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Sara und Paul haben sich eine Reise nach Kanada geschenkt. Sie erleben herrliche Tage in den schneebedeckten Landschaften. Die Nächte sind magisch, mit sternenübersätem Himmel und Polarlichtern. Zurück in Deutschland planen sie die Auswanderung in ihr Traumland Kanada. Übers Internet kaufen sie ein wunderschönes Haus am Okanagan-See, in dem sie ein Bed & Breakfast eröffnen möchten. Doch als sie in Kanada ankommen, entpuppt sich das idyllische Haus als total marode. Unter diesen Bedingungen wird es in der jungen Ehe recht turbulent. Und dann stehen nicht nur immer mehr unerwartete Gäste vor der Tür, sondern der kanadische Winter, der die Sanierung erschwert, aber dessen Zauber auch Wunder wirkt ...
Wunderbarer Winter-Wohlfühlroman in Kanada
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Seitenzahl: 330
Cover
Über das Buch
Über die Autorin
Titel
Impressum
Widmung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Epilog
Über das Buch
Sara und Paul haben sich eine Reise nach Kanada geschenkt. Sie erleben herrliche Tage in den schneebedeckten Landschaften. Die Nächte sind magisch, mit sternenübersätem Himmel und Polarlichtern. Zurück in Deutschland planen sie die Auswanderung in ihr Traumland Kanada. Übers Internet kaufen sie ein wunderschönes Haus am Okanagan-See, in dem sie ein Bed & Breakfast eröffnen möchten. Doch als sie in Kanada ankommen, entpuppt sich das idyllische Haus als total marode. Unter diesen Bedingungen wird es in der jungen Ehe recht turbulent. Und dann stehen nicht nur immer mehr unerwartete Gäste vor der Tür, sondern der kanadische Winter, der die Sanierung erschwert, aber dessen Zauber auch Wunder wirkt … Wunderbarer Winter-Wohlfühlroman in Kanada
Über die Autorin
Ruth Bennett liebt lange Spaziergänge durch den Schnee, heißen Kakao am Kamin und das Funkeln der Sterne in kalten Winternächten. Sie entstammt einer Familie, in der die Tradition des Geschichtenerzählens stets hochgeachtet wurde. Eine Berufung, die sie zum Beruf machte. Wenn sie nicht gerade irgendwo in der Welt unterwegs ist, um sich für neue Bücher inspirieren zu lassen, lebt sie mit ihrer Familie in einer beschaulichen Kleinstadt.
RUTH BENNETT
Wintertraum in Kanada
Roman
Originalausgabe
Copyright © 2023 by Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln
Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.
Textredaktion: Beate De Salve Covergestaltung: Jeannine Schmelzer Covermotiv: © TONNAJA / Gettyimages; darekm101 / Gettyimages Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-7517-4788-2
Sie finden uns im Internet unter luebbe.de Bitte beachten Sie auch: lesejury.de
FürFrieda
»Ausgerechnet Kanada!«
Trotz der voll aufgedrehten Heizung und des brennenden Kamins wurde die Stimmung im Salon mit einem Schlag frostig.
Paul zuckte mit den Schultern, als Sara ihn anschaute. Sie hatte ihrer Mutter gerade mitgeteilt, dass sie und Paul nicht am obligatorischen Neujahrsempfang in der Villa ihrer Eltern teilnehmen konnten, weil sie am zweiten Weihnachtstag nach Vancouver fliegen wollten. Sie hatten sich die Reise gegenseitig zu Weihnachten geschenkt.
»Wie kann man im Winter nach Kanada reisen?« Jeanette schüttelte verständnislos den Kopf und fügte ironisch hinzu: »Warum nicht gleich zum Nordpol?«
Sara holte tief Luft. Obwohl Paul sie mit dem Fuß anstieß und ihr einen warnenden Blick zuwarf, konnte sie ihre Antwort nicht zurückhalten.
»Das hatten wir ursprünglich vor, aber wir wollten dich mit unseren Reiseplänen nicht überfordern.« Provozierend lächelte sie ihre Mutter an. »Vielleicht nächstes Jahr.«
Jeanette ignorierte diese Bemerkung. »Niemand fährt im Winter nach Kanada! Warum reist ihr nicht nach Davos? Meinetwegen auch nach Aspen, wenn es unbedingt Übersee sein muss?«
»Wir lieben Kanada.«
»So ein Unsinn!«, erwiderte Jeanette scharf. »Ihr habt dieses Land noch nie besucht.«
Sara spürte die ärgerliche Ungeduld in sich aufsteigen, die nur ihre Mutter in ihr entfachen konnte. »Wir lieben Kanada so sehr, dass wir …«
»… das Land jetzt unbedingt kennenlernen wollen«, fiel Paul ihr hastig ins Wort. Er hatte ihr wahrscheinlich angesehen, dass sie gerade mit der Wahrheit herausplatzen wollte. Eindringlich schaute er sie an. »Das wolltest du doch sagen, nicht wahr?«
Nein, genau das hatte sie nicht sagen wollen. Sara presste verärgert die Lippen zusammen, doch zum Glück wurde sie einer Antwort enthoben, weil es an der Tür klingelte. Ihre Schwester Olivia traf mit ihren Kindern ein, und sofort beanspruchte der vierjährige Noah die ganze Aufmerksamkeit für sich, während sich die ein Jahr ältere Amelie schüchtern an die Hand ihrer Mutter klammerte. Das Mädchen brauchte immer eine Weile, um aufzutauen.
»War das Christkind schon da?«, brüllte Noah. Er konnte einfach nicht in normaler Lautstärke reden, wenn er aufgeregt war. Ohne Umweg lief er zu dem geschmückten Weihnachtsbaum und blieb mit enttäuschtem Gesichtchen davor stehen. »Da ist ja nix.«
»Das Christkind hat auf euch gewartet.« Richard Winter, Saras und Olivias Vater, war gerade aus seinem Arbeitszimmer gekommen. Sie lächelten einander zu, und Sara stellte erleichtert fest, dass da wieder etwas von der Nähe zu spüren war, die sie früher empfunden hatte. Lächelnd schaute er sich um. »Schön, dass ihr alle da seid.«
Als hätten wir eine Wahl gehabt, schoss es Sara durch den Kopf.
»Wann kommt das Christkind?«, schrie Noah. Seine Pausbäckchen waren rot. Nicht nur wegen der Aufregung, sondern auch, weil es in der Villa viel zu warm war. Jeanette war zwar durchaus der Meinung, dass energiesparende Maßnahmen enorm wichtig waren – allerdings nur, solange sie selbst dafür nicht frieren musste.
