Wintersonnenglanz - Gabriella Engelmann - E-Book + Hörbuch

Wintersonnenglanz Hörbuch

Gabriella Engelmann

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Beschreibung

Mit "Wintersonnenglanz" bezaubert Gabriella Engelmann erneut mit einem warmherzigen Wohlfühl-Roman vor der atmosphärischen Kulisse der Ferien-Insel Sylt. Ergänzt um einen stimmungsvollen Adventskalender mit 24 Rezepten, Wohlfühl- und Deko-Tipps zur Herbst-, Winter- und Weihnachtszeit beschert die SPIEGEL-Bestsellerautorin ihren Leserinnen und Lesern ein Wiedersehen mit ihren sympathischen Heldinnen Larissa, Bea und Nele aus ihren Bestseller-Romanen "Inselsommer" und "Inselzauber". Stimmungsvolle Dekorationen aus Hagebutten oder Tannenzapfen, das warme Licht von Kerzen, der Duft von Tee und Kuchen – Larissa liebt die Herbst- und Wintermonate, obwohl es für sie als Buchhändlerin die arbeitsreichste Zeit ist. Doch in diesem Jahr kann sich die besondere Magie einfach nicht entfalten, denn die Ereignisse überschlagen sich: Larissas Keitumer Buchcafé gerät finanziell in eine Schieflage, ihre Großtante Bea verhält sich auf einmal äußerst merkwürdig, und dann kommt es im "Büchernest" auch noch zu einem schweren Wasserschaden. Jetzt kann nur noch ein Weihnachts-Wunder helfen. "Gabriella Engelmann gelingt es mit der liebevollen Beschreibung von Insel, Natur, Häusern und Bewohnern, dass man am Schluss vollends davon überzeugt ist, dass Sylt die einzigartige, die schönste Insel auf der Welt ist; da zu wohnen der Inbegriff aller Wünsche." Pulheimnews.de

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Zeit:5 Std. 16 min

Sprecher:Madeleine Stolze

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Gabriella Engelmann

Wintersonnenglanz

Roman

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Stimmungsvolle Dekorationen aus Hagebutten oder Tannenzapfen, das warme Licht von Kerzen, der Duft von Tee und Kuchen – Larissa liebt die Herbst- und Wintermonate, obwohl es für sie als Buchhändlerin die arbeitsreichste Zeit ist. Doch in diesem Jahr kann sich die besondere Magie einfach nicht entfalten, denn die Ereignisse überschlagen sich: Larissas Buchcafé gerät finanziell in eine Schieflage, ihre Großtante Bea verhält sich auf einmal äußerst merkwürdig, und dann kommt es im »Büchernest« auch noch zu einem schweren Wasserschaden. Wie gut, dass Larissas beste Freundin wieder zurück in Keitum ist und dass auch viele andere Inselbewohner mithelfen, um Larissas und Beas Leben durch ein Weihnachtswunder wieder in Ordnung zu bringen.

Inhaltsübersicht

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

Danksagung & Nachwort

Adventskalender

1. Dezember

2. Dezeber

3. Dezember

4.  Dezember

5. Dezember

6. Dezember – Nikolaus

7. Dezember

8. Dezember

Sylter Weihnachtskaffee

Sylter Weihnachtspunsch

9. Dezember

Gefüllte Sylter Sandkugeln

10. Dezember

11. Dezember

12. Dezember

13. Dezember

Rezept Nordseewellen

14. Dezember

15. Dezember

Rezept für Stockbrot

16. Dezember

17. Dezember

18. Dezember

19. Dezember

20. Dezember

21. Dezember

22. Dezember

Rezept Brün Peepernööten/Sylter Braune Pfefferkuchen

23. Dezember

24. Dezember – Heiligabend

1.

Gedankenverloren steckte ich die Kirschzweige, die ich heute Morgen geschnitten hatte, in eine große Vase, wie jedes Jahr am Barbaratag: einen Zweig für meine Großtante Bea, den zweiten für meinen Mann Leon. Der dritte und vierte waren für Beas beste Freundin Vero und ihren Mann Hinrich bestimmt, Nummer fünf, sechs, sieben und acht für meine Freunde Nele, Paula, Adalbert und Olli.

Vor einem Jahr war Nummer neun dazugekommen – der Zweig für unsere geliebte Tochter Liuna-Marie, die nun eineinhalb war. Während ich noch überlegte, wo die Vase am sichersten stand, krabbelte meine Kleine vergnügt auf dem Wohnzimmerboden herum und ging ihrer Lieblingsbeschäftigung nach: die Schubladen des Vitrinenschranks ausräumen.

»Hey, du süßer Krabbelkäfer, lass das bitte bleiben. Heute Nachmittag kommen alle zum Adventskaffee, und da muss es ordentlich aussehen.« Oder zumindest ein bisschen, dachte ich seufzend und holte Liuna-Marie die Holzklötze aus dem geflochtenen Weidenkorb neben dem Sofa. Es war immer wieder drollig, dabei zuzusehen, wie sie versuchte, aus den bunten Klötzchen Türme zu bauen.

