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Lukas Pendergast hat einen Lebenstraum. Der Hamburger Evolutionsforscher möchte die Entwicklung des Lebens mit Hilfe seiner KI-Computerprogramme simulieren. Doch seine künstliche Evolution scheint sich gegen ihn selbst zu wenden und macht ihn - wider alle Logik, Vernunft und Wahrscheinlichkeit - zur Zielscheibe von Naturkatastrophen. Sein Weltbild beginnt zu kippen - und erst recht sein seelisches Gleichgewicht. In dieser Notlage findet er Halt bei einer mysteriösen Frauengestalt, die als Malware in seine Computer eingeschleust wurde. Doch als er ihre wahre Identität erfährt, reißt auch dieser Anker. Zudem glaubt er, in seinen Daten Hinweise auf ein kosmisches Spiel zu erkennen - ein Spiel, in dem es um nichts Geringeres als die Auslöschung des Homo sapiens geht. Doch Lukas ist nicht nur Wissenschaftler, er ist auch ein leidenschaftlicher Spieler...
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Seitenzahl: 574
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Das Universum ist nicht nur seltsamer,
als wir es uns vorstellen.
Es ist seltsamer, als wir es uns vorstellen können.
Arthur Eddington
1. Überlebt
2. Warp 3.0
3. Fossilien
4. Drohnenkampf
5. Land in Sicht
12. Überfall mit Folgen
13. Unklare Lage
14. Skrupel und Zweifel
15. Der Brief
16. Gefährliches Theater
17. Das Werbegeschenk
18. Sarahs Avancen
19. Panik auf der A1
20. Verrückte Rechner
21. Problemfall: Erwin
22. Warnmails
23. Alarm im Palast
24. Krankenbesuche
25. Extremwetter-Kongress
26. Der Tausch
27. Begegnung an der Alster
28. Ningaloo-Riff - geschenkt
29. Schiffbruch mit Tiger
30. Röhrender Hirsch
31. Dinos erleben
32. Auskunft erbeten
33. Begegnung mit Hindernissen
34. Neues Licht
35. Ein Herz für Verbrenner
36. Marathon Hamburg
37. Puzzle - passende Teile
38. Virtuelles Festmahl
39. Ganbei!
40. Verführung und Verhör
41. Ein unmoralisches Angebot
42. Déjà-vu
43. Abstruse Gedanken?
44. Heroin und Belgische Schokolade
45. Abstürze
46. Missbrauchte Boliden
47. Schneewittchen in Not
48. Jaspers kranke Kinder
49. Chaos im Schnee
50. Eine verrückte Idee?
51. Die KK-Kommission
52. Asyl im PETERSHOF
53. Findet Cleo!
54. Virtuell in die Zukunft
55. Vereinte Neuronen
56. Schleudersturz
57. Verzagte Zofen
58. Entwarnung
59. Die Willigen
60. Das Momentum nutzen!
61. Konferenz im Orbit
62. Blut ist dicker als Wasser
‚Hallo Sie, wo wollen Sie hin?‘, ruft jemand. Er wendet sich um und registriert, dass sein linker Arm nach außen schleudert. Wie eine Hängetasche. Ist es überhaupt sein Arm? Er spürt ihn nicht. Das Teil gehorcht ihm nicht. Er versucht, mit der anderen Hand nachzuhelfen und ist erstaunt über das Gewicht. Als er loslässt, fällt der Arm schwer und baumelnd wieder nach unten. Er ist mehr verwundert als beunruhigt. Er weiß es, aber er kann es noch nicht fassen: dass er heil aus diesem Flugzeug gekommen ist. Die Sanitäter fangen ihn auf, als er zu Boden sinkt.
Lukas Pendergast öffnet die Augen. Er liegt offenbar im Krankenhaus. Sein Oberarm ist von einem straffen Verband umwickelt. „Na, gut geschlafen? Das waren über 10 Stunden am Stück“, sagt die Schwester und gibt sich Mühe, munter zu klingen. Lukas‘ Erinnerung ruckelt sich zurecht. Er hatte wie jedes Jahr die Fossilienmesse in Tucson in Arizona besucht. Auf dem Heimflug, kurz vor der Landung in Hamburg-Fuhlsbüttel, kam die Durchsage aus dem Cockpit: ‚Wir haben ein Problem mit der Elektronik.‘ Die Passagiere waren erstaunlich ruhig geblieben. Bis zu diesem fürchterlichen Knall beim Aufsetzen. Als der Rumpf in zwei Teile zerriss. Schreie und Chaos. Der Gestank nach Kerosin. Gepäckstücke und Trümmerteile schießen durch die Kabine. Etwas Metallisches trifft ihn hart unterhalb der Schulter. Aber irgendwie schafft er es zur Notrutsche – mehr gedrängt und geschoben als aus eigener Kraft.
„Was sagt der Arm?“, hört er die Schwester fragen. Lukas kann seine Finger bewegen, er richtet den Arm etwas auf und formt das Victory-Zeichen. Die Schwester nickt anerkennend: „Sehr gut, Herr Pendergast, die Nerven kommen zurück.“
„War es ein Anschlag? Gab es Tote?“, fragt er mit unsicherer Stimme – das Schlimmste erwartend.
„In den Nachrichten hieß es, dass …“ Klopfen an der Tür. Kurz und energisch. Und schon steht er im Zimmer: „Hochflug kommt vor dem Fall“. Selbst jetzt kann er es nicht lassen, verballhornte Weisheiten von sich zu geben.
„Erwin, altes Haus, wie schön!“ Lukas ist überrascht. Und zur Schwester gewandt: „Dr. Erwin Kimmich, ein alter Freund seit Schulzeiten. Und meine rechte Hand in der Firma.“
Die Schwester, die ihr Gespräch mit Lukas gern fortgesetzt hätte, verlässt etwas schmollend den Raum: „Eine linke Hand wäre momentan wichtiger. Die hat einiges abbekommen.“
„Komme ich ungelegen?“, fragt Erwin leicht irritiert. Und mit einem Blick auf den Verband: „Was ist mit deinem Arm?“
Lukas wischt die Frage beiseite. „Sag mir lieber, was passiert ist. Ich weiß noch gar nichts.“
Erwin schaltet das TV ein. „Schau es dir an. Sie berichten pausenlos. Zeigen immer wieder dieselben Bilder.“
Der aufgerissene Airbus sieht erbärmlich aus. Ein waidwunder Riesenvogel. Im Blaulicht-Stakkato der Feuerwehren und Krankenwagen scheint er zuckend zu verenden. Die Passagiere wirken winzig und hilflos. Die meisten sind schon in Bussen und Krankenwagen untergekommen. Einige laufen orientierungslos in die Nacht und werden von Rettungskräften zurückgeholt. Es grenze an ein Wunder, so der Kommentar. Nach bisherigen Informationen hätten alle überlebt. Die Verletzten seien auf die umliegenden Krankenhäuser verteilt worden.
Es folgt ein Interview mit dem Innensenator. Über die Ursachen des Crashs werde noch ermittelt. Vermutlich habe ein Strahlungsausbruch auf der Sonne die Bordelektronik gestört.
Ein Strahlungsausbruch auf der Sonne? Lukas sieht eine glühend brodelnde Orange vor sich – das Titelbild einer populärwissenschaftlichen Zeitschrift. Das sei die Sonnenscheibe, hatte ihm sein Vater einst erklärt und dann auf eine Stelle gedeutet, wo eine feurige Fontäne in den Weltraum schoss: Für die Sonnenforscher ist das ein Flare. Sein Vater ließ nie eine Gelegenheit aus, seinem Sohn das Funktionieren der Welt, wie er es nannte, zu vermitteln. Ein Flare – das sei ein gigantischer Ausbruch aus Röntgen- und Teilchenstrahlung. Die stärksten Flares könnten sogar Chips beschädigen und zum Ausfall elektronischer Geräte führen. Und wann passiert so etwas? - hatte Lukas wissen wollen, und Vaters Antwort war dermaßen beunruhigend, dass sie ihm heute noch im Gedächtnis ist: Es kann jederzeit passieren. Niemand weiß, wann und wie stark.
„Jetzt auch noch die Sonne. Langsam reicht es.“ Lukas hat es halblaut vor sich hingemurmelt und nicht damit gerechnet, dass Erwin darauf eingeht: „Hä? Was meinst du damit?“
„Dass sich Sonne und Erde auf mich eingeschossen haben.“ Und eilends nachgeschoben: „War ein Scherz. Vergiss es.“
Was Lukas für sich behält: Der Scherz war von ernster Ungewissheit durchsetzt. Irgendwie stecken ihm die Unfälle der letzten Zeit in den Knochen. Der von La Palma zum Beispiel.
Wie immer hatte er seinen Sommerurlaub auf der Kanareninsel verbracht. Und wie immer war er fasziniert von der urwüchsigen Vulkanlandschaft im Süden der Insel, von den Kratern und erstarrten Lavaströmen. Er hatte ein Schlackenfeld überquert und war dabei auf einen merkwürdigen Spalt im Untergrund gestoßen -– merkwürdig, weil er flirrende Dampfschlieren entließ. Er wollte die Sache genauer inspizieren und war, leicht vorgebeugt, in die Knie gegangen… als ihn der Ruck von den Beinen holte. Die Spalte war knirschend weiter aufgerissen, und ein Schwall heißer Schwefelgase schlug ihm ins Gesicht. Kurz darauf musste er sich fürchterlich übergeben. Dem Ersticken nahe kroch er auf allen Vieren zur Seite. Bis er wieder atmen konnte. Und das wohl nur, weil der Wind die giftigen Gase davongetrieben hatte.
„Naja, Pech passiert. Hätte doch schlimmer kommen können?“ Erwins Aufmunterungsversuch läuft ins Leere.
„Es könnte immer schlimmer kommen. Aber es häuft sich. Habe ich dir von dem Erdbeben in Mexiko erzählt, als alle aus dem Café gerannt sind? Ich auch. Und dann ist die Decke eingestürzt. Da könnte man schon ins Grübeln kommen.“
„Grübeln worüber?“
„Ob die Naturkräfte mich auf dem Kieker haben? Ob sie Lukas Pendergast vielleicht aus der Welt schaffen wollen?“ Lukas stößt ein paar kurze Lacher aus. Es ist ein Lachen über sich selbst.
