Wir küssen uns auch im Winter - Hans Jörg Raaflaub - E-Book

Wir küssen uns auch im Winter E-Book

Hans Jörg Raaflaub

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Beschreibung

Der feingliedrige, zart besaitete Merlin war schon immer ein bisschen "anders" als die anderen Jungen. Während ihm in seiner Kindheit die harsche Kritik des Vaters zu schaffen macht, lässt Merlin diese "Altlasten" im Laufe seiner Entwicklung zum jungen, erwachsenen und schließlich gereiften Mann immer mehr hinter sich und bekennt sich ausnahmslos zu seiner Homosexualität – keine Selbstverständlichkeit in den Siebziger- und Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts! Aber Merlin lässt sich davon weder abschrecken noch unterkriegen. Den Partner fürs Leben hat er allerdings noch nicht gefunden – ob seine Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit und sein Wunsch nach einer liebevollen, festen Partnerschaft eines Tages vielleicht doch noch wahr werden?

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Seitenzahl: 442

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2024 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99146-629-1

ISBN e-book: 978-3-99146-630-7

Lektorat: Alexandra Eryiğit-Klos

Umschlagabbildungen: Engin Korkmaz | Dreamstime.com, Hans Jörg Raaflaub

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Widmung

Für Werner

Merlins Prolog

Ich erzähle verschiedene Liebesgeschichten, die aus einer – scheinbar – unwirklich außerweltlichen Eigentümlichkeit zusammengebaut sind. So ist daraus eine gemeinsame Liebesgeschichte über außergewöhnliche Menschen entstanden. Es zeigt, wie vielfältig die Wesensart dieser Persönlichkeiten ist und dass es keine klaren Abgrenzungen gibt. Jede Farbe kann zum Zuge kommen. Die Liebe wirkt sich da aus, wo sie zu Hause sein kann.

Ich habe die Liebe aufgesaugt, wollte zeitweise andere damit überschütten. Auf der anderen Seite konnte ich wiederum die Zuneigung eines Menschen nicht annehmen. Ich bin ein Mensch, der sehr auf Gefühle ausgerichtet ist. Unstimmigkeiten ertrage ich sehr schlecht. Beim Schreiben meiner Geschichten kommen die Bilder meiner Vergangenheit hoch. Ich erlebe sie noch einmal. War sie gut oder war sie schlecht? Ein Erinnerungswirrwarr breitet sich vor mir aus, es muss neu geordnet werden. Bild für Bild liegt plötzlich klar da. Es gibt Bilder, die man gerne anschaut, und dann gibt es Bilder, die man am liebsten löschen möchte, geht aber nicht. Auch sie bestehen ewig. Der einzige Weg ist die Betrachtung. Von welcher Seite der Betrachtung ergibt sich eine Versöhnung? Vielleicht kann man mit dieser Sichtweise seine Vergangenheit besser annehmen? Fragen, auf die es manchmal keine Antworten gibt. Aber da sind zum Glück auch die schönen Bilder, die einem Zufriedenheit schenken.

Mir war häufig nicht wohl in meiner Haut, ich fühlte mich außerhalb von allem und allen. Ich war nicht nur gefühlsmäßig dünnhäutig, sondern auch körperlich nicht gerade stark ausgestattet. Ich war ein Strich in der Landschaft. Das hat mein feinsinniges Wesen noch mehr gefordert, aber auch gefördert. Ich bewunderte immer die breitschultrigen Männer mit ihren lässigen Bewegungen, die mit kräftigen, Testosteron durchwirkten Muskeln zupacken konnten und vor nichts Angst hatten. Ich dagegen war bloß ein schmalspuriges Feinstäubchen im Gezerre der Menschheit.

Wenn ich mit einer kräftigeren Körperform bestückt gewesen wäre, wäre mein Umfeld vielleicht anders an mich herangekommen, wer weiß …

Steißgeburt

Merlin, der siebenjährige Junge, schmächtig, dünn, mit langen Beinen, liebte das alte schiefe Haus mit Plumpsklo, namens „Länghütte“, in dem er mit seinen Eltern einige Jahre wohnte. Das schmale, in die Länge gezogene Gebäude, es bestand eigentlich aus zwei aneinandergebauten Häusern aus den Siebzigerjahren des 18. Jahrhunderts, wurde von der damaligen Herrschaft im bernischen Bremgarten verpönt und auch noch in den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts von flinken Mäusen bewohnt. Ländlich war dieses Gebiet im wahrsten Sinne des Wortes, es wird auch heute noch so genannt: Ländli. Wie eine Sonnenterrasse gedieh es mit all seinen Wiesengründen, Fluren und Gärten und umschlungen von der ewig grünen Aare.

Merlin war ein Tagträumer, lebte in seinen Kunstgebilden. Seine Lehrerin war darüber nicht sehr amüsiert und zitierte seine Mutter prompt in die Schule! Merlin bildete sich darauf etwas ein, aber es artete beinahe zu einem Streitgespräch zwischen den beiden Frauen aus. Die Lehrerin wollte den verträumten Merlin ein Jahr zurückstellen, worauf seine Mutter empört widersprach. Der Unterricht dauerte ja schon ein halbes Jahr! Merlin beeindruckte das überhaupt nicht, er zeigte währenddessen stolz seiner Mutter seine Zeichnungen an der Wand. Was soll’s, das Fräulein Grimmig und Merlin hatten das Heu eh nicht auf der selben Ebene. Und die Schule war auch nicht sein Lieblingsort. Es gab Tage, da kehrte Merlin nach halbem Schulweg wieder um und stand plötzlich vor der verdutzten Mutter! Sie war ihm aber nie böse und schimpfte nie mit ihm, sie wusste wohl, dass ihr kleiner Junge oft neben den Schuhen stand. Für Merlin war das Fräulein Grimmig eine böse Hexe, sie mochte ihn überhaupt nicht. Zum Glück gab’s da noch Line, die gütige Fee, natürlich nicht in Wirklichkeit. Wenn er mit ihr zusammen war, war er glücklich. Line akzeptierte Merlin so, wie er war, bewertete und belehrte ihn nicht, von wegen Auslachen, davon war gar keine Rede! Das Wort „Muttersöhnchen“ musste er sich oft gefallen lassen. Sogar sein Vater bemängelte, dass er zu wenig Lausbub wäre!

Später, Mitte der 1960er-Jahre, als in der Schule ein Turnabend mit Publikum stattfand, die Eltern gönnten sich zum ersten Mal einen Fernseher, schwänzte Merlin diesen Anlass, weil Fernsehen zu dieser Zeit für ihn sehr verlockend war und weil an besagtem Abend gerade eine Musiksendung lief, die Merlin keinesfalls verpassen wollte; jegliche Aufnahmemöglichkeiten gab es damals noch nicht. Schon die Proben für diese Turnvorstellung waren Merlin mehr als zuwider, da er Turnen ohnehin hasste, und obendrein mussten die Buben seiner Klasse eine Art Pyramide bewerkstelligen und der Knabe über ihm roch penetrant nach Pisse. Da war für Merlin das Maß voll. Er schwänzte. Seine Mutter hatte nichts dagegen. Als dann am Abend die berühmte Schweizer Schauspielerin Margrit Rainer aus voller Kehle „En rächte Bueb, de muess en Lusbueb sy!“ (Ein rechter Bub, der muss ein Lausbub sein!) sang, kommentierte der Vater: „Hörst du das!“ Merlin war daraufhin sehr gekränkt und es tat ihm im Herzen weh, es verdarb ihm die ganze Sendung, wo er sich doch so darauf gefreut hatte. Er hatte doch die Schule geschwänzt, war das denn kein Lausbubenstreich? Oder wusste es sein Vater gar nicht?

Mutter bemängelte nie etwas, war sie vielleicht die Fee Line? Ja, irgendwie, aber irgendwie auch nicht ganz. Seine Fantasiereisen konnte er mit ihr nicht machen, da musste schon Line herhalten. Seine Mutter war sehr bodenständig und praktisch veranlagt. Der Vater arbeitete als Schlachter, war zwar nie zornig auf ihn, aber für Merlin hatte er nicht das Feingefühl. Merlin hasste dieses Tiereschlachten, auch zu Hause wurden die Kaninchen vor seinen Augen geschlachtet und ausgebeint. Das war dann der deftige Sonntagsbraten an Rotweinsoße. Merlin hatte sich irgendwie daran gewöhnt.