»Alles klar bei dir, oder brauchst du Hilfe bei den Vorbereitungen?«, fragte Leon und gab mir einen Kuss auf den Nacken. Ich hatte, wie meistens, meine blonden Haare zu einem hohen Pferdeschwanz gebunden. »Mmh, wie du wieder duftest«, raunte er mir ins Ohr und drehte mich zu sich herum. »Nach Tannennadeln, Honig und Zimt. Wie machst du das nur immer?«

Verliebt schlang ich die Arme um meinen Mann, der ein gutes Stück größer war als ich, weshalb ich mich auf die Zehenspitzen stellen musste. »Keine Ahnung. Vielleicht ist es mein Parfum? Oder der Duft des zweiten Advents?« Ich gab ihm einen Kuss. »Und was die Vorbereitungen angeht: Lieb, dass du fragst, aber so weit ist alles im grünen Bereich. Aber sag mal, musst du heute eigentlich in die Redaktion? Es ist so schönes Wetter, und ich dachte, wir könnten vor dem Mittagessen noch eine Runde mit unserer Maus drehen.«

Leon seufzte bedauernd. »Leider ja. Ich muss noch mit dem Fotografen die Abstimmung für einen Artikel zu Ende bringen. Aber ich beeile mich, versprochen. Lass uns spazieren gehen, bevor alle kommen – oder du marschierst gleich alleine los, wenn ihr beide jetzt schon an die frische Luft wollt.« Mit diesen Worten nahm er Liuna-Marie hoch und gab ihr einen Kuss auf die zarte Wange. Die Folge war lautstarkes Gebrüll. Unsere Tochter – ein echtes Friesenmädchen – konnte es nämlich gar nicht leiden, beim Spielen unterbrochen zu werden. Erschrocken setzte Leon sie zurück auf den Boden, und ich musste lachen, weil er total verwirrt dreinschaute. Sosehr er es liebte, Papa zu sein, so sehr verunsicherte es ihn gelegentlich, mit so einem energischen, kleinen Wesen zu tun zu haben, das nicht immer leicht zu durchschauen war.

»Keine Panik, sie beruhigt sich schon wieder. Los, los, geh jetzt, sonst kommst du zu spät in die Redaktion und dann auch zu spät zum Mittagessen. Bis nachher, Schatz.«

Nachdem die Haustür hinter Leon ins Schloss gefallen war, setzte ich mich an den langen Esstisch, der ebenfalls in unserem geräumigen Wohnzimmer untergebracht war, und schenkte mir eine Tasse Tee ein. Wie bei den Friesen üblich, ließ ich den schwarzen Tee über einen goldbraunen Kandis-Stick in meinen Lieblingsbecher laufen. Danach gab ich Sahne dazu und stellte die Kanne auf das Stövchen zurück.

Während ich genüsslich trank, wanderte mein Blick zum Fenster unseres urigen Friesenhäuschens, in dem wir seit Anfang des Jahres wohnten. Obwohl die Immobiliensituation auf Sylt gelinde gesagt eine Katastrophe war, war es uns dank Beas tollen Beziehungen gelungen, dieses Schmuckstück in der Nähe des Keitumer Watts anzumieten. Ich liebte die Aussicht auf unseren Garten, der hoffentlich bald von einer weißen Decke aus Schneekristallen bedeckt sein würde. Bislang hatte es auf der Insel – bis auf wenige zarte Flocken – noch nicht geschneit. Dabei wünschte ich mir so sehr, endlich zusammen mit meiner Tochter einen Schneemann zu bauen und zum ersten Mal weiße Weihnachten feiern zu können. Nachdem ich den Tee ausgetrunken hatte, setzte ich mich zu Liuna-Marie auf den Teppich aus Lammfell-Imitat, der vor dem Kamin lag. Sobald die Gäste da waren, würden wir die Holzscheite anzünden, die Leon gestern schon auf dem Kaminrost gestapelt hatte, und ins prasselnde Feuer schauen können.

Meine Tochter war vollkommen versunken in ihr Spiel.

Friedliche Stille lag über dem Raum.

Selbst Blairwitch, die betagte schwarze Katze meiner Freundin Nele, die wir zurzeit in Pflege hatten, schlief zusammengerollt auf einem Kissen.

An Tagen wie diesen konnte ich mein Glück kaum fassen. Alles war wunderbar: Ich war verheiratet mit einem tollen Mann, den ich sehr liebte, und nun endlich Mutter einer süßen, quietschlebendigen Tochter, die das Herz aller im Sturm erobert hatte. Bis dahin war es allerdings ein langer, schwieriger Weg gewesen, an den ich nur ungern zurückdachte.

Kaum auf der Welt, war Liuna-Marie aber auch schon der erklärte Liebling und Mittelpunkt des Büchernests, der Buchhandlung mit kleinem Café im Herzen Keitums, wo ich arbeitete.

