Wir bleiben wir - Thekla Wilkening - E-Book

Wir bleiben wir E-Book

Thekla Wilkening

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Beschreibung

WIR BLEIBEN WIR: Franca und Ed ist der erste Band einer literarischen Reihe, die das Leben eines diversen Figurenensembles in einer deutschen Stadt erzählt. Franca, Ada, Ben, Isi und Chris: Fünf junge Menschen, verbunden durch eine WG, durch Liebe, Aufbruch und den Versuch, in einer kaputten Welt Haltung zu bewahren. Sie träumen von Nähe, von einem Zuhause, von einer Zukunft und stehen doch immer wieder vor Mauern aus Herkunft, Geld, Gewalt, Sprache und Angst. Die Geschichte beginnt mit Franca Albrecht, einer jungen Modestudentin, die sich aus einer destruktiven Beziehung mit dem charismatischen, aber kontrollierenden Ed Meyer zu lösen versucht. Parallel erleben wir die Lebenswege von Ada Landau und Ben Adewale, einem jungen Paar, das gemeinsam eine erste Wohnung bezieht, das Elternwerden navigiert und mit strukturellen Ungleichheiten kämpft. Auch Isi Sonntag, die sich als queere Aktivistin und Content Creatorin neu erfindet, und Chris Wolf, mit dem Plan, Vornamen und Geschlechtseintrag zu ändern, gehören zur zentralen WG-Formation. Erzählt wird zudem aus den Perspektiven der Mütter und Väter: Karin und Ebert Landau, Ida Adewale und Johann Albrecht, die auf je eigene Weise mit gesellschaftlichem Wandel, biografischen Brüchen und elterlicher Verantwortung ringen. Eine besondere Rolle spielt Fanny Albrecht, Francas gehörlose Tante, Floristin und stille Kraft, die mit tiefer Zärtlichkeit und klarem Blick einen Kontrapunkt zur Sprachlosigkeit in der Familie setzt. Das Buch verhandelt multiperspektivisch zentrale Themen unserer Gegenwart: Alltagsgewalt, soziale Herkunft, Reproduktion, Care-Arbeit, Stadtplanung, queere Sichtbarkeit, intersektionalen Feminismus, Armut, Ambition und die Kraft von Freundschaft. Es erzählt von dem, was war, was fehlt und was möglich sein könnte - zart, klug, wütend, mit Haltung. Zärtlich und politisch, poetisch und präzise erzählt WIR BLEIBEN WIR: Franca und Ed vom Überleben und Aufbegehren, von Gewalt und Solidarität, vom Suchen und Nicht-Aufgeben und davon, was es heißt, zu sagen: Wir bleiben wir.

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Seitenzahl: 255

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Fight for the things that soften you.

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WIR BLEIBEN WIR // SWAY TO STAY BUCHCLUBS

*

Ostwind schob die Wolken im rasenden Tempo über den Himmel, die Morgensonne lockte mit ein paar warmen Strahlen, der Duft von frisch gebackenen Croissants wehte herüber. Franca Albrecht reckte ihre Nase gen Himmel und atmete die kühle Luft mit dem süßlichen Geruch tief ein. In der Tasche ihres rosafarbenen Webpelzmantels vibrierte das Telefon, immer und immer wieder. Sie zog die Schultern hoch, kniff ihre Augen zusammen, hoffte dass es aufhört, dass er aufhört.

Aber das wird er nicht.

Er legt auf, er ruft an, er legt auf.

Solange, bis sie nachgibt.

Am 14. Februar 2025 stimmte der Bundesrat dem Gewalthilfegesetz zur Förderung des Hilfenetzwerks bei geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt zu.

Ein Gesetz statt Blumen am Valentinstag.

Als Franca Albrecht den rätselhaften Ed Meyer kennenlernte, war er unheimlich schüchtern, aber sehr charmant. Sie gingen spazieren, nachdem sie sich am Abend in einer Bar kennengelernt und am Morgen via Instagram wiedergefunden hatten. Er lief in schnellen Schritten neben ihr her, war leicht nervös und schwer zu greifen. Als es zu regnen begann, flohen sie in ein Café, teilten ein Sofa, Ed fand Gelassenheit, seine Augen leuchteten, als Franca erzählte. Sie verliebten sich.

Es blieb bei diesem Wechselbad der Gefühle. Franca verbrachte die Jahre mit dem Versuch, den Zustand auf dem Sofa pausenlos herzustellen. Sie kam nie zu spät, rief immer zurück, hielt die Wohnung sauber, ihre und seine, verbrachte ihre gesamte freie Zeit mit ihm, wusste alles über ihn.

Er sollte sie anstrahlen, dann wäre sie sicher.

Ed versprach Franca, ihre Situation würde sich klären, wenn sie bei ihm einziehen würde. Das stimmte nicht.

Sie bekamen kaum Besuch, denn zusehen zu müssen, wie er sie anschrie, war herzzerreißend. Das Risiko, dass er gewaltsam werden könnte, war furchteinflößend.

Von da an führte Franca zwei Leben. Eines mit ihrer ehemaligen WG und an der Modeschule, eines mit Ed.

