen, wenn sie sie besucht hatten. Im Pfarrhaus hatten sie im Gästezimmer mit Doppelbett übernachtet.
Als Imke sich jetzt die Arme rieb, beschlich sie das Gefühl, dass diese Reise für sie besonders werden würde. Sogleich schüttelte sie den Kopf, das war wahrscheinlich nur die Aufregung.
Als der Zug hielt und sich die Türen öffneten, stieg sie ein und fand bald ihren reservierten Fensterplatz.
Erleichtert ließ sie sich auf den Sitz fallen, nachdem sie ihren Koffer auf der Gepäckablage verstaut hatte.
Sie war müder als sonst. Kein Wunder, denn die letzten Tage waren hektisch gewesen. Das nochmalige Gespräch mit ihrem Vorgesetzten, die schriftliche Übergabe an Lena im Jugendzentrum und dann das hastige Packen. Außerdem waren ihre Gedanken in der vergangenen Nacht Achterbahn gefahren, sodass sie kaum geschlafen hatte.
Und nun saß sie hier mit Reisefieber im Bauch, auf dem Weg in ihre alte Heimat, mit der sie geglaubt hatte, längst abgeschlossen zu haben.
Als sich der Zug ruckelnd in Bewegung setzte, wich langsam das städtische Münster Feldern und Wäldern, die Imke gedankenverloren betrachtete. Unwillkürlich dachte sie an die Vergangenheit. Sie erinnerte sich an die langen Winter in St. Peter-Ording, an den Geruch von salziger Luft, den Weihnachtsmarkt in Husum und die beleuchtete Kirche in St. Peter-Dorf, in der sie so oft gesessen hatte. Ihr kam der Lichtschein der Laternen auf nassem Kopfsteinpflaster in den Sinn, wenn sie als Kind mit ihren Eltern vom abendlichen Adventsgottesdienst nach Hause gelaufen war. Ihr Vater war stets ein Fels in der Brandung für sie und eigentlich auch den ganzen Ort gewesen, er war es noch. Immer verlässlich, pflichtbewusst, jemand, der für seine Gemeinde lebte und zu jeder Tages- und Nachtzeit erreichbar war.
Sie legte die Stirn an die kühle Fensterscheibe. Seit die Christuskirche in Warendorf geschlossen war, war sie nicht mehr in die Rolle der Pastorin geschlüpft, die sich ganz auf eine Gemeinde konzentrierte. Aber als ihre Mutter sie angerufen und sie die Sorge in ihrer Stimme gehört hatte, hatte es eigentlich kein Zögern gegeben. Im Grunde genommen war ihr gleich klar gewesen, dass sie nach St. Peter fahren musste. Auch wenn sie nicht wusste, was die Rückkehr an die Nordsee am Ende mit ihr machen würde.
Draußen zog die Landschaft vorbei. Herbstlich-kahle Bäume, hin und wieder eine Weide, auf der Kühe im Nebel standen. Je weiter sie nach Norden kam, desto flacher wurde das Land, desto mehr erinnerte es sie an ihr nordfriesisches Zuhause.
Wieder dachte sie an die Adventszeit in St. Peter-Ording. Jedes Jahr organisierte die Kirche den kleinen Weihnachtsmarkt auf dem Marktplatz. Sie erinnerte sich an die Krippenspiele, die sie als Kind mit leuchtenden Augen verfolgt hatte und die sie später dann als rechte Hand ihres Vaters mitorganisiert hatte. Sie liebte auch die Weihnachtsbasare, die in der Adventszeit durch die Hilfe von Freiwilligen zu einem wahren Erlebnis wurden. Ihre Mutter verkaufte dort mit den anderen Frauen der Gemeinde jedes Jahr Selbstgebackenes. Früher hatten sie und ihr Vater an den Bastelständen geholfen. Doch nun war es durch den Ausfall ihres Vaters fraglich, ob es in diesem Jahr überhaupt einen Weihnachtsbasar geben würde. Dies lag nun voll und ganz in ihren Händen. Sie schluckte. Ihr wurde immer klarer, welche Erwartungen auf ihr ruhen würden.
Als die Zugbegleiterin ihre Fahrkarte kontrollierte, wurde Imke wieder in die Gegenwart zurückkatapultiert. Es waren noch zwei Stunden bis Husum. Dort musste sie umsteigen und würde dann bis zur letzten Station nach St. Peter-Ording durchfahren. Ihre Mutter hatte versprochen, sie vom Bahnhof abzuholen. Normalerweise wäre auch ihr Vater dort. Dieses Mal würde er fehlen.
Als der Zug in den kleinen Bahnhof von St. Peter-Ording einfuhr, der nur über ein Gleis verfügte, atmete Imke erleichtert auf. Endlich war sie am Ziel angekommen. Kurz vor Hamburg war es zu einer technischen Störung gekommen, sodass die Fahrt nicht weitergehen konnte und sie nun mit einer Verspätung von über einer Stunde ihren Heimatort erreichte. Der Bahnsteig war fast leer, und nur wenige Reisende wollten mit ihr aussteigen. In der Urlaubszeit im Sommer war das ganz anders. Dann waren der Zug und der Bahnsteig voll mit Touristen und deren Gepäckstücken.