Sie genoss die Liebe und Aufmerksamkeit, die ihr von unseren Kunden entgegengebracht wurde, von der Sekunde an, als ich sie zum ersten Mal in der Babyschale an meinen Arbeitsplatz mitgenommen hatte. Die Kleine liebte die Atmosphäre des heimelig nach Papier duftenden Ladens genauso sehr wie den Duft von frisch gebackenen Friesenwaffeln, der Spezialität von Vero, die das Café des Büchernests betrieb und stets höchstpersönlich hinter dem Herd stand. Mit fröhlichem Glucksen und großen Augen begrüßte mein kleiner Sonnenschein jeden neuen Tag, als sei er einzig dafür gemacht, sie zu beglücken und ihr zu gefallen.

Meine Freundin Paula, Leiterin der Kindertagesstätte Inselkrabben, die ebenfalls zum Büchernest gehörte, nannte sie liebevoll »meine kleine Krabbe«. Als Patentante verwöhnte sie Liuna-Marie nach Strich und Faden – sofern ich es ihr erlaubte.

Ihr Mann Patrick war ebenso hingerissen von der Kleinen wie Veros Mann Hinrich, der nach einer zweiten Herz-OP immer wieder grummelig graue Tage hatte und es damit Vero nicht gerade leicht machte. Doch kaum sah er Liuna-Marie, wurde sein faltiges Gesicht wieder glatt, und er wirkte mit einem Schlag zwanzig Jahre jünger.

Ihre größten »Fans« aber waren Bea und ihr gleichaltriger Lebensgefährte Adalbert. Während meine Großtante mit ihren zweiundsiebzig Jahren noch immer äußerst temperamentvoll, resolut und energiegeladen durchs Leben spazierte, war Adalbert weit emotionaler und deutlich sanfter als sie – was seiner Verliebtheit aber keinerlei Abbruch tat. Beide fungierten als Großelternersatz für Liuna-Marie, da meine Eltern früh bei einem Autounfall verstorben waren und Leons Eltern nur wenig Zeit für ihre Enkelin hatten. Als fröhliche Pensionäre genossen sie ihren Lebensabend und waren viel auf Reisen.

Nachdem ich einen zweiten Becher Tee getrunken und währenddessen überlegt hatte, ob auch wirklich alles für den Adventskaffee bereit war, klingelte das Telefon.

Am Apparat war Bea.

»Lissy, du ahnst nicht, was ich gerade gemacht habe«, sagte sie, anstatt mich zu begrüßen. Meine Großtante war eben immer für eine Überraschung gut.

»Hm, lass mich raten«, entgegnete ich. »Du hast eine Studienreise nach Lappland gebucht? Einen Rentierschlitten gekauft? Nein, warte, jetzt weiß ich’s: Du wirst Wale züchten!«, zählte ich Möglichkeiten auf, die mir spontan einfielen, eine absurder als die andere – aber durchaus denkbar, wenn es um meine Großtante ging.

Mit einem Auge war ich bei Liuna-Marie, die nun die Bauklötze satthatte und stattdessen am Fell ihres Teddys herumzupfte. Ein sicheres Zeichen dafür, dass ihr langweilig war.

»Ich habe gebacken.« Beas Tonfall klang so triumphierend, als wollte sie mir sagen, dass sie gerade zur Bürgermeisterin von Keitum gewählt worden sei.

»Du hast bitte was?!« Ich musste etwas falsch verstanden haben. »Du hast gepackt? Willst du verreisen?«

»Du hast schon richtig gehört«, erwiderte Bea. »Ich habe GEBACKEN«, wiederholte sie mit Nachdruck.

Ich schmunzelte. Die Frau, die sich lange Zeit dem Kochen verweigert hatte und eine Rührschüssel kaum von einem Wok unterscheiden konnte, sollte tatsächlich gebacken haben? »Schließlich wollte ich auch einen Beitrag zum heutigen Adventskaffee leisten. Aber keine Sorge, es sind nur Plätzchen, den Stollen und den Baumkuchen überlasse ich natürlich wie immer Vero.«

Erleichterung überflutete mich. »Na dann … wow, das ist … super. Bin schon gespannt. Denkst du aber bitte trotzdem noch an den Glühwein und den alkoholfreien Punsch?«

»Also hör mal, Lissy!« Bea klang beleidigt. »Wie könnte ich das vergessen? Ich bin doch nicht schusselig. Adalbert hat die Getränke schon vor einer Woche besorgt. So wie er überhaupt immer so viel kauft, als gäbe es morgen nur noch leere Regale in den Läden und wir müssten alle verhungern.« Sie seufzte tief. »Ich sag’s dir, das Zusammenleben mit ihm ist nicht immer leicht.«

»Aber trotzdem wunderschön«, ergänzte ich Beas Satz, denn ich kannte ihre ewige Litanei bezüglich Adalbert in- und auswendig und nahm sie keine Sekunde wirklich ernst. Die beiden liebten einander und passten zusammen wie Topf und Deckel. Das einzige Problem dabei war, dass Bea es als ausgesprochener Freigeist nicht so mit Töpfen und Deckeln hatte, genauso wenig wie mit dem Zusammenleben.

