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Strobo, Nebel, Hitze, Schreie, Techno - das ist die Welt von Charlotte, die 1999 in die Clubszene eintaucht und süchtig wird nach Blitzlichtgewitter, wummernden Bässen und wilden Partys. Wie viele andere nimmt sie dafür den weiten Weg bis ins Stammheim nach Kassel auf sich: eine vibrierende Enklave für Musiknerds, Feierwütige, Verrückte und Freigeister, die dort in einer Parallelgesellschaft leben. Sie nennen sich Heimkinder, ihr Stamm ist der Technoclub in der Salzmannfabrik, ihr Kult ist Hedonismus. Mit ihren besten Freunden, von denen Charlotte in einen unsterblich verliebt ist, flieht sie vor einer scheinbar vorgezeichneten Zukunft, verliert sich in durchtanzten Nächten, fliegt hoch und fällt tief ... bis sie lernt, auf ihren eigenen Beat zu hören. WIR WAREN SCHALL UND RAUSCH ist ein Tatsachenroman über Freundschaft, Identität und den Freiheitsdrang einer Subkultur am Puls der Jahrtausendwende. Er erzählt die Geschichte des legendären Stammheims, gespickt mit echten Storys und Erinnerungen von Gästen, DJs und Betreibern - eingebettet in den Soundtrack einer Zeit, in der nur der nächste Exzess zählte.
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Seitenzahl: 542
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Jasmin Moll wurde 1982 im Rhein-Main-Gebiet geboren und fand 1999 ihren Weg in die Technoszene. Als sie kurz darauf zum ersten Mal im Stammheim tanzte, entflammte ihr Herz für diesen Club lichterloh. Obwohl die Anfahrt zwei Stunden betrug und der Techno-Melting-Pot Frankfurt direkt vor ihrer Nase lag, feierte sie so oft wie möglich in Kassel – und wurde zum Heimkind.
Die Mission zu diesem Roman ergriff sie Anfang 2002 auf einer der letzten Partys in der Salzmannfabrik. Es war wieder einer dieser magischen Momente, als ihr klar wurde, dass sie ein Buch über diesen Ort schreiben muss, um ihn in all seiner Wahnsinnigkeit für die Ewigkeit festzuhalten.
Zwanzig Jahre später, mit einem Studium der Wirtschaftskommunikation und einiger Berufserfahrung in Text und Storytelling im Gepäck, nahm sie diese Herausforderung an. Die freiberufliche Redakteurin lebt seit 2008 in Berlin-Friedrichshain und ist bis heute in einschlägigen Technoclubs unterwegs.
Frei nach wahren Begebenheiten
Explicit Content – Einlass ab 18
In Erinnerung an Pierre Blaszczyk
Für alle Heimkinder
INTRO
PROLOG
Kapitel 1: CHARLOTTE
Kapitel 2: NEUE FREUNDE
Kapitel 3: FRANKFURT
Kapitel 4: STAMMHEIM
Kapitel 5: STAMMHEIM-MANIA
Kapitel 6: MILLENNIUM
Kapitel 7: PRÜFUNGSPHASE
Kapitel 8: HEIMKIND
Kapitel 9: MAGIC
Kapitel 10: LEINEN LOS
Kapitel 11: DISCOLYMPICS 2000
Kapitel 12: WEIN-NACHTEN
Kapitel 13: ABSTURZ
Kapitel 14: STILLE
Kapitel 15: IT’S SPRINGTIME, BABY!
Kapitel 16: PIERRE
Kapitel 17: VOLLE LOTTE
Kapitel 18: BERLIN
Kapitel 19: CRASH
Kapitel 20: STAMMHEIM FOREVER
Kapitel 21: THE LAST DAYS OF DISCO
Kapitel 22: FAMOUS LAST WEEKS
Kapitel 23: ARMAGEDDON
OUTRO
DANK
SOUNDTRACK
Bevor dir der Türsteher Zutritt zu WIR WAREN SCHALL UND RAUSCH gewährt und sich dir damit ein Kapitel Technoclubgeschichte öffnet, möchte ich ein paar Zeilen vorausschicken.
Anfang 2002 stand ich auf meinem Lieblingsplatz im Stammheim und beschloss, ein Buch über diesen verrückten Ort zu schreiben. Knapp zwanzig Jahre später begann ich mit diesem Herzensprojekt.
Ich möchte dich, liebe Leserin, lieber Leser, auf eine Zeitreise einladen. In eine Ära, in der die Technoszene, ja, die ganze Welt noch anders tickte. Rückblickend werden die Jahre zwischen dem Mauerfall 1989 und den Terroranschlägen vom 11. September 2001 als Jahrzehnt der Sorglosigkeit betrachtet. Der perfekte Nährboden für eine hedonistische Subkultur, die sich den schönen Dingen des Lebens zuwandte: ein neuer Sound, Freude, Liebe, Gemeinschaft, Mode und vor allem Freiheit. Sie sprießte und vibrierte in Technoclubs, mehr oder weniger unter dem Radar des Mainstreams, der noch in Diskotheken unterwegs war.
Dieses Buch ist eine Hommage an einen der legendärsten aus jener Zeit, weitab von den damaligen Epizentren für Techno – Frankfurt und Berlin. Das Stammheim im nordhessischen Kassel zählte zu den wildesten Clubs, die Deutschland zu bieten hatte. Technofans reisten aus allen Himmelsrichtungen an, um sich in der ehemaligen Textilfabrik die Seele aus dem Leib zu tanzen.
Der vorliegende Tatsachenroman basiert auf historischen Ereignissen. Die Line-ups standen so auf den Stammheim-Flyern, Texte (wie die aus der Heimpost) sind wortgetreu, die Club-Deko konnte ich anhand von Fotos zeitlich einordnen.
Die Protagonisten des Romans und deren Geschichten sind fiktiv, aber stark inspiriert von wahren Begebenheiten, die sich in meiner Erinnerung manifestiert haben und die mir Zeitzeuginnen und Zeitzeugen im Rahmen meiner Recherche erzählten. Auf die Frage hin, wie sie das Stammheim in einem Wort beschreiben würden, war krass die meist gegebene Antwort.
Die berühmte Frage nach der Ähnlichkeit mit real existierenden Personen muss ich klar mit Ja beantworten. Eine von ihnen ist DJ Pierre. Der Resident, Kurator und Herz des Stammheims ist zehn Jahre nach der Schließung mit nur achtunddreißig Jahren viel zu früh von uns gegangen und selbst zur Legende geworden. Ihm ist dieser Roman gewidmet.
Recherche und Schreibprozess beschäftigten mich über mehrere Jahre hinweg, der Blick in meine Jugend und die Beschäftigung mit der Zeit um die Jahrtausendwende waren mir eine riesige Freude. Trotz der gewissenhaften Durchforstung des Internets und meiner eigenen Foto- und Flyerarchive sowie Gesprächen mit Betreibern, DJs und Stammgästen gibt es sicherlich Unstimmigkeiten in meiner Erzählung. Das bitte ich unter künstlerischer Freiheit zu verbuchen.
Techno ist schwer zu beschreiben, deshalb gibt es einen Soundtrack zum Buch mit Stücken, die damals neu und/oder wichtig für uns waren. Einige wurden zu Klassikern und werden bis heute in Clubs gespielt. Fast noch schwieriger in Worte zu fassen sind die Emotionen, die beim Tanzen auf Techno ausgelöst werden. Am anspruchsvollsten war es jedoch, den Spirit auszudrücken, der zwischen 1994 und 2002 im Stammheim gelebt wurde.
Falls du das große Glück hattest, zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen zu sein und selbst einmal die Treppen in der Salzmannfabrik hinaufgestiegen bist, flackert dieses Gefühl vielleicht wieder in dir auf. Dann wäre meine Mission erfüllt.
In diesem Sinne wünsche ich eine schöne Reise.
Jasmin Moll
Berlin im Mai 2025
»Radio«, Wishmountain (Matthew Herbert)
»Morgens, halb zehn in Kassel, und keine Sau will Knoppers!«
Charlotte kennt den schwitzenden Typen vom Sehen, der ihr das gerade ins Ohr gebrüllt hat. Wer öfters im Stammheim ist, kennt die Abwandlung des populären Werbespruchs. Sie strahlt ihn an wie die Grinsekatze aus Alice im Wunderland und hofft, dass er nicht ausgerechnet jetzt vorhat, den Gesprächsfaden zum ersten Mal mit ihr aufzunehmen. Charlotte will tanzen, den Bass im Körper spüren und mit der Musik verschmelzen. Die ganze Woche hat sie sehnsüchtig darauf gewartet, endlich wieder auf dem Big Floor zu stehen – so wie die meisten hier. Zum Glück belässt er es bei dem Zuruf und tanzt von dannen.
Das morgendliche Tageslicht bahnt sich seinen Weg durch den alten Ventilator der Salzmannfabrik. Angetrieben vom Wind, zerhackt er die ersten Sonnenstrahlen, passend zu den ersten Takten von »Radio«. Charlotte liebt diese Platte, und auch einige andere drücken ihre Freude darüber mit Pfiffen und Jubel aus. Das markante Trommeln wandert durch den Raum, und sie steigt wieder in den Rhythmus ein.
Die Szenerie ist in rotes Licht getaucht und flackert flammenartig vor ihren Augen. Die Tanzfläche gleicht einem zeremoniellen Feuertanz, alle bewegen sich ekstatisch im Einklang und zelebrieren den gemeinsamen Rausch der durchzechten Nacht. Techno ist ein kollektives wie auch ein individuelles Erlebnis, das sich tief in der Seele einbrennen kann. Wenn der richtige Track zur richtigen Zeit läuft und dazu diese ganz bestimmte Energie in der Luft liegt, entstehen magische Momente. So wie jetzt. Das perfekte Zusammenspiel aus der eigenen Stimmung, dem DJ, seinem Sound und den anderen Menschen im Raum.