„Ja?“, flüstert Franca ins Telefon. Sie stand kerzengerade auf dem Bürgersteig, in der Hand hielt sie eine große Plastiktüte mit einem derangierten Blumenstrauß (rosa Lilien die wie Seesterne aussahen) und ihren Geburtstagsgeschenken in feuchtem Buntpapier.

„Kommst du nach Hause?“

*

Der Eastpak hing tief über der Hüftjeans, bunt bekritzelt, unter dem abgetretenen Schlag der Jeans blitzten gelegentlich die drei Streifen der Adidas Superstars hervor und am Handgelenk klebte die rosafarbene Baby-G. Bei allen, aber nicht bei Ada Landau. Adas Hose war etwas zu kurz, die Uhr hatte ein Lederarmband und zahlreiche Kratzer, auf den Rucksack hatte niemand hdgdl geschrieben, denn die Pausen verbrachte Ada allein.

Allein war sie auch zu Hause, ihre Eltern gingen beide Vollzeit arbeiten. Das Geld reichte trotzdem kaum.

Jahre später hatte Ada Landau blonde Locken, ein herzförmiges Gesicht und das starke Bedürfnis, endlich ihren eigenen Weg zu gehen.

„Die wilde Mähne hast du von deinem Papa, so wie deinen Sinn für Gerechtigkeit und diesen ewigen Hunger“, sagte Adas Mama, Karin Landau, als sie das Zimmer betrat und Ada auf dem Hocker vor dem Spiegel sitzen sah. Mit dem Kopf zwischen den Knien knetete sie klebriges Zeug in ihre feuchten Haare. Karin hielt einen Moment inne und schaute ihrer Tochter zu. Obwohl sie ein gutes Verhältnis hatten, war Ada schon immer ein Papa-Kind.

„Du wirst ihm sehr fehlen, wenn du ausziehst“, sagte Karin nicht ohne Wehmut, während sie die frische Wäsche aufs Bett legte.

„Ach Mama, mach’s mir doch nicht so schwer“, bat Ada, hob schwungvoll ihren Kopf, so dass ihre Locken sanft um ihr Gesicht fielen. Ihre Vorfreude endlich selbstbestimmt zu leben überwog und alles andere empfand sie als unnötige Sentimentalität. Sorgfältig legte sie Pullover, Shirts und Jeans in ihren Schrank und schloss die Tür, an der ein Bild von Ben und ihr aus Kindertagen klebte.

„So unmöglich wie es gerade ist eine Wohnung zu bekommen, kann es aber sein, dass ihr mich noch eine ganze Weile hier haben werdet“, klagte Ada.

Seit letztem Sommer war Ada in Ben verliebt, den sie schon ihr Leben lang kannte, der Zahlen liebt und an eine bessere Welt glaubt. Ben arbeitet in einem Büro für Stadtplanung, das sich von Ausschreibung zu Ausschreibung hangelte. Seit Monaten versuchten die Frischverliebten vergeblich ein eigenes Zuhause zu finden, waren von Wohnungsbesichtigung zu Wohnungsbesichtigung gestiefelt, wenn sie überhaupt eingeladen wurden.

„So ein Abfuck, da schicken wir eine Anfrage nach der anderen raus und bekommen nicht einmal scheiß Absagen“, entfuhr es Ben. Seine Mutter Ida Adewale hatte ihn zu Höflichkeit erzogen, aber dieses Gefühl der Machtlosigkeit entfesselte ihn.

Oft fragten die Wohnungsgesellschaften schon vor der Einladung zur Besichtigung nach den entsprechenden Unterlagen: junges Paar, sie noch auf Arbeitssuche, er Angestellter im Stadtplanungsbüro mit Migrationsgeschichte, ihre Chancen standen schlecht.

„Was soll’s, Fuck, ich bitte Adam uns zu helfen“, seufzte Ben. Er ließ sich auf den Küchenstuhl fallen, stützte seinen Ellbogen auf die Lehne und sein Kinn auf die angewinkelte Handfläche, sah zu Ada herüber und murmelte:

„Tut mir leid, Baby. So verkackt alles.“

Es fiel Ben nicht leicht, seinen Chef um Hilfe zu bitten, aber nachdem er mit Ada wieder einmal stundenlang in der Kälte gestanden hatte, nur um eine weitere Wohnung zu besichtigen und schon beim Händeschütteln zu spüren, dass es wieder nichts werden würde, sah er keinen anderen Ausweg mehr.

„Er ist sicher noch im Atelier. Ich gehe kurz rüber und frage ihn“, Ben gab Ada einen Kuss auf die Stirn, zog Jacke und Mütze an und die Tür hinter sich zu. Ada sah ihm noch einen Augenblick aus dem Fenster hinterher, wie er mit strammen Schritten die Straße überquerte. Sie dachte an die frühkindliche Entwicklung von Babys, die Selbstwirksamkeit erfahren, wenn sie schreien und ihnen schließlich geholfen wird. Es war Zeit zu schreien.

Im Büro brannte die Schreibtischlampe vor der Adam Winter saß und an einem Modell bastelte, als Ben eintraf und die Situation schilderte. Adams Antwort überraschte Ben:

„Warum hast du denn nicht früher was gesagt? Ich habe mich schon gewundert, ich dachte, euch gefällt nichts!“

Ben schnaubte und gestikulierte wild mit den Armen, die Möglichkeit, dass seine Schwierigkeiten für Adam überraschend kamen, war ihm nie in den Sinn gekommen.

