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Kinder, die spurlos im Meer verschwinden. Immer zur gleichen Zeit des Jahres. Ein verzweifelter Vater auf der Suche nach seinem Sohn.
Martin und Alexandra leben mit ihren beiden Kindern in einem kleinen Fischerhaus auf der Insel Orust an der Westküste Schwedens. Martin liebt das Meer über alles, bis zu dem Tag, an dem sein dreijähriger Sohn Adam in den Wellen verschwindet. Die Polizei geht von einem Ertrinkungstod aus, und für Martin bricht die Welt zusammen. Nur die Fotografin Maya findet noch einen Zugang zu ihm. Gemeinsam machen sie eine verstörende Entdeckung: Adam ist nicht das erste Kind, das an einem 11. Januar aus dem Fischerhaus verschwunden ist. Liegt ein Fluch über dem Ort – oder gibt es eine logische Erklärung? Ohne es zu wissen, begibt sich Maya in große Gefahr.
»Ein knochenhartes cooles Krimi-Debüt.« – Paula Hawkins über Opfermoor
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Seitenzahl: 297
Veröffentlichungsjahr: 2024
SUSANNEJANSSON wurde 1972 in einer Kleinstadt nahe der norwegischen Grenze geboren. Sie ließ sich in New York zur Fotografin ausbilden, bevor sie nach Schweden zurückkehrte, um Journalismus zu studieren. Ihr Debütroman Opfermoor verkaufte sich noch vor Erscheinen in über 20 Länder. Winterwasser ist ihr zweiter Roman und erscheint posthum. Die Autorin verstarb 2019 an einer Krebserkrankung.
www.penguin-verlag.de
SUSANNE JANSSON
THRILLER
Aus dem Schwedischen von Lotta Rüegger und Holger Wolandt
Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel Vintervatten
bei Wahlström & Widstrand, Stockholm.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
Copyright © 2020 der Originalausgabe by Susanne Jansson
Copyright © 2024 der deutschsprachigen Ausgabe by Penguin Verlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Published by agreement with Paloma Agency
Trotz sorgfältiger Recherche und Nachforschungen konnten leider nicht alle Rechteinhaber ermittelt werden, bei berechtigten Ansprüchen wenden Sie sich bitte an den Verlag.
Redaktion: Marie-Sophie Kasten
Covergestaltung: www.buerosued.de
Covermotiv: Getty Images/Roberto Moiola/Sysaworld und www.buerosued.de
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-22370-0V001
www.penguin-verlag.de
Don’t wait any longer.
Dive in the ocean,
leave and let the sea be you.
Jalal Al-din Rumi (1207 – 1273)Übersetzt von Coleman Barks (The Illuminated Rumi, Broadway Books, 1997)
Es waren die Himmel, die vielen, die großen.
Die Himmel über dem Meer, in ständiger Veränderung.
Die schweren schmutzweißen. Die hellblauen sorglosen, mit nur wenigen Streifen Weiß. Sie erinnerten an hübsch gefälteltes Seidenpapier über einem wunderbar goldgelben Schimmer, die stummen stahlgrauen Himmel, die blitzenden und abgrundtiefen und irrsinnig donnernden.
Die Himmel wölbten sich über den weichen, von Gletschern in Jahrtausenden glattgeschliffenen Felsen, und breiteten sich, alles beherrschend, über der Welt aus.
Sie wurden geformt, lösten sich auf und entstanden wieder in neuer Gestalt, man wusste nie, in welcher.
Das waren die Himmel.
Und die Gewässer.
Und die Felsen.
Das war alles.
Und dann die Menschen. Diese kleinen Menschen, die ihre Häuser auf den zerfurchten Landmassen errichtet hatten. Zum Heringsfang, damals, vor langer, langer Zeit, als die Fischschwärme so groß waren wie nie zuvor. Noch nie hatten sie solche Fischschwärme erlebt. Es hieß, man habe zwischen den Inseln hin und her gehen können. Es sei mehr Fisch als Wasser im Meer gewesen.
Die Menschen wohnten auf diesen Inseln und begaben sich unter all diesen Himmeln auf diese Gewässer hinaus. Und manchmal, nicht selten, gar nicht selten, fiel jemand unter einem dieser Himmel in dieses Wasser, dort wo er nicht hätte hineinfallen dürfen, und so war es dann einfach. Für die Menschen spielte das natürlich eine Rolle, aber nicht für die Gewässer, und für die Himmel auch nicht.
Vielleicht waren dann Rufe zu hören, ein Name, den der Wind verwehte. Rufe von Land oder von einem Boot übers Meer.
Manchmal im Winter, wenn das Meer tiefer und dunkler wurde, war von anderen Rufen die Rede. Sie kamen vom Meer, drangen an Land. Verspielte und lockende Rufe.
Aber vielleicht sagte man das nur so.
Vielleicht war es auch nur der pfeifende Wind.
Wohlwollend leuchtete das Sonnenauge in der Höhe und schickte einige Lichtstrahlen hinab, die kurz unter der Wasseroberfläche barsten und auseinanderfielen. Das Licht seiner Stirnlampe wurde schwächer. Er hätte den Akku aufladen sollen. Nun, er war ja bald fertig.
Martin ließ den Blick über die Zuchtleinen seiner Aquakultur gleiten. Von Seegras und Muscheln überzogen glichen sie einem Unterwassergarten. Schließlich erreichte er den letzten am Meeresgrund vertäuten Anker. Er überprüfte die Festigkeit, indem er mehrmals an den Leinen zog. Alles wirkte intakt, nichts schien beschädigt zu sein.
Alles sah gut aus.
