Wir müssen reden - Sibylle Luithlen - E-Book

Wir müssen reden E-Book

Sibylle Luithlen

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Beschreibung

Über die Angst vor dem Scheitern - und das Wagnis, neue Wege zu gehen

Feline, die Alleskönnerin, die immer lächelnd ihr Leben fest im Griff hat. Aber genügt sie wirklich – als Lehrerin, als Mutter, als Frau? Tatsächlich hält Feline, die noch keine dreißig ist, nur mit Mühe die schöne Fassade aufrecht. Bis eines Abends ihr Mann gesteht, dass er sich in eine andere verliebt hat. Sie flüchtet für ein paar Sommerwochen in die schwäbische Provinz. Dort lernt sie Silver kennen, einen Mann, der sich frei gemacht hat von den Erwartungen an ihn. Langsam beginnt Feline ihre eigenen Träume zu leben …

Mit eindringlicher Lakonie erzählt Sibylle Luithlen von einer sensiblen jungen Frau, die fremd im eigenen Leben ist. Ein feinnerviger Roman über die Zerrissenheit einer Generation, die sich mit den eigenen Ansprüchen überfordert.

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Seitenzahl: 379

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Das Buch

Leben ist ein Kunststück, das Feline nicht gelernt hat: eine gute Mutter sein, eine gute Partnerin, eine gute Lehrerin, dabei heimlich von etwas ganz anderem träumen, nur von was? Das gehört zu den Dingen, über die sie rätselt, genau wie über die Person, die ihr aus dem Spiegel entgegenblickt. Als Felines Mann sich in eine andere verliebt, droht ihr wackeliges Boot zu kentern. Sie flüchtet für ein paar Sommerwochen in die schwäbische Provinz. Dort begegnet sie Silver, der sich gleichermaßen traumwandlerisch wie ziellos durch sein Leben bewegt und Feline eine Tür zu ihrem Innern aufstößt.

Mit eindringlicher Lakonie erzählt Sibylle Luithlen von einer sensiblen jungen Frau, die fremd im eigenen Leben ist und deren Sehnsüchte viel weiter reichen als ihre Kräfte.

Die Autorin

SIBYLLELUITHLEN, 1972 in Bonn geboren, hat Germanistik und Romanistik studiert und lehrt Deutsch als Fremdsprache in Brüssel. Sie arbeitet auch journalistisch, schreibt für das Radio und Online-Magazine und hat ein Kinderbuch und eine Novelle, Ischai (2012), veröffentlicht. Wir müssen reden ist ihr Romandebüt.

Sibylle Luithlen

Wir müssen reden

Roman

Deutsche Verlags-Anstalt

Für Leon und Jasper

»Mein Gleichgewicht kommt durch Labilität. Nicht Organisation oder Mut, wie bei anderen Menschen. Das ist schlimm, aber so ist es. Unter diesen Bedingungen begreife auch ich – sogar ich! – gewisse Dinge. Vielleicht die einzige Möglichkeit für mich zu begreifen. Ich muss das Instrument spielen, das ich habe.«

Saul Bellow, Herzog

Der Raum ist dunkel. Nur die Schreibtischlampe wirft einen hellen Kegel auf das Durcheinander von Papieren und Büchern. Irgendwo muss der Zettel sein, auf dem Feline notiert hat, was sie das nächste Mal durchnehmen werden. Schon zum zweiten Mal geht sie den Stapel durch, aber nichts. Als sie aufsieht, entdeckt sie Lars in der Tür. Steht er schon länger da? Er lehnt gegen den Rahmen, die Arme verschränkt. Sein Gesicht liegt im Schatten, sie sieht nicht, wohin er blickt. Wenn er so dasteht und nichts sagt, hat sie immer gleich das Gefühl, sie habe etwas falsch gemacht. Ihn verärgert. Hallo, sagt sie, sucht weiter nach dem Zettel. Endlich, da ist er: Lektion 5. Sie schlägt das Buch auf: der Konjunktiv, ein Text über einen Lottosieger, Was wäre, wenn …? Mögliche Welten. Feline notiert sich Wörter, die die Kursteilnehmer vielleicht nicht kennen, aber ihre Konzentration ist weg. Lars rührt sich nicht. Sie geht in Gedanken durch, was sie besprochen haben, in der letzten Zeit. Der Termin beim Augenarzt für Youna fällt ihr ein, sie hat ihn immer noch nicht gemacht. Auch nicht wegen der Gasrechnung nachgefragt. Nachgehakt, hat Lars gesagt. Da sollten wir mal nachhaken. Es stört sie, dass er nachhaken sagt.

Wir müssen reden.

Seine Stimme klingt fremd. Als hätte er diesen Satz geübt. Sie hat einen Klumpen im Hals, groß wie eine Kartoffel. Jetzt, denkt sie, jetzt wird er es sagen. Du bist so. So. Er wird Sätze sagen, in denen niemand und alle und schon immer vorkommen, wird diese Schlingen auslegen, die sie zu Fall bringen werden, falls sie versucht zu fliehen. Also wird sie sitzen bleiben. Sich nicht bewegen. Rätselhaft im Sinne von unzugänglich, hat er vor Kurzem gesagt. Oder er könnte sie fragen: Liebst du mich?, wirklich als Frage gemeint. Sie wird zögern, zu spät und unentschlossen antworten. Bist du glücklich? Sie fühlt den Pulsschlag im Kopf, als würde ihr jemand mit dem Hammer rhythmisch auf die Stirn schlagen.

Okay, sagt sie. Worüber?

Lars hat sich noch immer nicht bewegt. Gleich räuspert er sich, denkt sie. Und dann? Sie dreht sich auf dem Stuhl hin und her, würde ihm gerne ins Gesicht leuchten, dort etwas ablesen.

Er fängt an, von der Fahrt nach Neapel zu sprechen, die er vergangenen Herbst mit seinem Professor und einigen Studenten gemacht hat. Sie atmet auf. Er nennt Details der Reise, organisatorische Schwierigkeiten, Absprachen mit seinem Professor. Worauf will er hinaus? Das Klopfen wird schwächer, sie hört nicht mehr richtig zu, schrumpft auf ihrem Stuhl, bis sie so klein ist, dass sie keine Kraft mehr hat, ihn zu drehen. Sitzt dort. Feline Kugler, klein wie ein Käfer. Du kannst dich in einen Elefanten verwandeln, sagte der gestiefelte Kater zum Zauberer, und schon stand der böse Zauberer als Elefant vor ihm. Aber auch in einen Löwen?, fragte der Kater.

Loles, sagt Lars jetzt. Sie heißt Loles, und auf der Fahrt nach Neapel hat es irgendwie schon angefangen. Dass sie es beide nicht richtig verstanden hätten, zuerst. Feline nimmt ihre normale Größe an, dreht sich hin und her, schneller.

Und jetzt?, fragt sie. Sie klingt panisch. Was wäre, wenn …? Mögliche Welten, eine davon heißt Loles und war mit Lars zusammen in Neapel. In eine Maus kannst du dich nicht verwandeln, sagte der gestiefelte Kater, und der Zauberer fiel darauf herein. Wurde zu einer Maus. Wurde gefressen.