»Na, ich weiß nicht«, entgegnete sie. »Wie würdest du es denn finden, wenn Leon den lieben langen Tag Klavier üben würde? Und dich ständig fragt, wie es dir geht, was du denkst, was du fühlst. Ob er dir noch etwas bringen kann.«

»Das wäre natürlich der absolute Alptraum«, antwortete ich schmunzelnd. »Wie kann man nur so egoistisch und unsensibel sein? Tut mir leid, Bea, aber ich muss jetzt Schluss machen. Liuna-Marie rupft ihrem Teddy sonst gleich ein Auge aus, wenn ich sie mir jetzt nicht schnappe und mit ihr rausgehe. Also, bis später. Ich freue mich auf euch … und auf die Plätzchen.«

Zehn Minuten später hatte ich meine Kleine in warme Kleidung und ein Tuch gehüllt, um sie gegen die kalte Winterluft zu schützen, und spazierte mit ihr am Keitumer Watt entlang.

Da es an meiner Lieblingsstelle auf Sylt keinen asphaltierten Weg gab, über den man eine Kinderkarre hätte schieben können, musste ich Liuna-Marie tragen, was mittlerweile nicht mehr ganz leicht war. Müde vom Spielen und der frischen Nordseeluft, döste meine Tochter schon nach wenigen Metern ein, so dass ich Zeit hatte, meinen Gedanken freien Lauf zu lassen und den Anblick des Wattenmeers zu genießen.

Für mich einer der schönsten Flecken auf dieser Erde.

Die Wintersonne tauchte die Landschaft in gleißendes Licht und erhellte diesen vierten Dezember mit ihrem vorweihnachtlichen Glanz. Eisschollen glitzerten, das wogende Seegras war mit weißem Raureif bedeckt. Austernfischer und Möwen saßen in Kolonien auf dem Eis und sahen aus, als seien sie dort festgefroren. Ihr Gesang wurde vom kalten Wind nach Amrum und Föhr getragen; die Natur verband die Nachbarinseln mit Sylt.

Versonnen dachte ich an die Kirschzweige, die ich gemäß der Tradition des Tags der heiligen Barbara für meine Liebsten in die Vase gestellt hatte. Ihre Zweige galten als zukunftsweisende Vorboten: Erblühten sie zu Beginn der Raunächte, also kurz nach Heiligabend, verhießen sie denjenigen, denen sie zugedacht waren, ein glückliches neues Jahr. Frügelk Jööl en en lekelk nii Jaar, wie es auf Friesisch hieß.

Früher hatte ich Barbarazweige nur für Bea, Vero und mich geschnitten, doch im Laufe der Jahre, die ich nun auf Sylt lebte, waren weitere dazugekommen. Einer für jeden neuen Menschen, der in mein Leben getreten war und den ich liebte.

»Moin, Larissa«, ertönte es neben meinem Ohr. Rieke, unsere Auszubildende im Büchernest, parierte neben mir ihr Pferd zum Stehen durch. Sie würde im kommenden Sommer ihre Ausbildung als Buchhändlerin beenden, und ich hoffte sehr, dass sie bei uns bleiben und Bea und mich künftig weiter entlasten konnte.

»Moin, alles gut bei dir?«, begrüßte ich sie.

Rieke schwang sich aus dem Sattel, hielt ihr Pferd am Zügel und beugte sich zu Liuna-Marie, die sanft in ihrem Tragetuch schlummerte. »Hallo, Süße«, murmelte sie so verzückt, als sähe sie sie zum ersten Mal. »Du bist eine echte kleine Zaubermaus.«

»Vor allem wenn sie schläft«, entgegnete ich schmunzelnd. »Denkst du übrigens daran, dass morgen unsere neue Praktikantin anfängt? Wäre toll, wenn du sie ein bisschen unter deine Fittiche nehmen könntest. Bea und ich müssen nämlich noch unsere Buchpräsentation am Abend vorbereiten.«

»Klar, kein Thema«, antwortete Rieke, weiterhin damit beschäftigt, meine schlafende Tochter zu bewundern. Die Stute schnaubte zufrieden und stieß ihren warmen Pferdeatem in die Winterluft, beinahe so, als wollte sie meine Kleine wärmen. »Die kommt doch aus Berlin und ist siebzehn, nicht wahr? Wie heißt sie gleich noch mal?«

»Kathinka Köster, kurz Tinka«, half ich Rieke, die zuweilen ziemlich zerstreut war, auf die Sprünge. »Sie bleibt bis Ende Januar bei uns.«

»Und wie ist sie an das Praktikum gekommen?«, wollte Rieke wissen.

»Sie ist die Enkelin von Inken und Eycke Hansen aus Morsum und hat schon als Kind immer ihre Oma begleitet, wenn sie Bea in der Buchhandlung besucht hat.«

»Ah ja, jetzt erinnere ich mich wieder«, murmelte Rieke. »Die war doch letzten Sommer in so ’ne dramatische Geschichte um eine Surfer-Clique aus Westerland verwickelt. Voll krasse Sache!«

»Auf die du sie aber besser nicht mehr ansprechen solltest«, entgegnete ich. »So, jetzt muss ich weiter, sonst frieren mir gleich die Zehen ab. Hab noch einen schönen zweiten Advent und grüß deine Familie von mir. Wir sehen uns dann morgen.«

Rieke schwang sich wieder in den Sattel und winkte kurz, bevor sie in Richtung Munkmarsch davontrabte. Außer ihr war keine Menschenseele unterwegs.