Er machte kehrt, nahm mit den Flossen Geschwindigkeit auf und steuerte auf das am Meeresgrund verlaufende Seil zu. Das eine Ende war in der Aquakultur verankert und das andere am Steg. Inzwischen war ihm richtig kalt. Hände und Rücken fühlten sich schon länger taub an, aber jetzt war sein ganzer Oberkörper eisig und gefühllos wie ein Fleischklumpen.
Zu dieser Jahreszeit, im Januar, war im Meer nicht viel los. Die eine oder andere winzige Krabbe wetzte davon und versteckte sich im Sand, und irgendwo lagen Flundern herum und warteten auf bessere Zeiten. Aber im Großen und Ganzen hatte die Kälte das marine Leben stillgelegt.
Spätherbst und Frühwinter waren anders. Die Zeit, wenn die Algen des Sommers verschwunden waren, die richtige Kälte aber noch nicht eingesetzt hatte. Wenn die Sicht klar war und überall Leben herrschte.
Wenn Regen, Schmuddelwetter und Stürme den Himmel verdunkelten, war man in der Ruhe und Stille unter der Wasseroberfläche bestens aufgehoben. Dann tauchte er häufig einfach nur zum Vergnügen.
Es war die schönste Art der Entspannung, schwerelos im Meer zu treiben, wenn die Welt auf die Fläche reduziert wurde, die der Lichtkegel seiner Taschenlampe erhellte. Alles andere verschwand dann. Mit den Gewässern in den Tropen war das nicht zu vergleichen. Dort betrug die Sicht in alle Richtungen zwanzig Meter. Hier waren die Dunkelheit, die Nähe und die Details der Sinn der Sache.
Unmittelbar unter der Oberfläche schwammen die Quallen. Die kleinen Seestachelbeeren glitzerten in verschiedenen Farben, wenn sie angestrahlt wurden. Und die Feuerquallen, die mit ihren meterlangen Tentakeln auf der Jagd waren: gesunde und starke Organismen in ihrem wahren Element, nicht diese kaputten, halbtoten Quallen, die normalerweise im Sommer in Ufernähe zu finden waren. Aber Vorsicht war angesagt! Einmal hatten sich ein paar Fäden einer Feuerqualle in seinem Atemregler verfangen. Daraufhin war seine Oberlippe bis zur Unkenntlichkeit angeschwollen.
Im Dunkeln zeigten sich auch Wesen, die bei Licht nicht zu sehen waren. Winzige Tintenfische, deren Farbe sich veränderte, wenn sie sich bedroht fühlten, Hummer, die aus ihren Höhlen gekrochen waren und Spaziergänge unternahmen. Oft bekam er sie allerdings nicht zu Gesicht, auch nicht die Krabben, die Seespinnen und die Einsiedlerkrebse. Er musste auf Bewegungen achten und auf die winzigen Augen, die das Licht seiner Taschenlampe reflektierten.
Er ließ seinen Blick über eine Felswand mit Korallen und Seepocken wandern. Plötzlich fühlte er sich beobachtet. Er drehte sich um. Hinter ihm schwebte eine weiße, leicht bläuliche Lungenqualle. Sie erinnerte an ein kleines Gespenst oder vielleicht an einen gerade aus der Erde gezogenen Pilz oder eine Atombombe, die eben explodiert war.
Ihm wurde klar, dass nicht nur er der Betrachter war. Er selbst wurde von allen Seiten beobachtet. Von den Wesen, die herumschwebten oder sich im Sand vergraben oder unter Steinen versteckt hatten, um seinem Blick zu entgehen, und deren Augen nie vom Lichtkegel seiner Taschenlampe erfasst wurden.
Jetzt sah er den Steg beim Schuppen vor sich.
Mit ein paar letzten Fußstößen war er dort. Langsam stieg er das letzte Stück zur Wasseroberfläche auf und bekam die Leiter zu fassen. Er zog die Schwimmflossen aus, warf sie auf den Steg und kletterte die Leiter hinauf. Sie war sehr stabil. Er hatte es sich einige Tausend Kronen kosten lassen, dass sie seinem Gewicht mit kompletter Ausrüstung standhielt.
Auf dem Steg zog er den Atemregler aus dem Mund, löste sämtliche Schläuche, streifte die Druckluftflaschen vom Rücken und legte alles in die bereitstehende Schubkarre. Dann schlurfte er sich mit schweren Schritten zu seinem Pick-up und fühlte sich dabei so gelenkig wie eine auf dem Rücken liegende Schildkröte.
Als er den Neoprenanzug ausgezogen und seine Ausrüstung in dem Wagen aufgehängt hatte, hustete er die Kälte aus den Lungen und ließ sich auf den durchgesessenen Sitz sinken. Er ließ den Motor an, goss sich Kaffee aus der Thermoskanne ein und wärmte seine Hände an dem heißen Becher.
Alles hatte gut ausgesehen.
Es war vorbei, alles würde wieder wie früher sein.
Wenn er doch nur daran glauben könnte!
Eine Viertelstunde später fuhr Martin los. Er umklammerte das Lenkrad, und seine Knöchel traten weiß hervor.
Niemand war zu sehen, als er den Schuppen hinter sich ließ und an dem Bauernhof der Brüder vorbeifuhr.
Er bemerkte keine missbilligenden Blicke. Trotzdem spürte er sie aus allen Richtungen, aus dem Haus, der Scheune oder einer der geparkten Landmaschinen.
Blicke, unterdrückte Wut.
Sie waren dort irgendwo, das wusste er.