Lars sagt wieder etwas Langes und Kompliziertes, etwas über Beziehungspause und Offenheit, aber zu Feline dringen die Worte nur wie durch Nebel durch, einen akustischen Nebel, verzerrt und zusammenhanglos. Sie nickt und nickt, starrt auf das Stiftparkett. Lass dich mal in den Arm nehmen, sagt Lars und kommt auf sie zu, aber da springt sie schnell auf und verzieht sich in die Küche.

Seit einer Weile schon ist Lars abends oft länger im Institut geblieben. Hatte auch am Wochenende dort zu tun. Wenn er zurückkam, war er manchmal aufgekratzt und gesprächig, dann wieder bedrückt und wortkarg. Untypisch. Sie hätte sich etwas denken können. Was alles sich abgespielt haben muss, bis er diese wirren Worte herausgewürgt hat, während er wie festgefroren im Türrahmen stand und sie auf dem viel zu großen Stuhl verblasste, ein winziger schwarzer Punkt auf schwarzem Untergrund. Wie oft er sich diese Szene wohl vorgestellt hat?

Wir sind viel zu jung Eltern geworden, Feli, hat er kürzlich gesagt, nachdem sie abends lange auf ihn gewartet hatte. So hatte er sie schon lange nicht mehr genannt. Er stand am Kühlschrank, leerte eine Flasche Bier, dann eine zweite.

Seine Stimme zitterte. Ihr braucht mich gar nicht, Youna und du, sagte er. Und dass es noch tausend Dinge gegeben hätte, die er hätte machen wollen, ehe er Vater wird.

Was denn, bitte?, fragte Feline. Was hättest du denn noch machen wollen? Als gäbe es nichts zu machen.

Sie hoffte, er würde nicht Reisen sagen, aber er sagte Reisen.

Im Französisch-LK wolltest du noch nach Paris gehen, sagte er auch. Französisch-LK, das klang wie aus dem Mittelalter.

Sie schnalzte verächtlich mit der Zunge.

Und du wolltest Fußballprofi werden, früher.

Sie erinnert sich nicht, wann sie aufgehört hat, es zu wollen. Es sind einfach andere Dinge passiert.

Wenn wir Youna nicht hätten, fing Lars wieder an.

Wir haben Youna aber.

Scheidungskind plus Scheidungskind macht neue Scheidungskinder, das kann man in jedem Artikel zum Thema nachlesen. Also bitte doppelt anstrengen.

Irgendwann murmelte er Gute Nacht und verschwand Richtung Schlafzimmer.

Feline ging in Younas Zimmer. Dort lagen Bilderbücher, die Wachsmalstifte, ein Haufen Klötze, die Gummitiere, Barbie-Kleider, das Puzzle, das sie in weniger als einer Minute legen konnte, die große Dose Holzperlen verstreut, die rosa Lenka-Schühchen. Als hätte sie an einem einzigen Tag all ihre Spielsachen benutzt. Feline zog einen Stuhl an ihr Bett und betrachtete sie: ein fünfjähriges Mädchen mit hellem Haar und einem gepunkteten Schlafanzug, den Kopf auf ein Plüschkrokodil gebettet, zu dem sich ein glänzender Spuckefaden zog. Hin und wieder atmete Youna tief auf, es klang wie ein Seufzen.

Lars guckt mit Kopfhörern einen Film im Bett, als Feline reinkommt. Er nimmt die Kopfhörer ab, wartet, ob sie etwas sagt. Aber sie schnappt sich die Decke, klemmt sich das Kopfkissen unter den Arm.

Wo gehst du hin?

Da liegt er und windet sich unter ihren Blicken. Er ist es, der die Ruder wegwirft, dabei ist ihr Boot eh kaum seetüchtig, jede Welle kann es umwerfen. Entschuldige, leider muss ich es tun, sonst kann ich Prinzessin Loles nicht die Hand reichen. Ist die Prinzessin bereit, in sein löcheriges, schwankendes Boot zu steigen? Oder wird sie ihn auf ihre Bacardi-Yacht ziehen, damit er in the sun tanzen und endlich reisen kann? Und wird das kleine Boot untergehen? Kann Feline Kugler, eine erfahrene, aber wenig talentierte Seglerin, es allein steuern? Jeder Hafen ist Tausende Kilometer entfernt. Der Ausgang dieses gewagten Manövers wird mit Spannung erwartet.

Ich schlaf auf der Couch, sagt sie.

Ein feuchter Kuss, von draußen der Geruch nach Sommerregen, Younas helle Stimme. Warum schläfst du im Wohnzimmer? Langsam taucht Feline auf, legt sich die Puzzleteile des vergangenen Abends zusammen. Youna zieht ihr Augenlid nach oben. Aufwachen!

Als wäre nachts ein Traktor über sie gefahren. Sie hat wach gelegen, bis die Morgendämmerung aufzog, in Gedanken fiebrig nach möglichen Fortsetzungen ihrer aller Leben gesucht, als würden sie einfach stehen bleiben, wenn Feline sie nicht rechtzeitig fände, dann muss sie in diesen Schacht aus Schlaf gefallen sein.

Wir haben dich extra nicht geweckt, verkündet Youna. Sie hat schon den Regenmantel an. Lars steht im Hintergrund, ernst und aufrecht. Jemand, der getan hat, was getan werden musste, in solchen Fällen gibt es nichts zu bereuen.

Denkst du daran, nachher Youna abzuholen?

Habe ich das je vergessen?, denkt sie. Sie nickt, wartet, bis Youna ihr noch einen Kuss gegeben, doch noch die Gummistiefel gegen Halbschuhe getauscht hat, denn es regnet kaum, Tschüss und Bis nachhergerufen hat und dann, endlich, wieder Ruhe einkehrt.

Auch an diesem Tag steht Feline ihren Kurs durch wie eine Eins. Lächelt. Lektion 5, Seite 34 bitte. Schreibt ich wäre, du wärest, er wäre an die Tafel, lässt es von den Teilnehmern wiederholen. Alle sind sie da: Farian, der Afghane, der sich bei jedem deutschen Wort fast die Zunge bricht. Gracieuse, die Musterschülerin, die immer in der ersten Reihe sitzt, mitschreibt und kluge Fragen stellt. Feline strahlt Ruhe aus, während sich Gedanken in ihrem Kopf überschlagen, Freundlichkeit gegen die Tränen, Humor gegen die Wut. Sie spielt wie eine Weltmeisterin, Kugler gegen Kugler.

Kugler 1, ausgefeilte Technik, extreme Körperbeherrschung, erstaunliche Antizipation der Attacken des Gegners. Kugler 2, eine Naturgewalt, fegt mit ihrer brachialen Kraft selbst geübte Kämpfer vom Platz, aber schwankend in ihren Leistungen. Heute gewinnt Kugler 1, besteht darauf, dass sich auf Deutsch verabschiedet wird, reicht jedem die Hand und sagt zwölf Mal Bis zum nächsten Mal, gibt schon auf dem Weg zum Fahrrad an Kugler 2 ab und ruft der Kollegin, die noch einen Kaffee trinken will, zu, sie sei in Eile.

Der stärkere Regen auf dem Rückweg stört sie nicht, im Gegenteil. Etwas fühlen auf der Haut, die winzigen Stiche wie zur Erinnerung, dass es ein Außen gibt. Sie versucht nicht mal, nicht zu weinen. Loles. Was genau ist nun eigentlich so schlimm? Es ist lange her, dass sie dachte, Lars und sie wären gut füreinander.