Alle Räume waren weihnachtlich geschmückt, und das Hauspersonal hatte die dunklen Möbel, fast ausnahmslos kostbare Antiquitäten, glänzend poliert. Da die einzelnen Zimmer – begonnen mit der großzügigen Diele, über den Salon, in dem der Weihnachtsbaum stand, bis hin zum Esszimmer – nur durch gläserne Sprossenschiebetüren, die immer offen standen, voneinander getrennt waren, entstand der Eindruck eines einzigen riesigen Raumes. Kostbare Orientteppiche dämpften die Schritte, und über allem schwebte eine Art ehrwürdiger Hauch, der Nachhall all der Generationen, die bereits vor ihnen in dieser Villa gelebt hatten.
»Wenn wir gegessen haben«, beantwortete Jeanette die Frage ihres Enkels.
»Ich hab aber gar keinen Hunger!«
Jeanette schaute zuerst den Jungen und dann Olivia finster an. Sara rechnete fest damit, dass ihre Schwester sich jetzt einen Vortrag über ihren Erziehungsstil anhören musste, erfuhr aber gleich darauf, dass es da etwas ganz anderes gab, was ihre Mutter immer noch beschäftigte. Nach einem weiteren vorwurfsvollen Blick, diesmal auf Sara, berichtete sie ihrem Mann: »Sara und Paul fliegen übermorgen nach Kanada.«
Als Richard antwortete, klang seine Stimme zuerst begeistert.
»Das ist ja …« Er schaute seine Frau an und erkannte offensichtlich in Sekundenschnelle, dass Begeisterung nicht angesagt war. »… überraschend«, schloss er.
»Das ist nicht überraschend, sondern absolut unvernünftig.«
»Aber Kanada ist durchaus eine Reise wert«, wagte Richard einen Widerspruch. Er war als Einziger in der Familie bereits in Kanada gewesen, während seiner Studienzeit. Obwohl das schon viele Jahre her war, brachte die Erinnerung daran ihn auch jetzt noch zum Schwärmen. »Ich beneide euch ein bisschen.«
Sara bemerkte, dass er diesmal den Blicken ihrer Mutter auswich, und dann war es wieder Noah, der die aufkommende Spannung unterbrach.
»Wenn das doofe Christkind nicht kommt, will ich wieder nach Hause fahren.« Sein rundes Gesicht war ärgerlich verzogen.
»Noah, hör bitte auf!« Olivias Stimme klang ungewohnt gereizt. »Das Christkind kommt schon noch.«
»Kommt Papa auch noch?« Zum ersten Mal meldete sich Amelie zu Wort. Das Mädchen war eine Miniaturausgabe ihrer Mutter; mit den dunklen Locken und den braunen Augen ähnelte sie aber auch ein wenig ihrer Tante Sara. Doch während Olivia und Amelie eher still und zurückhaltend waren, behielt Sara ihre Meinung selten für sich.
»Ja, das wüsste ich auch gerne«, nahm Jeanette das Stichwort ihrer Enkelin auf. »Wo ist Gernot?«
Olivia zögerte einige Sekunden, bevor sie mit unbehaglicher Miene sagte: »Er wird es wahrscheinlich nicht schaffen.«
Sara jubelte auf, wenn auch nur innerlich. Sie mochte ihren Schwager nicht besonders und verstand bis heute nicht, warum sich ihre Schwester in ihn verliebt hatte.
Früher, als Kinder, waren sie und Olivia eine Einheit gewesen. Verbündete, die gegen ihre dominante Mutter nur bestehen konnten, weil sie einander hatten.
Von ihrem Vater war kein Beistand zu erwarten gewesen. Nicht nur, weil er sich selbst nicht wirklich gegen Jeanette durchsetzen konnte, sondern auch, weil er an familiären Belangen nicht sonderlich interessiert war. Für ihn stand seine Papierfabrik im Vordergrund. Immerhin, so betonte er seit jeher, war das die Grundlage des familiären Wohlstands.
Sara glaubte ihm bis heute nicht, dass es ihm nur darum ging. Vielmehr bot die Firma ihrem Vater immer wieder die Möglichkeit, sich seiner Frau und allen unangenehmen Situationen zu entziehen.
Olivia hatte nach dem Abitur in Hamburg Grafikdesign studiert und selbstverständlich weiterhin im Haus ihrer Eltern gelebt, so wie es Jeanette erwartete.
Sara hatte das nicht verstehen können. Endlich hätte Olivia selbst über ihr Leben bestimmen können, und dann tat sie es nicht.
Als sie selbst zwei Jahre später das Abitur machte, traf sie ihre eigenen Entscheidungen und ließ keine Einmischung ihrer Mutter zu. Sie zog nach Berlin und begann ein Jurastudium, aber bereits im ersten Semester wurde ihr klar, dass das nicht ihr Weg war. Danach studierte sie Sprachen und Kommunikationswissenschaften und arbeitete nach dem erfolgreichen Abschluss für ein Berliner Übersetzungsbüro. Doch zu allen Feiertagen fuhr sie nach Hause – wegen Olivia.
Und dann war Gernot gekommen!
Für ihre Eltern war er der Traumschwiegersohn, während Sara ihn nicht ausstehen konnte. Er war aalglatt und eiskalt. Ihr Schwager erwiderte ihre Abneigung, und so war Sara froh, dass sie ihm an diesem Abend nicht begegnen musste.
»Warum nicht?«, brach Jeanette das dumpfe Schweigen, das nach Olivias Ankündigung im Raum lag. In ihrer Stimme schwangen gleichermaßen Ärger und Enttäuschung mit.
»Er hat … Er muss …«, stammelte Olivia und lief puterrot an. Offensichtlich wusste sie nicht, was sie sagen sollte.
Schlecht gerüstet, dachte Sara mitleidig. Du hättest dich gründlich auf Jeanettes Befragung vorbereiten sollen.
In Gedanken nannte sie ihre Mutter stets beim Vornamen. Manchmal auch im Gespräch.
»Es ist etwas Geschäftliches«, brach es schließlich aus Olivia heraus. Eine Ausrede, die Jeanette ihr verständlicherweise nicht abnahm.
»An Heiligabend? Das willst du mir doch nicht ernsthaft weismachen!«
»Ich … Aber … Gernot …« Auch diesmal brachte Olivia keinen zusammenhängenden Satz heraus. Mit hilfloser Miene verstummte sie. Sie war ihrer Mutter einfach nicht gewachsen, und obwohl sie zwei Jahre älter war, kam es Sara manchmal so vor, als wäre Olivia die jüngere Schwester.