„Gut, dass ich Naturwissenschaftler bin. Und gefeit gegen solche Verschwörungsmärchen.“
Monate später wird er sich an dieses Gespräch erinnern. Und dann wird ihm das Lachen vergangen sein.
Letztlich war es seine Frau, die William Griffin überzeugte, die Universität in Chicago zu verlassen und den Ruf nach Hamburg anzunehmen. Nicht weil ihre Eltern aus Deutschland stammten und zuhause meistens noch Deutsch sprachen, sondern weil sie die Stadt ein paar Mal besucht hatte. Viel Grün. Viel Wasser. Viel Kultur. Ostsee und Nordsee in greifbarer Nähe. Das gefiel ihr. William selbst hatte natürlich andere Prioritäten. Für ihn als Geologen waren die Arbeitsbedingungen an der Universität entscheidend. Vor allem der breit angelegte Forschungsansatz am Institut für Geologie. Die Kollegen in Hamburg verstehen ihr Fachgebiet nicht nur als Wissenschaft der Gesteine, sondern fragen nach dem Zusammenspiel von Wasser, Luft und Gesteinsformationen – einschließlich der Rolle der Lebewesen. Sie alle sind Komponenten im System Erde, ähnlich wie Organe in einem Körper. Diese Sichtweise hatte Prof. William Griffin seit langem vertreten. Kein Wunder, dass er sich wohlfühlt in Hamburg. Auch wenn er – das würde er jederzeit zugeben – bislang kaum mehr von der Hansestadt gesehen hat als die Räumlichkeiten seines Instituts.
Wir sind doch keine Touristen – mit diesen Worten hat er sich immer gedrückt, wenn seine Frau Elisabeth und Tochter Laura ihn zu den Hamburger Attraktionen führen wollten. Immerhin hört er geduldig zu, als ihm die 14-jährige Laura vom Wunderland vorschwärmt: „Daddy, das ist so cool und witzig – die größte Modelleisenbahn-Anlage der Welt. Da fahren die Züge durch Mini-Europa und Mini-Amerika. Genau genommen sind es nicht nur Züge. Da sind auch Krankenwagen mit Blaulicht unterwegs. Fährschiffe legen im Hafen an. Die Feuerwehr löscht Brände. Überall Action. Und witzig ist es auch. Die Polizei jagt Einbrecher. Und Liebespärchen knutschen im Grünen – also sie machen mehr als nur Knutschen.“
„Aha“, winkt Daddy augenzwinkernd ab. „Laura in Wonderland. So spannend wie du erzählst, kann es kaum sein.“
„Das nächste Mal verlange ich Eintritt. Aber im Ernst: Mom und ich, wir möchten etwas unternehmen mit dir. Du darfst sogar wählen. Erstens: ein Besuch auf der Plaza der Elbphilharmonie. Da siehst du den Hafen und die ganze Stadt von oben. Könnte aber etwas windig werden. Zweitens: eine Wanderung unter der Elbe hindurch. Zu Fuß. Oder meinetwegen auch mit dem Auto. Da fährt man mit einem Uralt-Aufzug in die Tiefe, und dann geht es durch eine Tunnelröhre auf die andere Elbseite.“
„Hmm. Tunnelröhre? Flussunterquerung? Gibt es das nicht überall?“
„Ja, aber dieser Alte Elbtunnel wurde vor über 100 Jahren gebaut und soll wunderschön sein. Ganz mit hellen Kacheln ausgelegt. Mit historischen Kacheln, die das Licht der Lampen spiegeln, als wäre man in einer riesigen Schneehöhle.“
Laura redet sich in Begeisterung. Manche Kacheln seien sogar als Reliefs ausgearbeitet. „Da siehst du Seehunde, Hummer, Störe - lauter Tiere, die damals noch in der Elbe lebten. Und oben drüber fahren Containerschiffe. Muss ein geiles Gefühl sein.“
„Klingt nicht übel, zumindest sehr hamburgisch. Und wenn ich lieber nicht in diese Röhre schauen möchte … was wäre Nummer drei?“
Laura hatte schon ein enttäuschtes Daddy, du Banause auf den Lippen. Dann gestand sie sich ein, dass sie selbst wohl Nummer 3 gewählt hätte. Der SimP – das Kürzel für Simulationspalast – war ihr heimlicher Favorit.
Der Gebäudekomplex in der Hafen-City steht für das Modernste an virtueller Realität. Man kann per Computersimulation in vergangene Zeitalter reisen und gegen Flugsaurier kämpfen. Oder Neandertalern in der Eiszeit begegnen. Wer will, kann in einen Raumanzug steigen und den Mars erkunden. Oder im Tauchboot die Schwarzen Raucher der Tiefsee erforschen. Nicht zu vergessen, die Abteilung Sport&Fitness, wo virtuelle Gegner und Gegnerinnen warten – mit einer Kampfstärke, die vorab einstellbar ist. So lassen sich Tischtennis-Matches oder Boxkämpfe ohne allzu große Schmach bei einer Niederlage bestreiten. Besonders beliebt als Gegner sind Keulen schwingende Recken aus der Antike. Denn als Siegesprämie lockt ein bedrucktes T-Shirt: STÄRKER ALS HERAKLES.
Der SimP verspricht seinen Besuchern Erlebnisse Jenseits der Wirklichkeit! Es ist nicht zu viel versprochen.
***
William Griffin schaut etwas skeptisch drein. Seine beiden favorite girls, wie er Ehefrau Elisabeth und Tochter Laura gerne nennt, haben ihn in den Simulationspalast geschleppt und zu einem besonderen Fahrgeschäft überredet: MEIN HAMBURG AUS DER ACHTER-BAHN.
Der Raum ist klein und rund. Ein paar Meter Führungsschienen von Wand zu Wand. Darauf der offene Wagen, der für die erste Überraschung sorgt. Futuristisches Design? Exotisches Material? Irisierende Farben? Fehlanzeige! Nichts dergleichen. Die verrostete Blechkarre könnte direkt vom Schrottplatz stammen. Der ehemals wohl grüne Lack ist größtenteils abgeblättert. Nur der Schriftzug WARP 3.0 sticht noch wie Hohn ins Auge.
Sie haben sich zu dritt in die Sitzbank gequetscht. Ungepolstert. Harte Rückenlehne. Zu ihren Füßen eine Gummimanschette, aus der ein abgeknickter Schalthebel mit Bakelit-Kopf ragt. Könnte aus einem kongolesischen Uralt-LKW ausgebaut sein.
„Hightech aus Hamburg“, flappst Laura, und ihre Eltern nicken spöttisch. Die Stimme aus dem Lautsprecher widerspricht euphorisch: Ihr werdet begeistert sein. Ihr werdet geschockt sein. Ihr werdet Hamburg lieben. Gute Reise!
Das Licht blendet aus. Der Wagen beginnt zu vibrieren, als erwache er zum Leben. Und rundum erwacht auch die virtuelle Welt: der Rummelplatz mit den Schienensträngen der Achter bahn. In kühnen Bögen, Kreiseln und Loopings schwingen sie durch einen blauen Sommerhimmel. Dann der Anfahrruck. Plötzlich und ruppig. Der Puls der Insassen steigt.
Die Schienen schieben sich unter dem Wagen hindurch. Streben und Stützen ziehen vorbei. Der Eindruck der Vorwärtsbewegung ist zwingend. Und es geht nicht nur vorwärts; es geht steil bergauf. Laura sieht den Anstieg. Und sie fühlt ihn. Es dauert ein paar Sekunden, bis sie den Trick durchschaut; bis sie realisiert, dass die Sitzbank nach hinten kippt. Wie clever! Aber dann beschließt sie, sich ganz der Scheinwelt hinzugeben und sie nicht mehr zu hinterfragen.
Der Wagen hat den Gipfelpunkt erreicht. Bietet einen atemberaubenden Ausblick auf die Stadt mit ihren Türmen und Kanälen – wenn auch nur für wenige Sekunden. Dann rauscht WARP 3.0 in die Tiefe. Mit zunehmender Geschwindigkeit. Umso höher und schriller die Fahrgeräusche. Der Fahrtwind füllt den Mund. Zerrt die Haare nach hinten. Fahrtwind? Irgendwo muss ein Gebläse versteckt sein.
Die Illusion ist perfekt. Es geht durch Kurven, über Kuppen, hinauf in den Himmel und wieder abwärts in Richtung Imbissbuden und Geisterbahnen. Laura hat gegen leichten Schwindel und Übelkeit anzukämpfen. Echtes Achterbahngefühl! Und jetzt – kein Wunder bei diesem Rostlaubengefährt – passiert es: Der Wagen springt aus den Schienen und fliegt wie von einer Schanze hinaus in die Leere… Laura kann einen Schrei nicht unterdrücken und presst sich unwillkürlich an Daddys Seite. „It’s only fake“, hört sie ihn murmeln.
Absolute Stille. Kein Rütteln und Schütteln mehr. Sanft und ruhig schweben sie über die Dächer der Stadt. Wohltuender Kontrast. Tief durchatmen.
Hier spricht ihr Autopilot, meldet sich eine vertrauenserweckende Stimme. Lassen Sie sich von mir führen. Oder steuern Sie selbst - über den Steuerknüppel vor Ihnen.
„Oh ja! Mache ich gern.“ Laura hat nach dem Bakelit-Kopf gegriffen und drückt ihn nach links. Der Wagen zieht gehorsam eine Linkskurve. Bis vor ihnen der Fernsehturm aufragt.
„Den überfliegen wir mal!“ Sie zieht den Knüppel kräftig zu sich heran und geht in den Steilflug über. Der Turm samt Antenne sackt nach unten weg. Aber diese Antenne ist hoch. Höher als gedacht. Ein überlautes Ratschen und Schleifen vom Unterboden. Alle heben unwillkürlich den Hintern.