Die Touristen kamen in der Regel erst nach dem zweiten Weihnachtsfeiertag auf die Insel, die Besitzer der Ferienhäuser kurz vor Heiligabend. Die Sylter selbst waren, bis auf wenige Ausnahmen, gerade damit beschäftigt, das Mittagessen zu kochen oder ein vorweihnachtliches Treffen mit Familie und Freunden vorzubereiten. Ich liebte diese stillen Momente, wenn man für einen Augenblick das Gefühl hatte, die Welt hörte auf zu rotieren. Gerade in der Hektik der Vorweihnachtszeit eine echte Wohltat.

Als ich nach einem ziemlich langen Marsch wieder zurück in unser kuschelig warmes Friesenhäuschen kam, war Leon zu meiner Überraschung schon da und hatte den Tisch gedeckt. »Hallo, Schatz«, sagte ich und gab ihm einen Kuss auf die Wange, was er mit einem »Brrrr, du bist ja eine echte Eisprinzessin« quittierte. Dann nahm er mir Liuna-Marie ab, die nun erwachte, sich die himmelblauen Augen rieb und dabei herzhaft gähnte.

Nachdem ich mir die Hände gewaschen und mich ein wenig frisch gemacht hatte, aßen wir die Kartoffelsuppe, die ich am Abend zuvor gekocht und heute mit frischen Krabben, krossen Croûtons und einer Sahnehaube verfeinert hatte.

Nun war ich gestärkt für den Besuch meiner Lieben und konnte es kaum erwarten, alle wiederzusehen.

Alle würden da sein – bis auf meine beste Freundin Nele, die leider, wie üblich, als rastlose Künstlerin in der Weltgeschichte herumgondelte. Obwohl ich in Paula eine echte Freundin gefunden hatte, mit der ich vieles teilen und über fast alles reden konnte, fehlte mir Nele.

Nele, der bunte, verrückte Paradiesvogel, dem Bea und ich schon so manches Mal aus der Patsche geholfen hatten. Die aber wiederum ihrerseits ein großes Herz hatte und gerade durch ihre Einzigartigkeit, ihren Charme und das Anderssein bestach. Und immer wieder frischen Wind in mein Leben pustete, das in den vergangenen Jahren eine doch eher behäbige Gangart eingelegt hatte.

»Kommst du?«, hörte ich Leon rufen, der mich mit seiner Frage aus meinen Gedanken riss. »Es hat geklingelt. Unsere Gäste sind da.«

2.

Unzählige »Moin« wirbelten durch die Luft und erfüllten den Flur mit ihrer fröhlichen Herzlichkeit.

Bea, Adalbert, Vero und Hinrich waren zusammen gekommen, und nun stellte es eine kleine Herausforderung dar, ihnen zur selben Zeit die dicken Wintermäntel abzunehmen und diese an der Garderobe aufzuhängen.

Im schmalen Flur war leider zu wenig Platz.

»Paula, Patrick und Olli kommen aber auch, oder?«, fragte Bea, die mir eine rote Papiertüte, bedruckt mit goldenen Sternen, in die Hand drückte, während Adalbert Leon die mitgebrachten Getränke übergab.

»Sie verspäten sich um ungefähr zwanzig Minuten«, gab ich zur Antwort und folgte Vero, die zielstrebig in Richtung Küche ging, mit Bea im Schlepptau. »Mmh, das sieht ja wieder toll aus«, lobte ich Veros Backkünste, als sie den Stollen und den Baumkuchen aus den Plastikboxen holte und auf die Kuchenteller drapierte, die ich bereitgestellt hatte. Die kleine, rundliche Vero strahlte übers ganze Gesicht.

»Der Stollen ist dieses Mal extra auf deinen Wunsch ohne Zitronat und Orangeat«, erklärte sie und zupfte an ihren kurzen grauen Haaren herum, die sie bis vor kurzem noch als Dutt getragen hatte. »Und ohne Rosinen.«

»Was das gute Stück zu etwas macht, das den Namen Stollen gar nicht mehr verdient«, unterbrach Bea ihre beste Freundin und begann nun ihrerseits, die Schätze aus der roten Papiertüte zu holen, die ich auf die Anrichte gestellt hatte.

Vero verfolgte jeden ihrer Handgriffe gebannt, während Blairwitch ihr maunzend um die Knöchel strich.

»Zimtsterne, Vanillekipferl und Friesenkekse«, zählte Bea auf, nahm drei tiefe Teller aus dem Hängeschrank über der Spüle und verteilte ihr Backwerk darauf. Optisch gab es nichts zu meckern, die Kekse sahen aus, wie sie sollten.

»Sag bloß, du hast gebacken?« Vero nahm die Lesebrille aus der Tasche ihrer Strickjacke und beäugte die Weihnachtsplätzchen skeptisch.