So fing alles an. Sommer 1953. Im Februar dieses Jahres hatten Myrthe und Robert, Merlins Eltern, sich in der kleinen reformierten Kirche in Gstaad das Jawort gegeben, während Merlin schon in Myrthes Bauch munter gedieh. Die Frucht ihres Leibes kündigte sich allmählich an. Myrthe war noch vor ihrem Umzug von Gstaad im Berner Oberland nach Pfäffikon im Zürcher Oberland beim Arzt zur Kontrolle gewesen und alles schien in Ordnung zu sein. Aber irgendwie stimmte doch etwas nicht. Nachdem seine Frau das Fruchtwasser verlor, benachrichtige Vater Robert sofort die Hebamme.

„Das Fruchtwasser verloren? Das macht nichts! Ich komme gleich!“ Die Hebamme ließ sich aber Zeit, während Robert verzweifelte. Endlich, so gegen vier Uhr, trudelte die Dame ein. Da setzten plötzlich bei Myrthe die Presswehen ein. Robert war in heller Aufregung: „Sollen wir nicht den Arzt holen?“ Das wäre nicht nötig, erklärte die Hebamme, sie wollte die Geburt auf ihre Kappe nehmen. Mittlerweile war es schon später Abend geworden und das Kind kam immer noch nicht! Als dann zum Schreck aller Beteiligten aus Myrthes Schoß schwarzes Blut rann, riss Robert der Geduldsfaden, er schwang sich aufs Fahrrad und fuhr ins örtliche kleine Spital. Dort wies man aber den verzweifelten Mann ab, weil kein Arzt zur Stelle war, nannte ihm aber dessen Privatadresse. Dort wurde der Doktor von dem hilflosen werdenden Vater aus dem Bett geklingelt! Der Arzt, der sich eiligst noch eine Hose über seinen Pyjama gezogen hatte, stellte später im Spital fest, dass sich das Kind im Mutterleib gedreht und die Steißlage eingenommen hatte. Um 0.30 Uhr in der Johannisnacht besah sich also Merlin die Welt zuerst mit seinem kleinen weißen Hintern. Myrthe, zarte achtzehn Jahre jung, schlotterte am ganzen Leib nach der mehrere Stunden andauernden Geburt. Am nächsten Tag wurde sie von heftigem Fieber geschüttelt, ihr Körper war völlig erschöpft. Ein Jahr später zog Merlin mit seinen Eltern wieder ins Berner Oberland zurück, weil sein Vater mit seiner Arbeitsstelle überhaupt nicht zufrieden war – im Gegensatz zu seiner Mutter, die die liebliche Gegend und die frische Brise des dortigen Sees sehr mochte.

Myrthe hatte nie ein leichtes Leben. Bei ihrer Geburt starb ihre Mutter und sie kam zu Pflegeeltern. Obwohl sie’s dort gut hatte, fühlte sie sich doch nirgends richtig angenommen. Roberts Vater starb auch jung, so wie er später auch. Merlin besitzt noch heute ein hübsches Foto von seinem leiblichen Großvater Emmanuel, den er nie kennengelernt hatte. Jemand hatte früher mal gesagt, dass Merlin ihm ähnlich sehe. Diese feinen Gesichtszüge seines Großvaters hatte er über all die Jahre, ohne dass es ihm bewusst war, auf eine stille Art in sich aufgenommen.

Robert musste schon als Knabe hart arbeiten, als „Statterbub“ verdingte man ihn bei den umliegenden Bauern. Auch im Wallis musste er auf den Höfen hart anpacken. Sein Aufenthalt dort im Oberwallis prägte ihn sehr. Auch der unverkennbare Dialekt hinterließ seine Spuren. Einen unvergleichlichen Satz, den er immer wieder gerne seinem kleinen Sohn verschmitzt kundtat, war folgender: „Mit ere Tschiffärätä Bäggletä emberief epperia glotza!“Was so viel heißt wie: „Mit einer Hutte (Rückentragkorb) Abfallholz hinaufgehen zum Runterschauen!“

Sein Beruf als Schlachter war im Grunde genommen nicht seine wahre Berufung, die Arbeit als Schreiner hätte seiner nicht ganz starken körperlichen und seelischen Verfassung besser getan. Das Werken am Material Holz wäre für ihn gesünder gewesen, als Kühe aufzuschlitzen. Deshalb hatte er sich in den Alkohol geflüchtet, kam abends erst spät und angetrunken nach Hause. Es gab Streit und Myrthe weinte viel. Sie wiederum schlug sich als Kellnerin und Schuhverkäuferin durch. Ihre Vision war, einen Gastwirtschaftsbetrieb zu leiten, was sich später auch realisierte. Sie arbeitete ihr Leben lang sehr hart, gönnte sich nicht viel und weil sie sich, vielleicht unbewusst, schuldig fühlte, dass bei ihrer Geburt ihre Mutter starb, weil sie sich nie richtig eingebunden fühlte in ihrer Pflegefamilie, hielt sie später ihre eigene Familie mit straffen Zügeln zusammen. Sie wirkte damit zu streng, gegenüber sich und anderen. Sie trug das Herz auf der Zunge und war aufmerksam gegenüber anderen Menschen, aber baute trotzdem irgendeine Art Schutzmauer um sich herum, damit ihr Familienleben nicht durchbrochen wurde. Sie litt wahrscheinlich an einer diffusen Angst, dass jemand ihr etwas wegnehmen könnte. So mochte sie es auch nicht, wenn Merlin Schulkameraden oder Schulfreundinnen nach Hause einlud. Sie selbst pflegte nie eine enge Freundschaft, es waren höchstens Bekannte, mit denen sie verkehrte. Auch in späteren Zeiten hatte sie immer nur Kontakt zur jeweiligen Kundschaft, aber nie eine Busenfreundin. Obwohl Myrthe stets ein offenes Ohr für den Kummer anderer Leute hatte, gut zuhören und die Menschen hilfreich aufbauen konnte, traute sie sich selbst, außer zu ihrer Familie, nie eine engere Bindung zu einem anderen Menschen zu. Nicht nachvollziehbar war, als sie ihrem Sohn, als er noch klein war, vorhielt, nachdem dieser bei seiner Geburtstagsfeier seiner kleinen Freundin Vivi ein Küsschen gegeben hatte, das Küsschen doch bitte lieber ihr hätte geben sollen und nicht der Vivi. Immer die Angst vor einem Liebesverlust. Viele Jahrzehnte später, als sie im Spital im Sterbebett lag und gerade schlecht geträumt hatte, ihr Traum hatte ihr vorgegaukelt, dass Merlin einen Freund hätte, war sie außer sich und fragte ihn: „Gell, du hast keinen Freund?“ – aus lauter Panik, sie würde allein gelassen. Ihr rationales Bewusstsein hatte ihr wahrscheinlich noch nicht vermittelt, dass sie dem Tod sehr nahe war und ein Freund für Merlin gut wäre. Ariel indes hatte sich schon seit einiger Zeit aus dem engen Kreis befreit und lebte sein eigenes Leben. Ihn klammerte sie besonders stark an sich, nach Roberts Tod war er sozusagen ihr Ersatzpartner. Sie konnte es fast nicht begreifen, dass Ariel sich aus ihrer Bemutterung losgelöst hatte. Sie erkannte nicht, dass Kinder ihr eigenes Leben gestalten möchten und Partner oder Partnerinnen der Söhne auch für sie eine Bereicherung bedeuten könnte. Im Falle von Ariel war es eben auch ein Mann. Merlin, der mit seinem Bruder dieselbe Veranlagung teilte, setzte seine Bedürfnisse zurück. Es fehlte ihm zwar nichts, er kümmerte sich gerne um seine Mutter, besuchte sie häufig und sie kochte für ihn, aber im Hinterkopf fing er doch allmählich an, Möglichkeiten zu ersinnen, wie denn ein eigenes Leben, auch mit einem Partner, wäre.

Als Merlin damals seiner Mutter gestand, dass er sich zu Männern hingezogen fühle, er war zu der Zeit schon über vierzig, war sie nicht so sehr überrascht. Sie habe es mit der Zeit gemerkt, obschon sie eine Zeit lang noch gedacht habe, er würde heiraten und eine Familie gründen. Hätte sie aber seine Frau akzeptiert? Sie eröffnete ihm, dass Robert in seinen jungen Jahren mal dasselbe „Problem“ gehabt habe. Er habe einen innigen Umgang zu einem schönen Mann gepflegt. Vielleicht war es auch nur eine tiefe Männerfreundschaft gewesen oder eben doch mehr? Vielleicht fühlte Merlins Vater, dass es bei seinem Sohn ähnlich werden könnte, dass er nicht Frauen lieben würde und darum gerne gehabt hätte, dass aus ihm ein tougher Bursche mit allem Drum und Dran geworden wäre. Eine tiefgründige Angst hatte ihn deswegen womöglich beschäftigt.