„Shit!“ Laura schaut zurück und sieht die abgeknickte Antennenspitze…
Das war jetzt suboptimal, bemerkt der Autopilot überraschend sachlich. Die Reparaturkosten… – ziemlich lange Pause – …trägt ausnahmsweise der SimP. William schmunzelt: „How generous!“
Laura hat sich wieder gefangen und steuert am Rathaus vorbei zur Binnenalster mit der hochschießenden Wasserfontäne.
„Laura, bitte nicht da durch!“, warnt Mom, die ihre Tochter nur allzu gut kennt. Trotzdem kriegen sie einen kräftigen Sprühregen ab.
„Ist ja geil“, freut sich Laura. Während Daddy wortlos seine Brillengläser trocknet und nach den verborgenen Sprühdüsen sucht.
Auf dem Kurs zur Außenalster wird es plötzlich laut. Sie bekommen eine Eskorte aus sausenden Schwingen und federnden Leibern, dazu rhythmisch fauchende Laute. Die Höckerschwäne drehen ihnen die Köpfe zu; die Schnäbel halb geöffnet. So begrüßen sie die WARP-Konkurrenz. Dann drehen sie ab, als wären sie enttäuscht.
Ganz anders die Wassersportler unten auf dem Wasser. Sie haben das merkwürdige Flugobjekt entdeckt, vergessen Ruder und Paddel und winken begeistert nach oben. Laura winkt zurück und geht in den Tiefflug über. So tief, dass der Stand-Up-Paddler die Balance verliert und zum Dive-down-Paddler wird.
„Das war jetzt fies“, sagt Mom.
„Wieso? Erfrischung tut gut.“
Daddy greift zum Steuerknüppel. „Wenn Zwei sich streiten, steuert der Dritte. Könnt ihr mich mal zum Hafen lotsen?“
Überraschenderweise antwortet der Autopilot: Aye, aye Sir. Zum Hafen.
Entspannt geht es über das Sicheldach der Elbphilharmonie zu den Landungsbrücken. Die Hafenkräne stehen Spalier, als erwarteten sie den hohen Besuch. Direkt über der Flussmitte meldet sich der Autopilot noch einmal: Kleine Spritztour auf der Elbe gefällig?
Er wartet die Antwort nicht ab. Im Sturzflug schickt er Warp 3.0 nach unten. Viel zu schnell, viel zu steil, wie es scheint. Aber kurz vor dem Eintauchen fängt er das Gefährt souverän wieder ab. Jetzt düst es wie ein Motorboot elbabwärts, hüpft hart von Welle zu Welle. Die Griffins klammern sich instinktiv an der Sitzbank fest. Doch der Motor dreht noch höher, das Tempo nimmt zu, als gehe es um einen neuen Geschwindigkeitsrekord. Und dann sehen sie es: das riesige Containerschiff. Sie rasen darauf zu. Kein Abbremsen. Kein Ausweichmanöver. Der Bug türmt sich vor ihnen auf. Ein Gebirge aus Stahl...
„It’s only fake!“ Daddy hat sein beruhigendes Mantra noch nicht zu Ende gemurmelt, als die Wellen über ihnen zusammenschlagen. Ringsum ein Chaos aus brauntrübem Wasser und wirbelnden Luftblasen. Sie sind abgetaucht. Über ihnen erdrückende Schwärze. Es ist der Rumpf des Containerriesen, der über sie hinwegzieht.
Kein Wort. Nicht einmal Flüstern. Unwillkürlich halten sie die Luft an. Bis endlich die langsam drehende Schiffsschraube in Sicht kommt. Es wird heller. Ende des Tauchmanövers. Sie durchstoßen die Wasseroberfläche und schweben wieder durch die Luft. Schräg unter ihnen das Containerschiff.
„Ob der Kapitän überhaupt etwas mitbekommen hat?“, fasst Laura das Erlebte zusammen. Daddy rafft sich zu einem „Not bad!“ auf. Und Mom bekennt schlicht: „Ich wäre fast ertrunken!“
Das Licht geht an. Der Autopilot bedankt sich für die angenehme Gesellschaft und wünscht ein baldiges Wiedersehen. Sie sind wieder in dem kleinen Raum mit dem kurzen Schienenstrang. Ein letzter – jetzt anerkennender – Blick auf ihren vergammelten WARP 3.0.
Laura hebt den Daumen. „Das war cool. Für dich auch, Daddy?“ William Griffin zögert einen Augenblick. „Yes. Great fun. Schöne Gaudi. Tolle Computer-Power…“
„Aber?“, unterbricht ihn seine Frau gut gelaunt.
„Aber da wäre mehr drin. Mehr als fun und thrill. Man könnte education und Bildung angehen. Das Klimaproblem zum Beispiel…“
„Daddy, dann rede doch mal mit dem SimP-Chef, diesem Lukas… Lukas Pendelmast oder Pendergast oder so ähnlich. Hab ihn neulich in einem Podcast gehört. Der scheint ganz in Ordnung. Jedenfalls hat er was übrig für Fridays For Future…“
„Was ja wohl dein Lackmustest für alle Männer ist“, schiebt ihre Mutter schnippisch dazwischen.
„Stimmt, Mom. Er hat gesagt, Fridays-For-Future brächten die Politiker mehr auf Trab als all die Klimaforscher seit Jahrzehnten.“
Lukas ist wieder allein in seinem Krankenzimmer. Endlich Ruhe. Nicht, dass Erwin ihn genervt hätte. Im Gegenteil, er mag den alten Kumpel, und der Besuch hat ihm gutgetan. Auch wenn er das Gefühl nicht loswurde, dass Erwin ihm etwas mitteilen wollte – was er dann doch für sich behielt. Um ihn zu schonen? Weil es nicht dringend war? Es wird sich klären.
Jetzt jedenfalls verzichtet er gerne auf Ablenkung und Gespräche. Er möchte überdenken, was auf ihn eingestürzt ist. Allein die Tatsache, dass er hier liegt, dass er noch lebt…Es hätte alles anders ausgehen können. Das warme Gefühl von Glück und Dankbarkeit durchströmt ihn wie Morphium. Seine Gedanken schweben davon. Er darf es also weiterführen, sein geliebtes Leben, das ihn bislang so verwöhnt hat, als wäre es eine große, unterhaltsame Party. Er hat keine finanziellen Sorgen. Hat Erfolg mit seinem Simulationspalast. Die Frauen mochten und mögen ihn – obwohl er gewiss nicht zu den bestaussehenden Männern zählt: zu schmächtig, zu schmal im Gesicht. Prominente Nase. Aber seine Lebendigkeit kommt an. Auch bei den Kollegen. Er sei gescheit, anregend und verlässlich, hat er sie sagen hören.
Und demnächst könnte sich sogar sein Lebenstraum erfüllen: seine visionäre Idee, die fast alle – und bisweilen er selbst – für ziemlich hirnverbrannt halten. Ihm schwebt nichts Geringeres vor, als ein Netzwerk von Computern aufzubauen, das in der Lage ist, die unglaubliche, alle Vorstellungskraft übersteigende Geschichte des Lebens zu simulieren. Die Evolution im Computer ablaufen zu lassen! Das ist sein großer Traum. Und er hofft dabei auf die Genialität seiner Mitarbeiter und die geballte Computer-Power seines Simulationspalasts.
Warum ist das Leben nicht längst erloschen? Versengt auf einer überhitzten Erde? Oder erfroren auf einem Eisplaneten? Seit unglaublichen vier Milliarden Jahren bleiben die Temperaturen auf der Erde im grünen Bereich. Wo ist der Thermostat, der das regelt? Was trieb die Pflanzen und Tiere zu immer aufwändigeren Konstruktionen? Von unsichtbar winzigen Bakterien bis zu tonnenschweren Dinos und schließlich zu denkenden Wesen, die in der Lage sind, sich über derartige Fragen den Kopf zu zerbrechen.
Musste es zwangsläufig so kommen? Oder führt der Zufall Regie? Und was hat die Evolution in der Zukunft vor? Fragen, die eine Computersimulation beantworten könnte. Fragen, die ihn seit eh und je umgetrieben haben. Schon als Schüler.
Anfangs war es nur die Begeisterung für die riesigen Dinosaurier und fliegenden Reptilien gewesen. Gleich dreimal hatte er sich Jurassic Park angesehen. Später fragte er sich, wie sich solche Supertiere entwickeln konnten und warum sie wieder untergingen. Und schließlich erfasste ihn eine Art Besessenheit, das ganze gigantische Drama der Evolution zu begreifen.
Begonnen hatte wohl alles mit diesem Nachwuchs-Wettbewerb, den die Kreiszeitung ausgeschrieben hatte. Die Eltern wohnten damals in einer Gemeinde am Rande der Schwäbischen Alb; der Vater war im Gemeinderat und Inhaber eines gutgehenden Architekturbüros.
Lukas sieht sich auf dem Podium des Festsaals – 15-jährig mit halblangen Haaren, in abgenutzten Jeans, weißen Sportschuhen und einem schwarzen Pullover mit St. Pauli-Totenkopf – was er damals chic und provozierend fand. Der Chefredakteur überreichte ihm die Urkunde für die Beste Reportage aus der Region. Als Preis, so hatte die Zeitung angekündigt, sollte sein Bericht abgedruckt werden. Sollte… Es kam anders.
In seiner Reportage, hatte Lukas über Fossilienfunde im nahegelegenen Steinbruch berichtet. Über Ammoniten, Haifischzähne und noch nicht identifizierte Skelettreste aus der Jura-Zeit vor 150 Millionen Jahren. Der Besitzer des Abbau-Unternehmens – er war zugleich Stellvertretender Bürgermeister – hieß Josef Eitelgruber. Der Name ist ihm bis heute in Erinnerung, weil Eitelgruber mit Vorliebe karierte Hemden trug (deren Karos sich über dem selbstbewussten Bauch verformten) und sie mit dick geknoteten Wollkrawatten schmückte. Jeder ist auf seine Art eitel.