Sara hatte großes Mitleid mit ihr, und obwohl sie eigentlich froh war, dass sie und Paul mitsamt ihrer Kanadareise nun nicht mehr im Zentrum von Jeanettes Unmut standen, konnte sie nicht anders, als ihrer Schwester zu Hilfe zu kommen.
Sie schaute ihre Mutter an. »Warum fragst du nicht einfach Gernot? Der wird dir sicher genau erklären können, durch welche geschäftlichen Angelegenheiten er heute verhindert ist.«
Natürlich konzentrierte sich Jeanette augenblicklich wieder auf sie.
»Habt ihr euch etwa gegen mich verschworen? Habt ihr euch vorgenommen, alles zu tun, um mir diesen Abend zu verderben? Gernot lässt sich erst gar nicht blicken, und ihr fahrt nach Kanada. Wahrscheinlich macht ihr das nur, damit ihr nicht an unserem Neujahrsempfang teilnehmen müsst.« Anklagend schaute sie Sara an. »Ich weiß doch, wie verhasst dir gesellschaftliche Veranstaltungen sind.«
»Ich mag solche Feste nicht, das ist richtig«, stimmte Sara ihr mit sanfter Stimme zu. »Abgesehen davon fahren wir nicht nach Kanada, wir fliegen dorthin.«
Jeanette war außer sich, was sie dadurch demonstrierte, dass sie eine Hand auf ihr Herz legte. Ihr Atem ging plötzlich stoßweise, doch nur Richard fiel auf dieses Theater herein. Allerdings vermutete Sara insgeheim, dass er nur deshalb darauf einging, damit sich Jeanettes Wut später nicht auf ihn konzentrierte.
»Liebes, bitte reg dich nicht so auf.« Er trat neben Jeanette und legte ihr fürsorglich einen Arm um die Schultern. »Dazu besteht überhaupt kein Anlass.«
Nun schnappte Jeanette erst recht nach Luft. »Man könnte fast meinen, du wärst die letzte halbe Stunde nicht im Raum gewesen. Was haben wir bei der Erziehung unserer Töchter nur falsch gemacht?«
Amelie umklammerte fest die Hand ihrer Mutter.
»Warum schimpft Oma?«, fragte sie und machte ein ängstliches Gesicht.
Noah beeindruckte das weniger. Er winkte mit seinem kleinen Patschhändchen ab.
»Wie Papa. Der schimpft auch immer mit Mama.«
Das war so neu, dass selbst Jeanette ihr leidendes Gebaren vergaß. Alle Blicke richteten sich auf Olivia, was ihr sichtlich unangenehm war. Mit einem gekünstelten Lachen versuchte sie, darüber hinwegzugehen.
»Papa schimpft doch nicht mit mir.« Sie schaute Noah eindringlich an. »Wir sind nur manchmal unterschiedlicher Meinung.«
»Doch, der schimpft ganz böse«, beharrte der Junge. »Und dann weinst du.«
Wie aufs Stichwort füllten sich Olivias Augen mit Tränen. Hastig ließ sie Amelies Hand los.
»Entschuldigt«, presste sie hervor und verließ fluchtartig den Raum.
»Mama!« Amelie schien ihrer Mutter nachlaufen zu wollen, doch dann hielt sie inne und blickte verstört um sich.
Sara ging vor dem Mädchen in die Hocke. »Wollen wir mal vom Wintergarten aus nach draußen schauen, ob das Christkind irgendwo zu sehen ist?«
Amelie wirkte unschlüssig.
»Kinder dürfen das Christkind nicht sehen«, schrie Noah.
»Du lieber Himmel, kann der Junge nicht einmal in normaler Lautstärke reden?«, raunte Jeanette.
»Offensichtlich nicht.« Richard wirkte eher amüsiert. Vielleicht war er auch einfach nur erleichtert, weil er nicht mehr so tun musste, als sorge er sich um die Gesundheit seiner Frau. Jeanette war ganz offensichtlich weit entfernt von einem Zusammenbruch und nur noch wütend.
»Wie kann sie es wagen!«, zischte sie. »Warum muss sie sich ausgerechnet heute mit Gernot streiten?«
Offensichtlich machte sie Olivia für die Auseinandersetzung mit Gernot verantwortlich, ohne überhaupt zu wissen, was vorgefallen war. Das war so typisch für Jeanette!
Sara spürte, wie sich in ihrem Bauch etwas zusammenballte und Gefühle in ihr aufstiegen, die so ganz und gar nicht weihnachtlich waren. Wenn Amelie nicht vor ihr gestanden und sie mit großen Augen angesehen hätte …
»Wir gucken trotzdem einmal nach.« Sie erhob sich und griff nach der Hand des Mädchens. »Kommst du auch mit, Noah?«
Der Junge überlegte nicht lange. Er kam zu ihr und nahm vertrauensvoll ihre andere Hand. Zusammen durchquerten sie den Salon und gingen ins Esszimmer. Hier schloss sich der Wintergarten an, dahinter lag die weitläufige Terrasse.
Alle Sträucher waren mit Lichterketten geschmückt. Unzählige Lichtpunkte, die in der Dunkelheit leuchteten und eine geradezu magische Atmosphäre schufen. Jeanette verstand es meisterhaft, eine Stimmung zu zaubern, die so gar nicht zu ihrer fehlenden Herzenswärme passte. Ein Umstand, der Sara immer wieder erstaunte und sie gleichzeitig traurig machte.
Die Kinder standen rechts und links neben ihr. Noah starrte angespannt nach draußen, doch Amelie drehte sich immer wieder um. Sara vermutete, dass sie nach ihrer Mutter Ausschau hielt.
»Da!«, rief Noah plötzlich. »Da ist was!«
»Echt?« Endlich ließ Amelie sich ein wenig ablenken. Sie presste das Gesicht gegen die Scheibe.
»Ja, da ist das Christkind.«
»Ich kann nichts sehen.«
»Jetzt ist es wieder weg.«
»Da war nichts«, sagte Amelie. »Oder hast du was gesehen, Tante Sara?«
Natürlich war da nichts gewesen, aber als Sara in die erwartungsvoll zu ihr aufgerichteten Gesichter schaute, brachte sie es nicht übers Herz, eines der Kinder zu enttäuschen.