Myrthe hatte zwei Seiten: eine bestimmende und eine verletzliche. Sie hatte Merlins Innenleben nie so richtig verstanden und doch hat er heute noch das Bedürfnis, ihr vieles mitzuteilen, ihr zu zeigen, wie sein Leben heute aussieht. Auch jetzt noch besteht zu seiner vor langer Zeit verstorbenen Mutter immer noch eine geheime Verbindung. Wenn Merlin irgendwo unterwegs ist, spürt er manchmal sozusagen ihre Gegenwart. Er stand seiner Mutter immer sehr nahe. Obwohl sie seine Wünsche nicht immer so wahrnahm, so versorgte sie ihn doch, so gut sie konnte, mit ihrer Wärme und Liebe. Als Kind hatte Merlin einen schrecklichen Traum: Mutter ging von zu Hause weg, er sah, wie sie sich immer weiter entfernte, bis sie schließlich hinter einem Hügel verschwand. In diesem Traumerlebnis spürte er, dass er seine Mutter nie mehr sehen würde. Dieses große Verlustgefühl plagte ihn noch am nächsten Tag.

Myrthe erkrankte mit Ende dreißig an Gebärmutterhalskrebs, wurde aber dank Radiumeinlagen geheilt. Nach etwa dreißig Jahren schlug der Krebs wieder zu. Sie war in den vorhergehenden Jahren nie mehr beim Frauenarzt gewesen, sonst hätte man es früher entdeckt und operieren können. Die Krankheit war bereits zu weit fortgeschritten. Es folgten zwei sehr schwierige Jahre, bestimmt von Verzweiflung, Angst, Tränen, Operationen, aber auch Hoffnung. Am Anfang ging es Myrthe noch gut, doch dann ließen ihre Kräfte nach. Sie litt immer wieder unter Blutungen, was sie verzweifeln ließ. Ein übel riechender Ausfluss begleitete sie lange Zeit. Wieder durch eine Operation hatte das alles ein Ende. Sie konnte endlich nach Hause, es war Anfang des Jahres. Im Spital teilten die Ärzte Myrthes Söhnen mit, dass ihre Mutter noch alles klären sollte, denn in nächster Zeit werde sie sterben. Doch beide waren sich sicher, dass die Zeit dafür noch nicht gekommen war und es noch eine Weile brauche. Sie behielten recht. Durch den Sommer hindurch erlebte sie noch ein Auf und sie war guten Mutes. Sie wurde gepflegt von ihren Söhnen und der Spitex, man hatte ein Spitalbett ins ebenerdige Wohnzimmer gestellt, damit die Pflege besser vonstattenging. Merlin und Ariel unternahmen mit ihr kleine Ausflüge, zum Beispiel in ein Gartenrestaurant. Hübsch angezogen und bester Laune genoss die zerbrechlich gewordene Frau diese schönen Momente. Doch als der Herbst sich näherte, verschlechterte sich ihr Zustand vehement und man verlegte sie wieder ins Spital, wo sie zwei Wochen später starb. Für Merlin eine sehr harte Zeit. Er war währenddessen zu ihr gezogen und hatte sich um sie gekümmert, auch sein Bruder Ariel war immer zur Stelle gewesen und hatte sich als perfekter Krankenpfleger entpuppt. Denn mit der Zeit war ein Darmstoma und später auch noch ein Nierenstoma ein Thema gewesen. Merlin hatte die psychologische Seite übernommen und hatte seine Mutter getröstet, wenn sie wieder mal in ein Tief gefallen war. Als Myrthe gestorben war, hinterließ sie eine große Leere. Merlins Trauer saß tief, zu tief, er stürzte sich in einen auffälligen Trauerkult. Er vergaß ganz, dass sein Leben auch noch wichtig war. Er hatte in den letzten Wochen bei ihr gelebt, damit er sich um sie kümmern konnte. Die Spitex hatte das Übrige getan und vor allem Ariel, der in der Nähe wohnte, war schnell zur Stelle gewesen. Als Myrthe dann gestorben war, entstand natürlich eine große Lücke, und die musste gefüllt werden, indem Merlin sich in dieses Trauervakuum begab. Es brauchte über ein Jahr, bis er sich schließlich losgelöst hatte und endlich eine befruchtende Lebensqualität zu genießen begann.

Der Vater war zu dieser Zeit schon lange tot, dieser hatte auch an dieser schlimmen Krankheit gelitten, sein ganzer Körper war von Krebs befallen gewesen. Merlin hatte zu ihm kein gutes Verhältnis, bei ihm fühlte er sich immer als Versager, vor allem in der Jugendzeit, aber als Merlin klein war, war Robert sehr fürsorglich und zärtlich zu ihm gewesen.

In der Vorweihnachtszeit fand in Bern im „Bürgerhaus“ in einem riesengroßen Saal eine sogenannte „Metzgerweihnacht“ statt. Da gab es eine Musikvorführung mit einem gewaltigen Akkordeonorchester, Jodelgesang und für alle ein Geschenk. Die Kinder holten sich ihre Weihnachtspäckli selbst. Doch musste jedes zuerst ein Gedicht kredenzen. Da standen schon einige Kinder vorne auf der Bühne und sagten die schönsten Weihnachtsgedichte auf! Da flüsterte Robert seinem damals siebenjährigen Sohn etwas ins Ohr, worauf dieser auf die Bühne sprang und lauthals am Mikrofon verkündete:

„I bin e chlyne Stumpe, rundum dick. I tschaupe i ne Glungge. Pfuiii, das sprützt!“

„Ich bin ein kleiner Stumpen, rundum dick. Ich tret in eine Pfütze. Pfuiii, das spritzt!“

Das Publikum grölte, der Saal tobte! You’ve never heard a Christmas poem like this before! Am meisten Spaß hatte natürlich Robert selbst, da war er doch ein bisschen stolz auf seinen kleinen Buben!

Merlin sah es kommen, dass es mit seinem Vater nicht gut ausgehen würde, denn er spürte, dass dieser unglücklich war. All diese drastischen Ereignisse, die wie ein Damoklesschwert herunterkrachten, prägten und formten stark Merlins Persönlichkeit. Für ihn war nicht nur das Leben, sondern auch der Tod immer gegenwärtig.

Verhext

Line erzählte Merlin viel über ihre weiten Reisen, die sie unternommen hatte, und schwärmte vom unendlich blauen Meer. Sie schenkte ihm einmal eine wunderschöne große Muschel.

„Halte sie ans Ohr und lausche“, sagte sie zu ihm, „dann hörst du das Meer rauschen!“ Und tatsächlich stand er am Strand eines wunderbaren Meeres und lauschte den betörenden Wellen! Line kam total ins Schwärmen, wenn sie von Afrika berichtete.

„Ich werde einmal einen afrikanischen Fürsten heiraten mit ganz dicken Lippen!“, rief sie begeistert.

„Die Afrikaner haben eine besonders elastische Gangart und können wunderbar singen mit einem samtenen Timbre!“, schwärmte sie weiter.

„Nimmst du mich das nächste Mal mit nach Afrika?“, fragte Merlin, von Lines Begeisterung angesteckt.

„Natürlich, da mach ich aus dir einen wunderschönen Prinzen!“ Line war nicht mehr zu bremsen.

„Aber meine Haut ist doch weiß und nicht schwarz!“, entgegnete ihr Merlin.

„Ist die Hautfarbe denn so wichtig?“

„Mir würde die dunkle Hautfarbe gefallen und so dicke Lippen möchte ich auch haben!“, träumte Merlin weiter.