Eitelgruber hatte, höflich ausgedrückt, Vorbehalte gegen die Veröffentlichung von Lukas‘ Bericht. Und besonders gegen sein abschließendes Fazit:
Fossilien erzählen, wie das Leben einst war. Und wie es zu dem von heute wurde. Fossilien sind Zeugen unserer eigenen Geschichte. Kein Bagger darf sie zermalmen!
Lukas fand nie heraus, wie weit Eitelgruber seine Finger im Spiel hatte. Jedenfalls bestand der Zeitungsredakteur darauf, den letzten Satz zu streichen – aus juristischen Gründen. Lukas würde das sicher verstehen. Und ja, er verstand nur zu gut.
Er erinnert sich, wie wütend er damals war. Nicht nur wegen der bedrohten Fossilien, es war vor allem das falsche Spiel der Zeitung, das ihn empörte. Er war wild entschlossen – auch wenn es aussichtslos schien – den Kampf gegen die wortbrüchige Kreiszeitung aufzunehmen. Der unbedeutende Pennäler gegen ein mächtiges Presseorgan.
Schon damals, gesteht er sich ein, hatte er eine Vorliebe, sich zu messen, den Vergleich mit Gegenspielern zu suchen. Darin ist er sich treu geblieben. Bis heute liebt er es, gegen andere zu bestehen, als Gewinner vom Platz zu gehen. Im Sport. Im Spiel. Im Alltag. Er genießt den Kitzel der Konkurrenz. Das belebende Adrenalin... Und was könnte belebender sein als das Erfinden einer guten Spielstrategie? Allenfalls eines: die Strategie des Gegners zu durchschauen. In diesem Sinn ist er eine Spielernatur. Und war es offenbar schon als Gymnasiast.
***
Das Telefon am Bett bringt ihn zurück in die Gegenwart seines Krankenzimmers. Er erkennt Sir Albins angenehm selbstsichere Stimme. „Störe ich? Wollte nur sicherstellen, dass du heil geblieben bist.“
Lukas ist überrascht und auch ein wenig gerührt. Albin war sein Klassenlehrer in den letzten Schuljahren gewesen. Sir Albin, wie sie ihn nannten, galt als streng und gerecht – und war bei allen beliebt. Bei fast allen. Viele aus dem Kollegium, vor allem die älteren Lehrer, warfen ihm vor, er diene sich den Schülern an und stelle sich im Zweifel auf deren Seite. Der kommt gut an, weil er seinen Kollegen in den Rücken fällt, so ihre Unterstellung. Es war dann tatsächlich die Fossilien-Affäre, die zum endgültigen Bruch führte. Sir Albin verließ die Schule. Doch nach wie vor nimmt er teil am Werdegang seiner ehemaligen Schützlinge. Jedes Jahr Anfang März kommen sie in seiner kleinen Berghütte zusammen, die er sich in den Lechtaler Alpen eingerichtet hat. Und jetzt meldet er sich als einer der ersten.
„Sir Albin! Wie schön, dass Sie anrufen. Nein, Sie stören ganz und gar nicht. Ich bin heile – anders als der Airbus. Und außerdem habe ich gerade an die Fossilien-Geschichte aus der Schulzeit gedacht. Erinnern Sie sich?“
„Und ob. Einer gegen alle. Lukas Pendergast gegen den Rest der Welt – mit dem Internet als Wunderwaffe.“
„Und mit Ihrem legendären Auftritt beim Elternabend.“
„Jedenfalls mein letzter Auftritt… Aber lass uns lieber über die Zukunft reden: Kann ich auch dieses Jahr mit euch rechnen? Der Schnee ist gut. Der Rotwein auch.“
„Verlockend wie immer. Skifahren und Klönen mit Sir Albin – wer könnte da Nein sagen. Danke für die Einladung.“
Als das Gespräch zu Ende ist, weiß Lukas einmal mehr, wie sehr er diesen Sir Albin respektiert; wie sehr er seine Meinung und seine Haltung schätzt. Eine Art Ziehvater und Idol für ihn. Er lässt sich zurück in das Kissen fallen. Es ist lange her. Doch der Kampf gegen die Kreiszeitung hat sich festgefressen in seiner Erinnerung. Es war ein Kampf der Medien: Zeitung gegen Internet. Das auf Papier gedruckte Wort gegen die elektronische Nachricht. Damals gab es in Deutschland weder Facebook noch WhatsApp, kein Instagram oder Netflix. Aber es gab Jasper.
Jasper Tomkevic war sein Banknachbar. Der Außenseiter der Klasse. Wortkarg. Linkisch. Unbeholfen. Eine Niete im Sport. Ein Nobody bei den Mädchen. Und dann diese Szene, als er vor der Klasse Goethes Hexen-Einmaleins rezitieren sollte: Du musst verstehn! Aus eins mach Zehn. Und Zwei lass gehen. Und Drei mach gleich…
Hier versagte Jaspers Stimme. Er kämpfte gegen Tränen an. Schniefend und wortlos ging er an seinen Platz zurück und verbarg das Gesicht hinter der Maske seiner Hände. Niemand verstand, was geschehen war. Auch Lukas nicht. Aber ohne nachzudenken, legte er den Arm um Jaspers leise bebenden Schultern. Kein Wort zwischen den beiden.
Erst später, auf dem Schulhof, zwang sich Jasper ein Lächeln ab: „Das war beknackt, ich weiß. Aber Zahlen sind meine Freunde. Man darf sie nicht herumschubsen. Nicht auseinanderreißen.Nicht verspotten. Auch der Goethe darf das nicht. Zahlen sind… verdammt, ich kann das nicht erklären.“
„Versuch es, ich werde bestimmt nicht lachen“, ermutigte ihn Lukas.
Jasper, leise, fast flüsternd, als vertraue er ihm ein Geheimnis an: „Zahlen sind…mehr als Nummern. Sie sind Persönlichkeiten. Jede hat ihre Eigenart. Ihren Charakter. Manche sind Einzelgänger. Andere haben Beziehungen. Sind verwandt. Bilden Familien oder Gruppen – was weiß ich. Man muss anständig mit ihnen umgehen, mit den Zahlen. Niemand darf die Eins einfach zur Zehn machen. Oder die Zwei davonschicken. Oder die Drei verstümmeln. Das ist respektlos. Das ist Zahlenfrevel.“
Lukas begriff nicht wirklich, was Jasper meinte. Aber er verstand, dass es eine Welt gab, zu der er keinen Zutritt hatte. Sein Freund war in einer geheimen, merkwürdig abgehobenen Parallelwelt zuhause. In einem eigenen Kosmos aus Zahlen, denen er sich verbunden fühlte.
Angesichts dieser Begabung war es nur zu verständlich, warum Jasper allen voraus war, wenn es um Mathematik oder Computer ging. Da spielte er in einer eigenen Liga. Nicht nur die Mitschüler, auch die Lehrer wussten das.
Jasper also. Er war es, der Lukas zur Seite sprang, als er den Kampf mit der Presse aufnahm: Er richtete einen Blog im Internet ein. Die Technik des Bloggens war gerade erst aufgekommen. Fast noch ein Geheimtipp. Umso größer der Elan und die Begierde, mit der sich die Internet-Gemeinde auf das neue Format stürzte. Jaspers Blog hieß FOSSILIEN-SKANDAL, und als Blickfang musste – was sonst? – T-Rex mit aufgerissenem Rachen herhalten.
Sie waren zu dritt. Lukas war verantwortlich für den Inhalt; Jasper für die Technik; Erwin für Organisation und Kosten. Jeder brachte seine Stärken ein. Es fühlte sich aufregend an. Sie waren Piraten, die mutig für eine gute Sache kämpften. Als erstes stellten sie unter der Schlagzeile WAS DIE KREISZEITUNG NICHT DRUCKEN WILL Lukas‘ komplette Reportage vor. Dann versorgten sie – fast im Tagesrhythmus – ihre User mit NOTIZEN AUS DEM JURA. Lukas schrieb dazu flotte Kurzgeschichten über Dinos im Federkleid, über Vögel mit vier Flügeln, lebendgebärende Fischsaurier. Oder über wandelnde Sturzhelme – gepanzerte Pfeilschwanzkrebse, wie es sie heute noch gibt.
Lukas denkt gern an diese Anfänge zurück. Wie er sich in Büchern und Fachzeitschriften schlau machte. Wie er sich von Paläontologen an Museen oder Universitäten beraten ließ. Doch seine letzten Zeilen waren stets ein ganz persönlicher Aufruf:
Wir bitten den Stellvertretenden Bürgermeister Josef Eitelgruber, die Fossilien in seinem Steinbruch zu schützen. Lukas. Jasper. Erwin.
Der Blog schlug ein. Fast täglich kamen neue Leser hinzu. Journalisten griffen darauf zurück. Und wie zu erwarten, hielt die Kreiszeitung dagegen. Bei den Fossilien handle es sich überwiegend um Ammoniten – um Kopffüßer mit schneckenförmigem Gehäuse, wie man sie zu Hunderttausenden anderswo in besserer Erhaltung finden könne. Und dann die rhetorische Frage: Wollen wir wirklich wegen toter Tiere aus der Vergangenheit unsere wirtschaftliche Zukunft aufs Spiel setzen?
***
Es ist dunkel geworden. Das Standby-Auge des Fernsehgeräts leuchtet sinnlos und wichtigtuerisch. Es spiegelt sich im Lack der Tür und taucht das Krankenzimmer in einen unwirklichen Schimmer von Rot. Lukas schließt die Augen und holt noch einmal seine wilde Schulzeit zurück.
Ja, es war eine wilde Zeit: Sie fühlten sich im Recht. Sie fühlten sich stark und omnipotent. Und vor allem: Sie fühlten sich als unzertrennliches, eingeschworenes Trio: Erwin, Jasper und er. So war es damals, und so ist es – mit einigen Aufs und Abs – bis heute geblieben. Glücklicherweise. Ohne die beiden hätte er seinen Simulationspalast nicht aufbauen können. Erwin als Topjurist lotst ihn tagtäglich durch das Dickicht von Verträgen und Joint Ventures. Und Jasper ist erst recht unersetzlich. Er dirigiert das Orchester der Hochleistungscomputer. Er kennt ihre Stärken und Schwächen, und manchmal redet er mit ihnen, als wären sie begabte Schüler, die aber noch einiges lernen müssten: Gut so. Streng dich an. Du bist ein bisschen langsam heute…
Keine Frage, Jasper ist ein Genie in der digitalen Welt. Das war schon damals klar, als er den Fossilien-Blog ins Leben rief. Und erst recht danach, als alles so dramatisch aus dem Ruder lief.