Charlotte kennt die Dramaturgie des Tracks in- und auswendig, schon oft hat sie ihn hier gehört. Anfangs nickt sie mit dem Kopf und trommelt mit den Zeigefingern, steigert sich immer weiter rein, und als schließlich der Bass einsetzt, fährt er durch ihre Glieder wie ein Stromschlag.
»Wohoo!«, kreischt sie, stampft mit gebeugten Knien und peitscht mit den Armen synchron zum Beat. Ihre Füße dreht sie abwechselnd nach außen und innen, Zehen und Fersen im Wechsel zueinander. Zwischendurch baut sie kleine Kicks nach vorn ein oder dreht sich um die eigene Achse. Die Abfolge und Kombination ihrer immer gleichen Bewegungen ist spontan und wird von den Platten dirigiert, die gerade auf dem Teller liegen. Über ihren Tanzstil hat sie sich nie groß Gedanken gemacht, geschweige denn ihn zuhause vor dem Spiegel geübt. Er hat sich in den unzähligen Stunden im Club entwickelt, inspiriert von den anderen auf dem Dancefloor.
Grundsätzlich gibt es keine Regeln für das Tanzen auf Techno, vom unkoordinierten Herumhopsen bis zur einstudierten Choreografie ist alles erlaubt. Es geht um puren Spaß und darum, sich fallen zu lassen. Die meisten schaffen es ganz ausgezeichnet, den bisweilen rasenden Rhythmen zu folgen; nur wenige Taktsucher liegen garantiert immer eine Tausendstelsekunde daneben. Doch auch die können sich schamlos austoben, niemand schaut sie deswegen schief an. Charlotte kann ihnen ohnehin nicht zusehen, ohne dabei selbst aus dem Takt zu kommen.
Nach all den Stunden, die die Party mittlerweile andauert, hat sich auf der Tanzfläche eine perfekte Patina gebildet. Optimale Bedingungen, um darauf zu gleiten, aber nicht auszurutschen. Eine Mixtur aus verschütteten Getränken, menschlichen Ausdünstungen, Zigarettenasche und Schmutz aus den Gemäuern der historischen Textilfabrik, in der das Stammheim beheimatet ist. Der Siff hat sich in Charlottes auf dem Boden schleifende Stoffschlaghose eingesaugt und ihre vormals weißen Turnschuhe grau gefärbt. Das ist jedoch nicht zu sehen, da sie von den überdimensionalen Hosenbeinen eingehüllt sind. Ihr fliederfarbenes Top klebt an der Haut und ihr kurzes, schwarzes Haar tropft. Sie ist nass bis auf die Unterwäsche, durchgeschwitzt vom endlosen Tanzen und vom tropisch-feuchten Klima im Club.
Ein lauwarmer Tropfen platscht von der Decke auf ihren Kopf und es schüttelt sie vor Ekel. Raverschweiß. Sie beruhigt sich damit, dass auch ein Teil von ihr darin steckt.
Charlotte ist erfüllt von diesem unbeschreiblichen Glücksgefühl, das sie durch Techno erfahren hat und nie wieder missen will. Das ist es, warum sie diese Musik liebt, warum sie das Stammheim liebt, warum sie die Heimkinder liebt.
An den Plattentellern steht DJ Pierre, neben ihm hält Travis aka Die Fackel Gottes wie jede Woche die Stellung am Lichtpult und verschickt die Leute mit Licht und Nebel. Verschickt sind hier die meisten. Auch Charlotte fühlt sich gut. Sehr gut sogar.
Pierre ist die Galionsfigur des Heims und bekannt für seinen einzigartigen Stil. Seine DJ-Sets sind überraschend und abwechslungsreich und zu gerne sprengt er dabei elektronische Genre-Grenzen, von 4-to-the-Floor nach Breakbeat, von Techno über Electro zu House und wieder zurück. Bei Pierre rumpelt und knattert, hämmert, faucht und fiept es und bleibt trotzdem immer voller Groove. Er verkörpert den typischen Stammheim-Sound und begeistert weit über die Mauern seines Clubs hinaus. Für Heimkinder ist er das Sahnehäubchen einer Nacht.
Unterschiedlich hohe und tiefe Stufen an allen Seiten des Raums erzeugen eine Kesselwirkung, es wird auf allen Ebenen getanzt. Die Mitte ist der tiefste Ort zum Abtauchen, dort steht Charlotte.
Es ist noch angenehm voll und Pierre in Hochform. Er jongliert mit den Bässen und schiebt die Lautstärkeregler ruckartig nach oben und unten, um zusätzlichen Druck zu erzeugen. Zwischendurch bedient er sich an DJ-Techniken aus dem Hip-Hop und scratcht eine Platte oder macht einen Backspin, bevor er sie vom Teller nimmt. Er ist genauso motiviert wie seine Fans auf der Tanzfläche.
Aus der blitzenden Kulisse zappelnder Körper, wabernder Rauchschwaden und bunter Lichtstrahlen taucht Matze auf, auch er ist komplett verschwitzt. Alle sind es, aber das gehört dazu. Grinsend imitiert er mit der Hand eine Trinkbewegung, woraufhin Charlotte ihm ein paar Schritte zur Bar folgt.
Aufgrund der Lautstärke bleibt er bei der Zeichensprache und deutet mit Daumen und Zeigefinger die Größe eines Schnapsglases an, was sie mit einem Nicken bejaht. Matze wiederholt die Geste bei der Barkeeperin und deutet auf eine leere 2cl-Flasche eines braunen Kräuterlikörs, die just auf der Theke hinterlassen wurde. Das Feierelixier der Szene. Wenige Sekunden später stehen zwei volle Miniaturflaschen vor ihnen. Auf dem grünen Glas glitzern Eiskristalle – die perfekte Temperatur. Er legt ein Fünfmarkstück daneben und lässt den Rest als Trinkgeld liegen.
»Alter, wie dieser Typ schon wieder abgeht!«, schreit er.
»Der ist so ultrakrass, ich kann nicht aufhören zu tanzen!«
Sie öffnen die Drehverschlüsse, werfen die Deckel auf den Boden, stoßen an und kippen in einem Zug ab. Der eiskalte Likör läuft ihnen brennend die Kehle hinunter. Im Magen angelangt, breitet er sich warm aus und steigt von dort direkt zurück in den Kopf.
»Auf, Lottsche, lass mal zu den anderen gehen!«
Leichtfüßig schlängeln sie sich an den repetitiven Bewegungen der Tanzenden vorbei. Auf ihrem Stammplatz rechts neben der DJ-Kanzel treffen sie Franzi, Phil und Flo. Alle strahlen.
»Ey, die Wishmountain hat mich gerade so weg-ge-flasht! Das war eben wie bei einem Indianerstamm!«, brüllt Charlotte in Flos Ohr.
»Ha! Die geben sich Meskalin und wir fetzen uns Teile!«, lacht er und pumpt seinen Arm zum Beat in die Höhe. Sein Kiefer schert beim Sprechen aus wie der Anhänger eines Autos beim Spurwechsel, dazu wandert ein Kaugummi über seine großen weißen Zähne.
»Unser Schamane ist Pierre und unsere Religion ist Techno!«, schiebt er grinsend hinterher.
Flo ist mit seinem Gesichtsgulasch nicht allein. Das Spektrum an Entgleisungen nach dem Konsum von Ecstasy ist breit gefächert. Neben diesem Kiefer-Workout sind Augenflattern, Zähneknirschen und Glotzen symptomatische Erkennungsmerkmale. In den meisten Fällen sieht es einfach nur grotesk aus und ist eine gängige Nebenwirkung. Wer in solch einem Zustand unbegleitet unterwegs ist, wird ständig von anderen gefragt, ob alles in Ordnung ist. Es wird Wasser angeboten oder frisches Obst besorgt, das auf den Theken steht oder von durch den Club streifenden Mitarbeitenden verteilt wird. Man kümmert sich umeinander.
Franzi zerrt ein zerknautschtes Zigarettenpäckchen aus der Gesäßtasche ihrer weit ausgestellten Jeansschlaghose und streckt es Charlotte entgegen.
»Wo warst du denn die ganze Zeit? Wir haben dich vermisst! Geht’s dir gut?«
»Mir geht’s saugut!«, beginnt sie, während sie versucht, eine Zigarette aus dem Päckchen zu popeln. »Ich bin mit Henri im Chill-out versackt … DJ Fish am Deck, da kommste nicht mehr weg!«
Sie lachen über den Reim, der sich immer wieder bewahrheitet.
»Die Laberbacke hat einen Spruch nach dem anderen rausgehauen, ich habe mich nur weggeschmissen! Als Pierre angefangen hat, standen wir da vorne!«, ergänzt Charlotte schreiend und deutet auf den soeben verlassenen Platz.
»Da haben wir dich gerade entdeckt und Matze ist sofort losgeflitzt, um dich zu holen! Schön, dass du wieder bei mir bist!«, ruft Franzi und drückt ihre beste Freundin an sich.
Dann hält sie die Schachtel in Richtung der Jungs. Matze und Phil greifen zu, nur Flo schüttelt den Kopf. Und kiefert.
»Wo ist Henri denn?«, will sie noch wissen.
»Der ist vor einer Ewigkeit aufs Klo und blubbert jetzt wahrscheinlich da alle zu!«
»Hä? Der verpasst doch Pierre!«
Eine Platte von Richie Hawtin beendet ihr Gespräch, denn sie müssen tanzen!
Der Technopionier aus Übersee spielte, als sie zum ersten Mal im Stammheim waren. Diese Nacht vom 11. September 1999 werden sie nie vergessen. Sofort spürten sie, dass dieser Technoclub anders ist als andere. Der Sound, die Deko, die Menschen, die ganze Atmosphäre ist unvergleichlich. Es liegt etwas in der Luft und alle scheinen das zu spüren. Mehr noch: Es ist ihnen bewusst, dass sie selbst Auslöser und Teil des Ganzen sind. Die Gäste kommen aus allen Schichten der Gesellschaft. Reich tanzt mit Arm, Jung mit Alt, Dumpfbacke mit Intelligenzbolzen, Pornomaus mit Computerfreak. Das Publikum erinnert an eine Horde vor Wonne jauchzender Kinder, und die ganze Nacht herrscht ein Gewusel wie auf einem Abenteuerspielplatz – einem nicht jugendfreien Abenteuerspielplatz. Sie schütteln sich den Ballast des Alltags aus den Knochen, rennen von A nach B, vom Big Floor ins Foyer, vom Bistro und den Toiletten ins House Café, vom Chill-out ins Treppenhaus und runter zum Parkplatz. Die Party ist überall. Es wird wasserfallartig gequatscht und sich seines Lebens gefreut. Man genießt den Augenblick, den Rausch und den Hedonismus.