„Lieber Merlin, du bist schön so, wie du bist!“ Und schwups war sie verschwunden! Line war eine etwas übermütige Fee und hatte die Unart, wenn sie in Rage kam, sich gleich in Luft aufzulösen. In diesem Moment erschallte die Stimme von Merlins Mutter: „Es ist schon spät, du musst zu Bett gehen!“ Merlin, der sich an diesem lauen Sommerabend im Garten aufhielt, wurde ruckartig aus seiner Traumwelt herausgerissen! Line erschien ihm manchmal lange Zeit nicht, obwohl er sich wünschte, dass sie immer in seiner Nähe wäre. Line war eine launische Fee und schrecklich zerstreut. Deshalb passte sie ja so gut zu Merlin, aber er war dann sehr enttäuscht, wenn sie sich längere Zeit nicht zeigte. Er wollte sie nämlich noch fragen, ob sie nicht etwas machen könnte, damit Fräulein Grimmig ein bisschen freundlicher zu ihm wäre. Line hatte ja schließlich einige Zaubertricks auf Lager! Aber vielleicht konnte ja die Grimmig auch zaubern, oder besser gesagt hexen, denn sie war gewiss eine Hexe! Sie war immer grau angezogen, ihre Augen blickten streng hinter ihrer langweiligen Brille und ihr mattes Haar klebte steckengerade an ihrem Kopf. Line war im Gegensatz sehr hübsch, hatte ein liebliches, rundliches Gesicht und weiches, lockiges, dunkles Haar. Ihre Augen sahen offen und freundlich in die Welt. Merlin glaubte zwar nicht, dass die Grimmig ihn eines Tages einsperren würde, mästen und auffressen schon gar nicht, denn erstens entsprach sie nicht dem Bild einer typischen Knusperhexe (Merlin war ein Verwandlungskünstler und konnte seine Mimik so verstellen, dass er selber fast glaubte, eine zu sein, und die anderen Kinder in den Pausen zu Tode erschreckte!) und zweitens könnte sie ihn gar nicht anfassen. Noch dazu war Fräulein Grimmig keine Person aus der Märchenwelt, sondern sie war pure Wirklichkeit und Line „nur“ ein Fantasiegebilde! Fräulein Grimmig hatte wahrscheinlich gar keine Gefühle und könnte einen Menschen nie umarmen.

Letzte Weihnachten spazierte die ganze Schulklasse in den Wald, es lag noch kein Schnee, der Wald wirkte finster, fast bedrohlich, und alle warteten aufgeregt auf den Nikolaus. Merlin spürte, dass nichts Gutes auf ihn zukam. Plötzlich, als es im Geäst knackte und ein uriger Nikolaus dann in einem schwarzen Mantel mit Kapuze und einem knorrigen Stock dahergetrottet kam mit einem goldenen Buch unter dem Arm, wuchs die Spannung der Kinder bis ins Unerträgliche. Das goldene Buch hatte es in sich. Darin stand nämlich geschrieben, ob die Schüler im vergangenen Jahr gute Leistungen erbracht hatten oder nicht. Jedes Kind musste zu diesem streng wirkenden Samichlaus vortreten. Merlin hatte laut dem goldenen Buch nur schlechte Leistungen. Da steckte natürlich die Grimmig dahinter, das war ja klar. Merlin verzog sich in eine Ecke und die Tränen konnte er nicht aufhalten. Von da an konnte er keine Nikoläuse mehr leiden, sie konnten noch so einen prächtigen roten Mantel tragen, er machte einen großen Bogen um sie. Sogar noch als Erwachsener überkommt ihn ein frostiges Gefühl, sobald er einen Mann mit weißem Bart und leuchtend roter Kapuze erblickt.

Als er im Bett lag, kam seine Mutter und wollte ihm noch eine Gutenachtgeschichte vorlesen, eigentlich liebte Merlin das, aber an diesem Abend war er sehr müde und wollte gleich schlafen.

„Nun gut, dann gute Nacht …“, meinte die Mutter und ging wieder in die Küche. Merlins Zimmer hatte keine Tür, es war nur ein Durchgang zum Schlafzimmer der Eltern. Da, plötzlich, stand Line vor Merlins Bett und setzte sich gleich zu ihm.

„Was wolltest du mich denn fragen?“

„Wieso weißt du das, Line?“

„Feen wissen alles!“, war Lines Antwort.

„Fräulein Grimmig, ich habe Probleme mit ihr – sie mag mich nicht – ich würde nicht aufpassen im Unterricht, ich glaube, sie mag nur mich nicht, sie hat mich verhext!“ Merlin fing fast an zu weinen. Es war ihm sehr wichtig, dass man ihn mochte.

„Vielleicht solltest du Fräulein Grimmig mal umarmen“, meinte Line.

„Die umarmen, sicher nicht!“

„Ich meine, nicht richtig, aber in Gedanken!“, doppelte Line nach.

„Meinst du?“, fragte Merlin ganz ungläubig.

„Das tut ja nicht weh! Ich verschwinde jetzt, überleg’s dir und schlaf gut!“ Weg war sie wieder. Merlin schlief nach kurzer Zeit ein. Er träumte etwas Unglaubliches! Er wanderte auf einer schönen Wiese mit vielen bunten wunderbar duftenden Blumen. Der Himmel war blau, die Sonne schien, alles wie im Märchen. Auf einmal schob sich eine dichte, hässlich graue Wolke über die Sonne. Um Merlin herum wurde plötzlich alles finster, keine schöne Blumenwiese mehr. Ihn überkam ein Unwohlsein, es war nichts mehr zu erkennen, keine Landschaft, kein Raum mehr, nichts. Merlin blieb stehen.

„Merlin … Merlin …“ Man hörte eine leise, fast flüsternde Stimme. Plötzlich stand er vor einem hohen Stuhl, ein riesiger Stuhl, die Sitzfläche war etwa auf zwei Metern Höhe. Merlin blickte hoch. Da saß eine zusammengekauerte graue Gestalt. Er konnte sie nicht erkennen.

„Ich bin’s doch … deine Lehrerin, Fräulein Grimmig …!“

Meine Güte, was soll jetzt das?, dachte Merlin. Seine verhasste Lehrerin begann mit brüchiger Stimme zu stammeln.

„Ich muss dir was erzählen …!

„Was wollen Sie von mir, wieso sitzen Sie da oben?“

„Warte, ich komme zu dir runter …!“ Wie ein Lift fuhr der übergroße Stuhl herunter. Auf einmal stand die Grimmig mit gebeugter Haltung vor ihm.

„Weißt du, ich war in einer Klinik für psychisch Kranke. Deshalb konnte ich nicht von Schulbeginn an unterrichten und ihr hattet die ersten Monate eine Stellvertreterin. Ich bin noch nicht ganz gesund, aber ich probiere es …!“ Ihr blasses Gesicht wurde noch blasser.

„Aber wieso mögen Sie mich nicht?“

„Ich mag dich schon, aber auf eine andere Weise. Du erinnerst mich an mich, ich bin nämlich ähnlich wie du! Deine Art war für mich fast unerträglich, du bist ein ganz feinfühliger Mensch, so wie ich …!“

„Sie wie ich, ganz bestimmt nicht!“, schrie Merlin laut und erwachte dabei!

„Was ist denn los?“ Plötzlich stand seine Mutter neben dem Bett.

„… habe schlecht geträumt!“, nuschelte Merlin.

„Möchtest du etwas Milch mit Honig?“, fragte Mutter. Merlin meinte, es sei nicht nötig, und seine Mutter legte sich wieder schlafen. Er lag noch eine Weile wach, dieser Traum beschäftigte ihn. Am nächsten Morgen fühlte er sich wie gerädert. Er wünschte sich, dass Line sich zeigen würde, aber sie erschien nicht. Als er in der Schule ankam, herrschte Aufregung, seine Schulkameraden und -kameradinnen plapperten hektisch durcheinander. Die Schuldirektorin tauchte auf und verkündete mit ernster Stimme, dass sie heute wieder nach Hause gehen sollten, Fräulein Grimmig sei wieder krank und in die Klinik eingeliefert worden! Morgen komme eine Stellvertretung. Merlin trottete völlig erschüttert nach Hause, seine Lehrerin tat ihm jetzt leid und dieser Traum war so real. Merlin erzählte alles zu Hause seiner Mutter, aber von dem Traum in der letzten Nacht sagte er nichts. Sie mochte das Fräulein Grimmig auch nicht besonders und da war sie nicht die Einzige.

„Vielleicht sollten wir sie mal besuchen?“, meinte sie trotzdem.

„… ich weiß nicht … ich weiß nur, dass sie mir leidtut“, antwortete Merlin leise. Am nächsten Tag war eine Stellvertreterin für die Grimmig in der Schule, eine nette Frau, ähnlich wie die erste. Der Unterricht gestaltete sich recht angenehm mit ihr. Während der nächsten Tage erfuhr man, dass die Grimmig wieder zu Hause sei, es gehe ihr etwas besser.

„Ich werde sie besuchen!“, sagte Merlin zur Mutter.

„Ich gehe allein, ich weiß ja, wo sie wohnt!“

„Bist du sicher, soll ich doch nicht lieber mitkommen?“

„Nein, Mami, ich möchte das alleine machen!“ Seine Mutter war überrascht über diesen Entschluss, Merlin war sonst eher etwas unselbstständig. Gleich am darauffolgenden Tag, einem Mittwochnachmittag, da hatte er ja frei, fasste er sich ein Herz und machte sich auf den Weg. Merlins Lehrerin wohnte in einem hübschen Haus. Eine freundliche ältere Frau machte die Tür auf, es war Grimmigs Mutter. „Komm nur herein!“, lud sie ihn ein. Die Frau war lustig und lachte. „Das ist aber schön, dass du Anneliese besuchen kommst!“, freute sie sich. Sie gingen ins Wohnzimmer, es war hell mit eleganten Möbeln. Da saß sie, in einem Sessel, in eine Decke gekuschelt. Man hörte leise Musik aus dem Radio.