»Ich habe nicht so genau hingesehen, weil ich durch die ganzen Lichter abgelenkt war.«
»Glaubst du, das Christkind kommt überhaupt zu uns?« Amelies Stimme klang traurig. »Papa hat gesagt, das Christkind kommt nicht zu unartigen Kindern, und Noah ist oft nicht lieb.«
»Das stimmt überhaupt nicht!« Empört stemmte Noah die Hände in die Hüften. »Papa hat gesagt, ich bin wie Tante Sara.«
Noah war zu klein, um zu erkennen, wie boshaft die Aussage seines Vaters war. Der Junge wirkte eher, als fühle er sich geschmeichelt, weil er mit seiner Tante verglichen wurde.
»Sag deinem Vater, dass er damit absolut recht hat. Und es ist gut, dass du nicht so bist wie er.«
Natürlich behielt Sara diese Worte für sich. Im Gegensatz zu ihrem Schwager wollte sie die Kinder nicht zum Austausch von Gemeinheiten benutzen. Irgendwann ergab sich ganz bestimmt die Gelegenheit für die passende Retourkutsche.
»Gernot hat es nicht so gemeint.« Plötzlich stand Olivia hinter ihr und den Kindern – offensichtlich schon lange genug, um zu hören, was Noah gesagt hatte.
Sara lächelte ihrer Schwester freundlich zu. »Wir wissen beide, wie er das gemeint hat.«
Olivia lächelte etwas gequält zurück, wirkte aber ansonsten gefasst. Wenn sie in der kurzen Zeit ihrer Abwesenheit geweint hatte, war es ihr gelungen, alle Spuren zu beseitigen.
»Ist alles in Ordnung mit dir?«, erkundigte sich Sara besorgt.
»Ja.« Olivia nickte und wechselte unvermittelt das Thema. »Habt ihr das Christkind gesehen?«, fragte sie die Kinder.
»Ja!«, schrie Noah.
»Nein«, erwiderte seine Schwester gleichzeitig.
»Es kommt bestimmt bald.« Olivia schaute Sara an. »Nicht wahr?«
Sara warf ihrer Schwester einen finsteren Blick zu, sagte aber nichts.
Halte mich da gefälligst raus, gab sie Olivia wortlos zu verstehen.
Ihre Schwester wusste genau, wie sie darüber dachte. Sollte sie selbst einmal Kinder haben, wollte sie auf keinen Fall an der Christkindtradition festhalten, mit der sie und Olivia aufgewachsen waren. Dabei ging es ihr gar nicht so sehr um den christlichen Hintergrund, sondern vielmehr um die Person des Christkinds. In ihrer Familie war es gütig und freundlich, solange die Kinder gehorchten. Es konnte aber auch zu einer bösen, rachsüchtigen Gestalt mutieren. Das perfekte Druckmittel für Jeanette. Jedenfalls solange Sara und Olivia noch an das Christkind geglaubt hatten. Dass es sich dabei angeblich um ein Wesen handelte, das von Kindern nicht gesehen werden konnte, hatte die ganze Sache besonders unheimlich gemacht. Hatte ihre Schwester das etwa alles vergessen? Obwohl Sara inzwischen dreiunddreißig Jahre alt war, ließen die Erinnerungen an diese Zeit sie nicht los.
Anscheinend erriet Olivia, was in ihr vorging.
»Schon gut«, sagte sie leise.
Sara bemerkte, dass Amelie sie aufmerksam anschaute. Vermutlich verstand das kleine Mädchen sehr viel mehr, als sie alle ahnten.
Sara lächelte aufmunternd. »Ich bin mir ganz sicher, dass du Geschenke bekommst, ebenso wie dein Bruder«, sagte sie, und dabei hätte sie es belassen sollen, aber leider fügte sie dann noch hinzu: »Ich würde alles darum verwetten.«
Noah schaute sie fragend an. Es war ihm anzusehen, wie die Gedanken in seinem Kopf umherwirbelten, bis sie schließlich in eine Frage mündeten.
»Wirklich alles? Aber das darfst du doch gar nicht. Da musst du zuerst den Paul fragen.«
Sara war überrascht. »Wie kommst du denn darauf?«
»Weil Paul der Mann ist. Papa hat gesagt, dass Männer bestimmen müssen, weil Frauen nicht alles verstehen.«
Olivia schaute betreten zur Seite. »Das war doch nur ein Witz, das hat Gernot nicht so gemeint.«
»Papa hat gesagt, mit so was macht er keine Scherze«, mischte Amelie sich ein. Sie wirkte bedrückt, als sie hinzufügte: »Und ich soll mir das schon mal für später merken.«
»Olivia, wie kannst du so etwas zulassen?«, entfuhr es Sara. »Das ist ja noch schlimmer als das, was wir durchgestanden haben.«
»Das hat er nur gesagt, weil er wütend war«, verteidigte Olivia ihren Mann. »Und überhaupt habe ich keine Lust, jetzt darüber zu reden. Mit dir sowieso nicht.«
»Zankt ihr euch jetzt auch?«, fragte Noah interessiert.
Sara atmete tief durch. »Nein, wir zanken uns nicht. Wir wollen doch alle zusammen Weihnachten feiern.«
»Ja, das wollen wir.« Olivia nickte zustimmend. »Und wir lassen uns den Abend durch nichts verderben.«
Saras Ärger verrauchte, als ihre Schwester sie beschwörend ansah. »Genau! Wir werden diesen Abend alle zusammen genießen.«
Olivia griff nach Saras Hand, als sie zurück in den Salon gingen.
Jeanette saß dort mit verkniffener Miene in einem Sessel, ein Glas Wein in der Hand.
Richard hingegen lächelte, als sie den Raum betraten. Ganz so, als wäre er mit sich und der Welt restlos zufrieden.
Paul, der neben ihrem Vater auf der breiten Ledercouch saß, wirkte angespannt, lächelte jetzt aber sichtlich befreit auf.
»Kinder, es ist Weihnachten!« Richard erhob sich und breitete die Arme aus. »Was gibt es da Schöneres, als mit der ganzen Familie zusammen zu feiern?«
»Da fällt mir eine ganze Menge ein«, flüsterte Olivia.
Sara schaute sie an, und dann brachen sie beide in lautes Lachen aus.