Nächste Woche Lektion 6, Dinge, die Sie glücklich machen:

mit Youna ins Schwimmbad gehen

mit Youna Plätzchen backen

Youna die Geschichte von Mister Ulua, dem listigen Papagei, erzählen

mit einer Wärmflasche im Bett liegen und lesen

Annabell besuchen oder Besuch von ihr bekommen

Später geht Feline einkaufen, hängt Wäsche auf und hört dabei Musik, irgendwelche Musik, Hauptsache, es ist nicht still. Wieder fehlen Socken. Sie tut Paare in die Maschine, und einzelne kommen heraus.

Als sie mit alldem fertig ist, packt sie ihren Computer in den Rucksack, läuft durch den Regen zu einem Café und schreibt nichts, denn in ihrem Kopf herrscht Sturm, Wirbelsturm Katrina, gerade hat er mehrere der ohnehin nicht sehr zahlreichen Verbindungen zwischen Feline K. und ihrer Umwelt vollkommen zum Erliegen gebracht, und dort sitzt es also, das patente Fräulein Kugler, den Blick im Nieselregen und dem Grau der Stadt verloren, und leistet tapfer Widerstand.

Nachdem der Sturm sich gelegt hat, ist es schon Zeit, Youna vom Kindergarten abzuholen, als hätte ihre Uhr heimlich Sprünge gemacht. Younas Hände und Unterarme sind voller Farbe, aber Feline darf nicht wissen, wieso. Wie ihr Tag so war? Leander hatte Nasenbluten und hat geweint, Youna durfte helfen, Nachtisch zu machen, es gab Vanillepudding mit Wolke. Auf dem Rückweg springt sie in alle Pfützen, trotz Halbschuhen, und verfrachtet mehrere Regenwürmer vom Bürgersteig ins Grüne. Zu Hause macht Feline sich einen Kaffee, schneidet Äpfel für Youna, hängt Wäsche auf, alles tut sie wie immer, nur mit dem Wissen, dass ein Holzwurm namens Loles die Fundamente ihres Hauses durchlöchert. Schon so weit durchlöchert hat, dass es möglicherweise einstürzt. Jetzt. Oder jetzt. Oder jetzt. Jetzt kann immer sein. Wird es nach vorne stürzen oder nach hinten oder einfach in sich zusammen wie die Twin Towers? Was wird es unter sich begraben? Geschätzte Zahl der Opfer: eins bis zwei. Vielleicht auch drei. Der Ärmel von Younas Kleid ist eingerissen, sie wird es Lars’ Mutter zum Nähen geben. Wohin soll sie bloß gucken, wenn Lars nachher zurückkommt? Wenn er ihr am Esstisch gegenübersitzt. Und wie macht man eine Beziehungspause? Sie schlafen eh kaum noch miteinander und reden tun sie vor allem über Organisatorisches.

Youna kommt rein, zeigt Bilder, die sie gemalt hat: verschiedene Etappen eines Flugzeugabsturzes, auf dem letzten Bild ist es in zwei Teile gebrochen und brennt.

Und die Leute?, fragt Feline. Wo sind die?

Youna stellt den linken Fuß auf den rechten, dann den rechten auf den linken, als wäre der Boden kalt. Dann zuckt sie die Achseln.

Wahrscheinlich tot.

Feline schlägt jedes Wäschestück gründlich aus, wie sie es von ihrer Mutter gelernt hat, dann sieht es fast aus wie gebügelt, wenn es trocken ist.

Warum sind sie nicht rechtzeitig abgesprungen? Es gibt doch für jeden Passagier einen Fallschirm über dem Sitz. Youna steht immer noch da, betrachtet sie interessiert.

Weinst du?, fragt sie.

Was, wenn ich Panik bekomme, wie damals vor der Prüfung? Oder wie im scheiß Referendariat?, hat sie am Telefon zu Annabell gesagt, als das Gespräch auf den Sommerkurs kam, den sie geben wird. Das Wort Referendariat verwendet sie seit dem Tag nur mit diesem Zusatz. Der Tag vor mittlerweile fast einem Jahr. Der letzte in einer Reihe von Tagen, an denen Feline sich morgens vor dem Spiegel lange betrachtete und dachte: Eine neue Kugler muss her, eine Lehrerin. Eine, die laut spricht, die mit Blicken zum Schweigen bringen kann, die Arbeitsanweisungen mit so viel Überzeugung gibt, dass sie befolgt werden, die sich sicher und freundlich durch Menschenmengen in hässlichen Fluren schiebt, die sich nicht von oben sieht, sobald sie in einer Konferenz sitzt, die so tut, als wäre auch ihr Traum eine feste Stelle an einem Gymnasium. Steig von deinem Mond herunter, Feline. Sie schminkt sich nun wieder. Sie bügelt ihre Pullover und T-Shirts. Spricht sich Mut zu auf dem kurzen Weg von zu Hause zur Schule, ruft jedem bekannten Gesicht ein fröhliches Guten Morgen entgegen, Auf in den Kampf, Torero, hat ihre Mutter früher manchmal gesungen. Stellt sich am Kopierer an, spricht ein bisschen mit Tom, dem anderen Deutsch-Referendar, Philipp, Sport und Englisch, Mira, Mathe und Biologie. Wie läuft’s?, Ganz gut, und bei dir?, Okay, aber gestern, die 9b!, Oh Mann, ich muss heute die Nebensätze in der Sechsten machen. Sie hält Tom ein Blatt unter die Nase, das sie bearbeiten wird.

Cool, wie du das schaffst, mit Kind, sagt Mira.

Der Kopierer summt und summt, hinter ihnen der anschwellende Lärm im Lehrerzimmer, das Hin-und-Hergelaufe, bis gleich mit dem Klingeln alle aus den Türen strömen und der Raum innerhalb von einer Minute in Stille versinken wird, als würde mit dem Klingelton alles weggesaugt.

Und dein Freund?, fragt sie.

Schreibt eine Doktorarbeit. In Geografie.

Wow. Mir ist der Stress ja so schon zu viel, ohne Kind.

Mir nicht, denkt Feline. Mir ist nichts zu viel, nie. Sie kann ein Kind großziehen und Hausarbeiten schreiben, einen Haushalt führen, tageweise im Café Mokka arbeiten, Elternvertreterin im Kindergarten sein, davon träumen, in Paris zu leben, ohne es richtig zu merken, nachts nicht schlafen, weil Scheidungskind plus Scheidungskind neue Scheidungskinder ergibt, statistisch gesehen, am Telefon ihre Mutter trösten, die in einer Kommune in Spanien vereinsamt, Jugendliche dazu bringen, Klassiker zu lesen, zwischendurch in den Ring steigen und Kugler 2 auf die Matte werfen, zehn Sekunden auf ihr sitzen, dann ist sie mal wieder besiegt, und dabei auch noch lächeln. Feline, die Alleskönnerin.

Nee, das geht schon, sagt sie.