Lukas‘ Blogbeiträge hatten nicht nur das Interesse, sondern auch die Begierde von Sammlern geweckt. Eine Gruppe von Fossilienjägern war nachts in Eitelgrubers Steinbruch eingedrungen. Sie hatten große Platten mit Ammoniten herausgebrochen. Und – besonders perfide – gewissermaßen als Abschiedsgruß eine Bagger-Kabine mit Bauschaum verfüllt. Totalausfall.
Eitelgruber tobte. Was ihm nicht zu verdenken war. Er hängte sich ans Telefon. Beschimpfte Paul Pendergast, er möge seinen Filius bändigen, sonst könne der Bau der städtischen Sportanlage … es gäbe schließlich noch andere Architekten. Er wählte die nächste Nummer. Die Zeitung solle sofort einen Fotoreporter in den Steinbruch schicken. Die Öffentlichkeit müsse erfahren, was dieser selbsternannte Fossilienretter angerichtet habe. Und schließlich rief er den Rektor des Gymnasiums an, es müsse ein Ende haben mit diesem Blog im Internet. „Das sind deine Schüler. Das ist deine Verantwortung. Du musst diese Hetze gegen mich und mein Eigentum unterbinden. Klar?“
Lukas‘ Vater nahm sich vor, ein ernstes Wort mit seinem Sohn zu reden. Die Kreiszeitung druckte das seltene Foto eines Baggers, aus dem schaumige Eingeweide quollen. Und der Rektor des Gymnasiums setzte einen Elternabend aus gegebenem Anlass an.
Lukas‘ Eltern saßen in der ersten Reihe, aber unnötig weit auseinandergerückt. Der Streit von zu Hause hing ihnen noch nach. Versprich mir, dich zurückzuhalten, hatte die Mutter gefordert. Tu es Lukas zuliebe. Und Vaters grimmige Antwort, er wisse schon selbst, wie er sich zu verhalten habe, verhieß nichts Gutes.
„Guten Abend, liebe Eltern!“ Der Rektor war mit jugendlichen Schritten eingetreten. Gutsitzender Anzug. Geschniegelte Haare. Volltönende Stimme. Er registrierte die mäßige Elternzahl und bedankte sich für das so zahlreiche Erscheinen. Aus Gründen, die er hier nicht näher ausführen könne, leite er selbst anstelle des Klassenlehrers diesen Abend. Denn es gehe um den Ruf der Schule, ja den Ruf der ganzen Stadt.
Er legte eine gewichtige Pause ein. Bis die versammelten Mütter und Väter erwartungsvoll zu ihm aufblickten. „Lassen Sie mich gleich zur Sache kommen. Schüler dieser Klasse missbrauchen das Internet, um gegen unseren Stellvertretenden Bürgermeister Josef Eitelgruber und sein Steinbruch-Unternehmen zu hetzen. Das Gymnasium darf und will das nicht hinnehmen.“
Die wenigsten konnten mit dieser diffusen Anklage etwas anfangen, und der Rektor musste weiter ausholen. Er berichtete über die Fossilfunde – wobei er nicht zu betonen vergaß, es handle sich um ganz gewöhnliche, unbedeutende Stücke. Dann beklagte er sich über die anmaßende und gefährliche Forderung der Blogger. Ihr Aufruf, den Betrieb im Steinbruch auszusetzen,käme einem Aufruf zu kriminellen Taten gleich. Jawohl, kriminelle Taten!
Der Rektor hatte sich warm geredet. Er klang jetzt wie ein Berichterstatter live aus einem Katastrophengebiet. Das Unternehmen melde erste Anschläge auf Baumaschinen. Und schon hätten irregeleitete Fanatiker große Ammoniten aus dem Gestein herausgebrochen und abtransportiert. „Nicht auszuschließen, dass die Blogger selbst…“
Er ließ den Zusatz wirkungsvoll im Raum hängen. Die Eltern sollten von selbst auf die richtige Spur kommen. Schließlich setzte er dramatisch gestikulierend zum Finale an: „Das ist kein Kavaliersdelikt, verehrte Eltern, das ist dreister Raub. Plus Sachbeschädigung. Plus Verletzung von Grund und Boden eines ehrenwerten Bürgers.“
Der Rektor war zufrieden mit seiner Ansprache. Alle redeten durcheinander. Fragen. Zwischenrufe. Kommentare. Als jemand wissen wollte, welche Schüler denn beteiligt seien, erhob sich Lukas‘ Vater. Mit einer Handbewegung bat er um Ruhe. Er ignorierte den flehenden Blick seiner Frau und wandte sich direkt an die Eltern: „Es ist mein Sohn Lukas, der diesen Internet-Blog betreibt und darin um die Bergung und Untersuchung der Fossilien bittet. Aber niemals – ich betone: niemals – würde Lukas eine Fundstätte zerstören und Fossilien rauben. „Er kämpft um den Erhalt. Nicht den Besitz. Glauben Sie mir, ich kenne meinen Sohn.“
Noch bevor jemand antworten konnte, schaltete sich der Rektor ein. Zunächst verständnistriefend: „Vielen Dank, Herr Pendergast, dass Sie Ihren Sohn in Schutz nehmen. Das müssen Sie ja. Väter müssen zu ihren Söhnen halten, sonst wären sie schlechte Väter. Aber…“ – jetzt mit mehr Schärfe – „… hier geht es um reale Fakten: um das unverantwortliche und Unfrieden stiftende Verhalten ihres Sohnes.“ Und ohne abzusetzen verkündete er in autoritätsgeschwängertem Ton, dass er sich – so leid es ihm tue – gezwungen sähe, für den Schüler Lukas Pendergast einen Schulverweis auszusprechen… erdrückende Stille, in der nur Mutters leises Weinen zu hören war…, falls Lukas, so der Rektor weiter, nicht von diesem unsäglichen Internet-Blog ablasse.
Der Vater war kurz davor zu explodieren. Mit hochrotem Kopf wollte er gerade zu einer Widerrede ansetzen, als die Tür aufsprang. „Guten Abend. Ich bin der Klassenlehrer – die meisten werden mich von früheren Elternabenden kennen.“ Er wirkte sportlich in seinen weißen Basketball-Schuhen, und das gletschergrüne T-Shirt war eng genug, um seine körperliche Fitness zu unterstreichen. Der Rektor bekam eine feuchte Stirn, als Sir Albin auf ihn zutrat.
„Ich bin als Anwalt meiner Schüler hier und möchte drei Dinge klarstellen. Erstens: Ich verbiete Ihnen, meine Schüler wie Kriminelle zu behandeln. Zweitens: sie mit herbeifantasierten Anschuldigungen zu belasten. Drittens: ihnen mit Schulverweisen zu drohen. Das alles dient nur der Einschüchterung. Ist unanständig. Und illegal.“
Der Rektor war zunächst zurückgewichen. Aber er fing sich wieder und ging zum Gegenangriff über: „Sie haben mir überhaupt nichts zu sagen. Sie schon gar nicht. Jeder weiß, dass Ihnen das Rückgrat fehlt, sich gegen einen Schüler zu stellen. Egal, was er angerichtet hat, Sie spielen sich als sein Beschützer auf. Sie wollen beliebt sein und nennen das verständnisvoll. Ich nenne es schwach und korrupt. Und jetzt möchte ich, dass Sie umgehend den Raum verlassen.“
Kein Laut. Kein Räuspern. Nichts. Die Stille vor dem Showdown.
Sir Albin ließ die Hand langsam zur Hüfte gleiten. Den Blick starr auf seinen Gegner gerichtet. Ein Hauch von High Noon… dann zog er. Er zog das Papier aus der Hosentasche und entfaltete es.
„Apropos: korrupt. Hier habe ich die Abschrift einer E-Mail.
Der Schuldirektor an den Unternehmer und Stellvertretenden Bürgermeister Josef Eitelgruber.“ Sir Albin begann vorzulesen. Langsam und emotionslos, als zitiere er aus einem Aktenvermerk:
„Lieber Josef, die Versetzung deiner Zwillinge ist leider auch heuer wieder gefährdet. Könnten wir das Problem wie in den vergangenen Jahren durch eine Aufbesserung unseres Schulbudgets lösen? In alter Verbundenheit.
PS Die Bankverbindung ist noch dieselbe.“
Der Showdown war entschieden. Der Rektor verließ grußlos das Klassenzimmer – irgendetwas von Nachspiel maulend.
Nach dem Abgang hätte wohl jeder einen Anflug von Freude oder Triumph in Sir Albins Stimme erwartet. Nichts dergleichen. Als er sich bei den Eltern verabschiedete, waren Resignation und Trauer unüberhörbar: „Liebe Eltern, Sie werden verstehen, dass ich unter diesen Umständen hier nicht mehr arbeiten kann. Ich werde das Gymnasium Ende des Schuljahres verlassen. Und, glauben Sie mir, ich werde ihre Kinder vermissen – ihre aufgeweckten, begeisterungsfähigen Kinder. Ihnen noch einen Guten Abend.“
Er schritt ohne Hast und sehr aufrecht zur Tür. Natürlich wusste er, dass es illegal war, E-Mail-Accounts zu hacken. Aber in diesem Fall…? Klammheimlich war er hochzufrieden mit der Tat seines Schülers...
Zuhause bestand Lukas darauf, dass sein Vater ihm jedes Detail des Elternabends erzähle. Sein Bericht wurde zwar beharrlich unterbrochen – Jetzt übertreibst du aber... So schlimm war es nicht… –, aber er ließ sich von Mutters Berichtigungen nicht bremsen. Als er Sir Albins Abschiedsworte zitierte – Ich werde Ihre Kinder vermissen –, musste Lukas mehrmals schlucken. Die Schule ohne Sir Albin, das war nicht mehr seine Schule.