»Es war doch noch ein ganz netter Abend gestern.« Paul war dabei, seine Reisetasche zu packen, hielt aber kurz inne. »Obwohl du mich stundenlang mit deinen Eltern allein gelassen hast.«
»Stundenlang?« Sara schaute ihn grinsend an. »Du übertreibst mal wieder. Olivia und ich waren höchstens zwanzig Minuten mit den Kindern im Wintergarten.« Sie sah ihn fragend an. »Hat Jeanette noch etwas wegen unserer Reise gesagt?«
»Sie nicht, aber dein Vater. Er war sehr interessiert und wollte genau wissen, was wir in diesen drei Wochen unternehmen wollen. Ich hatte das Gefühl, dass er uns am liebsten begleiten würde, und …« Paul brach ab, als sein Handy den Eingang einer Nachricht meldete. Er nahm es vom Nachttisch, schaute aufs Display und stieß einen überraschten Ausruf aus. »Eine Nachricht von deinem Vater.«
»Will er uns jetzt etwa wirklich begleiten?«, fragte Sara amüsiert. »Das wird meiner Mutter aber nicht gefallen.«
»Nein, das nicht. Aber er spendiert uns für die zwei Tage in Vancouver die Übernachtung in einem Luxushotel.«
»Was?« Sara trat neben Paul und nahm ihm das Telefon aus der Hand. »Wow, das ist ja wirklich ein richtiger Luxusschuppen.«
Sie klickte sich durch die Seiten, dann las sie den Text, mit dem ihr Vater die Buchungsunterlagen gemailt hatte:
Ein zusätzliches Weihnachtsgeschenk. Ich wünsche euch eine wundervolle Zeit in Kanada.
»Meine Mutter weiß bestimmt nichts davon.«
Sara war gerührt. Sie spürte, dass dieses Geschenk ihres Vaters von Herzen kam.
»Wir sollten ihn anrufen«, schlug Paul vor.
In dem Moment kam die nächste Nachricht:
Ruft mich nicht an, um euch zu bedanken. Ich weiß, dass ihr dazu keine Zeit habt.
»Ich hatte recht, Mama weiß nichts davon. Und weil sie jetzt bei ihm ist, will er nicht, dass wir ihn anrufen.«
Also schrieb sie ihm eine Nachricht zurück:
Danke, Papa. Das ist so eine tolle Überraschung. Wir bringen dir etwas Schönes aus Kanada mit.
Ich hab dich lieb.
Zurück kam ein Smiley.
»Hat dein Vater dir und deiner Schwester je gesagt, dass er euch liebt?« Paul sah sie mitleidig an.
Traurig schüttelte Sara den Kopf. »Er kann das nicht. Ich habe auch nie gehört, dass meine Eltern sich gegenseitig ihrer Liebe versichert haben. Gefühle werden bei uns nicht gezeigt.«
Paul schüttelte verständnislos den Kopf. Die Mitglieder seiner Familie waren da ganz anders: herzlich, liebevoll und immer bereit, sich ihre Gefühle füreinander zu zeigen. Seine Eltern lebten schon seit Jahren auf Mallorca, seine Schwester Nadja und ihre Familie in der Nähe von Hannover. Einmal im Jahr trafen sie sich alle in der Finca der Eltern. Sara war von Anfang an mit offenen Armen aufgenommen worden.
»Was ist eigentlich mit Olivia und Gernot los?«, fragte Paul in ihre Gedanken hinein.
»Ich weiß es nicht, und ich werde es auch nicht erfahren. Olivia wird sich mir nicht anvertrauen, weil ich Gernot nicht ausstehen kann.« Sara war bedrückt, sie machte sich Sorgen um ihre Schwester. »Vielleicht sollte ich sie doch noch einmal anrufen, bevor wir abreisen.«
Paul nickte zustimmend und öffnete den Mund, doch er kam nicht mehr dazu, etwas zu sagen. Es klingelte an der Tür.
»Erwartest du jemanden?«
Sara schüttelte den Kopf. »Wollen wir uns totstellen?« Sie hatte keine Lust auf Besuch. Viel lieber wollte sie ihre Reisetasche packen und diesen ersten Weihnachtstag in aller Ruhe mit Paul ausklingen lassen. Sie schaute auf die Uhr. »Es ist ziemlich unverschämt, nach einundzwanzig Uhr irgendwo unangemeldet aufzutauchen. Und dann auch noch ausgerechnet an Weihnachten!«
Paul wirkte nicht überzeugt. »Vielleicht ist es wichtig.«
Wieder klingelte es, und gleich darauf pochte jemand laut gegen die Tür.
»Ich weiß, dass ihr da seid!«
Sara und Paul schauten sich an.
»Angus«, sagten sie gleichzeitig.
Im nächsten Moment stöhnte Sara laut auf. »Nicht heute! Nicht Angus!«
»Ich schicke ihn wieder weg«, versprach Paul und ging zur Tür.
»Das schaffst du nicht«, erwiderte Sara mutlos. »Hast du ihm denn nicht gesagt, dass wir morgen nach Vancouver fliegen?«
»Natürlich weiß er das«, erwiderte Paul gereizt, als er das Zimmer verließ. Kurz darauf hörte Sara, wie er die Wohnungstür öffnete.
»Endlich!« Angus’ Stimme klang genervt.
Aufgebracht ging Sara in den Flur. »Verdammt, Angus, was soll das?«
Angus starrte sie trübsinnig durch seine dicken Brillengläser an. Wie viele sehr große Menschen beugte er die Schultern ein wenig nach vorn. Obwohl er wie Paul erst sechsunddreißig Jahre alt war, schimmerten bereits einige Silberfäden in seinem dichten Haar. Außerdem war es schon lange nicht mehr geschnitten worden. Widerspenstig stand es in alle Richtungen ab und ließ seinen Look wild und fast ein wenig ungepflegt wirken.
»Tut mir leid«, entschuldigte er sich kleinlaut. »Es ging nicht anders. Ich bin völlig verzweifelt.« Er verstummte für einen kurzen Moment. »Und morgen ist Paul weg.«
Das klang so, als hätte Paul die Absicht, für immer zu verschwinden. Wahrscheinlich kam es Angus auch so vor.
Sara schwankte zwischen Belustigung und Ärger. Sie mochte Angus, fand ihn aber gleichzeitig ziemlich anstrengend. Wobei es vor allem Pauls Zeit war, die Angus beanspruchte.
»Komm schon rein«, sagte sie und wies auf die offene Wohnzimmertür.
»Habt ihr ein Bier für mich?«
»Aber nur eins«, sagte Paul streng. »Wir müssen noch packen.« Er ging in die Küche.
Angus schlurfte an Sara vorbei und ließ sich schwer aufs Sofa fallen.
»Wollt ihr wirklich morgen fliegen?«, vergewisserte er sich.
»Ja.« Sara setzte sich ihm gegenüber in den Sessel.
Paul kam mit einer geöffneten Bierflasche zurück und stellte sie vor Angus auf den Tisch.
»Trinkt ihr nichts?« Angus schaute sie abwechselnd fragend an, während er gleichzeitig nach der Flasche griff.
»Wie Paul schon sagte: Wir müssen noch packen.«
»Und unser Flug geht schon um kurz nach sieben«, ergänzte Paul.