Also jener Tag vor einem Jahr. Feline soll in der 8a von Frau Steffens ihre erste Stunde halten. Ganz allein, von der Begrüßung bis zu den Hausaufgaben, die sie am Ende der Stunde an die Tafel schreiben wird. Um fünf Uhr morgens ist sie aufgewacht, konnte nicht mehr schlafen, hat sich im Bett von einer Seite auf die andere gedreht. In dem Traum, aus dem sie gerade erwacht ist, waren alle Uhren verschwunden, alle Computer kaputt, und es gelang ihr einfach nicht herauszufinden, ob sie die Stunde schon verpasst hatte oder ob sie es noch schaffen konnte. Das Gespräch mit Lars am Abend zuvor fiel ihr ein. Ein schönes Gespräch. Was es für ihn bedeutet, Vater zu sein, er, der ohne Vater aufgewachsen war. Und wie lange sie damals an ihrer Freundschaft festgehalten hatten, um sie nicht durch die Liebe zu gefährden. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie hätten miteinander geschlafen, aber dann klingelte das Telefon. Lars hob ab und sagte nur mit den Lippen: Deine Schwester. Feline hat trotzdem angenommen. Warum macht unsere Mutter so was?, fing Stella fast ohne Einleitung an. Zieht mit über fünfzig nach Spanien. Glaubt immer noch an den Märchenprinzen. Und jetzt? Als hätten wir nichts anderes zu tun, als uns mit ihrem Vermieter herumzuschlagen. Redete lange auf sie ein, wie ein Maschinengewehr. Feline sagte wenig, dachte nur, dass Stella noch immer nichts von ihrer Mutter wissen will, nichts verstehen will, von niemandem in der Familie.

Sie glaubt nicht an den Märchenprinzen, keine Sorge, sagte sie irgendwann, aber Stella war schon bei ihrer Arbeit im Sonnenstudio angekommen, den unmöglichen Arbeitszeiten, irgendeiner Kollegin, mit der sie sich nicht verstand. Um eine Pause zu erzwingen, erzählte Feline, dass sie morgen ihre erste Stunde allein halten würde. In Deutsch. Über den Schimmelreiter. Oh Gott, sagte Stella, an deiner Stelle würde ich mir die Kugel geben. Kurz darauf hatten sie aufgelegt.

Um halb sieben kommt Youna. Aufstehen, sagt sie. Vorne steht schon eine Sechs. Sie liest die Uhrzeit von Felines Handy ab, das auf dem Nachttisch liegt.

Gehen wir heute schwimmen?, fragt sie. Daran kann Feline noch nicht denken. Sie denkt nur bis zur 8a, lässt die Namen der Schüler Revue passieren, probiert, die Stirn so in Falten zu legen, wie Frau Steffens es tut. Frau Doktor Steffens.

Mal sehen.

Dann fangen sie den Tag an.

Langer Abschied von Youna, kurze Absprachen mit Lars, mehrfache Kontrolle des Tascheninhalts, Fahrradschlüssel, Haargummi, Hausschlüssel und Handy. Aufbruch.

Schönes Wetter, Sommertag, gut gelaunte Schüler auf allen Wegen, die Mensa noch geschlossen, ein Heer von Rädern mit fehlendem Sattel, fehlendem Lenker, fehlendem Hinterrad, Blätterdach und goldene Sonne in den Zwischenräumen. Auf in den Kampf, Torero.

Die Schüler sitzen auf Tischen und Bänken, manche mit Kopfhörern, andere zeigen sich Dinge auf ihren Handys, einige lehnen sich aus den offenen Fenstern und schreien Leuten auf dem Hof etwas zu. Frau Doktor Steffens hat sich ganz hinten in der Klasse eingerichtet, ein Notizblock auf den Knien, ein wahrscheinlich ermutigend gemeintes Lächeln im Gesicht.

So, bitte setzen, wir fangen jetzt an, sagt Feline. Robert, setz dich bitte hin. Mariana. Bitte. Geh bitte auf deinen Platz, Amira. Yannick, hinsetzen. Du auch, Peer. Wenn einer sich setzt, steht ein anderer wieder auf. Ihre Stimme ist ein Zirpen. Auf dem Tisch vor ihr liegen Kärtchen mit Rätseln, die sie ausgeschnitten hat. Rätsel, wie albern, wie hatte sie denken können, das wäre ein guter Einstieg. Irgendwann sitzen sie doch alle. Sie wird diese Phase überspringen. Sie fängt gleich selber mit der Zusammenfassung der letzten Stunde von Frau Doktor Steffens an, denn von den Schülern ist dazu niemand bereit. Oder in der Lage. Sie spricht über die Verlobung und das Amt des Deichgrafen. Es wird gemurmelt, gelacht. Ein Handy klingelt. Feline versucht, streng zu gucken. Wessen Handy war das?, fragt sie. Sie denkt, in solchen Momenten würde Grabesstille herrschen. Aber nichts. Zwei Mädchen, sie weiß ihre Namen nicht mehr, haben anscheinend denselben Film gesehen und unterhalten sich darüber, über mehrere Bänke hinweg. Wieder ruft jemand aus dem Fenster. Sie schwitzt, als wäre es schon Mittag und sie säße in der prallen Sonne.

Zurück zu Hauke Haien, ruft sie gegen das Herzklopfen an. Die Worte klingen wie in einer fremden Sprache. Oder als würde nicht sie selbst sie sagen. Sie ergeben auch gar keinen Sinn. Hauke Haien. Vielleicht heißt er gar nicht so? Dieser Wirbel im Kopf, keinen Gedanken kann sie festhalten, ein durchdrehendes Karussell. Sind Sie schwindelfrei, sind Sie immun gegen Lärm, fühlen Sie sich in Gruppen wohl, bestimmen Sie gerne, verursachen Ihnen Linoleumböden und vollgekritzelte Tische keine Beklemmungen? Die Schüler sitzen da, nur Stimmen und Farben, von niemandem könnte sie den Namen sagen. Frau Steffens hinten mit ihrem Notizbuch schüttelt den Kopf wie einer dieser Hunde, die manche Leute auf der Hutablage in ihrem Auto spazieren fahren. Alles wird immer durchscheinender und substanzloser. Feline greift nach dem Marker auf dem Tisch. Das kühle, feste Plastik in der Hand beruhigt sie. Bis zum Fenster. Sie muss nur bis zum Fenster kommen und rausgucken. Leute, Autos, Bäume. Und obwohl der Boden nachgibt, langsam nur, als sollte sie es nicht merken, durchquert sie Schritt für Schritt den Raum. Bleibt dort stehen, sieht den leeren Schulhof mit den Linien zum Basketballspielen, die große Linde, den Kiosk, der gerade öffnet.

Sollen wir das abschreiben?

Eine hohe Stimme. Natalie. Das Mädchen heißt Natalie, daran erinnert sich Feline nun ganz deutlich.

An der Tafel steht in Blau Der Schimmelreiter. Das ist ihre Schrift. Wie kommt das dahin? Feline starrt den Stift in ihrer Hand an, als könnte man ihm ansehen, ob er benutzt worden ist. Sie geht zur Tafel, unterstreicht Der Schimmelreiter und schreibt darunter: Schreibe einen Brief an Hauke Haien. So heißt er. Ist schon richtig. Und jetzt, leg den Stift auf den Tisch zurück, Kugler, du musst dich zusammenreißen. Finde einen Vorwand, kurz rauszugehen.