„Wie – also ich meine, es ist doch offensichtlich, oder?“, druckste Ben herum, die Hände immer noch in der Luft. Es lag in Bens Talent, mit wenigen Worten Botschaften zu vermitteln, die man als Gegenüber aufsaugte und gleichzeitig mit seinem Eigenem einfärbte. Nicht selten kam es mit Ben deshalb zu Missverständnissen, die schnell vergessen wurden, da man sich in seiner Nähe sehr wohl fühlte.

„Ja, wenn du das jetzt so sagst, ist es offensichtlich. Ich bin von mir selbst ausgegangen, habe auch ewig nach diesem Atelier gesucht, allerdings weil ich genaue Vorstellungen davon hatte, wie es sein sollte. Nicht, weil ich nicht eingeladen wurde“, erklärte Adam, stand auf und lief in schnellen Schritten durch den kleinen Raum. Er öffnete die Tür, stellte sich in den Rahmen und atmete die frische Luft tief ein. Draußen bellte ein Hund.

„Es tut mir leid. Ich rufe bei Arcade an, die haben bestimmt etwas für euch“, erklärte Adam, dem die Situation sichtlich unangenehm war. Adam beschäftigte sich zwar viel mit dem Zusammenleben von Menschen, schien aber vor lauter Utopien die brutale Realität, in der sich sein Schützling durchschlug, übersehen zu haben. Er fischte das Telefon aus der Tasche seiner Jeans und rief bei der Wohnungsbaufirma an, für die er während seines Studiums gejobbt hatte.

„Die haben bestimmt schon Feierabend“, sagte er als niemand antwortete, nicht ohne ein wenig Missachtung in der Stimme.

„Ich versuche es gleich morgen früh nochmal, okay?“

„Danke, Adam“, sagte Ben, von Herzen.

Es dauerte ein paar Tage, bis Adam Winter alle infrage kommenden Kontakte abgearbeitet und für das junge Paar gute Nachrichten zum Wochenende hatte: „Die kommt erst am Montag auf den Markt. Ihr dürft sie morgens als Erstes ansehen, wenn sie euch gefällt, dann machen sie nur eine kleine Besichtigung. Das müssen sie tun. Aber ich denke, mit etwas Glück wird es klappen.“

Aufregung griff nach Ada, schlaflos lag sie in ihrem Jugendzimmer, hörte ihre Mutter Karin in der Küche summen und ihren Vater Ebert durch die Wohnung schleichen. Die vertrauten Geräusche ihrer Kindheit. Wäre Ebert Landau nicht ihr Vater, würde sie ihn als lost bezeichnen, aber sie hatte zu viel Respekt vor ihm. Er war immer ihr Held gewesen, doch jetzt, mit den Jahren, wurde er sonderbar. Ein paar Straßen weiter lag Ben in seinem Bett, in der Wohnung, die er sich mit seiner Mutter Ida Adewale teilte. Hier hatten Ada und er das erste Mal miteinander geschlafen, in seinem kleinen Bett, an einem der heißen Nachmittage im Juli des letzten Sommers. In der Luft glitzerten feine Staubpartikelchen im Sonnenlicht, auf der Kreuzung hupten Autos, die Vorhänge flatterten leicht im Wind. Ben konnte gar nicht genau sagen, wann er sich in Ada verliebt hatte, aber an diesem Nachmittag war es endgültig um ihn geschehen. Ihre Locken, ihr Lachen, ihre hungrigen Küsse, er bekam gar nicht genug von ihr. Die Vorstellung, dass sie sich schon bald jede Nacht haben würden, brachte ihn fast um den Verstand.

Übermüdet vor Aufregung standen sie am Montagmorgen vor dem Hochhaus, vielleicht dem höchsten, das es in der ganzen Stadt gab.

„Ben, ich bin aufgeregt. Hoffentlich ist die Wohnung schön“, Ada hüpfte vom einem Bein aufs andere, ihre rotweißen Sneaker waren frisch geputzt, die dunkle Jeans knöchellang und ihre Jacke schwarz und kurz.

„Sie muss schön sein, sonst würden hier ja nicht so viele Menschen leben“, grinste Ben und zählte die Klingelschilder, 80 Stück in vier Reihen. Ein Haus voller Menschen, Geschichten, Zukunft. Ben war hoffnungsvoll gestimmt. Er schaute hoch, das Haus war grau, an der Fassade mit hellen, braunen Details versetzt. Stolz stand es an einer vielbefahrenen Straße, wie ein Turm oder ein Krieger, auf jeden Fall schien es für alles bereit.

„Guten Morgen“, ein Hauch von schwerem, holzigen Parfüm, gefolgt von einer vornehm gekleideten Frau, rissen Ben aus seinen Gedanken.

„Schmitt!“, rief diese fröhlich und schüttelte erst Ada, dann Ben die Hand.

„Ben Adewale und meine Freundin Ada Landau“, sie schüttelte die Hand noch immer.

„Fantastisch. Dann wollen wir mal“, sie ließ Bens Hand los und lief zum Fahrstuhl. „Die Wohnung liegt ganz oben, eine traumhafte Aussicht haben Sie von dort, das können Sie mir glauben“, begann Frau Schmitt im eingeübten Plauderton. Ben und Ada nickten, wie brave Schulkinder, während der Fahrstuhl sie in den dreizehnten Stock katapultierte.