Durch die leicht beschlagenen Fenster erkannte sie ihre Mutter vor dem Bahnhofgebäude, die sich in einen dicken Wintermantel gekuschelt hatte und erwartungsvoll dem Zug entgegenblickte.
Als die automatischen Türen sich zischend öffneten, nahm Imke ihren Koffer und stieg aus. Ein frostiger Wind blies ihr ins Gesicht, der salzig roch und gleich ein heimisches Gefühl in ihr weckte, das sich besser anfühlte, als sie gedacht hatte.
Ihre Mutter kam ihr sogleich winkend entgegen.
»Imke, mein Schatz!« Ihre Stimme klang warm und zugleich ein bisschen wie erlöst, dann zog sie sie in eine feste Umarmung und strich mit einer Hand über ihren Rücken. »Lass dich knuddeln! Es ist so schön, dass du endlich in St. Peter-Ording bist.«
»Ich freue mich auch, Mama!«
Ihre Mutter löste sich von ihr. »Wie war die Fahrt?«
»Na ja … länger als geplant«, erwiderte Imke und verdrehte die Augen. »Aber es wäre auch ein Wunder gewesen, wenn es auf der Strecke zu keiner Panne gekommen wäre.«
»Na, hoffentlich hattest du ein gutes Buch dabei und konntest dir die Zeit mit Lesen vertreiben.«
»Hatte ich. Ein Glück!«, sagte Imke, auch wenn sie in Wahrheit vielmehr nachgedacht hatte, statt zu lesen. Sie hatte vor allem darüber gegrübelt, wie es ihr gelingen könnte, ihren Vater standesgemäß zu vertreten. Ihr war bewusst, welche hohen Erwartungen die Gemeinde an die Tochter des Pastors stellen würde. Sie wollte niemanden enttäuschen – besonders nicht ihre Familie. Vielleicht würde diese Weihnachtszeit die bisher größte Herausforderung ihres Lebens werden. Imke war bereit, ihr Bestes zu geben, und hoffte, dass es ausreichen würde.
Sie zog den Koffer bis zum Wagen ihrer Mutter auf dem kleinen Parkplatz neben dem Bahnhofsgebäude. Nur zwei weitere Autos standen dort. Eines davon war ein Taxi.
»Dann geht es nun auf nach Hause!«, sagte ihre Mutter beschwingt und startete den Motor, nachdem sie das Gepäck eingeladen hatten.
Kurz darauf waren sie auf der Landstraße Richtung Ortsteil Dorf unterwegs. Es dämmerte bereits, und in einigen Fenstern der Häuser im Ortskern leuchteten bereits die ersten Weihnachtslichter. In einem Vorgarten glitzerten beleuchtete Sterne und ein Rentier.
»Ein paar St. Peteraner scheinen ja schon in Weihnachtsstimmung zu sein«, bemerkte Imke.
»Na, hör mal! Schon ist gut … Übermorgen ist doch bereits der erste Advent. Aber ich bin auch noch gar nicht zum Schmücken gekommen, Papas Unfall ist mir dazwischengekommen. Das muss ich unbedingt aufholen, morgen vermutlich.«
Imke lächelte sie an. »Dann passt es doch wunderbar, dass ich jetzt da bin und dir dabei helfen kann.«
»Das ist lieb von dir.« Ihre Mutter setzte den Blinker. »Papa lässt dich übrigens grüßen. Ihm fällt natürlich die Decke auf den Kopf im Krankenhaus, aber das kannst du dir sicher denken.«
»Oh, ja! Und wie!« Imke sah bereits den mürrischen Gesichtsausdruck ihres Vaters vor sich, wie er die Arme vor der Brust verschränkte und in Gedanken durchging, was alles zu erledigen war.
»Die Ärzte haben ihm eingebläut, dass er sich strikt an die medizinischen Vorgaben halten muss, sonst wird das Bein nicht richtig heilen. Der Arme.« Sie seufzte. »Mit den Schrauben und dem Verband wird er eine Weile seinen Spaß haben.«
»Wie lange muss er denn voraussichtlich in Husum bleiben?«, erkundigte Imke sich.
»Mindestens eine Woche. Und danach soll er sich weiterhin schonen. Reha-Termine stehen dann natürlich auch an«, erzählte ihre Mutter.
Imke nickte. »Das klingt für mich nach einer längeren Genesungszeit.«
»Denke ich auch.« Ihre Mutter warf ihr einen kurzen Blick zu, bevor sie rechts in eine Straße einbog. »Das bedeutet natürlich auch, dass Weihnachten komplett ohne seine Hilfe organisiert werden muss … von dir, mein Schatz. Der Kirchenvorstand hat schon überlegt, einiges ausfallen zu lassen. Uns allen ist klar, dass wir nicht Papas ganze Planung auf deinen Schultern ablegen können. Du kannst immer sagen, wenn es dir zu viel wird.«
»Ach, lass uns einfach mal schauen, wie es läuft, bevor wir etwas abblasen. Vielleicht klappt ja alles.« Imke sah aus dem Fenster und beobachtete, wie die Dunkelheit das Land um sie herum scheinbar verschluckte. »Steht schon fest, wo Papa seine Reha machen wird?«, fragte sie beiläufig.
»Auf jeden Fall in St. Peter«, meinte ihre Mutter. »Schließlich sitzen wir hier ja an der Quelle mit den ganzen Reha-Einrichtungen.«