Ja, genau, sagt sie. Schreibt das bitte ab. So, sagt sie dann, ich hole schnell eine neue Kartusche für den roten Stift.

Sie läuft hinaus, als würde es brennen. Vielleicht brennt es ja. Egal, dass Frau Steffens von hinten ruft, ein roter Stift sei doch ganz unnötig. Draußen reibt sie sich mit beiden Händen übers Gesicht wie zur Wiederbelebung, geht in die Schülertoiletten und vergewissert sich im Spiegel, dass sie noch da ist. Sie sieht aus wie immer. Als sie zurückkommt, schreibt niemand an dem Brief, Frau Steffens’ Augenbrauen sind in diesem ärgerlichen Gesichtsausdruck aneinandergewachsen, der Computer zeigt 9.40. Wann war noch mal die Stunde aus?

Die Briefe werde ich am Ende der Stunde einsammeln und benoten. Diese feste Stimme, woher kommt sie? Protest von einigen. Aber nach und nach, während sie mit verschränkten Armen durch die Reihen geht, verebbt er.

Worüber sollen wir denn schreiben?, fragt jemand.

Darin seid ihr ganz frei.

Frau Steffens sieht aus, als müsste sie ein Schnauben unterdrücken.

Als es klingelt, brechen die Schüler in Geschrei aus. Die Zeit war viel zu kurz!, rufen sie. Ungerecht! Können Sie nicht benoten!

Wir schreiben ihn am Montag zu Ende, ruft sie in das Durcheinander, sammelt Blatt um Blatt ein, wie eine reiche und ganz unverdiente Ernte, stapelt sie. Die Schüler werfen sich ihre Taschen über die Schultern, überprüfen ihre Telefone auf Nachrichten und schieben sich lachend und redend nach draußen. Sie stapelt weiter, Ecke auf Ecke, möglichst genau, während Frau Steffens sich nähert, mit drohend langsamen Schritten, mit ihren gefährlich verengten Augen, stapelt gegen ihr Herzrasen an, so lange, bis sie genau vor ihr steht. Ihr Gesicht ist ausdruckslos: Was war denn das bitte, Frau Kugler?

Feline wischt die Arbeitsanweisung von der Tafel, niemand spricht, dieses Schweigen ist Anklage, Zeugenvernehmung und Verurteilung in einem. Feline wischt langsam. Zeit gewinnen. Hoffen, dass ihr einfällt, was sie gleich zu Frau Steffens wird sagen können.

Und das wollen Sie also benoten, ja? Frau Steffens’ Stimme ist durchdringend.

Will sie nicht. Ebenso wenig wie hier stehen. Wie Achtklässler unterrichten. Wie anderen Leuten sagen, was sie lesen sollen. Nur hier weg will sie.

Die Arbeitsanweisung war ganz unsinnig. Wir waren ja noch gar nicht beim Deichbau.

Ich weiß.

Ich kann das nicht verstehen, sagt sie resigniert. Sie sind doch eine patente, junge Frau, Sie sind doch sogar Mutter, was ist denn mit Ihnen los?

Ärgerlich schiebt sie ein paar Stühle an die Tische, hält ihr die Tür auf, ohne sie anzusehen, und schließt hinter ihr ab. Langsam nähern sie sich dem Lehrerzimmer. Feline hat noch immer nichts gesagt. Was ist mit ihr los? Niemand weiß es. Niemand. So ähnlich wie bei Rumpelstilzchen, dessen Namen niemand kannte. Aber es kannte ihn wenigstens selber. Seit Feline denken kann, ist etwas mit ihr los, aber was? Nächtelang hat sie schon darüber nachgegrübelt.

Frau Steffens erklärt ihr mithilfe ihres Zettels alle Irrtümer und pädagogischen Fehlentscheidungen, die Feline in fünfundvierzig Minuten untergebracht hat. Sie spricht von Lehrerpersönlichkeit und Klassenkommunikation, einer undurchdachten Arbeitsanweisung und dem unvollständigen Tafelbild. Kein Titel, kein Datum.

Sie könnte doch heute Nachmittag mit Youna ins Schwimmbad gehen. Das Wetter ist schön. Gleich, wenn Frau Steffens zu Ende gesprochen hat, wird sie Youna im Kindergarten abholen. Sie werden durch den Park zum Schwimmbad radeln, Youna wird auf ihrem rosa Rad vor ihr herfahren und die Brücke über den Militärgürtel viel zu schnell hinuntersausen; Feline wird Angst haben, dass sie fällt, aber sie wird nicht fallen. Sie wird die Beine zur Seite strecken und sich ausrollen lassen, bis sie fast steht und wieder treten muss.

Frau Kugler, endet der letzte Satz. Ein strenger Blick.

Ich muss jetzt meine Tochter abholen.

Sie steht auf, packt ihre Sachen zusammen.

Frau Steffens betrachtet sie ungläubig. Ich habe zu dieser Sache noch nichts gehört von Ihnen.

Meine Tochter wartet.

Den Weg bis zum Kindergarten heult sie. Nicht, weil sie traurig ist, es ist eher wie ein Schock nach einem Unfall oder einer schlechten Nachricht.

Sie geht in einem Café auf die Toilette, wäscht sich das Gesicht, schminkt sich die Augen neu, sieht sich an wie eine Unbekannte. Nie, niemals hätte sie etwas wie die Deutsch-Stunde in der 8a für möglich gehalten. Das immerhin verbindet sie mit Frau Steffens.

Im Kindergarten sitzt Youna an dem großen Tisch und malt.

Youna, deine Mutter!, schreit Leander, der mit Kaplas baut und sich von jedem Geräusch ablenken lässt.

Ich weiß. Ich komm gleich.

Sie ist Younas Mutter, das ist an diesem Tag die einzig positive Gewissheit.

Dann steht Youna auf, sagt Hallo, gibt ihr einen Kuss.

Gleich gehen wir ins Schwimmbad, sagt Feline.

Ihr habt euch noch nicht in die Listen eingetragen, sagt eine der Kindergärtnerinnen, während Youna die Sandalen abstreift, Tschüss, Mama! ruft und gleich im Garten verschwindet. Essen süß, Essen herzhaft, Spiele. Am Samstag ist Kindergartenfest. Feline trägt einen Kuchen ein, einen Salat, eine Stunde Aufsicht beim Dosenwerfen. Als sie vorhin aufgestanden ist, benommen und mutlos nach einer in Fitzel von Schlaf zerrissenen Nacht, hörte sie Lars im Bad pfeifen, wie früher; jemand, der einen Tag voller Möglichkeiten beginnt. Feline kochte Kaffee, toastete Brot, während die Mühle in ihrem Kopf sich zu Lars’ Melodien weiter und weiter drehte, die immer gleichen Gedanken zu schwarzem Staub mahlte; Staub, der die Sicht verdunkelte und sich auf Gegenstände und Lebewesen gleichermaßen legte.