Er überlegte, was er sich für die drei Tage, die er mit Adam allein sein würde, einfallen lassen sollte. Vielleicht könnten sie am Samstag einen Ausflug nach Göteborg machen, in den Zoo Slottsskogen. Adam wäre sicher begeistert, besonders wenn sie auch noch seinen Freund Vilgot mitnahmen. Aber morgen wollte er erst einmal zu Hause bleiben und den Schuppen und den Garten aufräumen. Minusgrade und bedeckter Himmel waren vorhergesagt. Kein besonders schönes Wetter, aber auch kein Schneesturm wie letztes Wochenende, als die Straße kaum noch zu sehen gewesen war und er die meiste Zeit in seinen vier Wänden hatte verbringen müssen. Morgen würde er mit Adam ans Meer gehen und Kaffee trinken, nachdem Alexandra und Nellie gefahren waren. Einfach entspannen.
Nach gut zwanzig Minuten bog er auf den Kiesweg zum Kindergarten ein. Er lag direkt am Meer, und seit er die anfängliche Sorge darüber, was alles geschehen könnte, abgelegt hatte, fand er, es sei der schönste in ganz Schweden. Diese ewige Unendlichkeit, in der sich die Kinder jeden Tag aufhalten durften, musste sie irgendwie zu guten Menschen machen, so dachte er manchmal, obwohl er es natürlich eigentlich besser wusste.
Die Kinder saßen auf Baumstämmen, die in einem Viereck um das Feuer platziert waren, und grillten Wurst. Martin parkte seinen Pick-up, suchte mit dem Blick nach seinem Sohn, bis er endlich den blonden Haarschopf und seinen blauen Overall entdeckte. Er blieb einen Augenblick sitzen und schaute einfach nur zu. Adam hatte den Pick-up noch nicht entdeckt. Er befand sich im Augenblick noch in seiner eigenen Welt. Der Welt ohne Eltern. Das zu beobachten faszinierte Martin. Er fand es großartig und auch ein wenig unheimlich, dass Adam auch ohne sie ein Individuum war. Jetzt aß er den letzten Rest seiner Wurst und bekam eine Serviette, um sich den Mund abzuwischen.
Der süße Schmollmund. Die runden, weichen Wangen. Die Augen, die allem gegenüber aufgeschlossen waren, bis sie auf etwas reagierten, was nicht in Ordnung war, nicht akzeptiert werden konnte. Oft Dinge, die mit Mulle zu tun hatten – dass er zu Hause liegen geblieben war und nicht sofort geholt werden konnte. Oder dass er selbst zu einer Puppe oder zu einem Teddybären gemein gewesen war und nicht wusste, wie er sich entschuldigen sollte. Alle Widrigkeiten und Freuden des Lebens konnte Adam irgendwie auf seine Flickenpuppe beziehen.
Martin schob den Sitz nach hinten und streifte die dicke Unterwäsche ab, die er beim Tauchen getragen hatte. Stattdessen zog er Jeans und Pullover über und stieg aus dem Wagen. Als er die Autotür zuschlug, hob Adam den Blick.
»Papa!«
Adam stand auf. Mit ausgestreckten Armen rannte er auf Martin zu.
»Hallo, mein Schatz«, sagte Martin und ging in die Hocke.
Ihre lange Umarmung roch nach Wurst, und Martin spürte, wie sich seine Unruhe auflöste und verschwand.
»Steig ein, ich geh deine Sachen holen und sag Bescheid, dass du morgen nicht kommst.«
Es dämmerte, als sie auf die Landstraße einbogen. Adam saß neben Martin in seinem rückwärtsgerichteten Kindersitz und versuchte, ein Papierflugzeug zu falten. Martins Handy ertönte. Eine Nachricht von Alexandra.
Kaufst du Popcorn? Dahinter ein großes Herz.
Martin lächelte und antwortete mit einem Kuss-Emoji.
Der kleine Lebensmittelladen lag direkt an der Landstraße und wurde vor allem von Leuten frequentiert, die außerhalb von Henån lebten und keine Lust auf die riesigen Supermärkte im Ort hatten. Er führte die notwendigsten Waren, und in einer Ecke standen ein Tisch, ein paar Stühle und ein Kaffeeautomat.
Fast immer stieß man hier auf jemanden, mit dem man sich kurz über Pferdewetten oder Fußball austauschen konnte. Adam saß dann da und wartete und bekam, wenn er Glück hatte, von einer netten Person einen Lutscher oder ein Bonbon.
»Warte hier, ich bin gleich wieder da«, sagte Martin, und Adam rannte, ohne zu antworten, zu einem der Korbstühle, seinem Stammplatz. Rasch suchte Martin zusammen, was er brauchte, und ging zur Kasse, um zu zahlen.
Von der Schlange vor der Kasse aus warf Martin einen Blick auf Adam. Er hatte Lisa auf dem Schoß, einen kleinen Pekinesen, den sie gelegentlich im Laden trafen und der einer älteren Frau gehörte. Martin lächelte, seufzte aber innerlich. Er wusste, was ihm jetzt bevorstand. Das ganze Wochenende würde Adam von Lisa reden. Von ihrem weichen Fell, und wie viel Spaß es machte, mit ihr zu spielen. Ob sie nicht auch so einen Hund kaufen könnten? Wann sie denn endlich so einen Hund kaufen würden? Zu seinem vierten oder erst zu seinem fünften Geburtstag? Ob er den Namen bestimmen dürfte?
Als Martin bezahlt hatte, war Lisa weg, aber Adam hielt ein Schächtelchen mit Süßigkeiten in der Hand.
»Guck mal«, sagte Adam zufrieden und schüttelte das Schächtelchen.
Hinter ihm saß ein stark übergewichtiger Mann Mitte sechzig in Trainingsanzug. Martin kannte ihn nicht. Er beugte sich, auf einen Stock gestützt vor, zwinkerte Martin zu und sagte mit heiserer Stimme:
»Es ist ja bald Samstag. Da darf man mal ein Bonbon.«
Alexandra saß mit Nellie im Arm auf der Küchenbank und ging die Post durch, als Martin und Adam nach Hause kamen. Eine Wandlampe und zwei Kerzen kämpften gegen das Dunkel des Nachmittags an, im Radio liefen die Nachrichten, und in der Küche duftete es nach Parmesan. Auf dem Herd stand Risotto.