Bea, heute mit einer schwarzen Hose und einem anthrazitfarbenen, engen Rolli bekleidet, reckte das Kinn und antwortete: »Ja, hab ich. Hast du ein Problem damit?«

Ich unterdrückte ein Kichern. Im Laufe der letzten Jahre waren die Freundinnen ein bisschen wunderlich geworden. Und kabbelten sich immer häufiger, wenn auch auf liebevolle Weise.

Zumindest meistens.

Es hatte aber auch schon Momente gegeben, in denen sie sich so verkracht hatten, dass Wochen vergingen, ehe eine von beiden sich dazu durchringen konnte, sich mit der anderen wieder zu versöhnen. Nicht ganz leicht für alle Beteiligten, da sowohl Bea als auch Vero im Büchernest arbeiteten und die Arbeitsatmosphäre deutlich unter den Streitereien litt.

»Nein, natürlich nicht. Wieso sollte ich?«, entgegnete Vero und schnappte sich dann die Teller mit dem Stollen und dem Baumkuchen. »Ich bin einfach nur verwundert.« Mit diesen Worten verließ sie die Küche und stellte das Gebäck in die Mitte der langen Tafel, die ich zuvor mit frischem Tannengrün und weiß-blauen Schleifen dekoriert hatte – den Farben Nordfrieslands. Den üppigen Adventskranz hatte ich auf den Wohnzimmertisch vor dem Sofa umgesiedelt, damit wir mehr Platz hatten. Leon zündete gerade die zweite Kerze an.

Nachdem alle sich gesetzt hatten und mit Tee und Kaffee versorgt waren, klingelte es erneut an der Tür. Paula und Patrick entschuldigten sich für ihr Zuspätkommen, und Paula überreichte mir einen wunderschönen Strauß aus dunkelgrünen Tannenzweigen, dekoriert mit kleinen roten Äpfeln, Walnüssen, Zimtstangen und weiß bemalten Holzsternen.

»Ach was, kein Problem. Hauptsache, ihr seid da«, antwortete ich, bedankte mich für das schöne Mitbringsel und überlegte, in welche Vase ich den Adventsstrauß stellen sollte. »Schließlich wollen wir euch doch alle noch mal sehen, bevor ihr weg seid.« Die attraktive, brünette Mitvierzigerin Paula gehörte seit über drei Jahren zu unserem Freundeskreis, genau wie ihr Mann Patrick. Früher hatte sie in Hamburg eine eigene Galerie gehabt, nun lebte sie auf Sylt und widmete sich hingebungsvoll ihrer Aufgabe als Leiterin der Inselkrabben. »Geht doch schon mal ins Wohnzimmer. Ich komme gleich nach.«

Bevor ich mich wieder unter die Gäste mischte, huschte ich in den ersten Stock hinauf, um nach Liuna-Marie zu schauen, die nach dem Mittagessen erneut so müde geworden war, dass ich beschlossen hatte, sie in ihr Bettchen zu legen. Allerdings wusste man bei ihr nie genau, ob sie auch wirklich schlief oder beschäftigt werden wollte. Doch in der Tat, sie schlummerte selig, und ich konnte mich kaum von ihrem Anblick lösen. Dieses zarte Zauberwesen war immer noch wie ein Wunder für mich.

Sanftes Klopfen an der Kinderzimmertür erinnerte mich jedoch daran, dass heute nicht nur sie im Mittelpunkt stand.

»Darf ich auch mal kurz schauen?«, fragte Paula, die durch den Türspalt schlüpfte und sich neben mich stellte. Paula und Patrick konnten keine Kinder bekommen, und so hatte ich während der Schwangerschaft beschlossen, Paula zu Liuna-Maries Patentante zu machen. »Ich werde sie vermissen, wenn ich weg bin. Zwei Monate sind eine lange Zeit«, flüsterte Paula und lehnte sich über das Gitterbettchen. Dann zog sie die Decke ein Stückchen höher in Richtung Liuna-Maries Kinn.

»Komm, lass uns gehen, nicht dass wir sie noch wecken«, wisperte ich. Doch als ich Paulas wehmütigen Gesichtsausdruck sah, musste ich lächeln. Es stimmte. In Liuna-Maries Alter waren zwei Monate ein langer Zeitraum. »Oder bleib du noch einen Moment, ich muss auf alle Fälle wieder zu den anderen. Bis gleich.«

Im Wohnzimmer angekommen, legte ich das Babyphone neben meinen Teller. Inzwischen war an der Kaffeetafel eine heiße Diskussion über das Thema Backen im Gange. Nur Ollis Platz war noch leer – merkwürdig! Ich checkte mein Handy, doch er hatte keine Nachricht geschickt.

»Bea, deine Plätzchen schmecken wirklich phantastisch«, schwärmte Patrick gerade und nahm sich zwei Zimtsterne. Paulas Mann war ein echter Gourmet, daher zählte sein Lob doppelt.

»Beinahe so wie von Bäcker Paulsen«, sagte Vero schmallippig und schaute ihre Freundin herausfordernd an. Adalbert blickte verwirrt zwischen beiden hin und her.

»Was soll das heißen, wie von Bäcker Paulsen?«, entgegnete Bea schnippisch, anstatt sich über das Lob zu freuen.