Die Wohnung strahlte, es duftete nach frischer Farbe und Zitrone. Es gab zwei Zimmer, eine kleine Küche mit großem Fenster und einen Balkon, der mit einer großen Fensterfront vom Wohnzimmer abging. Um sie herum nichts als Himmel, der an diesem Montagmorgen blau leuchtete.

Ada konnte ihr Glück kaum fassen und rief „wir nehmen die Wohnung!“

Ben stand im Bad und prüfte den Wasserdruck in der Dusche. Das Wasser rauschte an ihm vorbei auf seine ausgestreckte Hand.

„Wir nehmen sie“, stimmte er zu und wischte seine nasse Hand an der Jeans ab.

„Wollen Sie nicht noch einmal drüber schlafen?“, erwiderte die freundliche Dame von der Hausverwaltung.

„Auf keinen Fall.“

„Okay, dann füllen Sie bitte dieses Formular aus und wir telefonieren morgen.“

Am nächsten Morgen meldete sich Frau Schmitt am Telefon mit den Worten: „Herzlichen Glückwunsch.“

Ada entfuhr vor Freude ein schräger Schrei, gefolgt von wilden Luftsprüngen, bei denen sie Ben ihren Ellenbogen in die Rippen schlug. „Ich freue mich auch“, keuchte er.

Geld hatten die beiden wenig, sie waren daran gewöhnt, sich die Nasen an Schaufenstern platt zu drücken und nach der Schule selbstgemachten Kartoffelbrei mit Spiegelei zu essen. Nirgendwo würde das köstlicher schmecken als auf dem Balkon ihrer ersten gemeinsamen Wohnung.

Nachdem der Papierkram erledigt, die Schlüssel übergeben, die wenigen Möbel, die das Paar besaß, in den kleinen Fahrstuhl gepresst und eingezogen waren, schlossen sie die Tür zu ihrer ersten eigenen Wohnung hinter sich, liefen die vielen Stufen hinab in die Sommernacht, kauften sich eine Schachtel Zigaretten und ein Sixpack Bier am Kiosk bei Sezgin Yilmaz und warfen sich auf die kleine Wiese vor dem Haus.

„Ben, sind wir jetzt frei?“

„Vogelfrei!“

*

„Guten Morgen allerseits“, rief Franca Albrecht zum Schulbeginn fröhlich in die Runde. Sie kannte keine Schwierigkeiten, was für sich genommen schon so vieles sagt. Franca war hübsch, klug, angesagt gekleidet, ihre Noten tadellos und sie allseits beliebt.

„Hi Isabella, wie geht es dir?“, Franca grüßte alle, auch Isabella Sonntag, die ihr immer ein wenig sonderbar vorkam. Franca hatte mal gehört, Isabella hätte ADHS, aber sie traute sich nie, sie darauf anzusprechen. Sie wusste nicht, wie man fragen sollte, ohne zu verletzen.

Isabella hatte schon beim Aufstehen gemerkt, dass heute kein guter Tag werden würde. Wie eigentlich jeden Tag. Sie war ohne Hausaufgaben, obwohl sie gestern Abend noch mehrmals dran gedacht hatte. Das passierte ihr häufig.

„Wie soll’s schon gehen?“, antwortete Isabella gelangweilt und spielte nervös mit ihrem Zopf, öffnete ihn, kämmte die Haare sorgfältig mit den Fingern durch, nur um ihn anschließend wieder nachlässig zusammen zu binden. Sie hätte Franca gerne gesagt, wie dämlich ihr alles vorkam, wie banal – und doch fiel es ihr schwer, überhaupt Schritt zu halten. Allerdings zweifelte sie daran, dass Franca ihre Gedanken verstand und so schwieg sie. Auch Franca wusste keine Antwort und ließ Isabella stehen.

Das Abitur schloss Franca wie erwartet mit einem Einserdurchschnitt ab, als es zu der einzigen Parallele zwischen Isabella Sonntag und Franca Albrecht kam, die beide ihre Eltern mit dem ersten selbstbestimmten Entschluss ihres jungen Erwachsenenlebens verärgerten.

„Es ist doch mein Leben!“, schrie sie am Nachmittag der Zeugnisausgabe, die Nachbarn berichten noch heute davon, was für ein ungewöhnliches Geräusch, dieses Gebrüll aus dem Nachbarhaus.

„Nicht, solange du die Füße unter unseren Tisch stellst!“, antwortete Johann Albrecht verärgert. Diese Eskalation traf ihn völlig unerwartet und außer ein paar aufgewärmten Plattitüden fiel ihm dazu nichts ein.

„Dann höre ich ab sofort damit auf!“, zog Franca die Konsequenzen. Noch während sie sprach, verblüffte sie ihr eigener Mut – oder war es Wut?

So kam es, dass Franca Albrecht ihre Koffer packte, es waren fünf an der Zahl, den von weißen Kieseln gesäumten Weg zur Straße hinunterlief, sich ein Taxi nahm und ihre Freiheit suchte.