Vom Zaun aus winkt sie Youna noch einmal zu, die mit Leander in einem Eimer Matsche anrührt, dann radelt Feline los, den Computer auf dem Rücken. Sie wird sich auf der Terrasse eines wenig besuchten Cafés niederlassen, ihren Computer aufklappen, das Dokument mit dem provisorischen Titel F. im Sommer öffnen, in dem ein sechzehnjähriges Mädchen in Gesellschaft mehrerer unerträglicher Erwachsener einen Urlaub in der Provence verbringt. Seit Feline die Tür zur Schule hinter sich geschlossen hat, versucht sie zu schreiben; Personen und Handlungen aus dem Wust ihrer Gedanken zu isolieren, zu ordnen und in den Computer zu tippen. Sie wird nicht an das gestrige Gespräch mit Lars denken, nicht an eine Geografiestudentin namens Loles, nicht daran, wo Lars sich genau jetzt und jetzt und jetzt aufhält und mit wem. F. in ihrem provenzalischen Haus wird fast verrückt, dort wird Feline gebraucht.

Der Himmel wölbt sich vielversprechend über den Baumkronen, die Enten schwimmen träge durch das brackige Wasser des Kanals.

Solange sie fährt, kann sie sich noch die Geschichte der letzten Nacht zu Ende erzählen, die des Aufbruchs von F. K., die an einem glühend heißen Vormittag in einem unscheinbaren Schulgebäude aus den Siebzigerjahren unter den Augen der Klasse 8a und denen von Frau Doktor Steffens ihren Anfang nahm und bisher noch zu keinem Ende gekommen ist. Ein Aufbruch in die Ratlosigkeit, in zaghafte Versuche und das große Nichts.

Als sie am nächsten Morgen aufwachte, war es noch dunkel, dabei war Hochsommer. Ihr Herzschlag donnerte gegen ihre Rippen, ließ den ganzen Raum pulsieren, in ihrem Kopf explodierten tausend Gedanken auf einmal. Etwas rollte auf sie zu, groß und dunkel, türmte und türmte sich. Dort, neben ihr, lag Lars. Er atmete ruhig. Vielleicht würde sie gleich sterben, dachte Feline; einfach ertrinken, in ihrem Bett. Steh auf, sagte da jemand zu ihr. Eine stimmlose Stimme, wie früher die von Egon, wenn sie als Kind hinter dem Schuppen auf ihn gewartet hatte, eine Stimme aus Gedanken. Sie steht auf, zieht sich an, trinkt ein Glas Wasser, tut alles, was man ihr sagt. Als wäre es diese Stimme, die sie jetzt retten könnte. In der Küche steht noch die unausgepackte Schwimmbadtasche. Feline hinterlässt einen Zettel auf dem Tisch: Bin spazieren. Falls Lars aufwacht. Dann geht sie. Ihre Füße tragen sie zwischen den schlafenden Häusern entlang, am Park vorbei, am Universitätsgebäude, durch die Unterführung Richtung Innenstadt. Die Luft ist kühl und diesig, die Laternen haben Höfe, ein Schwarz-Weiß-Film, in dem eine Frau vor etwas wegläuft. Sie atmet flach, als wäre die Luft vergiftet. Ein Taxi fährt vorbei, später ein Fahrrad. Sie geht weiter, konzentriert sich auf ihre Schritte, so regelmäßig, als würden sie von einem Uhrwerk gesteuert. Links rechts links rechts links. Und so weiter. Weiter. Immer so weiter, als würde alles nur durch ihre Schritte in diesem prekären Gleichgewicht gehalten, die Straßen, die Häuser, die vor einem Café angeketteten Tische, die Blumentröge, die alte Frau mit dem Hund, warum schläft sie nicht? Alles würde zerfallen, bliebe Feline nur einen Moment stehen, aber das tut sie nicht. Sie läuft. Rechts links rechts links. Ihr Vater hat Uhren gesammelt, früher. Er hat manchmal die Metallplatte hinten mit einem winzigen Schraubenzieher abgehoben und ihr das Uhrwerk gezeigt, dieses Wunder aus glänzenden, ineinandergreifenden Rädchen. Er hat sich für die Genauigkeit begeistert – auf die Minute genau, und das jeden Tag –, er hat ihr Mechanismen erklärt, und sie hat ihm zugehört, sich davontragen lassen von seiner Begeisterung, seiner warmen Stimme, ihrem geteilten Entzücken. Wenn er sie dann von seinen Knien geschoben und gesagt hat, jetzt ist aber Bettgehzeit, ist die Welt auf einmal zurück auf die Größe ihres Wohnzimmers geschrumpft, und gleich darauf hatte sie alles vergessen, all die Mechanismen. Aber sie hat sich gemerkt, dass Schweizer Uhrwerke zum Schönsten gehören, was ihr Vater kennt, und dass sie allein durch die Zuverlässigkeit ihrer Bewegungen Wunder vollbringen.

Die Uhr am Rudolfplatz zeigt halb fünf. Ihr Blick streift die Platanen auf dem großen Boulevard, reglose Wächter einer unbekannten Ordnung; die erleuchteten bunten Schaufenster wirken verlassen. Sie folgt dem Rhythmus ihrer Schritte, biegt in eine kleinere Straße ein, um eine Ecke, in eine andere Straße. Die Stadt ist still um diese Zeit. Dann ist sie schon am Dom, läuft an der schwarz aufragenden Fassade vorbei bis zur Brücke, und dort, über dem Fluss und im Schutz der großen Kathedrale, kann sie endlich stehen bleiben. Sie atmet in Stößen. Das Geländer ist kalt. Der Fluss wälzt schwarze Fluten unter ihr entlang, die Kämme der Wellen werfen die Lichter am Ufer zurück. Sie ist gleichzeitig müde und wach; so müde, dass sie fürchtet, sie könnte nicht weitergehen, und so wach, als könnte sie nie mehr schlafen.

Sie erinnert sich nicht mehr an den Rückweg. Sie weiß nur, dass sie so lange auf der Brücke gestanden hat, bis es hell war. Irgendwie ist sie wohl zurückgelaufen. Sie hat sich wieder ins Bett gelegt und ist das ganze Wochenende nicht mehr aufgestanden. Lars hat Youna zu seiner Mutter gebracht, weil Feline mal eine Pause brauchte, das hörte sie ihn am Telefon erklären: Feline braucht mal eine Pause.

Als er wiederkam, lief er ratlos in der Wohnung umher, blieb auf einem seiner Wege in der Schlafzimmertür stehen und sagte: Bei allen geht mal eine Stunde daneben. Später: Das nächste Mal läuft es sicher besser. Er berichtete von katastrophalen Referendariatserfahrungen, die dann doch nur Vorstufen zu glücklichen Lehrerkarrieren waren und von denen auf einmal alle ihm erzählten, nun, wo Feline nicht zu sprechen war. Aber das war es nicht. In ihr breitete sich ein Verdacht aus wie ein Gift, das nach und nach ihre Glieder lähmte. Sie gab ihm keinen Namen, lag nur da und bewegte sich nicht, als könnte sie noch hoffen, nicht gefunden zu werden. Ihr Vater hatte mal gesagt: Manchmal habe ich Angst, dass einer von euch ist wie Egon. Da war sie vielleicht fünf. Sie verstand nicht, was das bedeutete, alles, was sie wusste, war, dass Egon ihr Onkel gewesen wäre, wenn er noch gelebt hätte; aber von ihm gab es nicht mehr als das Foto auf dem Schreibtisch des Vaters und ein Grab, das niemand besuchte. Sie nahm die Hand ihres Vaters, sie war fest und warm. Wir sind nicht wie Egon, sagte sie, ganz sicher nicht. Später, als ihr Vater seine Tage damit zubrachte, stundenlang reglos auf dem Sofa zu sitzen und in den Garten zu starren, sagte er es noch mal. Fast gemurmelt, als wäre es verboten. Mittlerweile wusste sie, dass Egon krank war, sein Geist, nicht sein Körper, hatte die Mutter ihnen erklärt, und als er das nicht mehr ausgehalten hat, ist er auf eine der Rheinbrücken gestiegen und hinuntergesprungen. Sie saßen auf ihrem Schoß, sie und Stella, jede auf einem Bein, die Mutter hatte die Arme um sie gelegt.