Die Mutter griff nach der Hand ihres Sohnes: „Das ist traurig. Aber er wird dich weiter begleiten, dein Sir Albin. Du hast so viel von ihm gelernt und aufgenommen.“
Vater räusperte sich lautstark. Mit so viel Gefühligkeit, wie er es nannte, konnte er schlecht umgehen. „Ich frage mich“, wandte er sich an Lukas und kratzte sich dabei am Kopf, „ich frage mich, woher er diese E-Mail hatte.“
„Keine Ahnung. Von mir jedenfalls nicht. Aber Jasper… Jasper ist ein Computer-Guru. Computer erzählen ihm alles.“ Und mit unverhohlener Schadenfreude: „Vermutlich auch der Computer des Rektors.“
„Wie auch immer, jedenfalls ist die Sache ausgestanden“, meinte der Vater sichtlich befriedigt. Doch für Lukas war die Sache keineswegs ausgestanden. Der nächste Tag gehört zu den schrecklichsten, an die er erinnern kann. Was ihm widerfuhr, war nicht nur schmerzhaft. Es war so böse. Und so einschneidend, dass es sein ganzes weiteres Leben prägen sollte.
***
Auf dem Flur sind Schritte zu hören. Die Krankenschwester tritt leise ein. „Brauchen Sie noch etwas? Ein frisches Kopfkissen? Nochmals lüften?“ Lukas lehnt dankend ab und beteuert, er sei selten so angenehm umsorgt worden.
„Morgen dürfen sie raus. Dann ist der Arm wieder der alte.“ Sie streicht ihm sachte über die bandagierte Schulter. Überraschend lange, überraschend angenehm. „Der Kopf braucht länger. So ein Erlebnis wirkt nach. Schlafen Sie gut, lieber Herr Pendergast, und ohne Albträume.“ An der Tür dreht sie sich noch einmal um, und nickt ihm zu. Ihr Lächeln scheint zu sagen: Mehr ist hier leider nicht erlaubt.
Es gibt einfach hinreißend nette Menschen, denkt Lukas und schließt die Augen. Was bringt sie dazu? Was hat sie so werden lassen? Und was macht andere zu Kotzbrocken? Oder zu fiesen Sadisten? Wie diese beiden aus der Parallelklasse. Sie müssen verrückt gewesen sein vor Wut, Neid und Geltungssucht. Und dumm.
Es war an einem Freitag. Auf seiner Jogging-Runde in der Nähe des Steinbruchs. Sie traten gleichzeitig aus dem Gebüsch. Einer vor ihm, der andere hinter ihm. Die Eitelgruber-Zwillinge. Kein Wortwechsel. Keine Diskussion. Der eine schlägt ihm ins Gesicht, der andere rammt ihm das Knie in den Rücken. Als er schreien will, stopfen sie ein altes Taschentuch in seinen Mund. Mit Tritten und Ellbogenstößen, die Arme auf den Rücken gedreht, treiben sie ihn vor sich her. Zum Steinbruch.
„Feierabend. Niemand mehr da“, sagt der eine. Der andere höhnisch: „Außer deinen Scheißfossilien.“ Schepperndes Zwillingslachen. Der Tritt in die Kniekehlen bringt ihn rücklings zu Fall. Noch während des Sturzes spürt er den Faustschlag im Gesicht. Dann knallt er auf die Steinblöcke. Der Geschmack von Blut. Sie zerren ihm die Schuhe von den Füßen. Sie zerfetzen sein Laufshirt; zerren ihm die Hose herunter. Als er sich dagegen wehren will, binden sie ihm die Hände auf den Rücken. Was haben sie vor? Er versucht, sich aufzurichten, als ihn der Schlag in den Magen trifft. Er ringt nach Luft. Er würgt und würgt. Glaubt, zu ersticken. Nur noch schwach, wie aus der Ferne, hört er die Zwillinge höhnen: „Gleich muss er kotzen. Haha. Weil seine Fossilien zum Kotzen sind!“
Nach langen, unendlich langen Sekunden wieder ein erster röchelnder Atemzug. Luft! Gottseidank wieder Luft!
„Du wirst aufhören mit deinem Scheiß-Blog. Verstanden? Du …du…“ – sie suchen nach einer maximalen Beleidigung – „…du Schreiberling, du!“ Dann machen sie sich davon. Lassen ihn liegen wie eine halbtote Ratte. Nur ein dünnes Wimmern sickert aus seinem Körper. Er schrumpft zu einem Nichts. Ohne Gedanken. Ohne Bewusstsein. Blackout.
Als er wieder zu sich kommt, ist da nur die Wand. Die Wand aus Kalkstein. Verschwommen und tränengetrübt. Langsam kehren die Ereignisse zurück: Die Eitelgruber-Zwillinge haben ihn gefesselt, geschlagen – und entsorgt. Hier im Steinbruch. Er gibt sich Mühe, die Augen zu fokussieren. Bis die Kalksteinwand eine Struktur bekommt. Sie nimmt Farbtönungen und Muster an. Dünne Linien markieren die Abfolge von Sedimentschichten – als ob das jetzt von Bedeutung wäre. Und weiter oben… dieser schräg hervorstehende, spitze Kegel…
Noch ist er weit entfernt von einem klaren Gedanken, aber da ist diese diffuse Ahnung, die sich mühsam den Weg ins Bewusstsein bahnt. Sieht irgendwie aus wie ein Zahn. Wie die Spitze eines Reißzahns...
Für einen Augenblick irrlichtern Bilder von aufgerissenen Rachen und blutenden Bisswunden durch seinen Kopf. Dann drängt sich eine klare Gedankenkette in den Vordergrund: ein Zahn aus dem Jura. Könnte der Zahn eines Sauriers sein. Ein Saurierskelett im Steinbruch – das wäre…unglaublich.
Der Gedanke schiebt ihn zurück ins Leben. Sein Ich gewinnt wieder Statur. Ich lasse mich nicht klein kriegen. Er redet sich Mut zu. Auch gegen die Zweifel, die jetzt aufkeimen wollen: Hat er seine Sinne noch beisammen? Ist es nicht ein Übermaß an Zufall? An Ironie? Dass die schlimmsten Fossilienverächter ihm einen solchen Fund bescheren? Ausgerechnet sie?
Noch einmal fixiert er den leicht gekrümmten Zahn, der sich ihm förmlich entgegenstreckt. Und plötzlich ist er sicher, dass sich dahinter mehr verbirgt. Die Reste eines Kiefers? Oder gar der komplette Saurier, der mit diesem Zahn einst Beute riss?
Es fühlt sich an wie höhere Gerechtigkeit. Wie der Lohn für die Schmerzen und die Demütigungen. Ihn überkommt, obwohl aberwitzig in seiner Lage, ein vages Gefühl der Überlegenheit und der Genugtuung. „Jaaaa!“, bricht es aus ihm heraus. Und gleich nochmals – auch wenn der Brustkorb sticht und die Lippen schmerzen. Jetzt laut und befreiend: „Jaaaaaaah!“
Der Schrei war nicht nur für seine Seele gut. Auch für seinen Körper war er die Rettung. Die beiden Wachleute, die Eitelgruber seit den jüngsten Raubgrabungen angestellt hatte, kamen angerückt. Und waren entsetzt. Sie hatten Eindringlinge mit Hammer und Meißel vermutet, und jetzt diese halbnackte, blutverschmierte Gestalt. Sie schnitten ihm die Fesseln auf, versuchten ihn zu beruhigen: „Sieht übel aus, aber das wird schon wieder. Verrätst du uns deinen Namen?“
Der Ältere der beiden zog spontan seine Uniformjacke aus und legte sie über die nackten Schultern. Der andere sprach unaufgeregt in sein Walkie-Talkie: „…ein Junge namens Lukas… wurde übel zugerichtet.“
Kurze Zeit später in Eitelgrubers Büro. Steinfußboden. Kaltes Neonlicht. Ein zusammengeschraubtes Metallregal voller Aktenordner. An den Rigips-Wänden hingen reihenweise Zertifikate für HERVORRAGENDES MANAGEMENT - jedes Jahr in leicht abgewandelter Farbe.
Eitelgruber ignorierte die blauen Flecken, das verkrustete Blut, die aufgeplatzten Lippen. Er schien sich über die nackten Beine, die unter der Wachdienstjacke dünner als dünn wirkten, zu amüsieren. „Na sowas, Lukas Pendergast, der selbsternannte Fossilienretter. Die Jacke steht dir gut. Ansonsten steht es schlecht um dich. Dein Vater wird sich wundern.“
Er ließ im Architekturbüro anrufen, Pendergast junior sei im Steinbruch aufgegriffen worden und müsse dringend abgeholt werden. Dann zu seinem ramponierten Gegenüber: „In der Zwischenzeit will ich wissen, was du auf meinem Grund und Boden zu suchen hattest.“
„Nichts. Ich war nicht freiwillig dort.“
„Und wer hat dich so zugerichtet? Es trifft ja keinen Unschuldigen. Aber trotzdem, wer war’s?“
„Das möchte ich nicht sagen, Herr Eitelgruber.“
„Warum nicht? Aus Angst vor noch mehr Prügel?“
„Nein. Weil es nicht um mich geht…“
„Sondern um diese gottverdammten Fossilien? Ist es das?“
Eitelgruber hatte seinen spöttischen Tonfall abgelegt. Vielleicht weil er ahnte, dass seine Söhne beteiligt waren. Vielleicht auch, weil dieser 15-Jährige so gar nicht zu der Vorstellung passte, die er sich von dem Internet-Klugscheißer gemacht hatte. Er war nicht arrogant, nicht überheblich, nicht wichtigtuerisch. Und trotz seines jämmerlichen Zustands wirkte er irgendwie aufrecht und selbstsicher. Als wisse er sich auf der richtigen Seite.