Zunächst kam Franca bei ihrer Tante Fanny unter, die einen Blumenladen in einem etwas abgelegenen Teil des Kiezes führte. Fanny war hochgewachsen, trug ihr helles Haar schulterlang, offen, mit einem kühnen Seitenscheitel. Schon als kleines Mädchen hatte sich Fanny ihrer Liebe zu bunten Blumen aller Art hingegeben, denn auch wenn ihre Eltern es noch einige Zeit leugneten, Fanny war gehörlos zur Welt gekommen.

Die Mutter schleppte das Kind von Arzt zu Arzt, Entzündungen wurden vermutet, behandelt und verworfen, Schamanen konsultiert, Gebete gesprochen, aber am Ende blieb was war: Fanny konnte nichts hören.

Sie übte fleißig, aber mehr als einige Laute konnte sie nicht bilden und so lernte die ganze Familie die Gebärden und akzeptierte die Stille als neuen Begleiter. Das Aufatmen war groß, als sich ein Geschwisterchen für Fanny ankündigte. Noch bevor ihr Bruder das Licht der Welt erblickt hatte, lastete der Auftrag für Ausgleich zu sorgen auf Johann Albrechts Schultern.

Für Fanny entstand dank Johann der Raum, nach dem sie sich so sehr sehnte, abseits der Erwartungen ihrer Eltern, es würde vielleicht doch noch ein Wunder geschehen.

„Ich fand mein Leben schon immer schön“, gebärdete Fanny jedes Mal, wenn Franca sie fragte. Sie hatte sich nie getraut Isabella zu fragen, ob sie neurodivers war, aber bei ihrer Tante Fanny hatte sie keine Berührungsängste mehr über ihr besonderes Leben zu erfragen.

„Ich lernte früh lesen und schreiben“, fügte Fanny hinzu.

„Und dann hattest du immer dieses Notizbuch“, warf Franca freudig ein. Sie liebte ihre Tante über alles und kannte sie nicht ohne ihr kleines Notizbuch mit dem roten Bändchen und einem Bleistift in der Brusttasche ihrer Latzhose. Bis heute verständigte Fanny sich so mit ihren Mitmenschen.

Noch während der Schulzeit verliebte sich Fanny Hals über Kopf in einen jungen Mann, Fritz Haber, der ebenfalls immer ein kleines Notizbuch bei sich trug, da er beabsichtigte Dichter zu werden. Fritz und Fanny, die zwei mit den Notizbüchern, er Gedichte, sie Blumen – alle waren entzückt vor so viel Romantik.

Die Lilien neigen sich im Takt, Als hätt’ die Muse sie gepackt, Und jede Blüte, jedes Blatt Trägt Poesie in sich, ganz sacht.schrieb Fritz Haber an Fanny Albrecht.

Mit der wachsenden Zahl gemeinsamer Jahre und der lange ersehnten Reise nach Marokko wurde es Fritz Haber jedoch öde. Dichter wurde er nicht und auch sonst fiel es ihm schwer, einen Sinn in seinem Leben zu finden. Er kam aus gutem Hause, musste sich nie strecken und hatte es deshalb auch nicht gelernt. Zum Zeitvertreib fuhr er mit seinem roten BMW in der Abenddämmerung über die Autobahn und reizte das Tempolimit aus.

„Ich kann eben am besten denken, wenn ich die Freiheit spüre, den Wind, die Weite“, erklärte Fritz.

„Aber bitte nicht zu schnell“, hatte Fanny ihn stets gebeten. Sie suchte sich Arbeit in einer kleinen Praxis für Psychotherapie, putzte dort, führte Bücher und Akten und sparte auf ihren eigenen Blumenladen. Eines Tages klingelte das Telefon in der Praxis, die Kollegin nahm ab, stockte und Fanny konnte es schon in ihren Augen lesen. Einen solchen Schmerz hatte sie zuvor noch nie empfunden, ihr ganzer Körper schrie, bevor sie heftig zitternd zusammenbrach.

Die Eltern kamen und halfen bei der Beerdigung, und obwohl Fanny sich heftig wehrte, hinterlegten sie auch die Kaution für den kleinen Laden, auf den sie schon so lange ein Auge geworfen hatte. Der Laden teilte sich den Eingang mit einem weiteren Geschäft, in dem ein kleines Antiquariat beheimatet war. Von außen schufen die großen, Messinggerahmten Fenster und ihre gefliesten Bänke eine poetische Stimmung.

„Adele sagt, deine Blumen sprechen von Sehnsüchten“, formte ihr Bruder Johann in Gebärden, als er wieder mal auf Fannys Theke saß und einen Kaffee trank. Johann kam oft vorbei, er studierte Jura und hatte ihr bei dem Papierkram geholfen, außerdem war er frisch verliebt und überhäufte seine Angebetete mit Blumen aus Fannys Laden, die er stets anschreiben ließ. Fanny konnte Johann nichts abschlagen.

Sie nickte. Es gelang ihr nicht, seichte Sträuße zu binden die unverbindliche Leichtigkeit versprühten.

„Ein Sommergruß! So schön, wie das Leben!“; fröhlich beworbene Blumenarrangements fühlte sie nicht.

Der Blumenladen bot ihr Zuflucht in den schweren Jahren, die folgen sollten. Der Schmerz über Fritz’ Tod wurde, so schien es Fanny, jeden Tag größer.