Konnte er denn nicht schwimmen?, fragte Stella. Feline stellte sich den Egon von dem Foto vor, der ein bisschen aussah wie ihr Vater, nur in jünger, obwohl er eigentlich älter war, aber nun hatte ihr Vater ihn überholt. So als wäre sie irgendwann älter als Stella, weil es Stella nur noch auf einem Foto gäbe, und Fotos können nicht altern. Er ging in Königsmanier die Stufen zu dieser Brücke hoch, entschlossen und einsam.

Doch, mein Schatz. Aber er hatte auch Gift genommen. Das war es ja.

Später, als der Vater bei seiner neuen Frau wohnte, stand das Foto wieder auf seinem Schreibtisch. Wenn sie am Wochenende mit Stella zu Besuch bei ihm war, sie in der fremden Wohnung herumgingen und versuchten, so zu tun, als wären sie zu Hause, nahm sie es manchmal zur Hand und betrachtete es: Egons helle Augen, die schwungvolle Strähne, die ihm in die Stirn fiel, er sah nicht in die Kamera, er lächelte auch nicht. Seine düsteren Stimmungen waren legendär, sie waren wie endlose stürmische Nächte im Herbst, aber wenn er glücklich war, kam es einem so vor, als würde endlich für immer die Sonne aufgehen. Sie würde Lars gerne von alldem erzählen. Von der neuen Frau, die lächelnd neben dem Auto stand, wenn der Vater sie und Stella am Wochenende abholte, dem mechanischen Winken der Mutter, die einmal, als Feline ihre Jacke vergessen hatte und der Vater noch mal zurückfahren musste, schluchzend auf dem Sofa gelegen hatte, als wäre sie das Kind und ihre Eltern wären für immer fortgegangen. Dass einer von euch so ist wie er, sagte der Vater.

Vielleicht ist die Stunde über den Schimmelreiter nur ein erstes Zeichen.

Als Lars zum Sport ging, kaum dass sie von ihrem frühmorgendlichen Marsch zurückgekehrt war, holte Feline den Computer ins Bett, suchte Beschreibungen verschiedener Krankheiten und las sie sich voller Panik durch. Sie klickte sich durch Foren von Borderlinern, machte einen Online-Selbsttest, fünfzig Punkte, erst ab fünfundfünfzig kann man von einem Befund sprechen, laut Professor Lauterbach, Suchtklinikum Frankfurt Süd.

Einmal, als sie schon ein bisschen größer waren, sagte ihnen der Vater das Wort. Es war geheimnisvoll und kompliziert, und es trug die Schuld daran, dass es von Egon nur noch dieses Foto gab und ein Grab voller Efeu und ganz ohne Blumen. Was sich dahinter verbarg, war schlimmer als Gift nehmen und von einer Brücke springen zusammen.

Wie heißt das noch mal, was Egon hatte?, fragte sie mehrfach, ehe sie es in ihren Wortschatz aufgenommen hatte. Das lange Wort mit S. Und was bedeutet es?

Die Leute denken, sie wären jemand anders, erklärte der Vater. Sie wissen nicht, was in Wirklichkeit passiert und was nur in ihrem Kopf. Sie hören Stimmen, die es gar nicht gibt. Egon dachte manchmal, er sei Jesus. Er ging über die Felder und predigte den Arbeitern, die Kartoffeln zogen oder Spargel stachen, die sagten es dem Großvater, und der brachte Egon wieder in eine Klinik; jedes Mal in eine andere, in der Hoffnung, sie wäre weniger schlimm als die, die sie schon kannten.

Sind Sie schweigsamer geworden?

Erschrecken Sie sich bei unvorhergesehenen Geräuschen?

Lachen Sie manchmal ohne Grund laut auf und verstummen dann gleich wieder?

Sind Sie manchmal ohne äußeren Anlass euphorischer Stimmung?

Gibt es in Ihrem Kopf eine Stimme, mit der Sie sich beraten?

Mehrere Stimmen?

Wenn Sie bei diesem Test mehr als sechzig Punkte erreichen, sollten Sie sich umgehend an einen Arzt wenden.

Plötzlich steht Lars in der Tür, verschwitzt, außer Atem und in Laufkleidung.

Was machst du denn da?, fragt er. Sie klappt den Computer zu, wie ein auf einer Pornoseite ertappter Jugendlicher.

Ich steh schon mindestens zwei Minuten hier, sagt er.

Ich teste gerade, ob ich schizophren bin.

Er setzt sich mit diesem besorgten und doch ermutigenden Blick auf ihre Bettkante wie ein Arzt, der von einer schlimmen Diagnose weiß und entschlossen ist, sie zu verharmlosen, aber sie dreht sich weg. Er macht mehrere Vorschläge: Tee kochen, Aspirin nehmen, an die frische Luft gehen.

Lass mal. Ich versuche zu schlafen. Oder zu lesen, sagt sie. Dabei kann sie weder schlafen noch lesen; nicht mal mehr vorstellen kann sie sich, dass sie es bis vor Kurzem noch gekonnt hat.

Lars kocht ihr trotzdem Tee. Nichts überstürzen, sagt er, erst mal krankschreiben lassen, Zeit gewinnen. Solche Dinge.

Haben Sie manchmal das Gefühl, sich selber zuzusehen?

Sprechen Sie mit Ihrem Auto oder Ihrem Computer wie mit einem Menschen?

Spüren Sie die Anwesenheit von höheren Mächten?

Haben Sie manchmal das Gefühl zu warten, ohne zu wissen, worauf?

Seit einer Stunde versucht Feline, durch den Nebel in ihrem Kopf zu tauchen, etwas darin Verborgenes zu fassen zu bekommen und auf den Bildschirm zu befördern. Sie bräuchte eine schnelle und leistungsfähige Verbindung zwischen ihren Gedanken und ihren Fingern auf der Tastatur, statt dieser störanfälligen; eine, die ihr Denken eins zu eins in Buchstaben und Wörter übersetzt. Aber kaum hat sie einen Satz hingeschrieben, fallen ihr seine Makel auf. Seine Gewöhnlichkeit. Das Gewollte. Das Unpräzise, ein Satz, der überall oder nirgends hinpasst. Sie gibt ihn auf und versucht sich an einem neuen. Arme F., so kann sie noch Wochen und Monate in ihrer provenzalischen Hölle zappeln.

Da tappt Youna verschlafen näher, blinzelt in das Licht der Schreibtischlampe, klettert auf Felines Schoß.

Ich kann nicht schlafen, sagt sie und steckt den Daumen in den Mund, trotz ihrer fast sechs Jahre. Feline wiegt sie hin und her, summt ein bisschen, streicht ihr durchs Haar, es riecht nach dem Himbeershampoo aus der rosa Flasche mit Glitzer.