Das Stammheim ist eine Parallelwelt, die jedes Wochenende ihre Pforten öffnet. Ihre Schöpfer bereiten den Boden für diesen kunterbunten Trubel mit verrückten Comic-Flyern und einem unverwechselbaren Humor. Sie bringen die Leichtigkeit des Lebens auf den Punkt und treiben es selbst auf die Spitze.
Charlotte zieht ihr graues Handy aus der Bauchtasche, die sie sich diagonal um den Oberkörper geschnallt hat. Es ist 8:47 Uhr. Warum muss die Zeit hier immer so rasen?
Eine ungelesene SMS von Phil um 5:32 Uhr: »Wo steckst du?«
»Sorry, jetzt erst gesehen!«, schreit sie ihm zu und zeigt auf das gelblich glimmende Display.
Phil lächelt und legt seinen Arm um Charlotte. Eine Woge der Liebe erfasst sie, wie bei jeder zärtlichen Geste von ihm.
Als Charlotte an diesem Sonntagmorgen mit ihren besten Freunden auf ihrem Platz steht, ihr Lieblings-DJ spielt und ihr das Glück aus allen Poren strömt, fühlt sie es wieder: Hier bin ich da-heim. Hier bin ich unter Gleichgesinnten und wir sind in unserer Welt.
Am liebsten würde sie die Zeit anhalten, damit dieser wunderschöne Augenblick niemals vergeht.
Dann reißt sie das vertraute Blubbern von »Soda Stream« aus ihren Gedanken. Wie immer gibt es kein Halten mehr, wenn diese Platte von Stefan Küchenmeister läuft. Charlotte kann nicht widerstehen und löst sich jubelnd aus Phils Arm. Der pfeift dreimal auf und fängt ebenfalls wieder an zu tanzen.
Kurz darauf wird sich alles verändern.
»Boah! Ich kann es nicht mehr erwarten, bis ich endlich meinen Lappen habe«, stöhnt Charlotte, während sie sich auf den Beifahrersitz wirft. »Die Fahrschule hat sich wieder gezogen wie Gummi. Das ist ja echt noch langweiliger als Berufsschule. Und das soll was heißen.«
»Meine liebe Charlotte«, setzt Franzi gespielt mahnend an, »da müssen wir alle durch. Und pass bloß immer gut auf, sonst verkackst du am Ende noch die Prüfung. Die Fragen sind teilweise echt fies.«
Charlotte zündet sich eine Zigarette an und brummt zustimmend, dann kurbelt sie das Fenster ein paar Zentimeter nach unten und pustet den Rauch hinaus. Es ist nasskalt an diesem Mittwochabend, die Temperatur liegt nur knapp über dem Gefrierpunkt. Franzi fädelt konzentriert den roten Kombi ihrer Mutter in den laufenden Verkehr ein. Sie hat seit drei Monaten ihren Führerschein und nutzt jede Gelegenheit, eine Runde zu drehen.
»Fluppe?«
»Na logen.«
Charlotte reicht ihr die brennende Zigarette und steckt sich eine neue an.
»Vielen Dank für den angelutschten Filter, Madame!«
»Gern geschehen.«
Die beiden sind seit dem Kindergarten unzertrennlich. In der Schule saßen sie ab Tag eins nebeneinander, nachmittags tollten sie auf dem Spielplatz herum, rissen sich die Knie beim Rollschuhfahren auf und übernachteten beieinander. Ihren einzigen Streit hatten sie in der zweiten Klasse, als Franzi versehentlich Charlottes Lieblingspuppe den Kopf abriss.
Gemeinsam durchlebten sie die ersten Schmetterlinge im Bauch und trockneten sich ihre Tränen bei Liebeskummer.
Mit fünfzehn fingen sie an, klammheimlich Zigaretten aus dem Päckchen von Franzis Mutter zu mopsen und wurden zu ambitionierten Raucherinnen. Ihre Eltern wissen mittlerweile davon und akzeptieren es missbilligend.
Nachdem die Freundinnen den Geruch des Erwachsenseins inhaliert hatten, ließ auch der erste Alkoholschwips nicht mehr lange auf sich warten. Als die Jungs ihrer Clique mit dem Kiffen anfingen, probierten sie auch das. Bei einem ihrer ersten Besäufnisse tranken sie süßen Fusel und zogen an einem kreisenden Joint. Charlotte nahm einen tiefen Zug, bekam einen Hustenanfall und hing kurz darauf kotzend über der Kloschüssel. Franzi hielt ihr die Haare aus dem Gesicht und lachte.
Wie alle normalen Teenager rebellierten die beiden gegen ihre Eltern, indem sie Klamotten trugen und Musik hörten, die Erwachsene furchtbar finden. In der Hochphase der Pubertät hingen sie am liebsten mit ihren Schulfreunden ab und vertrieben sich die Zeit mit shoppen (meist die Mädels), zocken (meist die Jungs), Alkohol trinken und rauchen (alle). Wenn jemand sturmfrei hatte, wurde dort gefeiert, das war ein ungeschriebenes Gesetz. Bei diesen Gelegenheiten sammelten sie erste sexuelle Erfahrungen, nahezu jede hatte mal was mit jedem. Meist blieb es beim Knutschen und Fummeln auf diesen Partys, zum Sex kam es erst in den Beziehungen, die daraus entstanden. Auch Charlotte war mit zwei der Jungs jeweils für ein paar Monate zusammen und wurde von einem entjungfert.
Aus dem Radio dudeln die ersten Töne von Liquidos Dauerbrenner »Narcotic« und Franzi dreht die Lautstärke hoch. Mit dem Einsatz der Gitarren steigen beide in den Song ein: Charlotte wippt energisch mit dem Kopf, was fast schon als Headbanging durchgehen könnte, Franzi trommelt auf das Lenkrad, ohne dabei den Verkehr aus den Augen zu verlieren. Den Refrain singen sie laut und schief mit: »I don’t mind, I think so, I will let you go!«
Charlotte liebt Musik, mittlerweile vor allem Rock und Alternative. Ihre Leidenschaft entfachte mit etwa zehn Jahren, als sie im Auto »Purple Rain« von Prince dermaßen ergriff, dass ihr Tränen in die Augen schossen.
Von da an interessierte sie im Fernsehen nur noch MTV Europe und etwas später der neue Sender VIVA. Seit MTV Germany 1997 on air ging, ist das ihr unangefochtener Lieblingssender.
Nach dem Schlüsselerlebnis mit Prince legte sie die Micky-Maus-Hefte beiseite und griff nur noch zu BRAVO und Popcorn. Schon bald darauf war ihr Kinderzimmer tapeziert mit den darin enthaltenen Postern, von denen so manche Knickfalten mitten durch die Gesichter der Stars verliefen und deren Ausdruck unvorteilhaft verzerrten.
Heute hängen nur noch zwei große Poster von The Doors und Nirvana neben Postkarten, Fotos und Kritzeleien von ihren Schulfreunden an den Wänden. Die hochwertigen Plakate von den Bands um Jim Morrison und Kurt Cobain hat sie aus der Plattenkiste, dem kleinen Musikladen in der Altstadt. In dem Geschäft hängt der Muff mehrerer Jahrzehnte, es ist vollgestopft mit Vinyls, CDs und Kassetten aller Genres. An den Wänden hängen Plakate von Gruppen, die Chef Bernie gerne hört. Das sind vor allem Legenden aus den frühen Jahren der Rockmusik: Pink Floyd, Rolling Stones und so weiter. Schon als Kind vertrieb sich Charlotte dort gerne die Zeit, das Stoffgeschäft ihrer Eltern befindet sich in direkter Nachbarschaft.
Nach einer etwa zehnminütigen Fahrt stoppt Franzi vor Charlottes Haus und die Bremsen des alten Kombis ächzen unter dem feuchten Wetter.
»Danke für’s Holen, bist die Beste. Magst du noch mit reinkommen?«
»Ich muss leider los, Ma braucht das Auto.«
»Sag bloß, Angie hat ein Date!«
»Schön wär’s. Nur ein Klassentreffen.«
Franzis Mutter geht selten aus, eigentlich nie. Ihre Feierabende verbringt sie mit ihrem treuen Begleiter Mister Rotwein und zappt sinnlos die TV-Kanäle hoch und runter. Seit Franzis Vater vor fünfzehn Jahren mit einer Kollegin durchgebrannt ist, hat sie keinen Mann mehr in ihr Leben gelassen. Franzi hat keinen Kontakt zu ihm, er hat eine neue Familie und kein Interesse an ihr. Charlotte findet das traurig. Nicht nur wegen Franzi, sondern auch wegen Angie. Die Dreizimmerwohnung ein paar Straßen weiter ist wie ein zweites Zuhause für sie.
»Dann sehen wir uns morgen. Um sieben bei dir?«, will Charlotte wissen.
»Jep. Weißt du schon, was du anziehst?«
»Vielleicht das neue Oberteil?«
»Gute Idee, bloß nicht geizen mit den Reizen. Er kommt ja, oder?«
»Ziemlich sicher, aber ich simse ihm morgen Mittag nochmal.«
»Es muss endlich was laufen zwischen euch. Phil will auch was von dir, das sieht doch ein Blinder mit Krückstock.«
Bei diesen Worten und dem Gedanken an ihren ehemaligen Klassenkameraden Phillip wird Charlotte heiß. In der achten wurden sie Freunde, in der zehnten hat es bei ihr gefunkt. Auf einer Schulparty kurz vor dem Abschluss standen sie in der Raucherecke und tranken heimlich Schnaps. Als er ihr den Flachmann reichte, schaute er ihr so tief in die Augen wie nie zuvor. Ein Blitz schlug bei Charlotte ein und die Welt stand in dieser Sekunde still. Warum hat sie ihn damals nicht einfach geküsst? Bis heute hat sie sich nicht getraut.