„Je länger Fritz weg ist, umso mehr merke ich, wie lange er eigentlich gar nicht mehr da war“, schrieb Fanny in ihr Notizbuch und reichte es Johann. Er nickte und gab es ihr zurück.

„Wieso habe ich das nicht erkannt? Wir sind nur so nebeneinander getrudelt. Wie vergeblich“, schrieb sie. „Was für ein sinnloser Tod.“

„Mach dir keine Vorwürfe“, kritzelte Johann darunter. „Er hätte besser auf sich aufpassen müssen. Nicht du auf ihn.“

„Ich weiß“, gebärdete Fanny, nickte und lehnte sich neben Johann an die Ladentheke. Jeden Morgen ging sie zuerst an sein Grab und pflegte die Blumen, bevor sie in den Laden ging. Sie machte sich nicht für den Tod von Fritz Haber verantwortlich, weiß Gott nicht, er war es, der zu schnell über die Autobahn gerast war, aber sie fragte sich, warum sie nicht bemerkt hatte, wie langweilig ihm war, oder vielleicht auch, wie langweilig er war.

Johann und Fanny standen noch eine Weile nebeneinander, ihren Gedanken nachhängend, als sie ihren Nachbarn, den Antiquitätenhändler, gegenüber erblickten.

„Jeden Morgen, wenn ich mit der Arbeit beginne, tänzelt er schon durch die Reihen seines Antiquariats und befreit all seine Schätze von Staubkörnern. Er tut es mit solch einer Hingabe, als würde er Gold putzen“, gebärdete Fanny.

„Vielleicht wohnt er da drin“, mutmaßte Johann und führte seine Hand zum Kinn, bewegte sie auf und ab und zeigte dann auf das Atelier. Das weiße Haar des Antiquitätenhändlers stand kerzengerade von seinem Kopf ab, seine Garderobe war streng schwarz, mit Nuancen von Ochsenblutrot wie er es nannte. Schlicht und ordentlich bewegte er sich durch die Unmengen an Kram, der bei ihm käuflich zu erwerben war. Wild durcheinander, eklektisch gestapelt und tagein, tagaus hingebungsvoll entstaubt.

„Es hat etwas Poetisches“, gebärdete Johann, während sie ihm so zusahen.

*

„Du hast immer an diesem roten Tisch gesessen und gelesen. Gefühlt jeden Tag ein neues Buch“, lachte Ben, als er die Pfanne heißer Gnocchi mit Rosmarinzweigen in Butter und zwei Gabeln auf den Balkon brachte.

Er reichte Ada eine Gabel und setzte sich auf den Stuhl neben sie. Ada pickte vorsichtig eine Gnocchi aus der Pfanne, saugte noch etwas von der geschmolzenen Butter damit auf, kaute genüsslich und sagte „das war auch so. Ich war besessen. Ich wollte mehr lesen als diese Clarissa aus meiner Klasse, sie hatte immer Buchweizentaler in ihrer Brotbüchse, roch nach Moschus und konnte einfach besser lesen und schreiben als ich. Ihre Geschichten waren ekelhaft schrullig, aber auch ausgezeichnet geschrieben“, lachte Ada. „Ich war so wütend auf sie, jeden Tag. Der Neid hat mich aufgefressen!“

„Davon habe ich noch nie was gehört“, sagte Ben und versuchte mit der Gabel noch ein paar Gnocchi zu erwischen.

„Einmal, da habe ich sie nach der Schule abgefangen und behauptet ihre Mutter hätte angerufen, weil alle ihre Bücher verbrannt wären“, gestand Ada kopfschüttelnd. Sie erinnerte sich so lebhaft als wäre es gestern passiert, Bradbury hatten sie in der Schule gelesen. Jetzt musste auch Ben lachen.

„Das hast du nicht! Und dann bist du als kleines Unschuldslamm in die Reinigung gekommen und hast ganz brav deine Bücher gelesen.“

„So wird es gewesen sein.“

„Und Clarissa?“

„Die hatte einen Nervenzusammenbruch. So etwas habe ich noch nie gesehen. Sie hat richtig geweint, aus tiefster Seele.“

„Und du?“

„Ich hab’ gesagt, es täte mir leid und bin weggelaufen.“ Ada entschied nicht zu erwähnen, wie hämisch sie sich über Clarissas Verzweiflung gefreut hatte.

Jahre später, längst Studentin, hatte sich das Lesen in etwas Neues verwandelt. Ada hatte dieses starke Verlangen, die Welt in Worte zu fassen, um sie zu begreifen. Sie begann ein Germanistik-Studium und mit ihrer fröhlichen Art setzte sie sich in einem Vorstellungsgespräch für ein Praktikum bei der später Lokalzeitung LOZ durch. Fast unbezahlt, Überstunden inklusive.

„Was bedeutet Journalismus denn für Sie, Frau Landau?“, hatte sie der Redaktionsleiter Lorenz Martin beim Vorstellungsgespräch gefragt.