„Wie geht es Ihnen, Fräulein Grimmig?“ Schüchtern kam die Frage aus Merlins Mund.

„Ein bisschen besser …“, antwortete sie leise.

„Wissen Sie, ich habe nämlich von Ihnen geträumt!“

„Ja, ich weiß, ich saß auf einem hohen Stuhl, zu hoch …“ Ihre Stimme wurde schon etwas lauter. Merlin war baff.

„Ich wollte mich vom Leben fernhalten, das hat mich krank gemacht. Weißt du, was Depressionen sind?“

„Nein …“ Merlin hatte dieses Wort noch nie gehört. Die Grimmig erzählte ihm, dass dies eine große Traurigkeit bedeute und man keine Freude mehr am Leben habe.

„Das ist ja furchtbar!“ Aber der kleine Merlin konnte sich das nicht so recht vorstellen.

„Aber warum wissen Sie von meinem Traum?“ „Siehst du, Merlin, unsere Welten sind doch nicht so verschieden.“ Merlin verstand gar nichts mehr. Sie hörten noch eine Weile schöne Musik zusammen, Grimmigs Mutter servierte Kuchen und Tee. Nachdem sich Merlin verabschiedet hatte, spazierte er wohlgemut nach Hause. Unterwegs machte es zisch und Line begleitete Merlin auf dem Heimweg.

„Siehst du, es hat sich gelohnt, dass du sie umarmt hast!“

„Ich habe sie aber gar nicht umarmt, ach, das hab ich jetzt vergessen! Sie war halt etwas zurückhaltend, da hab ich mich nicht getraut!“, entgegnete er etwas überrascht.

„Du hast sie mit deinem Herzen umarmt, das hat deine ungeliebte Lehrerin gespürt!“

„Ich habe plötzlich gar keinen Groll mehr auf Fräulein Grimmig, aber mit dem Umarmen warte ich noch!“, stellte Merlin fest. Schwups und weg war Line!

„Es ist schon gut, dass man ein Herz hat …!“, dachte Merlin und hüpfte trällernd nach Hause.

Vollmondhexen

Im Nachbarhaus nebenan lebten zwei alte skurrile Frauen. Sie hießen Hulda Gottlieb und Lotte Lottermann. Für den kleinen Merlin war sie einfach Frau Lotterbett.

Frau Gottlieb naschte fürs Leben gern Gottlieber Hüppen, Frau „Lotterbetts“ Bett war aber nicht etwa verlottert, nein, sie führte einen ordentlichen Haushalt. So nannte Merlin die beiden Nachbarinnen kurzerhand Gotti und Lotti! Sie kochten noch auf alten Holzherden in finsteren Küchen. Es war ja klar, dass es für ihn auch Hexen waren, aber gute Hexen natürlich. Merlin hielt sich gern bei ihnen auf, sie konnten sich gegenseitig allerlei obskure Geschichten erzählen. Gotti, mit massigem Körper ausgestattet, hatte ganz dicke Mutter-Erde-Brüste, die ihn faszinierten. Sie war etwas exhibitionistisch veranlagt. Einmal trug sie eine grob gestrickte Jacke, ohne Büstenhalter darunter zu tragen. Ihre schweren Brüste prallten mächtig durch das Strickwerk hindurch, sodass man das Gefühl hatte, dass jetzt gleich alles platzten würde! Ihre Brustwarzen drückten sichtlich durch die Strickjacke hindurch. Als sie sich dann bückte, passierte es: Da ihre Jacke nur leicht zusammengebunden war, löste sie sich und einer ihrer Höllenmöpse flutschte mehr als vorwitzig heraus! Merlin kicherte, es amüsierte ihn. Die dralle Gotti hatte das natürlich beabsichtigt, das war Merlin klar. Vorhin hatte er nämlich noch gerätselt, ob sie überhaupt einen Büstenhalter trug oder nicht. Diese Szene spielte sich ab, als beide in Merlins Wohnzimmer saßen und zusammen eine Märchenplatte anhörten, während Gotti strickte. Ein anderes Mal, als Merlin sie besuchen wollte, die Küchentür war nur angelehnt, er trat ein und Gotti stand völlig nackt am Ausgussbecken und wusch sich, ein Badezimmer gab es nicht in ihrer Wohnung, ebenso nicht in Merlins Zuhause. Es war eben ein sehr altes Haus. Es hätte ja irgendwer reinplatzen können und ihre Küchentür war zur Straße leicht geöffnet.

„Bleib nur!“, lachte sie zu Merlin, als dieser schnell wieder weghuschen wollte.

„Du hast ja deine Mama auch schon nackt gesehen!“, entschuldigte sie sich nicht. Das hatte er gewiss, aber Gottis wohlbeleibter Körper war etwas ganz anderes, und das machte ihn schon etwas verlegen. Sie sah aus wie eine mehr als üppige Fruchtbarkeitsgöttin! Da hielt sie ihm plötzlich ihre Riesenbrüste vor die Nase und sagte: „Da an diesen Dingern hast du bei deiner Mama auch eine Weile dran gelutscht!“ Merlin wusste nicht, ob er jetzt lachen oder sich erschrecken sollte.

„Keine Angst, mein Schatz, bei dir ist nicht mehr die Zeit dafür, wer weiß, vielleicht später einmal bei einer schönen Frau!“ Der Siebenjährige verstand das nicht ganz, fragte aber nicht nach. An ihren Füßen trug sie Tag und Nacht immer diese grässlichen abgeschlurften Latschen. Der Name Gotti passte zu ihr, denn sie war die Patin von Merlins kleiner Schwester Florine Rose, die als ganz kleines Mädchen auf tragische Weise ihr Leben verlor. Die schweizerische Bezeichnung für Patin ist nämlich Gotte.

Lotti dagegen war dürr und ihr Mund hatte nicht mehr alle Zähne. Ihr flaumiges Haar war zu einem winzigen Knötchen zusammengebunden, einige ihrer Härchen rutschten raus und hingen wie Fäden über ihr Gesicht. Eben Hexen. Beide wohnten in kleinen Wohnungen im Parterre. Lottis Mann war schon lange gestorben, Gotti war geschieden, ihr Mann war Alkoholiker. Merlin verbrachte viel Zeit mit seinen alten Tanten, wie er sie nannte. Zwischendurch funkte Line dazwischen:

„Kleiner Lümmel, ich bin ja auch noch da!“, beschwerte sie sich.

Merlin liebte all seine Frauengestalten, inklusive seiner Mutter natürlich. Vor allem mochte er exotische Damen, bunt gekleidet, opulent frisiert, so wie es Anfang der 1960er-Jahre Mode war. Die bekam er serviert, und zwar auf dem Rüttihof, einem ausladenden alten Bauernhaus, das viel später einer Feuerwehrübung zum Opfer fiel. Eine Schar mediterraner Schönheiten machte der karottenrothaarigen Bäuerin die Aufwartung, um Äpfel zu kaufen. Hochhackig und aufgetakelt stolzierten sie mit gefährlich bleistiftdünnen Absätzen in den Hofladen und belehrten die Landwirtin mit italienischen Ausdrücken, wie zum Beispiel „Mele“ für „Äpfel“. Die singenden, schnatternden Bellezze kamen von der nahe gelegenen Spinnerei in der Felsenau. Es waren natürlich italienische Gastarbeiterinnen. Zu der Zeit bot die Schweiz im Baugewerbe, in der Gastronomie und in den Fabriken für Ausländer Arbeitsmöglichkeiten an. Diese Gastarbeiter waren damals nicht bei allen Leuten gleich beliebt. Schimpfwörter wie „Tschingg“ (von der Zahl Cinque, 5, einem italienischen Zählspiel, abgewandelt, oder „Maiskolben“ oder sogar Meiser, weil Italiener angeblich gerne Mais essen) waren an der Tagesordnung. Heutzutage kennt man diese Ausdrücke sozusagen gar nicht mehr. Eine der schönen Spinnerinnen, eine Donna straordinaria, wie aus einem Fellini-Film, entzückte Merlin am meisten. Das lange Haar sauerstoffblondiert, der Mund kirschrot geschminkt, der Busen hochgepuscht, der Jupe knalleng, sodass der Hintern überbetont war, und mit den feinen Stöckelschuhen stakste sie lachend und singend mit ihren Landsmänninnen davon.