»Hoffentlich hast du recht ...« Charlotte drückt Franzi einen Kuss auf die Backe, steigt aus und winkt zum Abschied.
»Logen hab ich recht«, flötet Franzi hinterher, bevor die Beifahrertür ins Schloss fällt.
Charlottes Elternhaus steht am Stadtrand in einer Wohnsiedlung, die Anfang der Siebzigerjahre erschlossen wurde. Das Einfamilienhaus ist der deutsche Klassiker einer Kleinstadt: zwei Etagen mit Dachboden und Keller, eine Garage, ein kleiner Garten vor und ein etwas größerer hinter dem Haus, der von blickdichten Hecken umgeben ist.
Anfangs wohnten die Großeltern im Erdgeschoss und Charlotte mit ihren Eltern im ersten Stock. Ihr Tod vor zehn Jahren – die Oma folgte dem Opa nur sechs Monate später – traf Charlotte hart. Plötzlich fehlten zwei wichtige Bezugspersonen und das Haus war schrecklich leer. Zu anderen Verwandten hat sie keinen Kontakt.
Ihre Eltern zogen nach unten, sie blieb in ihrem Kinderzimmer und hat die obere Etage seither für sich allein; die benachbarten Räume dienen bloß noch als Rumpelkammern und Aktenlager.
Ihr Zimmer ist klein, aber fein. Es ist möbliert mit einer Jugendzimmerkombi aus hellbraunem Holz mit schwarzen Applikationen: ein breites Bett, ein Kleiderschrank mit Spiegel und ein Regal mit Röhrenfernseher, Büchern und Krimskrams darin.
Das Herzstück ihres Zimmers ist die Musikecke. Eine Stereoanlage mit Plattenspieler, Radio, CD-Player und Doppelkassettendeck, flankiert von zwei großen Boxen, auf einer davon steht eine grüne Lavalampe. Drumherum hat sie einen Berg von CDs und Kassetten aus der Plattenkiste angehäuft. In der Mitte ihres Zimmers steht ein blauer aufblasbarer Sessel und verdeckt praktischerweise einige Teppichflecken aus ihrer Kindheit.
Den kleinen Balkon mit Blick auf den Garten nutzt sie nur zum Rauchen, wovon ein immer überquellender Aschenbecher zeugt.
Unter ihrem Zimmer befindet sich das rustikal gemütliche Wohnzimmer, das mit der offenen Küche verbunden ist. Eine Fensterfront mit Schiebetür führt in den Garten hinaus, in dessen hinteren Teil eine Hollywoodschaukel vor sich hin rostet. Daneben hat normalerweise eine Sonnenliege ihren Platz, die ist aber zu dieser Jahreszeit zusammen mit den Sitzmöbelpolstern im Keller eingewintert. Direkt unter Charlottes Balkon stehen ein eingehauster Grill sowie ein Metalltisch mit sechs Stühlen. Die dreiköpfige Familie grillt jedoch selten, die Eltern haben wenig Zeit. Wenn Birgit und Manfred frei haben, erholen sie sich vor dem Fernseher von den arbeitsreichen Tagen im Stoffgeschäft, das sie mit Leidenschaft in dritter Generation führen. Schröder Stoffe, benannt nach dem Familiennamen, ist Dreh- und Angelpunkt ihres Lebens, Charlotte hat die halbe Kindheit dort verbracht. Trotz des auf der Strecke gebliebenen Privatlebens ist das Verhältnis zu ihren Eltern gut. Erst recht nach ihren Teenagerjahren, da war sie ätzend drauf. Das weiß sie heute.
Birgit und Manfred setzen voraus, dass ihre Tochter das Geschäft in ein paar Jahren übernimmt. Doch will sie das? Als Kind liebte sie es, auf die großen Stoffballen zu klettern, sich dazwischen zu verstecken und Höhlen zu bauen. Heute nervt es, wenn sie aushelfen muss.
Aber solange sie keinen besseren beruflichen Plan hat, lässt sie ihre Eltern in dem Glauben. Mit ihrer Ausbildung zur Bürokauffrau könnte sie den Laden theoretisch übernehmen. Theoretisch.
Da Franzi ebenso planlos ist, macht sie die gleiche Ausbildung wie ihre beste Freundin. Zwar nicht im selben Betrieb, aber immerhin teilen sie sich in der Berufsschule wieder einen Tisch.
– - –
Freitag ist Charlottes liebster Arbeitstag. Es ist nicht nur der letzte einer Woche, sondern auch der kürzeste: Schon um dreizehn Uhr fällt in dem mittelständischen Handelsunternehmen der sprichwörtliche Stift. Montag und Mittwoch sind die härtesten Tage, da muss sie von acht bis siebzehn Uhr ins Büro. Zwar gehen ihr die Aufgaben leicht von der Hand und die Kollegen sind nett; Spaß macht ihr der Job aber nicht. Im zweiten Lehrjahr erledigt sie vieles selbstständig und fühlt sich wie eine vollwertige, aber sehr schlecht bezahlte Arbeitskraft. Die Berufsschule am Dienstag und Donnerstag ist eine willkommene Abwechslung zum monotonen Schreibtischalltag. Fünf Tage die Woche von früh bis spät Bestellungen bearbeiten, mit Kunden telefonieren, Lieferscheine und Rechnungen schreiben, das will sie sich heute noch nicht vorstellen. Das hat noch Zeit bis zur Abschlussprüfung im nächsten Jahr.
Gut gelaunt steigt sie um kurz nach eins in den Bus nach Hause. Schon am Schreibtisch hat sie sich die Kopfhörer in die Ohren gestöpselt und hört über ihren Discman »Mechanical Animals« von Marilyn Manson. Das Album läuft bei ihr seit seinem Erscheinen im September auf Repeat, angefixt vom kunstvoll dystopischen Video zur Single »The Dope Show«, das auf MTV in Heavy Rotation lief.
Charlotte plumpst auf einen freien Sitz, kramt ihr Handy hervor und schickt eine SMS an Phil: »Sehen wir uns später?«
Die Antwort kommt prompt, er hat freitags schon um zwölf Schluss.
»Auf jeden. Halb neun vorm Eingang? Steff ist auch am Start.«
»Cool. Freu mich ;-)«
Charlotte lächelt zufrieden und gleitet in einen Tagtraum ab, in dem sie Phil wild entschlossen an sich reißt und leidenschaftlich küsst. Als seine Hände unter ihr Shirt gleiten, erreicht sie ihre Haltestelle und muss aussteigen.
Zuhause angekommen schrillt das Festnetztelefon, es ist ihre Mutter aus dem Laden: »Im Kühlschrank steht der Rest Bolognese von gestern. Wann gehst du heute Abend los?«
»Alles klar, Mom. Ich gehe um sieben zu Franzi.«
»Dann sehen wir uns vorher nicht mehr. Ihr fahrt aber nicht mit Angies Auto?«
»Natürlich nicht, sonst kann Franzi ja nichts trinken.«
Das wollte die Mutter hören. »Gut. Soll euch Papa heute Nacht abholen?«
»Nein, wir nehmen den Bus. Falls wir den letzten verpassen, rufe ich an. Okay?«
»Dein Vater ist ja zum Glück eine Nachteule. Und trink bitte nicht so viel, man kann auch ohne Alkohol Spaß haben.«
Sie wird nicht müde, diesen Satz immer und immer wieder zu wiederholen. Wohl wissend, dass ihre Tochter die Augen daraufhin verdreht.
»Kennst uns doch. Ciao, bis später!«
Charlotte legt auf und gibt sich ihrem angefangenen Tagtraum hin.
Ein paar Stunden später macht sie sich mit Franzi auf den Weg zur Musik, wie Veranstaltungen umgangssprachlich genannt werden, auf denen Coverbands in Turnhallen oder Festzelten Rock-Hits aus allen Jahrzehnten spielen, seitdem es Rock gibt. Schlimmstenfalls auch Schlager, doch solche Bands meiden Charlotte und ihre Freunde. Nach dem Konzert folgt die Rock-Disco, bei der ein DJ tanzbare Stücke und aktuelle Songs spielt.
In ihrem Heimatstädtchen sind Events dieser Art ein Highlight, und es steht außer Frage, dort hinzugehen – auch, wenn man wie Phil und Steff Hip-Hop hört. Es ist eine erfrischende Abwechslung zum sonstigen Ausgehangebot, das aus Kneipen, Bars, Kino, Hauspartys und Dorffesten besteht.
Charlotte hat den Plan gefasst, Phil heute zu verführen. Dafür hat sie sich extra in Schale geworfen und nur die halbe Portion Bolognese gegessen, um schlanker auszusehen.
Ihr ausgeklügeltes Outfit ist momentan noch unter ihrem schwarzen Kunstpelzmantel verborgen, dessen vermeintlicher Glamour-Faktor jäh durch ihre Docs mit abgewetzten Stahlkappen konterkariert wird. Das dunkelblaue Leder ist vom Kicken gegen das Trottoir stark in Mitleidenschaft gezogen – eine schlechte Angewohnheit vom ständigen Warten auf den Bus.
Hoffentlich bekommt Phil gleich große Augen, wenn sie drinnen ihren Mantel abstreift. Ihre blaue Lieblingsjeans bringt ihren Po ohnehin besonders gut zur Geltung. Als Zauberwaffe trägt sie darunter einen schwarzen Tanga, den sie gekonnt hervorblitzen lassen wird. Ihr zweites Ass im Ärmel ist das neue schwarze Samtoberteil. Hauteng und am Ausschnitt durchsichtig, lässt es tief blicken, ohne nuttig zu wirken.