„Alles“, antwortete Ada, „es ist wie eine eigene Sprache. Ich beherrsche Englisch, Deutsch, ein wirklich schlechtes Französisch und ich kann schreiben. Über die Dinge, die geschehen, sehe Zusammenhänge, zeichne Muster und Lösungswege. Ich begreife sie so wie meine Augen es nicht erblicken und mein Mund es nicht verkünden kann.“

„Sehr poetisch, Frau Landau“, antwortete Lorenz Martin. Er hatte ihr gegenübergesessen und gestaunt über diesen kleinen Rohdiamanten, sicher im Urzustand, frisch aus der Mine – aber das Schleifen würde kommen, Arbeit gab es schließlich genug.

„Meistens geht es hier in der Redaktion eher schnell, hart und oft auch teilweise schmutzig zu. Zeit und Geld zwingen unsere Ansprüche oft in die Knie. Können Sie damit leben?“

„Ich werde mein Bestes geben“, versprach Ada.

„Großartig, dann können Sie direkt hier sitzen bleiben und loslegen. Es gibt viel zu tun. Ach, und wir sind hier alle per Du. Okay für dich?“ Lorenz Martin stand auf, schüttelte Adas Hand und ließ sie verwirrt zurück.

„Okay, okay“, Ada strich ihren Rock glatt, lehnte sich zurück, schaute auf den Tisch vor sich. Er war nicht sehr groß und grenzte an einen weiteren Tisch der unbesetzt war. Ein großer Bildschirm, eine Tastatur, Kugelschreiber in einem Glas, mehr nicht.

„Ich hab’ den Job!“, tippte Ada an Ben. Viel würde sie mit diesem Praktikum nicht verdienen, es gab eine kleine Aufwandsentschädigung, die sie für das Studium brauchte, für die Wohnung, für das Abendessen. Mittagessen durfte sie kostenfrei in der Kantine, ein Relikt längst vergangener Zeiten, erstritten von einer konservativen Belegschaft, die nun von ihrem Gewohnheitsrecht Gebrauch machte und täglich gemeinsam zu Tisch ging.

„Zeit, loszulegen“, dachte Ada, stand auf und ging durch die Räume. Die Redaktion der Lokalzeitung LOZ war riesig. Für jeden Stadtteil gab es eine eigene Abteilung, die mehr oder weniger aus ein paar aneinandergeschobenen Schreibtischen bestand. Ada hatte sich hochgearbeitet würde man sagen, der Fleiß der Eltern gepaart mit ihrem ewigen Gefühl des Mangels gaben ihr den nötigen Antrieb für ihren Aufstieg, der zur Zeit eher Prestige als sicheres Einkommen bedeutete.

Viele der Menschen, die in der Redaktion arbeiteten, waren Ada ein Rätsel, mit Eigenheiten, die sie so anziehend wie abstoßend fand. Große Themen waren fortwährend Geld und Macht, was wohl selbstverständlich ist, wenn es darum geht, die Dynamiken der globalen Ordnung zu begreifen – eine der Aufgaben für sie als angehende Journalistin. Dass sie von Geld wenig Ahnung hatte, außer davon, wie es war keines zu haben, verschwieg sie. Vieles von dem was die anderen sagten, notierte sie sich auf bunte Post-its, die sie an ihren Bildschirm klebte, um den sprachlichen Stil der LOZ zu treffen.

„Der Markt regelt das“, stand auf einem gelben Post-it.

„Wettbewerb belebt das Geschäft“, auf einem pinken Post-it, das ständig zu Boden fiel.

„Wir brauchen mehr Unternehmertum, nicht mehr Bürokratie“, auf einem grünen Post-it.

„Reiche schaffen Arbeitsplätze“, klebte Ada hinter all die anderen Post-its. „Die Welt dreht sich ums Geld, aber was, wenn es der falsche Motor ist?“, flüsterte Ada, ehe sie den Post-it wieder nach hinten klebte. Wie konnte man sich dem entziehen, wenn es die Luft war, die man atmete?

„Leistung muss sich wieder lohnen“, stand auf einem orangen Post-it, darunter„statt Umverteilung benötigen wir mehr Anreize für Leistung“ und auf der Rückseite „Deutschland darf nicht zum Sozialamt der Welt werden.“ Es war das Post-it, das sich am schnellsten füllte und das, was sie am meisten hasste. Oft stand sie in der Kaffeeküche, nutzte den kostenlosen Vollautomaten um Geld zu sparen und lauschte all diesen feststehenden Redewendungen. Es dauerte einige Wochen, da traute sie sich zu kontern, als ihr Kollege Max Richter wieder mal über Leistung und Lohn referierte:

„Für wen denn, Max? Diejenigen, die ohnehin schon viel verdienen oder für die, die hart arbeiten und trotzdem kaum über die Runden kommen?“ Ada verließ stolz, aber mit dampfendem Kopf die kleine Küchennische. Ihr Praktikum war ein Fulltime-Job, nicht nur von den Stunden her, sondern auch emotional. Sie war unvorbereitet ins kalte Wasser gesprungen und versuchte nun den Kopf über Wasser zu bekommen. Sie arbeitete Tag und Nacht, sah Ben erst spät am Abend, dann kuschelten sie sich aneinander, manchmal schliefen sie miteinander, manchmal einfach nur aufeinander ein.

„Das also ist Freiheit?“, flüsterte Ada, nachdem sie sich zu Ben unter die Decke gekuschelt hatte. Sie trug diese Enttäuschung schon seit einiger Zeit mit sich herum, wollte aber auch nicht undankbar sein.