„Mensch Lukas, was willst du eigentlich von mir? Soll ich meine Existenz ruinieren, weil es da irgendwelche versteinerten Meerestiere gibt? Würdest du das tun? Ja los, sag‘ mir, was würdest du an meiner Stelle tun?“ Er hatte die Frage offenbar als echte Frage gemeint, denn er wartete schweigend auf eine Antwort.
„Wollen Sie das wirklich wissen, Herr Eitelgruber?“
„Ja. Los. Du an meiner Stelle.“
Lukas ließ sich Zeit. Dann leise: „Ich würde weiter arbeiten lassen wie bisher…“
„Quatsch! Das glaubt dir kein Mensch!“ Eitelgruber ging energisch dazwischen. „Versuch‘ bloß nicht, dich einzuschleimen...“
„… nur nicht an der Fossilienschicht“, brachte Lukas den Satz zu Ende. „Da würde ich… das klingt jetzt etwas anmaßend… es ist ja Ihr Steinbruch…“
„Was denn? Zier‘ dich nicht. Du würdest was…?“
„Ich würde Paläontologen einladen. Und dann groß ankündigen, dass das Unternehmen eine erste Grabung sponsert.“
Eitelgruber runzelte die Stirn. Dann Kopfschütteln: „Wie? Ich soll auch noch dafür bezahlen?“
„Ja. Und die Medien würden darüber berichten. Das Fernsehen, die Zeitungen, das Internet... Und alle fänden das nobel und großzügig. Ich auch. Ich hätte eine Superstory für meinen Blog. Ein Herz für Saurier – oder so.“
„Wieso Saurier? Ich denke, da gibt's nur diese Ammo-dingsbums, diese Ringelschnecken?“
„Ja, vielleicht. Aber wo es Ammoniten gab, gab es auch Feinde der Ammoniten und Feinde der Ammonitenfeinde und so weiter – die ganze Nahrungskette im Meer. Bis hin zu riesigen Saurierechsen.“ Mit spitzen Reißzähnen, ergänzte er in Gedanken.
Eitelgruber hatte seine Krallen nun gänzlich eingezogen. Er klang fast amüsiert: „Und die willst du ausgerechnet hier finden? Verstehe – weil die ja alle auf mein Grundstück geschwommen sind, um sich versteinern zu lassen. Mensch Junge, denk doch mal nach. Da könnte ich ebenso gut Lotto spielen.“
Als der Junge aufblickte, sah er gerade noch die Reste eines Lächelns in Eitelgrubers Gesicht. Er wollte es erwidern, aber die aufgeplatzten Lippen spielten nicht mit. Stattdessen sagte er so unschuldig wie möglich: „Sie könnten doch Lotto-König werden, Herr Eitelgruber. Und Ihr Unternehmen weltberühmt.“ Und dann rutschte es ihm ungeplant und absichtslos über die Lippen: „Bitte, Herr Eitelgruber. Es wäre so toll von Ihnen.“
Der Vater stürzte herein. Ein Blick auf seinen Sohn: „Lukas! – das sieht übel aus. Hast du Schmerzen? Ich fahr dich in die Klinik.“
Jetzt erst schien er Eitelgruber zu bemerken: „Hallo Josef, tut mir leid, wenn es Ärger gab. Wir reden später. In Ruhe. Wenn ich zurück bin.“
„Wir haben schon geredet, dein Sohn und ich. Aber eines möchte ich ihm noch mit auf den Weg geben.“ Eitelgruber stützte seine stämmigen Arme auf den Tisch und beugte sich vor – so weit, dass Lukas unwillkürlich zurückwich: „Ich spiele mit. In der Lotterie. Und jetzt lass dich verarzten.“ Lukas schaute ihn an. Seine Augen wurden wässrig. Er wollte etwas sagen, aber es kam kein Ton.
***
Die Szene in Eitelgrubers Büro wird er wohl nie vergessen. Wie eine Filmsequenz kann er sie abrufen – auch jetzt in seinem Krankenzimmer. Er kann einzelne Bilder festhalten oder sie wie in Zeitlupe vorüberziehen lassen. Ich spiele mit in der Lotterie. Seine Lippen wiederholen stumm diesen Satz. Und er sieht dabei Eitelgrubers Gesicht vor sich, das alle Härte und Häme abgelegt hatte.
Heute ist ihm die Tragweite dieses Augenblicks bewusst. Heute weiß er, dass jener Tag mit seinen bösen und guten Wendungen richtungsweisend für sein Leben war. Wie wäre es wohl verlaufen ohne die Bosheit der Zwillinge? Ohne seine Zufallsentdeckung im Gestein? Und ohne Eitelgrubers gänzlich unerwartete Kehrtwende?
Natürlich, rückblickend besteht das ganze Leben aus einer Kette zufälliger Fügungen. Aber das Geschehen von damals, da ist er sich sicher, ließ seine Leidenschaft für das Geheimnis der Evolution entstehen. Er würde sich der verborgenen Geschichte des Lebens widmen – jener unvorstellbaren, rätselhaften, dramatischen… kurzum: wunderbaren Geschichte, ohne die es die Menschheit einschließlich seiner selbst nicht gäbe.
Josef Eitelgruber hatte tatsächlich Wort gehalten. Er lud ein Palä-ontologenteam der Uni Tübingen ein, und die Wissenschaftler staunten nicht schlecht, als Lukas sie zu seiner Fundstelle führte. Sie kratzten und schabten ein wenig und vermuteten, da sei noch mehr zu holen. Und so war es.
In den nächsten Monaten meißelten sie das Skelett eines Plesiosauriers aus dem Gestein. Eine Paddelechse von über vier Metern Länge. Fantastisch erhalten. In ihrem Magen fanden sich sogar Fischreste – seine letzte Mahlzeit vor dem Ende.
Eitelgruber mobilisierte die Medien. Zeitungen und TV-Sender verfolgten die Grabungsfortschritte. Und alle lobten die Weitsichtigkeit und kulturelle Verantwortung des Unternehmers Josef Eitelgruber, der – wie die Kreiszeitung schrieb – dieses Fenster in eine faszinierende, vergangene Welt aufgestoßen hat.
Lukas fühlte sich im Jura-Himmel. Er strich den Namen SKANDAL in seinem Blog und schrieb mit Hingabe über JOE. So hatten sie ihren Plesiosaurus – als kleine Geste an JOSEF Eitelgruber getauft.
HALLO JOE, wie siehst du denn aus? Lukas überschrieb seine Blogbeiträge meistens mit kurzen, leicht flapsigen Fragen – um dann ernsthaft darauf einzugehen. Die Körperform der Paddelechsen sei ein Design ohnegleichen: ein meterlanger, spindelförmiger Rumpf, der nach hinten in einen Schwanz und nach vorn in einen laaaaangen Hals auslaufe – manchmal so lang wie der ganze restliche Körper. Und wozu dieser überlange Hals? fragte Lukas in seinem Blog. Aber selbst die Tübinger Paläontologen waren sich nicht einig. Einer der Professoren meinte launisch, man solle doch Nessie befragen, was es mit seinem Hals anstelle.
Veralbern kann ich mich selber, dachte Lukas und formulierte die Frage nochmals in gereimter Form:
Der Saurier schwamm im Meere
Und seufzte lang und bang.
Er fragte sich so sehre,
warum sein Hals so lang.
Okay Leute, schrieb er darunter, das Gedicht ist albern. Aber die Frage: Was bringt ein langer Hals? ist es nicht. Der nächstliegende Gedanke wäre: JOE hat seinen Schwanenhals auch eingesetzt wie ein Schwan – um am Boden nach Muscheln oder Krebsen zu gründeln. Tatsächlich wurden die Plesiosaurier Jahrzehnte lang als eine Art Superschwan dargestellt – so auch Nessie, das Ungeheuer von Loch Ness. Doch JOEs Fossilien erheben Einspruch: Die schlanken Plesiosaurier-Flossen taugen nicht, um in Schwanenmanier herumzupaddeln. Sie sind optimiert für Unterwassersprints, wie sie auch Robben oder Pinguine beherrschen. Plesiosaurier flogen durch die Meere. Sie waren perfekte Wassertiere, auch wenn sie immer wieder Luft schnappen mussten. Gut möglich, dass sie dabei ihren überlangen Hals als Schnorchel nutzten. Aber auch das sei nur eine Hypothese, schrieb Lukas weiter. Auf JOEs Langhalsigkeit könne sich jeder seinen eigenen Reim machen.
Warum nicht so?
Der Saurier schwamm im Meere Und seufzte lang und bang. Was dank der langen Röhre Besonders sexy klang
.
Einige User fanden es witzig. Andere nur kindisch: Das sei Paläontologie für den Kindergarten. Und eine Leserin beschwerte sich: Hey Lukas, wenn du schon Heinrich Heine verschandelst, dann solltest du wenigstens auf das viel schönere Original – Das Fräulein stand am Meere – hinweisen.
Unterm Strich aber wurde Lukas‘ Blog immer beliebter. Und einträglicher. Erwin hatte nämlich die clevere Idee, Anzeigen für Fossilien- und Urzeit-Bücher zu schalten. Erwins Sinn fürs Kommerzielle war schon damals gut entwickelt.
Auch Jasper erwies sich als kreativ. Er bot den Paläontologen der Uni Tübingen an, ihren versteinerten Plesiosaurus per Computeranimation zum Leben zu erwecken. Das Ergebnis war eine Paddelechse, die mit ihren vier Flossen virtuose Flugmanöver unter Wasser vollführte. Sogar kopfüber und im Rückwärtsgang. Und so lebensecht, als habe ihn ein Taucher im Mittelmeer gefilmt.
Es müssen solche Bilder gewesen sein, die Lukas in den Schlaf geschickt haben. Ohne Albträume. Ohne Flashback der Notlandung. Bis kurz vor 6 Uhr früh.
Der Summton des Handys drängt sich in sein Ohr. Jasper auf dem Display. Das kann nichts Gutes bedeuten. So früh. Und bis Jasper mal zum Telefon greift…
„Ich habe dich wohl geweckt, entschuldige, aber ich konnte nicht länger warten – ich… ich… Lukas, ich habe Angst.“
„Was ist passiert? Bist du zuhause?“
„Ja, ich bin in der Küche. Mit dem Topf.“
„Topf?“
„Ich halte sie im Kochtopf gefangen…“
Jasper ist völlig aufgelöst. Seine Stimme klingt brüchig vor Angst. Was immer er gefangen hat – eine Schlange, Ratte oder Tarantel – er scheint kurz vor einer Panikattacke.