Wie jeden Tag stecken mehrere Silberringe mit ethnischen Mustern und türkisfarbenen Steinen an ihren Fingern. Auf ihrem Dekolleté liegt ein passendes Silberkettchen mit einem Federanhänger, an den Ohren hängen silberne Creolen. Charlotte liebt indigenen Schmuck und ist fasziniert von der Kultur der Native Americans. Dank der dick aufgetragenen Wimperntusche leuchtet das Blau ihrer Augen noch etwas mehr als sonst. Die Kombination mit ihrer blassen Haut und ihrem braunen, stracken Haar verleiht ihrem Gesicht den Touch einer Porzellanpuppe.
Während Charlotte eindeutig dem Rock ’n’ Roll-Style Heroin Chic anhängt, ist Franzi ein Girlie mit gesundem Solariumteint und viel Schminke. Täglich legt sie Mascara und Eyeliner, glitzernden Lidschatten und glänzenden Lipgloss auf. Dazu glitzert ein Stecker in ihrer Stupsnase, passend zum Modeschmuck an ihren Fingern, Ohren und Armen mit Strass und rosafarbenen oder weißen Steinchen. Ihr hellbrauner Bob ist blond gesträhnt und passt farblich gut zu ihren hellbraunen Augen. Am liebsten trägt sie weite Baggypants und hautenge Tops, mädchenhaft und figurbetont, wie es Popstars wie Gwen Stefani und VIVA-Moderatorinnen vormachen. Charlotte ist hingegen ein MTV-Mädchen.
Heute Abend hat sich Franzi in ihr knallblaues Kleid und ihre hellbraunen Schürstiefel geworfen, die den gleichen Farbton haben wie ihre Pufferjacke. Das Kleid ist knapp und unterstreicht ihre gute Figur: schlank mit leichten Kurven an den richtigen Stellen. Charlottes Statur ist mit einem Hauch zu viel auf den Rippen nicht ganz so makellos. Beide sind hübsch auf ihre eigene Art, doch auf die klassisch schöne Franzi fahren mehr Jungs ab. Sie ist kein Kind von Traurigkeit und hat mit dem anderen Geschlecht weit mehr Erfahrung als Charlotte – was jedoch auch an Phil liegt, denn seit der Blitz bei ihr einschlug, hat sie nicht mal mehr geknutscht.
Um kurz nach halb neun treffen die Freundinnen vor der Turnhalle ein, wo sich Phil und Steff bereits bei einer Zigarette die Wartezeit vertreiben.
Stefan war in ihrer Parallelklasse und wurde durch das gemeinsame Interesse an Hip-Hop und Graffiti Phils bester Freund. Im Unterricht kritzelten sie in ihre Sketchbooks und zeigten sich in der Pause ihre Werke. Letzten Sommer waren sie sogar einmal nachts illegal sprühen. Der blonde Steff ist optisch ein Hip-Hopper aus dem Bilderbuch. Wie immer trägt er Baggys mit klobigen Skaterschuhen und aus seiner Snowboardjacke quillt die hellgraue Kapuze seines dicken Pullovers.
Bei Phils Anblick gerät Charlottes Blut in Wallung. Mit seinen kinnlangen braunen Haaren, seinem rot-karierten Holzfällerhemd und seiner weiten Bluejeans erinnert er an Jared Leto – dem heißesten Typen des Universums – aus der Serie Willkommen im Leben. Modisch liegt Phil zwischen Hip-Hop und Grunge, der rockige Einfluss kommt von seinem älteren Bruder Paul.
Charlotte stellt sich auf die Zehenspitzen und küsst ihn zur Begrüßung zärtlich auf die Wange. Er riecht nach seinem Aftershave, das sie so gern mag.
»Hi«, haucht sie verführerisch.
»Hey, schöne Lotte. Gut siehst du aus«, lächelt Phil mit seinen dunkelbraunen Augen. Es kribbelt in ihr.
»Gehen wir rein? Ist arschkalt«, schlottert Franzi, nachdem sich alle begrüßt haben.
»Auf jeden«, bejaht Phil.
Nachdem sie acht Mark an der Tür gezahlt haben, geben sie ihre Jacken an der provisorischen Garderobe ab, die im Vorraum der Turnhalle aus Bänken mit Kleiderhaken aus der Umkleide sowie einem Biertisch aufgebaut wurde. Charlotte streckt sich beim Überreichen ihres Mantels über den Tisch und lässt gekonnt ihren Tanga blitzen.
In der Turnhalle steht links eine Bühne, die genügend Platz für die Band und später den DJ bietet. Es dudelt Rockmusik vom Band, die jedoch vom Stimmengemurmel der bereits gut gefüllten Halle übertönt wird. Die Trennwand zum rechts angrenzenden Vereinsheim wurde geöffnet, dahinter prangt eine wuchtige alte Theke. Der Gastraum ist mit dunklem Holz verkleidet, überall hängen Fotos von Sportlern und der Vereinsfahne in verschiedenen Größen. Glasvitrinen präsentieren verstaubte Pokale und Medaillen aus den Sportarten Fußball, Tischtennis und Geräteturnen.
»Wollen wir Hütchen trinken?«, fragt Charlotte in die Runde.
»Na logen«, schießt Franzi wie aus der Pistole, und Phil ergänzt ein weiteres »Auf jeden.«
»Auf keinsten, davon musste ich letztes Mal übelst reihern«, erinnert sich Steff, »ich nehme ein Bierchen.«
»Selbst schuld, wenn du rotzevoll einen fetten Jolly durchziehst. Da hätte ich auch gekotzt«, amüsiert sich Phil.
Die beiden sind geübte Kiffer, doch an jenem Abend hatte sich Steff überschätzt.
Charlotte ordert und bekommt die Getränke ohne Rückfragen ausgehändigt. Falls es jemand hinter der Bar genauer mit dem Jugendschutz nehmen sollte, kümmern sich Franzi und Steff um die Alkoholbeschaffung. Phil wird im April und Charlotte im Juni volljährig.
Es geht wuselig zu im Gastraum, alle versorgen sich mit Getränken, bevor das Konzert beginnt. Charlotte und ihre Freunde platzieren sich schließlich ein paar Schritte abseits der Bar und stoßen an.
Warum Weinbrand mit Cola Hütchen genannt wird, weiß Charlotte nicht. Vielleicht, weil sich der Alkohol wie ein Hut auf den Schädel pfropft, wenn man zu viel intus hat.
»Ach, guck an, Phillomat auch am Start. Was geht’n? Heute petzen wir einen Schoppen!« Der Bekannte aus Phils Dorf stößt mit ihm an und zieht weiter.
Derweil schiebt sich eine Grundschulfreundin von Charlotte und Franzi zwischen die beiden.
»Ei, Gude, Charly! Das Oberteil hätte ich mir auch fast geholt. Wie läuft’s auf der Arbeit?«
Der Spitzname stammt noch aus Kindertagen. Erst seit Teenagerzeiten wird sie Lotte genannt. Ist cooler.
»Langweilig ohne Ende. Wie ist es bei dir?«
»Aja, Arbeit ist halt Arbeit, gell.«
Während sich die drei Mädels oberflächlich darüber austauschen, wo sie sich zum letzten Mal gesehen haben, tritt ein schlaksiger Typ neben Steff und quatscht ihn an: »Steff, Alter, alles fit? Sag mal, hast du was zu buffen am Start?«
»Digger, ich habe selbst nur einen Krümel.«
»Kannst du was locker machen?«
»Ne, sorry, aber kannst später mal ziehen.«
»Yo, fett. Sag Bescheid, Alter.«
»Sicher, Digger.«
»Immer dieselbe Leier«, raunt Phil, als der Typ verschwunden ist. Steff winkt genervt ab.
Weitere Bekannte, Freunde und Schulkameraden kreuzen sie auf dem Weg in die Halle. Geplapper und Gelache nehmen ihren Lauf, neueste Gerüchte und Geschichten werden sich zugerufen: Wer hat oder hatte was mit wem am Laufen, wer war total besoffen und so weiter. Um kurz nach neun verstummt die Hintergrundmusik und das Licht wird gelöscht. Spotlight auf die Bühne. Ein paar Pfiffe ertönen und lösen Applaus aus.
Die vier Freunde verabschieden sich von ihren Gesprächspartnern mit »Bis denne!« oder anderen unverbindlichen Floskeln und schlängeln sich durch das Publikum in die Mitte der Turnhalle.
Die Band hat sich inzwischen auf der Bühne postiert: ein Schlagzeuger, ein Bassist, ein Gitarrist, ein Keyboarder, ein Sänger und eine Sängerin.
»Hallo! Wir freuen uns, heute hier sein zu dürfen«, röhrt der Mittdreißiger mit seiner kräftigen Stimme ins Mikrofon.
»Unser erstes Stück ist von den großartigen U2!«
Das bekannte Riff von »Where The Streets Have No Name« erklingt. Anders als im Original singen sie den Song im Duett. Wie fast alle Songs.
Charlotte wippt emotionslos mit, mit U2 kann sie nicht viel anfangen, und schielt zu Phil. Franzi und Steff stehen zwischen ihnen und rufen sich etwas Unverständliches ins Ohr. Sie schiebt sich an den beiden vorbei zu ihrem Schwarm, stößt mit ihm an und lächelt hübsch. Als sein Blick zurück nach vorne schweift, tut sie es ihm gleich. Nur nichts überstürzen, langsam anpirschen.
Beide Sänger haben starke Stimmen, und Charlotte ist sich sicher, dass sie das Zeug für kommerziellen Erfolg hätten, wenn sie eigene Songs schreiben würden. Ihr Cover-Repertoire bietet für jede Altersklasse und jeden Geschmack etwas, vom Alt-68er bis zum Teenie, vom Rockklassiker bis zum aktuellen Pop-Hit. Bernie ist sicher auch hier.
Charlotte überlegt, wie ihr nächster Schritt aussehen könnte, und versucht, Phils Verhalten zu deuten. »Schöne Lotte« hat er gesagt, das ist doch schonmal was. Sie muss ihn dazu bringen, den ersten Schritt zu machen. Ihre Angst ist zu groß, abgewiesen zu werden.