Angus hielt die Flasche immer noch in der Hand, trank aber nicht.
»Du kannst nicht weg.« Eindringlich schaute er Paul an. »Ich schaffe diesen verdammten Roman nicht, wenn du nicht da bist.«
Angus Thiele war einer der Autoren, für die Paul zuständig war. Seine letzten beiden Bücher waren Bestseller gewesen, und seither setzte Angus sich selbst unter Druck. Die Angst, dass sein neues Werk floppen könnte, setzte ihm so sehr zu, dass er seine Abgabetermine nicht mehr einhalten konnte. Der Erscheinungstermin seines nächsten Buches war bereits um ein halbes Jahr verschoben worden.
»Natürlich schaffst du das!«, erwiderte Paul streng. »Es ist schließlich nicht dein erster Roman.«
»Es geht einfach nicht, mir fällt nichts ein.« Angus stellte die Flasche zurück auf den Tisch und sprang auf. »Ich sitze zu Hause an meinem Computer und starre auf einen leeren Bildschirm.«
»Wie weit bist du denn jetzt?«, erkundigte sich Paul mit sanfter Stimme.
Angus setzte sich wieder. In einer hilflosen Geste hob er die Hände und ließ sie wieder fallen. »Auf Seite einunddreißig.«
»Waaas?« Jetzt war Paul derjenige, der alarmiert aufsprang. »Einunddreißig von dreihundert Seiten? Wir hatten vereinbart, dass du dein Manuskript nach meiner Rückkehr aus Kanada abgibst. Also in drei Wochen.«
»Das schaffe ich nicht.« Angus schüttelte den Kopf und trank einen Schluck.
Sara hielt sich aus der Unterhaltung heraus. Beide Männer taten ihr leid. Angus, der so hilflos wirkte, aber auch Paul, in dessen Miene sich das Entsetzen über Angus’ Ankündigung zeigte.
»Nein, das schaffst du niemals«, brach es aus ihm heraus.
»Sage ich doch die ganze Zeit.« Angus trank erneut einen Schluck. »Du musst deine Reise verschieben, bis ich fertig bin.«
Das war zu viel für Sara.
»Du spinnst!«, fuhr sie den ungebetenen Gast an.
»Ja.« Angus nickte trübsinnig und nahm noch einen Schluck, dann erhob er sich. »Tut mir leid, dass ich euch gestört habe.«
Paul stand ebenfalls auf. »Angus, du musst dich jetzt zusammenreißen.«
»Ja.« Es klang weder überzeugt noch überzeugend.
»Ich werde von Kanada aus mit dem Verlag telefonieren und dafür sorgen, dass der Erscheinungstermin noch einmal verschoben wird«, versprach Paul. »Aber du musst endlich zusehen, dass du deine Schreibblockade durchbrichst. Mach dich von diesem Erfolgsdruck frei.«
»Wenn ich keine Bestseller mehr schreibe, wirst du bestimmt nichts mehr von mir annehmen.«
»Es ist bedeutend schlimmer, wenn du nicht endlich schreibst«, erwiderte Paul trocken. »Wenn es kein Manuskript gibt, ist da auch nichts, was ich annehmen könnte.« Er trat auf den Autor zu und stieß ihn freundschaftlich an. »Versprich mir, dass du in den nächsten drei Wochen intensiv an dem Roman arbeitest. Danach werden wir überlegen, wie es weitergeht.«
Angus nickte mit bedrückter Miene und verabschiedete sich. An der Tür wandte er sich noch einmal um.
»Ich wünsche euch eine schöne Zeit in Kanada.«
Sara ging zu ihm und umarmte ihn. »Ich glaube ganz fest an dich. Und ich kann es kaum abwarten, dein neues Buch zu lesen.«
Angus lächelte. Das erste Mal, seit er überraschend bei ihnen aufgetaucht war.
»Danke«, sagte er leise. »Ich werde immer daran denken, wenn mich erneut Zweifel überkommen.«
Dann war er weg.
»Er wird es doch hinkriegen?«, fragte Sara besorgt.
»Er wird es schaffen.« Paul nickte zuversichtlich. »Aber es wird dauern.«
»Hoffentlich wisst ihr es zu schätzen, dass ich so früh für euch aufgestanden bin.« Tobias, Pauls bester Freund, öffnete den Kofferraum.
»Das tun wir.« Paul wuchtete Saras Reisetasche in den Wagen. »Du lieber Himmel, was hast du alles eingepackt?«
»Nur das Wichtigste.« Sara lachte. »Aber immerhin werden wir drei Wochen unterwegs sein.«
Paul präsentierte seine eigene Reisetasche, die bedeutend kleiner und nicht einmal prall gefüllt war.
»Da ist auch alles für drei Wochen drin.«
Sie küssten sich, bis Tobias sie unterbrach. »Nur zu, ich habe Zeit. Aber ich glaube nicht, dass der Pilot auf euch zwei Turteltauben warten wird.«
Lachend stieg Sara ins Auto und rief überschwänglich: »Auf in unser kanadisches Abenteuer!«
»Vancouver!« Überwältigt starrte Sara durch das Fenster, als das Flugzeug durch die dichte Wolkendecke stieß. Sie spürte das typische Fallgefühl, als die Maschine an Höhe verlor. Gleichzeitig erschien das Zeichen zum Anschnallen. Unter ihr zeigte sich die Skyline der Stadt. Die Hochhäuser wirkten wie Spielzeuge. Hinter der Stadt erstreckten sich die Coast Mountains, während der glitzernde Pazifik in der Ferne schimmerte. Es war ein atemberaubendes Panorama, eine perfekte Mischung aus urbanem Leben, verschneiter Natur und der Weite des Ozeans. Ein ruckelndes Geräusch war zu hören, als das Fahrwerk ausfuhr.
Paul beugte sich zu ihr hinüber, um ebenfalls aus dem Fenster zu sehen. Als die Maschine aufsetzte, drückte er fest ihre Hand.
Sie erreichten gerade das Land ihrer Träume. Vielleicht galt dieser erste Blick ja auch ihrer zukünftigen Heimat. Kein Wunder, dass Paul ebenso bewegt war wie sie selbst.
»Hoffentlich arbeitet Angus an seinem Manuskript«, sagte er nachdenklich.
Sara starrte ihn entgeistert an und entzog ihm die Hand.