»Hast du …?«, fragte Martin erstaunt.
»Tu nicht so schockiert«, erwiderte Alexandra gespielt beleidigt.
Martin zog seine Jacke aus und hängte sie in die Diele, und Adam rannte auf seine Mutter zu, ließ sich umarmen und zeigte ihr das Papierflugzeug und die Süßigkeiten.
»Du kennst die Abmachung«, meinte Alexandra, die in Sachen Erziehung prinzipienfester war als Martin.
»Ein Onkel hat sie mir gegeben.«
»Aber Süßigkeiten gibt es nur samstags.«
»Und wann ist Samstag?«
»Nicht morgen, aber am Tag danach.«
»Aber dann sind die doch schon alle«, erwiderte Adam triumphierend. Er runzelte die Stirn und betrachtete seine Schwester, die mit ein wenig Milch auf ihren winzigen Lippen an Alexandras Brust eingeschlafen war.
»Nellie schläft«, stellte er fest und berührte ihre Wange.
»Stimmt«, flüsterte Alexandra. »Weck sie bitte nicht auf.«
Sie erhob sich und legte ihre Tochter in eine alte Wiege. In ihr hatte schon Martins Vater gelegen und später auch Martin.
Sie kehrte zu Adam zurück und nahm ihn auf den Schoß. Martin beugte sich vor und küsste sie auf den Mund.
»Wie lief’s?«, fragte Alexandra.
Martin hörte die leise Angst in ihrer Stimme. Er ging zum Kühlschrank.
»Bier?«
»Gerne«, antwortete Alexandra. »Im Fernsehen hieß es, Bier sei sehr gut, wenn man stillt.«
»Ach, wirklich?«, erwiderte Martin erstaunt.
»Tja, vielleicht habe ich da auch etwas missverstanden«, antwortete Alexandra mit Unschuldsmiene.
Martin füllte zwei große Gläser mit schäumendem Porter, stellte das eine vor Alexandra auf den Tisch und nahm dann ihr gegenüber Platz. Er schaute aus dem Fenster auf das letzte Rot des Himmels. Obwohl Alexandra gerade gescherzt hatte, wusste er, wie gespannt sie auf seine Antwort wartete.
»Es sah gut aus«, meinte er. »Keine Auffälligkeiten.«
Er fuhr sich nachdenklich mit der Hand durch sein dunkles, dichtes Haar und über seinen Bart. Dann schüttelte er den Kopf.
»Ich glaube, wir müssen uns keine Sorgen mehr machen.« Seine Stimme klang entschieden, als hätte er jetzt beschlossen, dass es einfach so sei. »Ich glaube wirklich, dass es vorbei ist.«
Alexandra hob ihr Glas und tauchte ihre Lippen in den Schaum.
»Hoffentlich«, sagte sie. »Hoffentlich.«
Aaadam. Aaaadam.
Martin erwachte langsam. Die gedehnten Tonschleifen, die Adams Namen bildeten, waberten durch sein Bewusstsein, bis er schließlich erwachte.
Hatte jemand nach Adam gerufen?
Hatte er geträumt?
Jetzt hörte er etwas anderes. Aus dem Fernsehzimmer gegenüber der Schlafzimmertür drang ein vertrauteres Geräusch. Um Alexandra nicht zu wecken, machte er kein Licht, stellte die Füße auf den knarrenden Dielenboden und erhob sich.
Adam stand am niedrigen Fenster hinter dem Fernseher und schaute wie schon so oft nachts aufs Wasser.
Martin setzte sich neben ihm auf den Boden und wartete. Sie ließen ihm immer Zeit, wenn er schlafwandelte, aber nach einer Weile kam es Martin doch recht lange vor. Er richtete sich auf, betrachtete das Wasser und dann wieder seinen Sohn.
Wie er so dastand, sah er so einsam aus. So wehrlos. Der Schlafanzug, den er zu Weihnachten bekommen hatte, war eine Nummer zu groß. Die Hose hing ihm auf der Hüfte, und seine Füße waren unter den zu langen Hosenbeinen nicht zu sehen, während das Oberteil über eine Schulter gerutscht war. Der Mond schien ihm direkt ins Gesicht, sodass es wie Perlmutt schimmerte. Seine Augen waren auf einen Punkt in der Ferne gerichtet.
»Hej«, sagte er plötzlich mit einer Stimme, die so deutlich war, dass sie Martin beinahe Tränen in die Augen trieb. Es klang wie eine Stimme aus einer anderen Welt.
»Nicht jetzt«, fuhr Adam fort, »bald, ich komme bald.«
Dann wurde es lange still.
Schweigend stand Martin neben ihm und spürte, wie sich seine Nackenhaare sträubten. Das war neu. Glaubte Adam, dass er mit jemandem sprach?
Adam kehrte in sein Zimmer zurück, kletterte ins Bett und legte sich zurecht. Martin zögerte einen Augenblick. Er unterdrückte den Impuls, Adam anzusprechen und ihn zu wecken. So war es mit Alexandra abgesprochen. Sie wussten, dass es verschiedene Meinungen dazu gab, ob man Schlafwandler wecken solle oder nicht, aber da sich Adam bei seinen Wanderungen bislang nie selbst gefährdet hatte, ließen sie ihn einfach weiterschlafen. Martin deckte Adam zu und knipste seine kleine Nachtlampe an, die wie eine schlafende Katze aussah. Wieder im Bett, dauerte es noch lange, bis er einschlafen konnte.