Wo ist Papa?, fragt Youna.

Der arbeitet noch.

Ist das anlügen? Wer weiß, vielleicht arbeitet er ja wirklich noch.

Feline muss Youna nun erklären, was sie tun werden, falls doch mal ein böses Gespenst kommt. Wenn die Väter nicht da sind, trauen sich die bösen viel eher rein, erklärt Youna. Wer ihr nun das wieder erzählt hat, dass man einen Vater braucht, um sich nicht fürchten zu müssen? Sie erzählt ihr, was Mister Ulua in solchen Fällen tut, nämlich ein Kreuz vor den Eingang seines Hauses malen, wie gegen Vampire, denn er lebt ganz allein im Dschungel. Youna will auch ein Kreuz malen. Feline zieht ein Blatt aus dem Stapel mit Schmierpapier, es ist einseitig bedruckt, Lars bringt es immer aus der Uni mit. Das Kreuz ist dünn und schwarz, sie kleben es an die Tür, als wäre sie ein Grabstein. Dann lässt sich Youna zurück in ihr Bett tragen.

Auf dem Schreibtisch warten die Tests. Darüber an der Wand hängt der gezeichnete Mann, der sich tapfer in die Brust greift und etwas herausholt. Mein Herz ist ein Ziegelstein, aber es schlägt nur für Sie, steht da. Sie hat es mal aus dem Programmheft des Studententheaters ausgeschnitten, kurz nach ihrem einzigen Besuch bei Annabell, die damals gerade nach Hamburg gezogen war. Seitdem hängt er da, von den meisten Leuten unbemerkt.

Eines Morgens, wenige Monate nachdem aus FelineundFrancescoFeline und Lars geworden war, saß eine Neue im Klassenzimmer, kippelte auf ihrem Stuhl, kaute Kaugummi, beobachtete mit gelassenem Interesse, wie die Leute in die Klasse strömten, redeten, sich Luftküsse gaben, sofern sie nicht zu den Unglücklichen gehörten, deren Ankommen niemand bemerkte. Feline beobachtete sie. Um die Neue entstand ein Raum von Freiheit, von zahllosen ungeahnten Möglichkeiten, dabei tat sie nichts, als dort zu sitzen. Sie könnte zu ihr gehen und sich vorstellen, dachte sie. Sie könnte nach ihrem Namen fragen. Doch da kam Frau Fischbach hereingeweht, denn es war ein Donnerstag, und sie hatten Deutsch, und sagte: Sie sind wohl Annabell, die Neue. Annabell, so hieß sie also.

Sie eroberte ihre kleine Stadt schneller als Napoleon Europa. Dafür schien sie nichts zu brauchen, als auf diese etwas abgeklärte Art sie selber zu sein. Plus ihren schwarzen Humor, plus ihre hellroten Haare, die sich um ihre Stirn in feinen Löckchen aufstellten und ihr etwas Britisches gaben, plus das kleine Tattoo zwischen den Schulterblättern, das sie entdeckten, als es Frühjahr wurde und warm: eine Raupe, die ihren Rücken hochkroch. Plus ihre Verehrung für Tania, die ostdeutsche Geliebte von Che, wegen der sie mit einem Hörkassetten-Sprachkurs Spanisch lernte, denn später wollte sie nach Kuba gehen. Ihre Familie bestand aus einem Vater, einer Stiefmutter und einem kleinen Halbbruder, der Mütze genannt wurde, weil es das erste Wort war, das er gesagt hatte.

Sie wohnten nicht weit vom Rhein, im ebenerdigen Anbau einer großen Villa mitten in einem Park. Das Haus war vollgestellt bis obenhin und Annabells Zimmer eine Art Besenkammer, weshalb sie ihre Sachen auf dem Tisch ausbreitete, der in einem zentralen Raum stand – eine ausgebaute Tür auf Böcken. Ihr Vater war meistens da, saß allerdings immer am Computer, unter Kopfhörern verschwunden. Mütze wuselte in dem allgemeinen Chaos herum, und die Stiefmutter arbeitete auswärts, was genau, wusste auch Annabell nicht. Irgendwas mit Musikproduktion.

Kein Wunder, dass die Hälfte der Jungen jeder Klasse in Annabell verliebt war (Lars gehörte zum Glück zur anderen Hälfte) und Feline in den Pausen ausfragte, was Annabell für Musik mochte oder wofür sie sich sonst interessierte. In ihrem ersten Jahr hatte Annabell, kaum dass die Raupe im Aprilsonnenschein vor ihrer aller Augen über ihre sehr weiße Haut gekrochen war, drei Maibäume vor ihrer Besenkammer stehen, während Feline sich mit einem geschmückten Birkenzweig zufriedengeben musste. Lars war gegen das Abholzen von Bäumen und Feline eigentlich auch. Und überhaupt: Waren Maibäume nicht noch bis letztes Jahr, ehe Annabell aufgetaucht war, etwas für Spießer gewesen? Für Leute, die sich am Valentinstag Rosen schenkten? Die den Müttern ihrer Freundinnen Pralinen mitbrachten? Aber Annabell brachte ihre eigenen Gesetze mit und nach denen waren Maibäume ein akzeptabler Sympathiebeweis.

Nachmittagelang lagen Feline und Annabell unter der großen Rotbuche in Annabells Garten, ließen sich von Mütze Bucheckern und kleine Käfer zeigen, die er fand, und stellten sich verschiedene Versionen ihres zukünftigen Lebens vor. Dazu tranken sie Kaffee aus einer Thermoskanne und rauchten selbst gedrehte Zigaretten, deren krautiger Rauch in den dunklen Blättern der Buche verschwand wie ihre Worte in der Stille dieser Nachmittage. Annabell würde in Kuba leben, als Botschafterin des alten Kontinents und aktive Unterstützerin der Revolution, Feline in Paris, vertieft in das Verfassen eines großen Werkes unbekannten Inhalts, das sie nur hin und wieder unterbrechen würde, um mit einem ihrer vielen Bekannten – alles entscheidende Akteure des europäischen Kulturlebens – ein kurzes und wichtiges Gespräch zu führen. Klar war: Sie wären beide jemand vollkommen anderes als jetzt, eine noch unbekannte Person, die sie selber zu erschaffen hätten. Doch während Annabell zumindest Spanisch lernte, um sich dieser Zukunft anzunähern, hatte Feline keine Ahnung, wie sie von A nach B kommen sollte. Solange sie mit Annabell zusammen war, schien alles einfach. Man brauchte nur weiterzugehen, sagte Annabell, dann passierten die Dinge von selber.

Lars betrachtete Annabell mit Skepsis. Zu viel Selbststilisierung, sagte er, zu viel politisches Pathos, wo lebten sie denn? Wer glaubte denn noch an die Revolution? Dass sie zum hübschesten Mädchen der Schule ausgerufen worden war, fand er übertrieben. Feline fühlte sich unverstanden. Das Problem war: Alle liebten Annabell, nur die anderen taten es aus den falschen Gründen. Abgesehen von alldem war Annabell bald eine Tatsache in Felines Leben, wie auch Lars eine solche Tatsache war, und so hatten sie miteinander auszukommen. Was sie auch taten.