»Das soll weiter gar nichts heißen, außer, dass sie einfach perfekt sind. Freu dich doch«, erwiderte Vero.

Neugierig nahm ich mir je ein Plätzchen der drei Sorten und begann mit dem Vanillekipferl, meine persönlichen Lieblinge.

Um wirklich gut zu schmecken, durfte das Kipferl weder zu süß sein noch zu trocken. Und Bea war dieses Kunststück gelungen.

»Mmh, ein Traum«, lobte ich meine Großtante. »Wer hätte gedacht, dass in dir eine so begabte Bäckerin schlummert?«

Bea konnte nicht antworten, weil es erneut an der Tür klingelte. Endlich würden wir vollzählig sein.

Leon stand auf, um zu öffnen, und ich hörte zu meiner Verwirrung eine Frauenstimme. Sollte Olli, der Männer liebte, eine Bekannte mitgebracht haben, ohne mir vorher etwas davon zu sagen?

»Blairwitch, meine Süße, ich hab dich vermisst«, hörte ich und war auf einmal wie elektrisiert. »Komm, lass dich knuddeln.«

Träumte ich, oder war das die Stimme meiner besten Freundin Nele? Auch Bea und Vero hielten inne und schauten einander fragend an. Nur Adalbert schmunzelte still vor sich hin.

»Moin, ihr Lieben. Na, was sagt ihr?«, fragte Nele, die plötzlich mit hochroten Wangen im Wohnzimmer stand, ihre Katze auf dem Arm, und grinsend in die Runde schaute. Genau wie Olli, der neben ihr im Türrahmen auftauchte. »Überraschung gelungen?«

Ich rief: »Und wie!«, und stürzte mich auf Nele, die ich seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen hatte. »Aber was machst du hier? Wir dachten, du bist in Frankreich.«

»Das war nur eine Finte, um euch alle abzulenken«, feixte Olli. »Sorry, dass wir erst jetzt da sind, aber die Nord-Ostsee-Bahn hatte ausnahmsweise mal Verspätung.«

Ich konnte mein Glück kaum fassen. Nun waren wirklich alle Menschen, die mir am Herzen lagen, hier.

Bea stand ebenfalls auf und stürmte auf Nele zu, die Blairwitch mittlerweile auf den Boden gesetzt hatte. Sie liebte meine Freundin genauso sehr wie mich und hatte sie schon lange gekannt, bevor ich auf die Insel gekommen war, um hier zu leben. »Was machst du hier? Und wie lange bleibst du?«, fragte sie und drückte Nele an sich.

»So lange, wie du mich im Pavillon unterbringen kannst«, antwortete diese und begrüßte dann Adalbert, der sich zu Bea gesellt hatte, mit einem Kuss. Ich beobachtete, wie die beiden einander verschwörerisch zuzwinkerten.

Nanu? Was war denn zwischen denen im Gange?

»Dann also für länger«, sagte Bea und strahlte über das ganze Gesicht. »Als hätte ich es geahnt, habe ich im Herbst eine richtige Heizung einbauen lassen. Wir brauchen sie nur noch anzumachen, das Bett zu beziehen, und schon hast du einen kleinen Palast für dich allein.«

»Das klingt super, danke«, antwortete Nele und nahm dann wieder Blairwitch auf den Arm, die mit ihrer rosa Katzenzunge über ihre Nase schleckte. Ich plinkerte ein paarmal, weil ich es immer noch nicht fassen konnte, dass Neles unerwartetes Auftauchen kein Traum war. »Ach Mann, ihr ahnt gar nicht, wie schön es ist, wieder auf Sylt zu sein und euch alle zu sehen.«

»Nun setz dich doch erst mal«, sagte Leon und dirigierte sie zu seinem Platz. »Ich hole noch schnell einen zusätzlichen Stuhl aus dem Büro.«

»Und ich ein weiteres Gedeck aus der Küche«, ergänzte Vero und streichelte Neles Arm, bevor diese Paula und Patrick begrüßen und sich setzen konnte.

Als endlich alle saßen und versorgt waren, sah ich aus den Augenwinkeln, dass sich die schöne Advents-Kaffeetafel, umrahmt von Kerzenschein, im Fenster widerspiegelte. Von solch großen Runden hatte ich schon als Kind geträumt: Menschen, die zusammen aßen und einander von den kleinen und großen Freuden oder auch Sorgen des Alltags erzählten und diese miteinander teilten. Menschen, die einander liebten und füreinander da waren, egal, welche Herausforderungen das Leben für sie bereithielt. Während ich meinen Gedanken nachhing, stand Adalbert auf und flüsterte mir ins Ohr: »Darf ich Sektgläser aus eurer Vitrine holen? Wir haben etwas zu feiern. Den Sekt habe ich draußen im Auto. Ich gehe ihn mal eben holen.«

Ich wunderte mich zwar, nickte jedoch und stand auf, um ihm zu helfen. Leon, der gerade in eine tagespolitische Unterhaltung mit Patrick vertieft war, verfolgte meine Bewegungen mit einem fragenden Blick, und ich zuckte mit den Schultern. Ich hatte keinen blassen Schimmer, was Adalbert vorhatte.