Die Schlafwandlerei hatte vor ein paar Monaten angefangen. Die Krankenschwester im Ärztehaus hatte ihnen erklärt, dass das bei Kindern nichts Ungewöhnliches sei und oft durch ungewöhnliche Ereignisse ausgelöst werde. Eine Art Stressreaktion. In diesem Fall wahrscheinlich, weil Adam ein Geschwisterchen bekommen habe. Die Erzieherinnen im Kindergarten hatten auf Nachfrage versichert, Adam sei so ausgeglichen wie immer. Es hatte ihm immer dort gefallen. Mit dieser Erklärung hatten sie sich begnügt. Martin hatte die Problematik gegoogelt und wusste außerdem, dass Schlafwandeln erblich sein konnte. War er als Kind auch geschlafwandelt? Er nahm sich vor, beim nächsten Gespräch mit seinen Eltern nachzufragen und das Thema auch Alexandra gegenüber anzusprechen.
Martin erwachte kurz gegen sechs, als Alexandra und Nellie aufbrachen. Sie wollten ein langes Wochenende mit Alexandras Schwester Monica in Kopenhagen verbringen, im Hotel wohnen und ins Spa gehen. Monicas Nachbarstochter, eine erfahrene Babysitterin, war auch mit von der Partie, um Alexandra ein wenig zu entlasten und den Schwestern ein unbeschwertes Beisammensein zu ermöglichen.
Alexandra küsste ihn liebevoll auf die Stirn, und er ahnte einen Hauch von Magnolien, dem Parfüm, das er ihr geschenkt hatte. Er fuhr Nellie mit den Fingern über ihre weiche Babywange, als Alexandra sie auf seinen Schoß setzte. Weil sie es eilig hatte, ergab sich keine Gelegenheit, ihr von dem nächtlichen Erlebnis zu erzählen. Vielleicht gut so, schließlich wollte er sie nicht beunruhigen. Seit Nellies Geburt vor vier Monaten hatte sie alle Hände voll zu tun. Ein nettes Wochenende war ihr wirklich zu gönnen.
»Passt auf euch auf«, flüsterte er.
»Passt auf euch auf«, erwiderte sie ebenfalls flüsternd.
Eine Stunde später stand er auf, zog seinen Bademantel an, warf einen Blick auf Adam, der noch schlief, und ging dann die Treppe hinunter. In der Küche löffelte er Kaffee in die Espressokanne und stellte sie auf den Herd. Dann goss er sich ein Glas Grapefruitsaft ein und ging in seinen abgetretenen Holzschuhen nach draußen, um die Zeitung zu holen.
Es war noch dunkel. Der Garten ruhte in der Morgenkälte. Bald würde das offene Meer jenseits der kleinen Insel und Schären sichtbar werden. Das Skagerrak, ausgedehnt und wild.
Im gelben Licht des Küchenfensters blieb er eine Weile stehen und genoss die Stille. Er fühlte sich eins mit dieser Insel, dem Meer, dem Haus. Obwohl es in seiner Kindheit nur als Sommerhaus gedient hatte, war es ihm immer wie sein richtiges Zuhause vorgekommen. Im Guten wie im Schlechten. Fast alle Kindheitserinnerungen stammten von hier.
Vom Meer her hörte er die dumpfen Rufe einer Rohrdommel. Es war ein unbehagliches Geräusch, und er konnte nachvollziehen, warum die Bauern früher geglaubt hatten, dass es von bösartigen Geistern herrühre.
Er fröstelte und kehrte ins Haus zurück.
Seine Eltern hatten das Haus für 80 000 Kronen kurz nach ihrer Heirat in den 1970er Jahren gekauft, weil sein Vater auf der Insel Orust aufgewachsen war. Sie wollten einen Ort mit einem Erdbeerbeet haben, an dem sie baden, rudern und im Sommer fischen konnten. Es war ein zweistöckiges Holzhaus von fünfundsechzig Quadratmetern Fläche, das aus fünf schönen kleinen Zimmern und einer Glasveranda bestand. Alles, was man sich wünschen konnte. Aber je älter Martin geworden war, desto seltener hatten seine Eltern ihr bequemes Einfamilienhaus in Uddevalla verlassen.
Nach dem Abitur hatte Martin an der Universität Göteborg Biologie studiert. Er hatte eine Wohnung im Stadtteil Majorna zur Untermiete gefunden, die er später mit Unterstützung seiner Eltern gekauft hatte. Das Studium hatte ihm nicht gefallen, und bereits nach einem Semester hatte er es an den Nagel gehängt und stattdessen eine Arbeit in einem Sportgeschäft am Stadtrand angenommen. Vorübergehend, hatte er sich gesagt, während er darüber nachdachte, wie es mit seinem Leben weitergehen sollte. Also war er jeden Morgen aufgestanden und zur Arbeit gegangen, die ihm weder gefiel noch verhasst war. Und dabei blieb es. Die Abende hatte er meist zu Hause verbracht, weil er sich nicht für das Nachtleben interessierte und nur wenige Freunde in Göteborg besaß. Am Wochenende war er immer nach Orust gefahren und hatte es genossen, das Haus für sich zu haben und im Garten zu arbeiten. In seiner Kindheit hatte er alle Ferien hier verbracht. Mit fünfzehn hatte er in Henån erstmals an einem Tauchkurs teilgenommen und nach einigen Jahren einen international gültigen Tauchschein erworben. Dank seines Personalrabatts konnte er sich eine recht professionelle Taucherausrüstung zulegen und tauchte fast das ganze Jahr über, sobald er die Insel besuchte. Er träumte davon, wenn das Geld reichte, auch einmal in wärmeren Gewässern zu tauchen.