»Wieso denkst du ausgerechnet jetzt an Angus?«
Paul zeigte nach draußen. »Begegnung im Schnee«, zitierte er den Arbeitstitel des Romans, an dem Angus gerade arbeitete. Oder auch nicht, wie Paul es offensichtlich befürchtete. »Hoffentlich kommt er allein zurecht.«
»Mit sensationell Modell RBB Sie bekommen teutonische Gemütlichkeit für Zuhaus und Erfolg als moderner Mensch bei anderes Geschlecht nach Weihnachtsgans aufgegessen und länger, weil Batterie viel Zeit gut lange …«
»Was willst du mir damit sagen?«, fragte Paul lachend.
»Das ist die Bedienungsanleitung der elektrischen Beleuchtung, die ich vor Weihnachten bekommen habe und jetzt in verständliches Deutsch übersetzen soll.« Sara versuchte ein Lächeln, doch es wollte ihr nicht so recht gelingen. »Wir können die nächsten beiden Wochen in einem Hotelzimmer verbringen und arbeiten, wenn dir das lieber ist. Oder wir …«
»Oder«, fiel Paul ihr ins Wort. »Ich entscheide mich auf jeden Fall für Oder.« Zärtlich küsste er sie.
Das Flugzeug wurde langsamer, rollte langsam aus und kam kurz vor dem Flughafengebäude zum Stehen. Es entstand das übliche Gedränge. Nur Sara und Paul blieben sitzen und ließen den Mitreisenden den Vortritt.
Angestrengt versuchte Sara, die aufkommende Aufregung in den Griff zu bekommen. Sie konnte es immer noch nicht fassen, dass sie endlich angekommen waren. Seit Jahren träumten sie und Paul von diesem Moment. Tatsächlich war Kanada sogar schon bei ihrem ersten Date Gesprächsthema gewesen.
Plötzlich tauchte die Stewardess neben ihren Plätzen auf.
»Wollen Sie wieder mit zurückfliegen?«, erkundigte sie sich augenzwinkernd.
»Auf keinen Fall.« Paul stand ein wenig schwerfällig auf, ebenso wie Sara. Nach dem langen Flug hatte sie das Gefühl, dass ihre Beine steif und ungelenk waren.
Die Stewardess lachte. »Das habe ich mir gedacht. Ich wünsche Ihnen einen wundervollen Aufenthalt.«
»Danke.« Sara strahlte sie an.
Auch Paul bedankte sich. Er nahm ihr Handgepäck aus dem Fach über ihren Sitzen, dann verließen sie gemeinsam die Maschine.
Am Ausgang, gleich am Übergang zum Gate, stand eine weitere Stewardess.
»Danke, dass Sie mit Canada Flight geflogen sind«, verabschiedete sie sich.
»Jederzeit wieder«, versicherte Sara lächelnd.
Hand in Hand betraten sie das Innere des Flughafengebäudes und folgten dem Strom der Menschen bis zu den Gepäckbändern. Hier war es besonders voll und chaotisch. Reisende aus unterschiedlichen Ländern und Kulturen begegneten ihnen, alle auf dem Weg zu verschiedenen Zielen. Uniformierte Mitarbeiter standen bereit. Es herrschte die typische pulsierende Energie wie an allen Flughäfen dieser Welt.
Sara und Paul stellten sich neben das Band und warteten darauf, dass es sich in Bewegung setzte und die Koffer brachte.
»Bleib kurz hier, ich organisiere einen Gepäckwagen.« Ohne ihre Antwort abzuwarten, entfernte sich Paul.
Sara blieb im Pulk der anderen Passagiere stehen und wartete.
Als Paul zurückkam, trudelten gerade die ersten Gepäckstücke auf dem Laufband ein. Er stellte den Wagen neben sie, lächelte ihr zu und hechtete zum Band. Kurz darauf kam er mit ihren beiden Reisetaschen zurück. Danach musste er noch einmal los, um nach dem großen Koffer Ausschau zu halten. Als er alles verstaut hatte, schloss er Sara fest in die Arme.
»Jetzt beginnt unser kanadisches Abenteuer.«
Die komplette Längsseite ihres Hotelzimmers bestand aus Glas. Andächtig standen Sara und Paul davor, und sie schmiegte sich an ihn, als er ihr einen Arm um die Schultern legte.
Die Aussicht war atemberaubend. Still standen Sara und Paul da und starrten hinaus auf die Skyline von Vancouver, die sich vor ihnen ausbreitete. Die untergehende Sonne tauchte die Stadt in ein warmes, goldenes Licht und zauberte lange Schatten auf die Straßen und Gebäude.
Im Vordergrund erstreckte sich der Stanley Park bis an das Ufer des Pazifiks. Der Anblick der majestätischen Bäume, die hoch in den Himmel ragten, hatte beinah etwas Magisches.
Das Meer funkelte in der Abendsonne, und Sara erkannte deutlich die Boote und Schiffe, die sich langsam durch die Bucht bewegten. Einige der Gebäude in der Nähe des Wassers hatten glitzernde Fassaden, die das Licht reflektierten und ihnen ein fast futuristisches Aussehen verliehen.
Sara und Paul standen eine ganze Weile da und genossen die Aussicht.
»Ich habe Hunger«, sagte Sara irgendwann. Wie zum Beweis meldete sich ihr Magen mit einem lauten Knurren, das selbst das Klopfen an der Tür übertönte. Josh, der Etagenkellner, der sie bereits bei ihrer Ankunft begrüßt hatte, erkundigte sich, ob alles zu ihrer Zufriedenheit sei.
Paul nickte, während Sara den jungen Kanadier nachdenklich betrachtete. Er sah nett aus und war offensichtlich noch ziemlich jung. Sara schätzte sein Alter auf Anfang zwanzig. Außerdem sprach er hervorragend Deutsch.
»Sie kennen sich doch bestimmt sehr gut in Vancouver aus, Josh?«, fragte sie.
Er wirkte ein wenig verlegen, als er mit dem Kopf schüttelte.
»Ehrlich gesagt bin ich erst seit einer Woche hier«, gestand er. »Aber wenn Sie etwas über die Stadt wissen wollen, kann ich das gerne für Sie in Erfahrung bringen.«
Kerzengerade stand der junge Kellner vor ihnen. Ganz so, wie es sich wahrscheinlich für ein erstklassiges Hotel in Jeanettes und Richards Preisklasse gehörte. So richtig wohl schien er sich in seiner Rolle allerdings nicht zu fühlen.
»Aber Sie wissen doch bestimmt, ob es hier in der Nähe ein Restaurant gibt?«, forschte Sara weiter nach.