„Bleib cool, Jasper. Riskiere nichts. Versuche, ein Kinderlied zu summen – klingt albern, mach es trotzdem. Ich komme, so schnell ich kann.“
Jasper wohnt in einem Hausboot auf einem der zahllosen Hamburger Kanäle. Hier fühle er sich geborgen und geschützt: rundum Wasser, das sich mit den Jahreszeiten verfärbt. Algengrün im Sommer. Humusbraun im Spätherbst – als Folge der Blätterfracht. Und an frostigen Wintertagen liebe er die fragile Eishaut, auf der Möwen und Enten trippeln. Das Hausboot schaukelt meine Seele ins Gleichgewicht, so hatte es Jasper einmal ausgedrückt.
Doch davon kann jetzt keine Rede sein. Als Lukas in großen Schritten die Gangway betritt, die von der Straße hinunter zum Schiffsdeck führt, wird er schon erwartet. Jasper führt ihn direkt in die Küche. Er öffnet die Backofentür und zeigt auf den stählernen Kochtopf. „Da. Da drin!“
Lukas verdrängt die Anwandlung zu lachen. Ja, die Situation ist skurril und komisch. Aber er spürt, dass Jasper es bitterernst meint und dass sich jeder Scherz oder gar Spott verbietet. „Du scheinst einiges hinter dir zu haben.“
Jasper berichtet zunächst etwas wirr, dann immer detailgauer. Lukas muss mehrmals zwischenfragen. Bis sich ihm die ganze Horrorgeschichte der vergangenen Nacht erschließt.
***
Jasper war spät abends noch im SimP bei den Computern gewesen – in der Kita, wie er gerne sagt. Die Rechner seien ja fast seine Kinder. Als er den SimP verlässt und auf die Straße tritt, bemerkt er ein helles Summen. Es stammt von einer Drohne, die hoch über ihm an der Hauswand entlangschwirrt – fast wie ein Vogel, der nach einem Nistplatz sucht. Plötzlich ändert der Quadrocopter seinen Kurs und steht vor Jasper in der Luft. Die vier Rotoren surren. Eine LED-Leuchte blendet. Dann die quäkende Lautsprecher-Stimme: „Guten Abend, Jasper Tomkevic, hast du ein Update bei deinen Computern geholt? Ein paar neue Fake-Szenarios über den Klimawandel?“
Jasper ist überrumpelt. „Wer spricht da?“
„Tut nichts zur Sache - “
Jasper versucht, die Initiative zu ergreifen: „Ihr Gequake ist jämmerlich. Ich empfehle einen anständigen Lautsprecher.“
Die Drohne bleibt aufreizend sachlich – und beim du: „Hauptsache, du verstehst mich.“
„Was wollen Sie?“
„Wir wollen deine Computer! Wir werden sie zermalmen und pulverisieren. Weil ihr sie manipuliert. Euer hochgejazzter Klima-Warnruf ist eine Farce, eine einzige Lüge.“ Die Drohne wippt auf und ab, als wolle sie sich lustig machen. „Eine wissenschaftlich verbrämte Lüge.“
Jasper spürt Wut in sich hochsteigen. An ihrem jüngsten Klima-Warnruf hatten sie monatelang gearbeitet und dafür viel Anerkennung bekommen. Selbst die Tagesschau hatte über ihre alarmierenden Computer-Simulationen berichtet, wonach die berüchtigten Kipp-Punkte des Klimas deutlich früher eintreten könnten als bislang angenommen. Dann beschleunige sich die Erderwärmung von selbst, ohne menschliches Zutun – ähnlich einem Stuhl, der plötzlich nach hinten kippe, wenn man ihn zu sehr in Schräglage bringt. So hatten sie das Phänomen der Kipp-Punkte beschrieben.
„Da ist überhaupt nichts falsch.“ Jasper schreit gegen den Rotorenlärm an. Er ist gekränkt und außer sich. „Machen Sie, dass Sie wegkommen. Sie haben ja keine Ahnung. Man sollte Sie…“ Er zieht die Jacke aus und schleudert sie gegen den Quadrocopter.
„Ruhig Blut. So wird das nichts.“ Die Drohne war blitzschnell nach oben ausgewichen und redet weiter, als wäre nichts geschehen. „Du solltest deinen Job aufgeben, Jasper. Der Simulationspalast wird in Kürze wertlos sein. Ein Trümmerpalast.“ Und kaum mehr zu hören, weil schon im Wegfliegen: „Der SimP wird zum TrümP. Haha. Kleiner Scherz. Wir sehen uns!“
Der Quadrocopter dreht eine Platzrunde und verschwindet. Jaspers Abschiedsgruß ist der ausgestreckte Mittelfinger. Jetzt erst spürt er den Schock. Mit Herzrasen und weich werdenden Knien geht er die Straße entlang. Dort vorn an der Kreuzung ist ein Taxistand. Zum Glück.
Zuhause auf dem Deck mit den angenehmen Holzplanken stellt er sich an die Reling und versenkt sich in den klaren Nachthimmel. Er versucht das Erlebte einzuordnen. Wer hat das inszeniert? Warum wollen sie seine Computer zerstören? Und warum kündigen sie das vorher an? Auf so merkwürdige Weise – mittels einer Drohne?
Er erschrickt, als das Tier um seine Beine streicht. Kater Cleo lebt sein eigenes Leben. Er ernährt sich von den Ratten und Mäusen in der Uferböschung. Wie alle Bengal-Katzen liebt er das Wasser, und ab und zu schnappt er sich sogar einen Fisch aus dem Kanal. Aber sein Heim und Schlafplatz ist das Hausboot. Und er versteht sich prächtig mit seinem Mitbewohner, der jetzt in die Knie geht und ihn hinter den Ohren krault. Verschmustes Schnurren.
Als Jasper aufblickt, durchfährt ihn der Schreck wie ein Messerstich. Er sieht das Geflacker der Positionslampen auf sich zurasen. Er weiß, was es bedeutet, und für einen Moment ist er gelähmt. Dann weicht er zurück. Versucht, sich durch die offene Tür in den Wohnraum zu retten. Die Drohne folgt ihm – hell und hektisch blinkend. Dazu dieses bedrohliche Surren.
„Raus!“, schreit er im Rückwärtsgehen. „Raus aus meiner Wohnung!“ Und dann passiert, was nicht passieren darf. Wahrscheinlich war es ein herumliegendes Buch oder ein unaufgeräumter Laufschuh von gestern. Er stolpert und kann sich nicht mehr abfangen. Auf dem Boden liegend sieht er die Drohne auf sich zu schwirren. Lärmend. Blendend. Unerbittlich. Sein NEIN! bleibt ihm im Halse stecken. Instinktiv hebt er die Beine, um sich vor den wirbelnden Rotorblättern zu schützen.
„Wir sehen uns. Sagte ich doch.“ An der quäkenden Stimme hat sich nichts geändert. Aber eine Antwort erübrigt sich… Jasper sieht nur ein wild durcheinanderwirbelndes Knäuel aus Pfoten, Fell und Rotoren. Kater und Drohne stürzen zu Boden. Untermalt von Jaulen und Scheppern. Cleos Krallen haben offenbar in die Rotorblätter gegriffen und mussten ihre Beute wieder freigeben. Jetzt rattert der Quadrocopter wie ein verletzter Riesenkäfer über den Fußboden. Müht sich, wieder in die Luft zu kommen. Da trifft ihn das Kissen. Dann der Schuh. Dann das Buch – nein das Buch geht knapp daneben. Aber der nächste Schuh … Jasper schleudert alles, was er greifen kann. Bis die Drohne mit verbogenen Rotorblättern in einer Ecke zappelt. Nur die Positionslampen blinken unverzagt weiter.
Und Kater Cleo? Sein Jagdeifer ist vorerst erloschen. Er leckt sich die geschundenen Pfoten und schaut nur kurz auf, als Herrchen die erlegte Beute beiseiteschafft – das Kissen fest auf die Rotoren gepresst, um jede Bewegung zu ersticken. Jasper stürzt wie in Trance aus dem Zimmer. In der Küche angelt er sich den großen Kochtopf: rein mit dem Ding. Deckel drauf. Und das Ganze in den Backofen.
***
„So war das. Diese Nacht werde ich nie vergessen!“ Jasper hat seinen Erlebnisbericht beendet und atmet hörbar aus. Lukas weiß, dass es jetzt eine Aufmunterung braucht. „Auf jeden Fall war es eine filmreife Aktion. Von dir – und von Cleo. Steven Spielberg sollte sich die Rechte sichern. Genial, wie ihr dieses Drohnenbiest dingfest… aber warum ausgerechnet im Kochtopf?“
Jasper ist froh, über technische Details reden zu können. „Ich weiß, in Spionagefilmen kommen die Handys in den Kühlschrank, dann ist jede Funkverbindung unterbrochen. Angeblich. Aber das stimmt nicht; ich hab es mal getestet. Mein Handy klingelt auch noch zwischen Bier und Joghurt. Es klingelt im Backofen. Und es klingelt selbst eingewickelt in Alufolie. Nur im Kochtopf bleibt es stumm.“
„Und wozu dann der Backofen?“
„Der Backofen ist der Overkill – ich wollte ganz sicher gehen, aber…“ Jasper bricht ab, schaut verlegen beiseite.
„Aber?“
„Aber ich hatte trotzdem höllische Angst. Niemand im Haus. Nur ich und diese unheimliche Drohne. Und der Kater. Ich habe ihn gekrault, um mich zu beruhigen. Hat aber nur ihn beunruhigt. Dann habe ich die Minuten heruntergezählt, bis ich dich anrufen kann. Ja, wirklich. Zählen hilft. Erzählen übrigens auch – es geht mir schon viel besser.“