Als ihm ein Job in einer der großen Aquakulturen auf Orust angeboten worden war, hatte er seinen Eltern vorgeschlagen, das Sommerhaus in Schuss zu halten, wenn er dort wohnen dürfe. Sie hatten sofort eingewilligt, erleichtert darüber, sich um nichts mehr kümmern zu müssen.
Mit Erlaubnis seiner Eltern und dem Geld aus dem Verkauf seiner Göteborger Einzimmerwohnung hatte er das Haus auf der Insel behutsam renoviert. Er installierte Elektroheizkörper, erneuerte Teile der Küche aus den 1950er Jahren, modernisierte das Bad, schliff die schönen Dielen ab und strich die Wände aus Kiefernbrettern weiß. Nachdem er das Haus zu seinem gemacht hatte, liebte er es auf eine ganz neue Weise. Es wirkte so sauber und frisch, nichts Altes war geblieben.
An dem Tag, als Alexandra bei ihm eingezogen war, hatte er das Gefühl gehabt, alle seine Wünsche seien in Erfüllung gegangen. Sie würden eine Familie werden. Martin schmiedete Pläne für eine eigene überschaubare Muschelzucht. Nach einigen Jahren hatte er sie umsetzen können, und anfänglich war es auch sehr gut gelaufen.
Dann hatten die Probleme begonnen.
Alexandra hatte er, zwei Jahre nachdem er auf die Insel gezogen war, eines Samstagabends im Slussen, einer Sommer-Pension mit Restaurant und Livemusik, kennengelernt. Robert, sein bester Freund, hatte ihn gedrängt, abends mit ihm auszugehen. Robert war auf Orust aufgewachsen und hatte Martin in den Sommern ihrer Kindheit immer überallhin mitgenommen. Nach Roberts Heirat mit Lia waren sie nicht mehr so oft in die Kneipe gegangen.
Alexandra hatte ihn angesprochen. Martin stand allein mit einem Budweiser am Tresen, und sie forderte ihn zum Tanzen auf.
Er zögerte, weil er nicht gerne tanzte.
»Du kannst nicht einfach hier rumstehen«, sagte sie und lächelte ihn an. »Das hier ist ein Tanzlokal, hier soll man sich amüsieren, Leute treffen, gesellig sein. Komm schon!«
Sie zog ihn auf die Tanzfläche, und als sie in Schweiß geraten waren, setzten sie sich an einen Tisch und tranken Cola. Alexandra musste noch fahren. Robert, der die meisten Leute auf der Insel kannte, unterhielt sich unterdessen mit ein paar Freunden am anderen Ende des Lokals. Alexandra und Martin verstanden sich auf Anhieb sehr gut. Sie war sein komplettes Gegenteil, klein, blond und lebhaft.
Als er an diesem Abend nach Hause kam, war er bereits verliebt. Seine Euphorie war so groß, dass er sich nicht eingestehen mochte, dass sie ihm auch ein wenig Angst einflößte. Sie hatten sich so entspannt unterhalten, über sich gesprochen, sich berührt, Dinge, die für ihn nicht selbstverständlich waren. Ob sie es mit ihm aushalten würde, wenn sie sein wahres Ich kennenlernte? Oder war der neue, unbekümmerte Martin sein wahres Ich, das Alexandra in ihm geweckt hatte?
Obwohl er auf die dreißig zuging, hatte er nie eine längere Beziehung gehabt, eine Freundin, mit der es ihm ernst gewesen wäre, eine, mit der er sich ein Zusammensein bis ans Lebensende hätte vorstellen können. Aber Kinder hatte er sich immer gewünscht. Viele Kinder sollten es sein, er wusste aus eigener Erfahrung, wie einsam es ohne Geschwister sein konnte, wie still.
Alexandra war Bibliothekarin auf Orust und pendelte von Göteborg. Dort war sie aufgewachsen, und dort wohnten ihre Eltern. Sie hatte mehrere Jahre mit einem Mann zusammengewohnt, der bei den Grünen politisch aktiv war. Diese Beziehung hatte sie kürzlich beendet.
Sie besaß eine Direktheit und Flexibilität, die mit Martins ruhiger Art gut harmonierte, wie fließendes Wasser auf kargem Stein immer neue Wege fand. Sie verabredeten sich immer häufiger, blieben halbe Nächte auf, hörten ihre Langspielplatten und tranken seinen Whisky, sprachen über Weichenstellungen in der Vergangenheit und Träume für die Zukunft.
Nach weniger als einem halben Jahr war Alexandra schwanger und zog bei ihm ein.
Als er mit der Zeitung zurückkehrte, stand der verschlafene Adam bibbernd mit Mulle in den Armen in der offenen Tür und erwartete ihn. Martin umarmte ihn wie jeden Morgen, dann gingen sie in die Küche, machten gemeinsam Feuer im Gusseisenherd und brieten Pfannkuchen.
»Gibt’s dazu Schokopudding?«, fragte Adam.
»Keiner da, wir haben gestern vergessen, welchen zu kaufen. Aber du darfst sowieso nicht jeden Tag Pudding essen, das ist auch eine Süßigkeit. Und du weißt, dass die Zahntrolle den auch sehr mögen.«
»Und morgen?«
»Vielleicht. Wir können wieder zum Laden fahren. Morgen ist ja Samstag.«
»Ist heute Dienstag? Oder Kuschelfreitag?«
»Heute ist Freitag. Der Tag heißt einfach nur Freitag.«
Sie blieben lange am Frühstückstisch sitzen. Adam formte aus flüssiger Marmelade und Pfannkuchenstückchen Bilder auf seinem Teller. Martin blätterte zerstreut in der Zeitung und hörte gleichzeitig Nachrichten.
Er legte Adam einen weiteren Pfannkuchen auf den Teller.
»Hast du heute Nacht gut geschlafen, Adam?«
Adam dachte eine Weile nach und nickte dann.