Er bevorzugte die weibliche Gesellschaft, die Männer mochte er eher weniger. Allesamt haarige Biester und die rochen immer so streng, zu dieser Zeit rauchten ja alle Männer. Frauen rauchten auch, aber sie rochen besser, süßlicher, und waren weicher. Ein Mann musste immer alles können, alles leisten, alles beweisen, Stärke zeigen, aber keine Gefühle. Ist das männliche Geschlecht nur „schwanzgesteuert“? Das Testosteron durchdringt seit ewigen Zeiten das ganze Weltgeschehen. Als Merlin älter wurde, stellte er sich spontan die hypothetische Frage: Gäbe es Kriege ohne Männer? Frauen würden Probleme wahrscheinlich auf eine andere Art lösen! Vielleicht würden sie sich in die Haare kriegen? Ist irgendwo auf der Welt ein Tumult im Gange, wer rennt über die Straße und schmeißt mit Steinen? Männer! Der Mann ist natürlich seit jeher ein Kämpfer, ein Verteidiger, ein Befreier! Liegt das in seiner Natur? Scheinbar oder unscheinbar? Für Merlin ist heute klar: Der Mensch ist ein mannigfaltiges, oh pardon, ein frauenfaltiges, ups, das geht gar nicht! Der Mensch ist absolut ein FARBENFROHES Wesen! Ob das genetisch, erzieherisch oder umweltbedingt so ist, darüber zerbricht sich im Moment die halbe zivilisierte Gesellschaft den Kopf! Früher erwartete man von einem Mädchen, dass es mit Puppen spielte, und von einem Buben, dass er mit Fäusten den Ton angab. Das entsprach nicht dem Wesen von Merlin, er war eher das pure Gegenteil und wiederum auch nicht. Er spielte nicht mit Puppen, aber er hatte seine Kuscheltiere, war schon von klein auf gefesselt vom Puppentheater, aber da war auch noch sein großer Stolz auf seine Märklin-Eisenbahn. Ihn interessierten aber nicht die Lokomotiven, wie es bei den meisten Buben der Fall ist, sondern die Personenwagen und wie die Schienen angelegt waren, vor allem in den Berglandschaften. Ältere Jungs hänselten ihn oft und bezeichneten ihn als Schwächling. Natürlich war er kein Kraftprotz, dafür aber flink und beweglich. Er war aber trotzdem unsportlich, unpraktisch, dafür sensibel und launisch. Aber er zeigte Stärke in seinem künstlerischen Wesen und war zudem ein fröhliches Kind. Er fühlte sich bei einem Weibertratsch besser verstanden als in einer Männerrunde. Und er interessierte sich immer dafür, was die Nachbarinnen einander so den ganzen Tag zu erzählen hatten, was sie kochten und wie sie über andere Leute lästerten. In Merlins Vorstellungskraft verwandelten sich Gotti und Lotti im Nu zu kreischenden, besenfliegenden Hexen! Abwechslungsweise beim mitternächtlichen Ausflug nahmen sie Merlin hinten auf ihren Besen mit. Huiii, da sauste der Wind um die Ohren! Merlin ging es immer noch nicht tolldreist genug zu und her! Es spielte sich ja in seiner Fantasiewelt ab.

Nackte Wirklichkeit und überhaupt keine Einbildung war der Ausrutscher oder, besser gesagt, der peinliche Vorfall, den Merlin einst in Gottis Küche ereilte. Gotti hatte da stets einen Kessel stehen für allfällige Abfälle, oder er diente auch hie und da als willkommener Pisspott, nicht nur für Merlin, sondern ebenfalls für die Frau des Hauses, wenn sie mal keine Zeit hatte, zum Plumpsklo rauszugehen, vor allem im Winter. Es war zwar gerade nicht Winter, als Gotti für das Abendessen den frisch gewaschenen Nüssler (Feldsalat oder österreichisch Vogerlsalat) auf diesen zwielichtigen Kessel abstellte. Gotti drohte noch ihrem kleinen Besucher: „Pinkel ja nicht über den Salat!“ Wie gesagt – und trotzdem getan! Gotti war inzwischen draußen beschäftigt, als Merlin nach geraumer Weile seiner Blase eine Entleerung gönnte und, wie könnte es anders sein, ließ der Bube selbstverständlich seinen knackigen Kinderpiss über den knackigen Nüssler prasseln! Gewiss nicht mit böser Absicht, nein, sondern weil er wieder mal in seinen Tagträumen schwebte. Als dann Gotti wieder hereinkam und der kleine Schwerenöter seine Sünde gestand, war sie außer sich, schimpfte aber nicht mit ihm, denn sie wusste ja genau, dass ihr lieber Merlin immer wieder in Gedanken in seine geheimen Welten abdriftete. Und so ganz vorbildhaft war Gotti schließlich auch nicht. Aber Not macht eben erfinderisch! Also eilte sie mit dem schon zweimal gewaschenen Salat raus zum Brunnen und wusch ihn noch ausgiebig ein drittes Mal, aller guten Dinge sind drei! Zum Abendessen stand also schließlich eine große Schüssel mit dem „pikanten“ Salat auf dem Tisch. Wenn die andern, die dann zu Tische saßen, das gewusst hätten! Die Wahrheit kam (Gott sei Dank) nie ans Tageslicht!

Seinen theatralischen Drang lebte er in seinen Verkleidungen aus. Auch da drückte sich das Weibliche in den Vordergrund. Männliche Figuren darzustellen, fand er langweilig, lieber verkleidete er sich in hässliche alte Hexen und in böse Königinnen. Der Auftritt der schönen Königin im Märchenspiel „Schneewittchen“ im Stadttheater Bern begeisterte den damals Siebenjährigen dermaßen, dass er im Winter Eisbrocken benutzte, die den Zauberspiegel darstellten und die er dann mit unbändiger Wucht zu Boden schmiss, sodass diese in tausend Stücke zerbarsten. Einige Nachbarskinder scharten sich um ihn und wohnten gebannt dieser berühmten Szene aus dem grimmschen Märchen bei, die der in langschleppige Gewänder gehüllte enthusiastische Merlin zum Besten gab. Im Kindergarten wurde dann „Schneewittchen“ tatsächlich aufgeführt, aber ohne Publikum und ohne Merlins Verkörperung der schönheitssüchtigen Königin. Schade. Merlin spielte überhaupt nicht mit, nicht mal als einer der Zwerge! Der Kindergärtnerin war es wahrscheinlich zu wenig zu Ohren gekommen, dass Merlin die Idealbesetzung für dieses boshafte Weib gewesen wäre! Merlin war da zu schüchtern, um sich in Szene zu setzen und anzubieten, die Königin darzustellen. Und eine andere Rolle kam für ihn gar nicht infrage! Nun ja, wenigstens konnte er sich an Schneewittchen, das heißt an Anni, die er so verehrte, ergötzen! Natürlich hatte sie schwarzes Haar, wie Ebenholz, das war ja klar, ohne das wäre es gar nicht gegangen! In der ersten Klasse saß er dann neben ihr und verliebte sich glatt in sie! Das heißt, in ihre nackten Beine, aber davon erst später.

Merlin wurde fast manisch getrieben von seinem Drang, andere Kinder und sich selber zu verkleiden. Auch zwei kleine Mädchen aus der Nachbarschaft, die gerade bei ihren Großeltern zu Besuch waren, verkleidete Merlin in seinem theatralischen Fieber mit unzähligen „Kostümen“, bis diese verzweifelt die Flucht ergriffen!

Merlin war fasziniert von den wunderschönen Zöpfen, die zu der Zeit viele Mädchen trugen. Lange, kurze, dicke, dünne, ob blond ob braun, er liebte es, sie anzuschauen! Er war neidisch auf diese Pracht. Merlin wäre nicht Merlin, wenn er sich nicht etwas hätte einfallen lassen. In alte Tücher schnitt er von beiden Seiten zur Mitte hin lange Streifen, stülpte das Ganze über den Kopf und flocht mit den herunterhängenden Streifen schöne Zöpfe. Mit dieser Kreation bewegte er sich nicht nur durch die Wohnung, sondern ging auch mal nach draußen. Da erntete er auch manchmal die Bemerkung „Mädchen!“, was ihn nicht störte.

Und was ist mit Männern aus anderen Kulturkreisen, die auch Zöpfe tragen?

Schon früh studierte er das Wesen der Frauen. Seine Mutter Myrthe war seine erste Heldin. Für ihn hatten Frauen immer eine Aura von Farben um sich, bei Männern war immer alles dunkel oder grau. Männer rochen streng und Frauen süß.