Die Lieder vergehen und die vier wippen mal mehr, mal weniger mit. Ihre Gläser sind schnell leer. Bei »Summer of 69« besorgen sich die Mädels Nachschub. Das ist Elternmusik.
Ein paar Momente später steht Franzi an der Bar und dreht sich zu ihrer Freundin um: »Hütchen?«
»Aber so was von Hütchen.«
Während sie auf die Drinks warten, kommen Phil und Steff.
»Wir gehen einen dübeln«, flüstert Phil in Charlottes Ohr und sie atmet eine Prise seines Duftes ein. Kurz überlegt sie mitzugehen, entscheidet sich aber dagegen. Erstens darf man Gläser nicht mit nach draußen nehmen und zweitens ist es zu kalt ohne Jacke. Sie heizt sich derweil lieber weiter ein. So langsam wird sie locker, Weinbrand-Cola knallt.
»Okay. Dann treffen wir uns gleich wieder vorne?«
»Auf jeden, bis gleich.«
Die Jungs verschwinden Richtung Ausgang und Franzi kommt mit dem Hütchen.
»Gehen die einen schüren?«
»Ja. Willst du?«
»Nö, lass uns wieder vor gehen.«
Der Weg zurück wird zum Balanceakt durch das engmaschige, wippende Publikum. Bloß nichts verschütten. Als sie ungefähr auf ihrem vorherigen Platz ankommen, orgelt »Light My Fire« von The Doors los.
»Wohoo!«, jubelt Charlotte und singt jedes Wort mit. Sie ist beschwipst.
Mit dem zweiten Glas werden alle Songs tanzbar. Charlotte bereut kurz, wenig gegessen zu haben, aber bereits ein paar Schlucke später ist es ihr egal. Party!
Mit dem Rausch wächst der Durst nach mehr, kurze Zeit später wird das dritte Hütchen geordert und der Gang der Freundinnen immer wackeliger. Auf dem Rückweg in die Halle läuft Charlotte das süße Gesöff über die Hand; sie schmiert es an ihrer Jeans ab und hinterlässt dunkle Spuren darauf.
Der Alkohol macht sie selbstbewusst und spitz. Sexy schwingt sie ihre Hüften und wartet auf Phil, doch als die Band ihr letztes Stück ankündigt, ist er immer noch nicht zurück.
»Lass mal noch’n Hütchen holen, bevor alle zur Theke rennen«, lallt sie und zieht Franzi in den Gastraum.
An der Bar wird bereits geschubst und gedrängelt. Nach diversen Nahkampferfahrungen stößt Charlotte zurück zu Franzi, die gerade mit ihrem Nachbarn plaudert. Er ist zwei Jahre älter und Franzi war lange total verschossen in ihn. Mit heißen Blicken blitzt sie ihn an und er scheint nicht abgeneigt zu sein, obwohl er eine Freundin hat.
»Da seid ihr ja«, hört Charlotte endlich Steffs Stimme. »Alter, wir haben uns massiv festgelabert und dauernd irgendwen getroffen. Ist das Konzert schon vorbei oder was?«
Charlotte lacht, Steff grinst breit.
»Du Vogel! Wo ist Phil?«
»Auf dem Klo.«
»Oh, da muss ich auch hin. Kannst du bitte kurz auf mein Hütchen aufpassen? Darfst auch gerne mal nippen!«, zwinkert sie frech.
Die Schlange vor der Frauentoilette ist lang. Charlotte seufzt ungeduldig und trippelt von einem Bein auf das andere, um den Blasendruck zu lindern.
»Ey, Lotte, schon gehört? Der Axel hat die Lehre geschmissen!«, blökt es plötzlich von hinten. Eine ehemalige Mitschülerin.
Die beiden umarmen sich überschwänglicher, als sie es nüchtern je getan hätten. Charlotte kann sich sogar nicht mal mehr an ihren Namen erinnern. Nur noch an den bösen Spitznamen: Planschkuh wurde sie hinter ihrem Rücken genannt, weil sie mit ihren breiten Schultern und ein paar Pfunden zu viel grobschlächtig wirkt. Teenager können solche Arschlöcher sein.
»Meinst du den komischen Typen mit den fettigen Haaren?«
»Genau der. Mein Bruder arbeitet im gleichen Betrieb. Letztens ist der einfach nicht mehr aufgetaucht. Wie kann man nur so bescheuert sein?«
Charlotte ist das herzlich egal, trotzdem nutzt sie die Gelegenheit, sich von der Warterei abzulenken. Also steigt sie in ein flaches Gespräch über alte Schulkameraden und Lehrer ein.
Nachdem sie endlich auf der Toilette war, eilt sie zurück. Franzi, Steff und Phil lachen gerade lauthals über etwas, der Nachbar ist weg. Die Jungs schauen sie mit kleinen Augen an und Steff reicht ihr das unangetastete Hütchen.
Vor der Bar ist mittlerweile chaotisches Gedränge ausgebrochen. Es ist körperlich zu spüren, wie der kollektive Alkoholpegel steigt, und Charlotte fühlt sich wie ein Schiff im Sturm auf hoher See. Ihr Glas ist schon wieder halb leer und sie fragt sich, ob sie das Hütchen getrunken oder verschüttet hat.
Die vier beschließen, in die Turnhalle zu wechseln, um dem Geschubse zu entfliehen. Doch vorher kämpft sich Steff noch zum Ausschank und holt Bier für sich und Phil sowie weitere Hütchen für die Mädels.
Die Turnhalle gehört mittlerweile den Teens und Twens, die älteren Semester haben entweder ein Plätzchen in der Gaststätte gefunden oder sich verabschiedet.
Die Songauswahl des Rock-DJs ist partytauglich: »Song 2« von Blur, »Jump Around« von House of Pain, »Sabotage« von den Beastie Boys. Alles Banger. Bei Nirvanas »Smells Like Teen Spirit« brennt die Hütte. Steff und Phil verschütten ihr Bier beim Pogen, Charlotte ist sturzbesoffen.
Franzi unterhält sich mit einem großen Typen mit verwegenattraktivem Gesicht und langen Haaren. In seinem karierten Hemd und seiner zerrissenen Jeans geht er glatt als Frontman einer Rockband durch. Die beiden führen den wohlbekannten Balztanz auf, sie sind scharf aufeinander. Bei »Closer« von Nine Inch Nails knutschen sie wild. Das war vorhersehbar.
Phil grinst Charlotte an. Das ist ihre Chance, Angriff! Sie kreist ihre Hüften zu dem expliziten Songtext und bringt ihre Zauberwaffe erneut zum Einsatz, denn nun ist es Zeit für ihr zweites Ass im Ärmel. Sie streckt ihm ihr Dekolleté entgegen, tanzt lasziv und fühlt sich dank Hütchen wie ein Pornostar. Ihr ganzer Körper schreit: »Nimm mich!« Als Höhepunkt ihrer Darbietung kommt sie seinem Gesicht ganz nah und steckt ihm sexy eine Zigarette zwischen die Lippen. Dabei schaut sie ihn so verführerisch an, dass er sie einfach küssen muss.
Doch leider ist Phil gerade überhaupt nicht empfänglich für erotische Schwingungen. Er schaut bekifft aus der Wäsche und ist mit seinem Kopf woanders. Heute ist Steff der fittere von den beiden, er baggert ein Mädchen an, das sie vom Ausgehen kennen.
Charlotte bekommt schrecklichen Frustdurst, der nächste Drink muss her. Ihr Verhalten ist mittlerweile laut und ausufernd. Jemand grapscht ihr heimlich an den Po, aber sie reagiert nicht darauf. Das passiert immer wieder auf Musik, längst hat sie es aufgegeben zu versuchen, einen Schuldigen auszumachen. Der Täter wird ihr sicher nicht entgegentreten und sagen: »Ja, ich habe dir ungefragt an den Arsch gefasst. War geil, oder?«
Als Charlotte von der Bar zurückkommt, sind Franzi und der scharfe Rockertyp weg. Auch Steff ist ein Level weiter. Das Mädel, von dem sie glaubt, dass es Anna heißt, reibt gerade unmissverständlich seinen Hintern an Steffs Schritt.
Neidisch nippt Charlotte an ihrem Hütchen, aber Phil unterhält sich mit einem Kumpel seines Bruders. Was nun? Charlotte will knutschen, verdammt! Und zwar jetzt! Ihr betrunkenes Ich schaltet auf Trotz um: Scheiß auf Phil, rennt hier irgendwo ein potenzieller Kandidat herum? Doch noch ehe sie sich richtig umschauen kann, schnappt Phil ihr Glas und nimmt frech einen großen Schluck. Neue Hoffnung keimt in Charlotte auf, ihr Gehirn schaltet wieder um. Sie wirft sich ihm um den Hals, er packt sie und dreht sich mit ihr im Kreis. Doch leider wird ihr Tagtraum nicht zur Realität, sondern endet fast mit einem peinlichen Sturz! Denn in Charlottes Kopf dreht sich alles: vom Alkohol, vor lauter Liebe und Sehnsucht. Phil ist im Quatschmachmodus und blödelt nur herum. Charlotte macht mit und versucht, das Ruder rumzureißen. Die beiden haben eine Menge Spaß – aber leider nur wie zwei gute Freunde.
Um kurz nach eins geht die Musik aus. Die verbliebenen Gäste buhen und der DJ zuckt hilflos mit den Schultern. Er hat einen strengen Veranstalter im Nacken.
Das viel zu helle Licht geht an und ein bekanntes Bild der Verwüstung offenbart sich. Der Boden ist mit Zigarettenstummeln übersät und den eben noch in schmeichelndes Schummerlicht getauchten Gästen scheint nun eine hässliche Alkoholfratze aus dem Gesicht: die Lider halb geschlossen, die Haut fahl, die Bewegungen grobmotorisch. Schwerfällig schiebt sich der Pulk zur Garderobe. Charlotte und Phil warten, bis sich die Turnhalle etwas geleert hat, bevor sie sich nach ihren verschollenen Freunden umsehen. Steff entdecken sie sofort, er vergnügt sich mit Anna auf der Holzbank vor der Sprossenwand.