»Du hast also nicht mit Mulle im Garten Drachen gejagt? Ich dachte, ich hätte gehört, dass dein Pferd gewiehert hat?«
Adam schüttelte kichernd den Kopf. Er liebte ihre Drachengeschichten. »Nein, nur geschlafen.«
Die große Wanduhr über der Küchenbank tickte unermüdlich. Die Katzenklappe klapperte in der Diele, und eine große graugetigerte Hauskatze stolzierte mit einem reservierten, aber gleichzeitig befehlenden Maunzen in die Küche. Adam sprang von seinem Stuhl auf und füllte den Futternapf mit einem Messlöffel Katzenfutter aus einer Blechdose.
»Hier, meine kleine Filifjonka«, sagte er und strich der Katze, die sich heißhungrig auf das Futter stürzte, vorsichtig über den Rücken. »Hast du heut Nacht eine Maus gefangen? Oder ein Drachenbaby?«
Draußen schien eine bleiche Sonne. Martin hatte nach dem Frühstück keine Lust, die Küche aufzuräumen. Stattdessen zogen sie warme Sachen an und gingen in den Garten. Gegen zwölf waren sie zwei Stunden draußen gewesen. Martin hatte im Schuppen Werkzeug, das nie benutzt wurde, aussortiert, das gefrorene, halbverrottete Laub von der Wiese und den Beeten geharkt und eine Wand des Kompostkastens, die umzukippen drohte, abgestützt.
Inzwischen bedeckte eine dichte, gleichmäßig weiße Wolkenschicht den Himmel.
»Hungrig?«, fragte Martin seinen Sohn, der am Spielzeugherd Schneckensuppe mit Kiefernnadeln und Glitter kochte.
»Ich hab hier Essen.«
»Bist du sicher, dass du nicht noch etwas anderes willst als Suppe?«
»Eine Zimtschnecke. Ich will eine Zimtschnecke.«
»Ich glaube nicht, dass wir noch welche haben, aber ich kann uns ein paar Brote machen«, meinte Martin. »Und einen Kakao. Dann können wir am Wasser picknicken.«
»Jaaa, Picknick!«, erwiderte Adam und strahlte.
»Gut«, sagte Martin. »Hol deinen Eimer, dann gehe ich rein und mache uns ein Picknick.«
»Darf ich Dreirad fahren?«
»Nein, du weißt, das geht nicht. Im Winter ist es zu glatt. Darüber haben wir doch geredet!«
Adam hatte kurz vor dem ersten Schnee gelernt, Dreirad zu fahren, und wollte nicht einsehen, dass das Dreirad bis zum Frühling weggestellt war.
»Und Mulle?«
»Nein, ich finde, wir sollten Mulle zu Hause lassen, sonst wird er unten am Wasser noch nass. Du weißt, wie sehr es am Ufer spritzt. Es muss auch jemand zu Hause bleiben und das Haus bewachen, wenn wir weg sind.«
Adam nickte ernst.
Etwas später waren sie abmarschbereit. Martin hatte Kaffee, Kakao, Brote mit Geflügelsalat und zwei Bananen in einen Korb gelegt, und Adam hielt seinen kleinen roten Plastikeimer in der Hand.
Martin sah sich schon auf der Bank sitzen und Adam wie immer beim Steinesammeln zusehen. Er besaß inzwischen eine beachtliche Sammlung in einer alten Blechdose unter seinem Bett. Seine »Allerbestesten« lagen in einer Glasschale mit Wasser auf dem Tisch im Fernsehzimmer. Sie waren der Anfang eines Aquariums, das Martin Adam versprochen hatte, wenn er größer war. Statt Hund, hoffte Martin, hatte das aber natürlich nie laut gesagt.
Sie waren gerade an der Tür, als das Telefon klingelte. Es rief fast niemand auf dem Festnetztelefon an, hin und wieder seine Eltern oder ein Verkäufer. Martin wollte es zunächst klingeln lassen, dachte dann aber, dass es vielleicht seine Mutter war. Dann könnte er sie bitten, Schokopudding zu kaufen, damit er nicht extra in den Laden musste. Seine Eltern hatten ihren Besuch für den Spätnachmittag angekündigt.
»Warte vor der Tür auf mich«, sagte Martin zu Adam.
»Okay.«
»Du kannst so lange damit spielen, ich komme gleich«, sagte Martin und drückte Adam ein altes Handy in die Hand, das auf dem Bord neben der Haustür lag.
Adam sah ihn mit seinen großen blauen Augen an. Dann ging er mit dem Handy in der einen und dem Eimer in der anderen Hand nach draußen, setzte sich auf die unterste Treppenstufe und begann auf die Tasten zu drücken.
Martin hörte seine helle Stimme, als er in der Küche verschwand.
»Eins, zwei, vier, sieben … Hallooo, Drache …«
»Martin.«
»Hallo, Martin.«
»Hallo, Papa.«
Es blieb lange still. Ungezwungen hatten sie nie miteinander reden können.
»Ist was passiert? Geht’s euch gut? Ist Mama …?«
»Alles okay. Ich dachte nur … wollte mal hören … wenn deine Mutter nicht dabei ist … wie geht es denn mit der Muschelzucht? Wächst alles, wie es soll und so, ich meine, die Muscheln? Keine Probleme?«
»Wir waren gerade auf dem Weg ans …« Martin warf einen Blick durch die Milchglasscheibe der Haustür. Ein Schatten von Adams grüner Jacke war auf der Treppe zu sehen.
»Wie du weißt, war es meiner Meinung nach keine gute Idee, den Job aufzugeben und sich selbstständig zu machen. Das habe ich dir damals auch gesagt. Das war ein großes Risiko.«
Martin holte tief Luft. Er hatte sich von seinen Eltern für die Muschelzucht Geld geliehen, aber es war nicht so gelaufen wie geplant. Er fühlte sich überrumpelt und verwickelte sich in umständliche Erklärungen, ohne die größten Probleme beim Namen zu nennen. Denn er wollte seine Eltern nicht beunruhigen.