Bea hob den Kopf und blickte ebenfalls verwundert drein. Nachdem Adalbert die Flaschen entkorkt hatte, ging er reihum und füllte alle Gläser, die ich auf die lange Tafel gestellt hatte. In diesem Moment fiel mir der Grund für den Sekt ein: Er wollte Nele willkommen heißen! Bestimmt war er in ihren und Ollis geheimen Plan eingeweiht gewesen, schließlich hatte er vorhin so wissend gelächelt, als sie aufgetaucht war.

Was für eine nette Idee, sie so herzlich zu begrüßen!

»Bitte alle mal herhören«, sagte Adalbert, nachdem jeder von uns einen Schluck des perlenden Getränks vor sich stehen hatte, und stieß mit der Kuchengabel gegen sein Glas. »Und vor allem du, meine Liebste.«

Bea schaute verwirrt drein und suchte meinen Blick.

»Wie ihr vielleicht wisst, war es in früheren Zeiten auf der Insel Brauch, in den Adventswochen zu heiraten …«, fuhr Adalbert mit seiner Ansprache fort. Ein flaues Gefühl machte sich in meinem Magen breit. Ich wagte es kaum, meine Großtante anzuschauen. »Und da dachte ich mir, was die alten Friesen konnten, das kann ich auch. Deshalb habe ich für Sonntag, den achtzehnten Dezember, einen Termin beim Pastor in der Keitumer Kirche gebucht. Ich weiß, dass das alles ein bisschen überraschend kommt und auch arg knapp ist, aber ich wollte einen Zeitpunkt wählen, zu dem unsere Nele wieder auf Sylt ist. Damit sie dabei sein kann, wenn ich dich, meine über alles geliebte Bea, frage, ob du meine Frau werden willst, und dich zum Traualtar führe.«

Stille senkte sich über das Wohnzimmer, und ich konnte sehen, dass Beas Gesicht von einer ungesunden Röte überzogen war.

Im vergangenen Jahr war bei ihr altersbedingter Bluthochdruck diagnostiziert worden, der nun medikamentös behandelt wurde. Wogegen aber garantiert kein Kraut gewachsen war, war ihr unbändiger Freiheitsdrang und friesischer Dickschädel.

So wunderte es bestimmt keinen der Gäste, dass Bea, anstatt zu antworten oder Adalbert gerührt zu küssen und ja zu sagen, einfach aus dem Wohnzimmer stürmte.

Und laut knallend die Haustür ins Schloss fallen ließ.

Zurück blieben unsere Gäste, die reichlich verdutzt an der Advents-Kaffeetafel saßen. Und eine maunzende Blairwitch.

3.

Wie beinahe jeden Morgen war ich die Erste, die um halb neun die Tür zu unserem Buchcafé aufschloss, die Kasse mit Wechselgeld füllte, den Anrufbeantworter abhörte und im Computer nachschaute, ob Bestellungen per Mail eingegangen waren.

Ich liebte diese halbe Stunde, bevor alle anderen kamen und der Laden öffnete. In diesen Momenten wusste ich, dass Liuna-Marie gut untergebracht war. Anke war eine tolle Tagesmutter und wohnte nur zwei Häuser entfernt. Dort konnte meine Kleine weiterschlafen und später mit Ankes kleinem Sohn Jelle spielen. Leon war um diese Uhrzeit bereits auf dem Weg in die Redaktion in Westerland, und Bea tauchte in der Regel erst gegen elf auf, nachdem sie Sport getrieben, meditiert und sich in aller Ruhe ihrer Morgenlektüre gewidmet hatte.

Diese Zeit nutzte ich, um zwischen den Regalen auf und ab zu gehen, Bücher gerade zu rücken, zu notieren, welche nachbestellt werden mussten, und den einzigartigen Duft des bedruckten Papiers einzuatmen. Mittlerweile war ein Leben ohne Bücher für mich schier unvorstellbar geworden. Sie konnten eben einfach alles: unterhalten, verzaubern, einen Lachanfall hervorrufen oder Tränen fließen lassen. Man konnte von ihnen lernen, sie einfach nur schön finden oder sich Anregungen für alle Bereiche des Alltags holen.

Sie waren immer da – und würden es immer bleiben.

Genau wie mein geliebtes Büchernest.

Die Erinnerung an Neles und meine erste Begegnung in diesen Räumen amüsierte mich immer wieder aufs Neue. Es fühlte sich an, als seien seitdem Jahrhunderte vergangen, die allerdings unsere Freundschaft gestärkt hatten, obgleich wir einander viel zu selten sahen. Damals waren ihr Café und Beas Buchhandlung noch getrennt gewesen. Mittlerweile war zusammengewachsen, was zusammengehörte.

Wie aufs Stichwort kündigte mein Handy den Eingang einer WhatsApp-Nachricht an. Nele fragte, ob wir später zusammen in der Kleinen Teestube hier in Keitum Tee trinken wollten.

Ich schrieb: Gern. Um 15 Uhr wäre perfekt!,