»Yo, Steff, kommst du mit oder bleibst du noch?«, stupst ihn Phil an und kennt die Antwort eigentlich schon.
»Digger«, beginnt Steff verschmitzt und schenkt seinem Mädchen ein charmantes Lächeln, »ich bleib noch.«
Anna grinst und winkt. Die beiden grüßen zurück und drehen eine Runde durch die Halle. Charlotte ist wackelig auf den Beinen, ohne Musik macht sie der Alkohol bleiern.
»Wo könnte Franzi denn stecken?«, fragt Phil.
»Hier isse nich’«, lallt Charlotte.
»Die ist bestimmt mit dem großen Typen zugange. Kennst du den?«
»Noch nie gesehen.«
In der Gaststätte wird bereits unter tosendem Geklirre aufgeräumt und nur noch wenige Gäste wollen den Absprung nicht schaffen. Auch hier keine Franzi. Sie prüfen den Vorraum und die Toilettenkabinen. Alle leer. Charlotte wird langsam nervös. Es ist zu kalt, um sich im Freien zu vergnügen. Phil ist bei einer Gruppe Kumpels hängen geblieben, während sich Charlotte nach einem passenden Plätzchen zum Rummachen umblickt. Natürlich! Der Keller. Sie schlüpft unter dem Absperrband vor der Treppe hindurch und wird in der Herrenumkleidekabine fündig.
Der Rocker sitzt breitbeinig auf einer Bank und Franzi rittlings auf ihm. Sie reiben sich pulsierend aneinander und sind voll in Fahrt. Seine Hand hat sich unter ihrem Kleid bis zu ihrer Brust hochgearbeitet und knetet sie energisch. Mit der anderen Hand hat er sich von hinten in die Strumpfhose gegraben, um den Weg zwischen ihre Beine zu suchen. Scheinbar hat er ihn gefunden. Franzi fährt erregt mit beiden Händen durch sein Haar. Sie stöhnen lustvoll und küssen sich mit sehr viel Zunge. Charlotte hält kurz inne und beobachtet die beiden, bevor sie gegen die offen stehende Tür klopft. Die Ertappten schrecken auf und schauen sie mit aufgerissenen Augen an.
»Ach, du bist es!«, ruft Franzi erleichtert.
»Sorry, oben is’ Schluss. Kommste mit?«
Franzi stockt. Sie schaut erst Charlotte und dann den Typen an. Seine Augen flehen, dass sie bleiben soll. Dann trifft sie seufzend eine Entscheidung.
»Wir holen das nach. Ich gebe dir meine Nummer.«
Behutsam führt sie seine Hände aus ihren Klamotten, erhebt sich ungelenk von ihm und zieht sich Strumpfhose und Kleid über den Po. Charlotte bestaunt die amtliche Beule in seiner Hose. Er bemerkt es und sie wird rot.
»So kann ich schlecht unter Leute gehen … Gebt mir kurz«, fordert er entrüstet.
Oben wartet Phil und denkt sich seinen Teil, als die drei aus dem Untergeschoss kommen. Franzi verschwindet mit ihrer Eroberung in der Gaststätte, um Zettel und Stift zu organisieren. Die anderen beiden holen ihre Jacken und warten vor dem Sportverein. Es ist eine kalte, klare Nacht. Charlotte fühlt sich fürchterlich kaputt und ihr ist schlecht. Leidend lehnt sie ihren Kopf an Phils Schulter.
»Soll Paul euch heimfahren?«, fragt er.
»Das wäre toll ...«, sagt sie.
Plötzlich herrscht Aufruhr unweit des Eingangs, zwei Männer brüllen sich an.
»Halt deine Scheißfresse, du Monk!«
»Was willst du überhaupt, du kleiner Penner? Verpiss dich bloß! Aber sofort!«
»Ich polier dir die Fresse!!!«
Phil zieht Charlotte ein paar Meter weg in Sicherheit. Zwei Sekunden später zerschellt eine Bierflasche auf dem Asphalt und die Schlägerei beginnt. Zuerst dreschen die beiden Streithähne mit blinder Wut aufeinander ein, schnell mischen weitere mit. Wenige Augenblicke später ist nicht mehr erkennbar, wie viele Personen involviert sind und wer auf wen einschlägt. Zwei Frauen versuchen, schrill schreiend zu schlichten. Alle sind total besoffen. Was für eine erbärmliche Szenerie.
Endlich fährt Phils Bruder vor. Wie gerufen verlassen im gleichen Moment Franzi und der Rocker das Sportlerheim. Sie umschiffen die kloppende Meute und verabschieden sich mit einem leidenschaftlichen Kuss. Er schaut ihr bedröppelt nach, wie sie ins Auto steigt und davonfährt.
– - –
Charlotte schlägt die Augen auf und ist orientierungslos. Sie liegt in ihrem Bett, das ist schon mal gut. Ihre Klamotten sind auf dem Teppich verstreut, auf Abschminken und Zähneputzen hat sie vor dem Schlafengehen anscheinend verzichtet, wie die Wimperntusche auf ihrem Kissen und der Weinbrand-Geschmack auf ihrer pelzigen Zunge verraten. Igitt. Langsam setzt sie sich auf, denn ihr Kopf pocht fürchterlich und das Zimmer dreht sich.
Verdammter Suff!
Ihr fehlen Erinnerungen vom Abend zuvor und ihr wird schlecht. Zum Glück liegt ihr Handy in greifbarer Nähe. Hat sie Phil gestern noch peinliche SMS geschickt? Hat sie nicht. Gut. Dann tippt sie eine Nachricht an Franzi: »Habe ich mich blamiert?«
Als Antwort ruft ihre Freundin an und die schrill piepsende Klingeltonmelodie schmerzt in Charlottes Hirn. Nach ein paar beruhigenden Sätzen von Franzi muss Charlotte auflegen, denn sie ist noch nicht in der Lage zu sprechen.
Ein unerträglicher Durst treibt sie nach unten. Am Treppenabsatz empfängt sie ihre düster dreinschauende Mutter.
»Du warst ganz schön betrunken, Frollein!«
»Bitte verschone mich, mir geht’s schon dreckig genug.«
»Mensch, Lottekind. Wie bist du überhaupt nach Hause gekommen? Du bist gestern Nacht nach oben gestolpert, ohne mir zu antworten.«
Charlotte muss kurz überlegen, was ihre Mutter schockiert.
»Mit Phils Bruder«, sagt sie dann.
»Der war hoffentlich nüchtern!«
»Jaha. Der war nicht auf Musik, der hat uns nur abgeholt.«
»Puh, du hast eine Fahne! Komm, leg dich auf die Couch. Ich mache dir ein Katerfrühstück.«
»Danke, Mom.«
Erschöpft schlurft Charlotte zum Sofa und rollt sich in eine Decke ein. Birgit serviert ihr ein mächtig belegtes Käsebrötchen sowie Cola und Salzstangen. Es dauert eine Weile, bis Charlotte das Essen in ihren Magen befördert hat, aber danach geht es ihr besser. Die nächsten Stunden gammelt sie vor dem Fernseher und zappt wach-komatös durch das Programm.
Als sie am Tag zuvor noch nüchtern waren, hatten sich die vier für heute im Obermeier verabredet, wo es samstags leckere Grillhähnchen gibt. Bis achtzehn Uhr muss sie also wieder auf dem Dampfer sein.
»Bist du sauer?«, will Charlotte als Erstes von Franzi im Auto wissen. Nach einer ausgiebigen Dusche fühlt sie sich einigermaßen gesellschaftsfähig.
»Im ersten Moment hätte ich dich echt killen können, aber wir hatten eh keinen Gummi.«
»Dann ist ja gut.«
»Hoffentlich meldet sich Hardy, ich habe seine Nummer nicht.«
»Hardy?«, wundert sich Charlotte. »Heißt der Hartmut, oder was?«
»Ich finde den Namen auch komisch … Aber hart war er ja auch«, kichert Franzi. »Was ging mit Phil?«
»Ach, ich komme einfach nicht weiter.« Charlotte berichtet von ihren gescheiterten Versuchen.
»Hm«, brummt Franzi, »schieb ihm doch einfach mal die Zunge in den Hals!«
»Du würdest das bringen … Ich kann das nicht. Was ist, wenn er mich wegschiebt? Das wäre die absolute Vollkatastrophe!«
»Dann wüsstest du wenigstens Bescheid. Aber das wird nicht passieren. Trau dich, der steht auf dich!«
Das wäre schön, denkt Charlotte niedergeschlagen.
»Vielleicht solltest du ihm sagen, was du für ihn empfindest und mit diesem Herumgeeiere aufhören.« Franzi legt eine Kunstpause ein. »Und dann steckst du ihm die Zunge in den Hals!«
Beide müssen lachen.
Sie ergattern einen der letzten freien Tische in der urigen Gastwirtschaft. Vor ihnen stehen ein wuchtiger Kristallaschenbecher und ein Bierkrug, der als Behälter für Besteck und Stoffservietten dient. Darunter liegt eine blau-karierte Tischdecke. Es riecht nach Bier, Zigarettenrauch und Fleisch. Neben den Gerüchen macht der schwere Klangteppich aus Geschirrklirren, Stimmen und Gelächter Charlottes Schädel zu schaffen. Kurz darauf treffen Phil und Steff ein und besetzen die Stühle zwischen den Mädels.
»Erst mal ein Konterbier, oder?«, witzelt Steff.
»Boah, ne«, lehnt Charlotte angewidert ab.
»Logen, das hilft!«, weiß Franzi.
»Wenn ich nur daran denke, wird mir kotzübel«, gesteht Charlotte. Sie war von den vieren am ärgsten besoffen. Zum Glück hat sie nicht gekifft und musste kotzen.