»Das wird schon, es dauert einfach länger als erwartet«, beendete er seine Ausflüchte.
»Mit ein bisschen Glück stellt dich Sven wieder ein. Er braucht doch immer Leute.«
Martin schloss die Augen. Streu noch mehr Salz in die Wunde, Papa. Er verspürte einen sauren Geschmack im Mund, und ihm lag bereits eine Antwort auf den Lippen, die die Beziehung zu seinem Vater keinesfalls verbessert hätte.
»Lass uns ein andermal darüber reden. Adam wartet. Wir sehen uns ja nachher. Tschüss.«
Er legte auf, blieb einen Augenblick stehen und dachte nach. Was hatte sein Vater eigentlich auf dem Herzen gehabt? Er gehörte nicht zu den Leuten, die einfach nur ein wenig plaudern wollten. Sonst rief immer nur seine Mutter an. Hatten sich seine Probleme mit der Muschelzucht herumgesprochen? Sein Vater hatte noch immer viele Bekannte auf der Insel. Martin schüttelte sein Unbehagen ab, ging hinaus auf die Treppe und hob den Korb hoch.
Er bemerkte es sofort. In der grünen Daunenjacke, die er durch das Glas hatte erahnen können, steckte kein Adam. Offenbar hatte er die Jacke ausgezogen. Er war aus ihr herausgekrochen und hatte das starre Kleidungsstück einfach zurückgelassen. Eine Windbö warf es um, als er es anstarrte.
Martin hob den Blick und sah nur Bäume.
»Adam?«
Zuerst ging er um das Haus herum und rief immer lauter nach Adam. Zur Schaukel. Niemand da. Dann rannte er zu den Büschen, in denen im Sommer die Igel wohnten. Auch dort war niemand. Er schaute in den Werkzeugschuppen, das Dreirad stand noch da.
Dann rannte er auf die Straße und spähte gründlich in beide Richtungen. Kein Adam. Schließlich irrte er einige Minuten zwischen den Bäumen umher, erst ein paar Schritte in die eine, dann ein paar Schritte in die andere Richtung. Seine Rufe klangen immer verzweifelter, sein Herz pochte immer schneller. Zu guter Letzt rannte er Richtung Meer. Er stolperte über Wurzeln, rutschte aus und strauchelte über Steine. Rechter Hand passierte er die Lichtung und rannte weiter zum Wasser.
Dort unten war es sehr windig. Die Wellen, die mit aller Kraft an die Felsen schlugen, hallten in seinen Ohren wider.
Blitzartige Bilder jagten ihm durch den Kopf. Immer panischer betete er, Adams unbekümmertes Gesicht möge gleich zu sehen sein, am Steg über einige glattgeschliffene Steine gebeugt, hinter dem großen Busch, oder sobald er den großen Felsen da hinten umrundete. Aber wohin Martin auch ging, es war still und menschenleer. Kein Adam.
Stattdessen sah er plötzlich etwas anderes. Unterhalb des großen Felsens, der ihnen immer als Orientierungspunkt diente, weil es dort tief genug für Sprünge ins Wasser war. Er lag dort und leuchtete wie eine Frucht aus einer anderen Welt, aus einer bösartigen Dimension, die sich bislang noch nie mit seiner Wirklichkeit vermischt hatte, jedenfalls nicht auf diese Art.
Adams roter Plastikeimer trieb im Wasser.
Am Horizont tat sich ein goldener Lichtspalt in der dichten schmutzig weißen Wolkendecke auf, als zöge jemand einen Vorhang vorsichtig beiseite und ließe einen Streifen Himmelreich auf die Erde herab.
Das Licht spiegelte sich auf dem Gekräusel, das zwischen den Windböen auf der Wasseroberfläche entstand, und bot einen warmen Kontrast zu der dunklen Tiefe, die sich darunter auftat.
»Das wird gut«, stöhnte Maya, die mit sichtlicher Anstrengung über dem Bug hing und sich bemühte, das Kameraobjektiv möglichst horizontal über der Wasseroberfläche zu halten, ohne als Spiegelbild in den Bildausschnitt zu geraten.
Um die Taille trug sie einen Gürtel, wie ihn Bergsteiger verwendeten, und an diesem war mit einem Karabinerhaken ein Seil befestigt, welches Bäcke in der Hand hielt, der als ihr dringend benötigtes Gegengewicht fungierte.
In dicker Arbeitsjacke, gefütterter Regenhose und hohen Gummistiefeln saß er zurückgelehnt in dem kleinen Kahn und schien das Schauspiel am Himmel über sich zu genießen.
»Ich lebe nun schon mein ganzes Leben auf dieser Insel«, sagte er, »aber noch nie habe ich so viel Zeit damit verbracht, mir verschiedene Himmel anzusehen.«
»Ich auch nicht«, sagte Maya. »Allerdings habe ich die meiste Zeit zwischen Wolkenkratzern oder im Wald verbracht.«
Sie setzte sich auf, legte den Fotoapparat beiseite und rieb sich ihre starren Finger. Um das Gerät bedienen zu können, trug sie Handschuhe mit abgeschnittenen Fingern.
»Verdammt, es ist wirklich eisig«, sagte sie.
»Hier!« Er hielt ihr seine Hände hin.
Sie legte ihre Hände in seine, und er wärmte sie mit seinem Atem.
»Die Veränderungen des Himmels lassen das Wasser jeden Tag anders erscheinen«, fuhr sie fort.
»Ist es nur das? Ist es nur der Himmel?«