„Fühlt sich irgendwie nicht so an.“ Ada sah zu Ben, aber der bemerkte nur die Wehmut in ihrer Stimme, nicht die leere Frage dahinter.

„Ja, alles wird gut. Gib’ dir einfach Zeit“, antwortete Ben und lächelte sanft. Ada erwiderte ein schwaches Lächeln, das sich schnell verflüchtigte, als sie die Decke wieder eng um sich zog.

„Vielleicht.“

Ben rückte noch näher an Ada heran.

Nach dem Ausbruch der weltweiten Covid21-Pandemie packten alle ihre Rechner ein und machten von Zuhause weiter. Ada schrieb im Schlafzimmer ihre Texte und folgte gelangweilt den unendlichen Redaktionskonferenzen bei Zoom, während Ben im Wohnzimmer mit Adam neue Projekte plante. Gefallen am Homeoffice fanden sie beide nicht, sie quälten sich eher in der Anonymität und Strenge der Konferenzen, bei denen sofort das Telefon klingelte, kam man auch nur eine Minute zu spät.

„Wo bist du Ada, wir haben ein Meeeeting?“ Ada war es leid, diesen Satz immer wieder zu hören und freute sich auf die Rückkehr in die Redaktion, wo man sich zwischen den Besprechungen einen Kaffee holen und einen Augenblick plaudern konnte.

Das Plaudern lag ihr im Blut, denn auch ihre Mutter Karin Landau lebte von den alltäglichen Kontakten in der Textilreinigung, die sie vor ein paar Jahren übernommen hatte. Was nicht heißen soll, dass Karin alle Menschen mochte, im Gegenteil, viele kamen ihr höchst sonderbar vor.

„Guten Tag Frau Landau, Sie glauben nicht, was heute schon wieder geschehen ist“, entfuhr es der Kundschaft häufig, während Karin die Abholscheine entgegennahm.

„Nein, was denn?“

„Ein ausgebuffter Teufel ist dieser Bernd, hat die Lisa schon wieder mit den Kindern einfach vor die Tür gesetzt. Ob er sich wohl mit einer Anderen vergnügt hat? Sicher eine Jüngere!“, hieß es an einem Tag.

„Die Lisa, ein solches Teufelsweib, hat den Bernd einfach mit den Kindern weggeschickt. Ob sie wohl einen Anderen hat? Sicher einen Jüngeren!“, hieß es an einem anderen Tag.

Karin Landau antwortete stets mit großen Augen, einem überzeugenden Kopfnicken und abwechselnden Ausrufen „mit Sicherheit“ oder „unglaublich!“, während sie die frisch gereinigten Kleider, Sakkos oder Mäntel über die spiegelglatte Theke reichte.

„Alles rein und sauber!“, sagte sie dann und schmunzelte innerlich über den Kontrast zu den schmutzigen Geschichten. Sie empfand es als etwas Reinigendes, die wilden Anekdoten, die Gehässigkeit, die Schadenfreude der Menschen zu hören. Auf eine gewisse Weise waren es die ehrlichsten Begegnungen.

Karin Landau blieben noch gut zehn Jahre bis zur Rente, die gewissermaßen nicht existent war, weswegen sie, solange es möglich war, weiter arbeiten würde. Ihr Lichtblick war seit vielen Jahren ihre Kollegin und Freundin Ida Adewale, die Mutter von Ben. Mit Ida schloss sie tagsüber Wetten über die Dauer der Liebesbeziehungen ihrer Kundschaft ab. Nur dafür hatten sie ein kleines Lederbüchlein unter der Ladentheke liegen. Zum Feierabend tranken sie gerne noch ein Glas Wein auf der Bank vor dem Kiosk von Sezgin Yilmaz.

Ada und Ben hatten schon als Kinder viel Zeit in der Reinigung bei ihren Müttern verbracht. Eine Textilreinigung ist wahrlich kein aufregender Ort, aber für Ada und Ben war es für viele Jahre ihre ganze Welt. Ein eigensinnig chemischsüßsäuerlicher Duft erfüllte die Reinigung, die sich über zwei Teile erstreckte, den Eingangsbereich und den Arbeitsbereich hinter der Theke. Dort stand auch der kleine Tisch für Ada, mit etwas Sicherheitsabstand zu den Maschinen für die Nass- und Trockenreinigung. Adas Lieblingsort war unter der Bügelstation, dort versteckte sie sich gerne vor Ben, der viel Zeit mit Fußballspielen in der Auffahrt vor der Tür verbrachte. Das Gebäude lag ein wenig zurückgesetzt vom Fußgängerweg, was die wenigen Meter dazwischen zum bedeutendsten Trainingsplatz des Viertels machten.

„Ben, wie oft soll ich es dir noch sagen! Du bringst mich noch um!“, rief Ida Adewale aus der Tür. Je größer Ben wurde, desto kraftvoller wurden seine Schüsse und Ida musste ihn bald zum Bolzplatz um die Ecke schicken, um dem Herzstillstand vorzubeugen, wenn der Ball mal wieder mit voller Wucht gegen das Schaufenster knallte.

*

„Woher kommt Ben eigentlich?“

„Aus Münster, Papa.“

„Nein, ich meine, woher kommt Ben eigentlich, woher kommt seine Mutter Ida?“

„Papa.“