»Jaaaa …«, erwiderte er gedehnt. »Unser Hotelrestaurant genießt einen sehr guten Ruf.« Er zögerte einen Moment, bevor er hinzufügte: »Es ist aber nicht gerade preiswert.«
Sara lachte laut auf. »Josh hat erkannt, dass wir eigentlich nicht hierher gehören«, sagte sie an Paul gewandt.
Joshs Gesicht lief rot an. »Nein, so habe ich das nicht gemeint.« Seine Stimme überschlug sich fast. »Entschuldigen Sie bitte, wenn ich mich falsch ausgedrückt habe. Meine Deutschkenntnisse sind nicht so gut.«
»Sara hat recht«, erwiderte Paul entspannt. »Das hier ist normalerweise nicht unsere Preisklasse.«
»Und nicht unser Stil«, warf Sara schnell ein. Selbst hier und obwohl Josh ihren Hintergrund nicht kannte, war es ihr wichtig, sich von allem zu distanzieren, was eine Verbindung zum Leben ihrer Eltern schuf.
Pauls Grinsen zeigte ihr, dass er genau wusste, was in ihr vorging. Er sagte jedoch nichts, sondern wandte sich gleich wieder Josh zu.
»Sie sprechen ausgezeichnet Deutsch. Wo haben Sie das gelernt?«
Josh errötete wieder, diesmal offensichtlich vor Stolz.
»Meine Großeltern kamen aus Deutschland, deshalb war es meiner Mutter sehr wichtig, dass ich ihre Sprache verstehe und spreche. Und deshalb habe ich auch sofort die Stelle hier im Hotel bekommen.« Er zuckte plötzlich zusammen und schlug sich eine Hand vor den Mund. »Sorry, aber so sollte ich mit Gästen nicht reden.«
»Das ist schon okay.« Sara winkte ab. »Sie wissen ja jetzt, dass wir nicht dem Typus Gäste entsprechen, die normalerweise hier einchecken.«
Joshs Blick wechselte zwischen ihr und Paul hin und her, und plötzlich begann er ebenfalls zu grinsen.
»Schön, hier mal ganz normale Menschen zu treffen«, entfuhr es ihm, doch unmittelbar darauf zuckte er erneut erschrocken zusammen. »Das war jetzt nicht sehr nett«, stieß er hastig hervor. »Ich wollte damit nicht sagen, dass die anderen Gäste nicht … Also, ich meine, sie sind ja eigentlich alle … Aber ich …« Hilflos schaute er sie an.
»Sie müssen uns nichts erklären«, versicherte Sara. »Meine Eltern gehören in solche Hotels, deshalb weiß ich genau, was Sie meinen.«
Josh wirkte erleichtert. »Wenn Sie nicht in unserem Hotelrestaurant essen möchten – obwohl ich das eigentlich empfehlen sollte –«, fügte er mit einem verschmitzten Lächeln hinzu, »kann ich mich einmal unauffällig bei den Kollegen umhören, ob sie ein Restaurant in der Nähe kennen, wo man gutes und bezahlbares Essen bekommt.«
»Wo essen Sie denn, wenn Sie ausgehen?«, fragte Sara.
Ein Lächeln zog über Joshs Gesicht. »Ich esse am liebsten in Pete’s Diner, da gibt es die beste Poutine.«
Sara klatschte begeistert in die Hände. »Die wollte ich auf jeden Fall probieren!«
»Was ist das?«, fragte Paul.
Saras Augen leuchteten auf. »Lass dich überraschen.« Als sie sah, dass Josh zu einer Erklärung ansetzte, legte sie den Zeigefinger an die Lippen. »Nichts sagen, denn dann will Paul das nicht mehr essen.« Sie streifte mit den Händen über ihren Körper und sagte mit tiefer Stimme: »Mein Körper ist mein Tempel, da stopfe ich nichts Fettiges oder Ungesundes rein.«
Josh musste nun ebenfalls lachen. In den letzten Minuten hatte er die steife Förmlichkeit vollkommen abgelegt.
»Poutine ist gut für die Seele, deshalb glaube ich nicht, dass sie ungesund ist. Also, wenn man sie nicht zu oft isst«, schränkte er gleich darauf ein.
»Ich will in Pete’s Diner.« Sara schaute Paul bittend an. Bei dem bloßen Gedanken an Essen lief ihr das Wasser im Mund zusammen, obwohl sie diese kanadische Köstlichkeit noch nie probiert hatte.
Paul nickte ergeben. »Können Sie mir die Adresse geben?«
»Ich habe in einer halben Stunde Feierabend.« Diesmal flüsterte Josh, obwohl sie alleine im Raum waren. Dabei lächelte er verschmitzt. »Nachdem wir die ganze Zeit über Petes Essen gesprochen haben, bin ich auch hungrig. Ich nehme Sie beide gerne mit.«
Sie verabredeten sich an der Haltestelle eine Straße weiter. Als Sara und Paul ankamen, wartete Josh bereits auf sie. Statt des eleganten Anzugs trug er nun Jeans und eine warme Jacke, dazu hatte er sich einen Schal locker um den Hals geschlungen. Fröhlich winkte er ihnen zu und strahlte über das ganze Gesicht.
»Cool, dass Sie wirklich kommen.« Er freute sich offensichtlich. »Und da ist auch schon der Bus.«
Auf der Fahrt nach Gastown, ein historischer Stadtteil im Zentrum Vancouvers, gingen sie zum vertrauten Du über, und als sie ausstiegen, kam es ihnen so vor, als würden sie sich schon ewig kennen.
»Gastown!« Josh breitete die Arme aus. »Und gleich dahinten ist Pete’s Diner.«
Sara folgte mit dem Blick seinem ausgestreckten Finger, doch dann wurde sie abgelenkt, als sie eine Metalluhr entdeckte, aus der Rauch waberte.
»Das Ding brennt!« Diesmal war sie diejenige, die den Finger ausstreckte.
Josh brach in lautes Lachen aus.
»Das ist die weltweit einzige dampfbetriebene Uhr«, erklärte er, als er sich wieder beruhigt hatte.
Sie traten näher, doch während Paul sich sehr für die Technik und die Geschichte der Uhr zu interessieren schien, verspürte Sara ausschließlich Hunger. Sie ließ ihren Blick schweifen und entdeckte einige Meter weiter die hell erleuchtete Scheibe mit der schnörkellosen Inschrift Pete’s Diner.
Zum Glück schien den beiden Männern das nicht zu entgehen, und nur wenige Augenblicke später traten sie durch die Tür.
»Hi, Josh«, sagte der große Mann mit grau meliertem Haar und Schnauzbart hinter dem Tresen. Er trug eine rote Schürze und wischte mit einem Lappen über die Theke.