Der Einzige, der diesem kompromisslosen Männerschema widersprach, war Georges, der Pflegesohn von Gotti, achtzehn Jahre jung, bebrillt und temperamentvoll. Merlin nannte ihn hingebungsvoll Schorschi. Er wohnte noch teilweise bei Gotti und tollte dann mit Merlin durch die Gegend, Merlin ritt auf seinen Schultern, während er sich an seinem schwarzen, brilliantinegeschmierten Haar festhielt. Schorschi schleppte den federleichten Merlin überallhin, nahm ihn mit an die Aare und zeigte ihm, wie man Fische fängt, unterdessen hielt Merlin die dazugehörigen Würmer bereit. Etliche Fischer angelten in der Aare zu dieser Zeit. Die Aare hatte ihren ganz eigenen Geruch, sie roch förmlich nach Fischen. Merlin war fasziniert von einem großen Hechtkopf, welcher im Restaurant „Neubrück“ in der Gaststube bedrohlich sein Riesenmaul mit den langen spitzen Zähnen an der Wand zur Schau stellte. Dieses gekonnt hergestellte Tierpräparat von diesem stattlichen Raubfisch, der die Gäste mit glotzenden Augen belauerte, ließ jeden Beobachter vor Respekt erschaudern!

Schorschi war auch bei den Wasserfahrern und nahm Merlin eines schönen Tages in seinem großen Boot mit, ein Kollege war auch dabei. Als dann aber an der Stelle, wo Merlins Zuhause war, das Boot vorbeifuhr und Myrthe, die gerade oben am Abhang der Aare stand, das mit Schrecken feststellte, wetterte sie in einem fort, dass die beiden Burschen eiligst den Knaben ans Ufer bringen sollten! Die Angst saß ihr noch fest in den Knochen nach dem Ertrinkungstod ihrer kleinen Tochter. Aber die Panik war am Abend längst vergessen, als sie zusammen mit Merlins Tante Marie auf Schorschis Fischerhut Rock ’n’ Roll tanzten!

Schorschi war auch ein guter Geschichtenerzähler. „Die letzten Mohikaner“, ein bebildertes Buch, war der Renner. Darin war eine steinalte, krummnasige Frau abgebildet. Merlin behauptete natürlich stur und fest, dass dies keine Indianerin sei, sondern eine Hexe. Schorschis Einwände nützten da gar nichts.

Die Wände in Schorschis Zimmer waren übervoll tapeziert mit vollbusigen Pin-up-Girls herausgeschnitten aus Illustrierten. Zudem besaß er noch ein künstlerisches Talent, indem er gekonnt Tuschzeichnungen von nackten Frauen kreierte. „Vor dem kleinen Buben solltest du nicht solche Sachen zeichnen!“, wandte die sonst nicht gerade prüde Gotti ein, als Schorschi gerade seiner nackten Schönheit minuziös die Schamhaare hinkritzelte.

Als Kind galt für Merlin nur eines: Frauen waren entweder Feen oder Hexen, und die unterteilte er wiederum in zwei Kategorien: böse Zauberin oder gute Hexe.

Merlins besserer Zugang zum weiblichen Geschlecht basierte natürlich auf der emotionalen Ebene, denn Gefühlsausbrüche sind ja eher weiblich als männlich. Aber auch hier bestätigt die Ausnahme die Regel. Merlin ist ein absolutes Beispiel dafür.

„Mich hast du wohl ganz vergessen!“, reklamierte Line eines Tages, sie machte fast ein böses Gesicht!

„Mit diesen alten Weibern verbringst du immer so viel Zeit und mich lässt du links liegen!“ Oh, oh, jetzt hatte es aber dreizehn geschlagen! Merlin musste etwas unternehmen, um Line nicht dauerhaft zu beleidigen. Obschon sie sich öfter lange Zeit nicht blicken ließ. Sie war eifersüchtig.

„Ich kann dich auch das Gruseln lehren!“, frohlockte sie. Merlin war gespannt, wie sie das wohl anstellen würde.

„Ich entführe dich in eine Geisterbahn! Wie findest du das?“ Merlin überlegte.

„Ich weiß nicht, diese hässlichen Fratzen überall!“

„Angsthase!“, neckte sie ihn.

„Liebe Line, du bist doch eine gute Fee, wieso willst du, dass ich mich erschrecke?“

„Ich könnte ja auch mal meinen Spaß haben!“

„Also gut.“ Merlin war einverstanden. Zack, und schon waren sie auf einem großen Kirmesplatz und steuerten auf die Geisterbahn zu. Schauerliche Gestalten lockten das Publikum an. Man wurde in so kleine, enge Wägelchen verfrachtet und schon gab ein Mann einen Schubs und die Fahrt ins Finstere ging los! Merlin machte die Augen zu, noch kurz vorher sah er hoch oben eine grausliche Männerpuppe herunterhängen und das war genug. Er ließ die Augen geschlossen, bis die üble Fahrt vorüber war. Er nahm nur ein lautes Geheule wahr und eklige Fäden, die ihm übers Gesicht huschten. Line dagegen amüsierte sich köstlich und hielt sich den Bauch vor Lachen! Merlin fand es überhaupt nicht lustig, was sie ihm damit zugemutet hatte!

„Ich möchte, dass du verschwindest und dich eine Zeit lang nicht blicken lässt!“ Hoppla, dieses Unternehmen ging prompt in die Hose! Line löste sich todbeleidigt in Luft auf und Merlin befand sich schlagartig wieder auf dem Boden der Wirklingkeit. Seine Mutter hatte wohl bemerkt, dass er wieder abwesend war.

„Möchtest du ein Stück Kuchen und einen Kakao dazu?“, fragte sie ihn aufmunternd.

„Oh ja, das wäre jetzt gerade fein!“ Die Welt war also wieder in Ordnung.

An einem hochsommerlichen lauen Abend, es war gerade Vollmond, saßen Gotti und Lotti zusammen mit Merlin auf der langen Bank vor dem Haus und unterhielten sich über Gott und die Welt. Alle drei stierten zum Mond hinauf und philosophierten über dieses mystische Gestirn.

„Siehst du den Mann im Mond?“, fragte Lotti Merlin. Wer kennt ihn nicht, diesen ungläubigen Gesellen, der an einem Sonntag Holz geschlagen hat und vom lieben Gott persönlich dabei erwischt und dazu verdonnert wurde, bis in alle Ewigkeit am Montag (Mondtag) Holz zu schleppen, anstatt dem heiligen Sonntag die Ehre zu erweisen? Diese uralte Sage erzählten bilderreich ausgestattet Merlins geliebte alte Tanten. Wie auch immer, Gotti und Lotti hatten noch einiges im Sinn! Vor seinen Augen verwandelten sich die beiden „maroden“ Hausfrauen in meisterhafte Hexen! Merlin überlegte, ist das jetzt Vorstellung oder Wirklichkeit? Eine Vorstellung war es in jedem Falle! Sie schlüpften aus ihren Küchenschürzen in mit Flicken bestückte mantelähnliche Gebilde. Auf den Kopf stülpten sie sich völlig verwitterte Hüte. Zisch – zusch, zwei schäbige Besen flogen heran, Gotti und Lotti setzten sich drauf und los ging’s! Wusch!! Und weg waren sie!

„Und mich nehmt ihr nicht mit?“, rief ihnen Merlin entgeistert nach.

„Wer soll dich mitnehmen?“, ertönte ernüchternd die Stimme von Merlins Vater! Auf das verdutzte Gesicht von Merlin hin fragte er: „Lümmelst du wieder in deinem eingebildeten Quatsch herum?“

„Das ist kein Quatsch …“, wollte Merlin noch sagen, aber sein Vater war schon wieder anderweitig beschäftigt. Die verstehen das alle nicht!, stellte Merlin genervt fest. Alle hatten sie ihn allein gelassen, Line, jetzt auch noch Gotti und Lotti und die Eltern verstanden so etwas sowieso nicht.

Ein Sohn des Mondes

Eines Tages, als Merlin im Garten spielte – unter der zierlichen kleinen Linde spielte er am liebsten, da konnte er richtig schöne Geschichten zusammenspinnen –, geschah etwas Unerklärliches. Plötzlich bemerkte er, dass sich in den fragilen Zweigen eine helle Gestalt bewegte. Was ist das?, fragte sich Merlin erstaunt. Bei genauerem Hinsehen konnte man feststellen, dass es sich um eine sehr schlanke Person handelte. Sie schien überhaupt ganz lichtdurchflutet zu sein. Man hörte ein leises Knistern und Knacken. Dieses Wesen strahlte eine unwahrscheinliche Wärme aus.

„Wer bist du?“, fragte Merlin zaghaft. Eine weiche Stimme gab sich zu erkennen: „Ein guter Freund!“ Es war ein junger Mann, der sorgfältig aus dem Geäst herunterstieg. Er war sehr jung. Sein Gesicht war schmal und durchsichtig weiß. Die Augen seltsam hell. Er streckte dem kleinen Buben seine feingliedrige Hand entgegen.

„Wer bist du denn?“, fragte Merlin fast ein bisschen eingeschüchtert.

„Ich bin ein Sohn des Mondes!“, antwortete der geisterhafte Jüngling.

„Und was machst du hier?“ Merlin wurde immer neugieriger.

„Deine gute Fee Line hat mich hergeschickt. Sie hat dich für eine Zeit lang verlassen, sie sei sehr beschäftigt und müsse noch so vielen anderen Kindern zur Seite stehen.“

„Das ist typisch für Line, immer wieder etwas anderes machen zu müssen!“

„Sei nicht traurig, Merlin, wir werden es auch schön miteinander haben!“, tröstete ihn der Sohn des Mondes. Merlin erinnerte sich an eine Begegnung mit einem jungen Mann, der diesem Mondjüngling ähnlich sah. Merlin hatte mit seiner Mutter eine Bahnfahrt gemacht. In ihr Abteil gesellte sich ein ebensolcher junger Mann, ein Rekrut. Dieser unterhielt sich angeregt mit den beiden. Vor allem konnte er dies gut mit Merlin, der sich sogleich zu ihm hingezogen fühlte. Als der adrette Rekrut sich dann wieder verabschiedete, fing Merlin zu weinen an.

Aber dieser junge Mann hier schien länger zu bleiben. Nun stand er in ganzer Größe vor ihm. Er schien wirklich ein bisschen durchsichtig zu sein. Er trug ein feines, transparentes, weich fallendes Hemd, die Beinkleidung wirkte wie eine zweite Haut. Jetzt merkte Merlin erst richtig, wie entrückend die Gesichtszüge des Mondlings waren.

„Wie heißt du?“, möchte Merlin wissen.

„Ich weiß nicht, ich habe keinen Namen, es hat mir noch niemand einen gegeben! Vielleicht weißt ja du einen passenden für mich! Du heißt ja Merlin, dieser Name gefällt mir sehr!“ Merlin war überrascht, dass dieses engelhafte Wesen keinen Namen hatte.

„… ich verstehe, da, wo du herkommst, vom Mond, gibt es keine Menschen, die dich mit einem Namen rufen können …“, erklärte er sich selber.

„Das ist nicht der Grund, lieber Merlin, ein Name ist in der Welt, wo ich herkomme, nicht so wichtig!“

„Aber wie soll man dich denn rufen?“

„In meiner Welt verständigt man sich mit Gefühlen …“, gab der geistige Jüngling zu verstehen.

„… das solltest du kennen, denn du trägst auch eine große Gefühlswelt in dir, deshalb bin ich dir erschienen!“, erklärte der Namenlose.

„Haben das denn nicht alle?“, wollte Merlin wissen.

„Es haben schon viele Menschen Gefühle, aber meistens schlechte, deshalb streiten sie sich so häufig!“

„Ich mag mich überhaupt nicht streiten!“, beteuerte Merlin.

„Und, hast du jetzt einen Namen für mich?“ Der Sohn des Mondes war fast ein bisschen neugierig.

„… ich muss überlegen … hm … Lucio würde mir gefallen!“, strahlte Merlin.

„Lucio gefällt mir auch! So heiße ich jetzt für dich!“, freute dieser sich.

„Wollen wir zusammen spielen?“, fragte mit lauter Stimme die dickliche Babsi, Enkelin von Gotti, die öfter bei ihr zu Besuch war und mit Merlin spielte. Der wurde völlig aus seiner traumhaften Welt herausgerissen. „Ich hab jetzt keine Zeit, ich spreche mit Lucio!“, entschuldigte er sich.

„Blöd, was für ein Lucio?“ Schade, jetzt war das schöne Erlebnis mit dem Mondensohn geplatzt! Keine Spur mehr von Lucio! Da wurde Merlin bewusst, dass er mal wieder auf einer Fantasiereise gewesen war.

„Können wir nicht ein anderes Mal spielen, ich hab jetzt keine Lust!“, entschuldigte er sich genervt bei Babsi. Und überhaupt hatte die ihm gerade noch gefehlt, die wollte immer alles besser wissen und kommandierte ihn ständig herum. So kehrte Babsi sich auf dem Absatz um und schlurfte beleidigt davon. Jetzt war’s grad so schön mit Lucio gewesen, dachte Merlin traurig und rief nach ihm, aber er erschien nicht. Vielleicht war’s ja diesmal doch ein Hirngespinst von mir, sagte er zu sich. Lucio ging ihm aber nicht aus dem Kopf. Diese Wärme, diese Liebe, die dieser junge Mann ausstrahlte, ganz ähnlich wie der junge Soldat im Zug. In der kommenden Nacht konnte Merlin fast nicht schlafen, er träumte wirres Zeug, abstruse Bilder, aber nicht von Lucio!

Die Reise zum Mond

Am nächsten Abend. Gotti und Lotti saßen wie immer auf der langen Bank vor dem Haus. Gotti raffelte ein paar Kartoffeln für eine leckere Rösti für den nächsten Tag. Sie lebte jetzt allein, ihr Mann war in eine andere Wohnung, ganz in der Nähe gezogen. Von seinen alkoholischen Exzessen hatte die Nachbarschaft natürlich auch einiges mitbekommen. Merlin erinnerte sich, dass Gotti sich an einem späten Abend auf und davon hatte machen wollen, weil sie es nicht mehr aushielt. Sie war schon unterwegs auf der kleinen Ländlistraße, als sie zusammenbrach. Einige Nachbarn, auch Merlins Eltern, waren sofort zur Stelle. Die Mutter hob ihr schon den Kopf hoch, merkte aber gleich, dass der Körper von Gotti ihr zu schwer war. Alle, vor allem die Männer, hoben sie dann hoch und legten sie in Gottis Parterrewohnung in ihr Bett.

Es dauerte nicht lange, da hatte Gotti sich einen Freund zugelegt. Auch ein Kettenraucher, aber einer mit Piercing im Ohr. Dieser las Merlin und Babsi schauerliche Geschichten aus der Boulevardzeitung „Blick“ vor. Gotti pflegte ihre Vorliebe für Ottis, so hieß der Kerl, Fußmassage. Sie ließ sich von ihm ganz toll die Zehen massieren. Es kam leider vor, dass, wenn die beiden bei Merlin zu Besuch waren, diese auch da nicht davon ablassen konnten. Wie er das hasste, dieses Rumgeknete, Zehe für Zehe! Seine Mutter konnte es nicht ausstehen, aber was sollte sie sagen? Als Otti mal im Spital lag, besuchte Gotti ihn natürlich, Merlin durfte auch mit. Leider war da gerade die Ex von Gottis Gefährten anwesend. Wutentbrannt und schnaubend erhob sie sich von ihrem Stuhl und verließ raschen Schrittes das Zimmer. „Ich vermisse deine Zehenmassage, Otti!“, flüsterte Gotti ganz leise ihrem Geliebten ins Ohr. Aber Merlin hörte es und der Zimmernachbar auch und grinste.

Gotti war aber immer lustig, sang viel und kochte sehr gut. Lotti war etwas ernsthafter, konnte aber sehr schöne Geschichten erzählen. Sie fragte Merlin:„Merlin, wollen wir mal eine Reise zum Mond machen?“

„Toll!“, freute er sich. „Da können wir ja Lucio besuchen!“, rutschte ihm raus.

„Lucio, wer ist denn das, kennen wir ihn?“, wollte Gotti wissen.

„Das ist eigentlich mein Geheimnis …“, wich Merlin aus.

„Willst du es uns nicht verraten?“, doppelte Lotti nach.

„Ihr müsst mir aber versprechen, dass ihr es niemandem erzählt, auch meinen Eltern nicht!“

„Ehrenwort!“, versprachen ihm die neugierigen Tanten. Eigentlich sollte es kein Problem sein für sie, sie waren ja schließlich Vollmondhexen! Und ihre Äuglein fingen schon an zu funkeln. Gotti sprang auf wie ein junges Mädchen und stellte den Teller mit der Rösti in die Küche und verschwand für eine Weile. Als Merlin sich umsah, war auch Lotti verschwunden.

„Jetzt sind sie weg und wollten gar nichts mehr von Lucio wissen, verrückte Weiber!“, dachte Merlin laut. „Vielleicht kennen sie ihn ja doch, er kommt schließlich vom Mond!“