»Willst bestimmt lieber ein Hütchen, was?«, frotzelt Steff und genießt seine Retourkutsche.
»Hör mir auf, das ist echt ein Teufelszeug ...«
Die Bedienung im Dirndl tritt an den Tisch und nimmt ihre Bestellung auf: vier Helle vom Fass und vier halbe Hähnchen mit Pommes Schranke.
»So, Steff, erzähl mal!«, fordert Charlotte auf. »Was ging mit Anna?«
»Anna?«, fragt er verwirrt. »Adriane!«
»Äh, ups.«
»Yo, was soll ich sagen … Eingelocht hab ich«, grinst Steff über seinen platten Männerwitz.
»Du bist so ein Bauer!«, ruft Franzi.
»Aber echt«, stiftet Charlotte bei.
»Sorry, Mädels«, entschuldigt sich Steff. »Also, wir wurden irgendwann aus der Halle geschmissen und da kein Bus mehr fuhr, war die Sache geritzt. Nur heute Morgen war übel ...« Die drei spitzen die Ohren. »Wir waren noch am Pennen, da hämmert ihr Vater an der Tür, dass das Frühstück fertig ist.« Franzi hält sich vor Schreck die Hand vor den Mund und quiekt, Phil und Charlotte reißen die Augen auf. »Ich habe im ersten Moment null gecheckt, wo ich bin. Dann aber nix wie in die Klamotten und ab. Natürlich bin ich im Hausflur der Mutter in die Arme gelaufen, die hat vielleicht geglotzt!«
Alle lachen über diese peinliche Situation.
»Und du, Franzi? Was ging bei dir?«, will Phil wissen.
»Mit Hardy«, feixt Charlotte.
»Der Name ist Programm, das sage ich euch«, grinst Franzi.
»Lotte hat die beiden Liebestäubchen in der Umkleide ertappt«, erklärt Phil seinem Freund.
»Alter! Wenn euch jemand anderes erwischt hätte, wüsste jetzt die ganze Stadt Bescheid.«
Dem stimmt Charlotte in Gedanken zu. Daran hat Franzi im Eifer des Gefechts sicher nicht gedacht. Umso größer ist die Erleichterung, dass ihre Freundin nicht zum Gesprächsthema geworden ist. Oder schwanger.
Die Bedienung serviert die Biere und Charlotte fragt sich, ob sie das trinken kann. Aber mitgefangen, mitgehangen. Sie stoßen an und nehmen einen großen Schluck.
»Das geht schon wieder ganz gut runter, oder?«, stößt Phil genüsslich hervor.
»Auf jeden«, findet Steff.
Franzi sieht ihre Freundin besorgt an. »Charlotte?«
Die schweigt nur und hat einen grünen Schimmer im Gesicht.
»Mir war eben kurz schlecht, aber jetzt geht’s wieder«, lächelt sie süß und die anderen lachen.
Während sie das fettige Essen gegen den Kater in sich hineinstopfen, bringen sie sich auf Stand. Wen sie getroffen haben und was es für Neuigkeiten aus der Gerüchteküche gibt. Als ihre Gläser leer sind, haben sie wieder einen leichten Schwips und ordern eine zweite Runde. Danach gewinnt die Müdigkeit die Oberhand und sie verabschieden sich.
Heute empfing Charlotte von Phil nichts außer Kumpelhaftigkeit. Dabei hatte der gestrige Abend mit Phils Kompliment so gut angefangen.
Zuhause wirft sie sich deprimiert in den Wohnzimmersessel und schaut mit ihren Eltern den Samstagabendspielfilm. Den heutigen Tag hatte sie sich anders vorgestellt: nackt und glücklich mit Phil im Bett, ohne dicken Kopf.
– - –
Montags schleppt sich Charlotte ins Büro und erledigt ihre Aufgaben. Immer dieselbe Leier. Der einzige Lichtblick ist ihr Mittagspausen-Date mit Franzi beim amerikanischen Schnellrestaurant.
Ihre Ausbildungsbetriebe haben kulinarisch nichts zu bieten, abgesehen von einer abgeranzten Küche mit Mikrowelle und einem Automaten, der Kaffee und Suppe ausspuckt. Die Suppe schmeckt nach Kaffee und der Kaffee schmeckt nach Suppe. Die Küche ist gleichzeitig der Pausenraum und Mahlzeit der einzig akzeptierten Gruß zu dieser Tageszeit. Wer nicht schweigsam eine Tageszeitung liest, führt belanglose Gespräche oder regt sich über einen Kunden, die Chefetage oder einen Kollegen auf. Charlotte verbringt ihre Mittagspause lieber allein am Schreibtisch oder draußen mit Franzi.
Im Industriegebiet, in dem ihre Ausbildungsbetriebe sind, steht nur ein einsamer Imbisswagen, der nach altem Pommesfett riecht. Meist bringen sie Essen von zuhause mit oder holen sich, sofern die Zeit morgens reicht, ein Belegtes vom Bäcker.
»Ich habe am Freitag ein Date mit Hardy!«, grüßt Franzi aufgeregt und rezitiert auf der Fahrt zur Fast-Food-Kette den SMS-Verlauf.
»Dann ist ja klar, was abgeht«, kommentiert Charlotte missmutig. Eigentlich sollte sie sich für ihre Freundin freuen.
»Lass dich nicht hängen wegen Phil, davon wird es auch nicht besser. Das wird schon werden.«
Charlotte knurrt frustriert und lenkt auf ein anderes Thema: »In der Stadt hat ein neuer Laden aufgemacht, wollen wir den am Wochenende auschecken?«
»Au ja, und danach lade ich dich auf einen Eiskaffee mit Sahne ein!« Franzi lässt sich nicht von der miesen Laune ihrer Freundin anstecken. Die beiden gehen regelmäßig samstags bummeln und der anschließende Besuch in der Eisdiele im Shoppingcenter gehört zum festen Programm. Zum ersten Mal an diesem Tag lächelt Charlotte. Was würde sie bloß ohne Franzi machen?
Nachdem sie sich die Bäuche mit Cheeseburger, Chicken Nuggets, Pommes und einem Meer aus Ketchup und Mayo vollgestopft haben, eilen sie zurück. Fast Food ist immer nur genau bis zu dem Punkt gut, an dem man es verdauen muss. Energielos quält sich Charlotte durch die zweite Hälfte des ereignislosen Tages, dem eine ebenso ereignislose Woche folgt.
– - –
»Ich war gestern offiziell bei dir«, beginnt Franzi, als sie Charlotte am Samstagvormittag abholt. Zum Glück ist ihre trübe Stimmung verflogen.
»Na los, erzähl schon!«
Franzi schenkt ihr ein vielsagendes Grinsen.
»Ich höre«, flötet Charlotte.
»Also! Zuerst musste ich eine Dreiviertelstunde mit dem Bus durch die Käffer gurken. Ein Horror, sage ich dir! Ich konnte ja nicht das Auto nehmen, sonst hätte Ma Lunte gerochen. Aber als ich dann endlich bei ihm war ...«, stoppt Franzi ihren Wortschwall und fummelt eine Kippe aus ihrem Päckchen.
»Jetzt mach es doch nicht so spannend!«
»Sorry, ich bin so hippelig«, kichert sie und zündet die Zigarette an. »Hardy wohnt bei seinen Eltern, hat aber eine eigene Etage. Der heißt echt Hartmut! Er arbeitet als Dachdecker bei seinem Vater.«
»Ein Handwerker … Der kann gut anpacken«, witzelt Charlotte. »Und nun bitte die interessanten Details.«
»Du kannst dir ja denken, dass er nicht lange gefackelt hat. Kaum hatte ich meine Jacke aus, ging’s ab! Wir haben sein Bett den ganzen Abend nicht verlassen.«
»Boah!«
»Wir haben gestern dreimal gepoppt und vorhin nochmal!« Franzis Backen sind rot vor Erregung. »Ältere Typen wissen einfach, was sie tun.«
»Wie alt ist er?«
»Vierundzwanzig.«
Charlotte weiß, was Franzi meint, mit sechzehn hatte sie etwas mit dem fünf Jahre älteren Bruder einer Klassenkameradin. Aber dreimal Sex an einem Abend? Das ist eine neue Dimension.
»Seht ihr euch wieder?«
»Na logen. Aber er meinte, dass er eher so der spontane Typ ist. Ich würde ihn am liebsten heute Abend wieder sehen«, grinst Franzi.
»Der ist aber auch ein Gerät«, gibt Charlotte zu. Mit dem würde sie auch in die Kiste steigen, wenn Phil nicht wäre.
Zwanzig Minuten später stehen sie vor dem neuen schwedischen Modegeschäft, das sich über alle drei Etagen des Einkaufszentrums erstreckt. Mit der Automatiktür öffnet sich ein Tor zum Paradies moderner Klamotten zu erschwinglichen Preisen. Anders als die angestaubten Boutiquen in der Nachbarschaft wird hier ein junges Publikum angesprochen.
Mit fröhlichen Gesichtern stürzen sich die Freundinnen ins Getümmel – es ist brechend voll – und stöbern ausgiebig durch die Regale. Sie probieren haufenweise Klamotten an und verfallen einem regelrechten Kaufrausch. Charlotte gönnt sich einen pastellblauen Pullover, ein graues Longsleeve und ein dunkelgrünes Kleid mit Spaghettiträgern. Franzi wählt das gleiche Kleid in Beige, silberne Ohrringe mit Glitzersteinen und einen weißen Spitzen-BH mit passendem Schlüpfer für das nächste Date mit Hardy.
Nach einem ebenso kurzen wie erfolglosen Streifzug durch die anderen Klamottenläden sitzen sie im Eiscafé und überlegen, was sie noch anstellen können. Phil ist heute bei Steff zum Zocken, also beschließen sie, den Abend bei Franzi zu verbringen. Angie freut sich immer über einen Besuch von ihrer zweiten Tochter, wie sie Charlotte liebevoll bezeichnet.
Im Wohnzimmer machen sie eine Modenschau und trinken Rotwein. Charlotte liegt vor Mitternacht im Bett und ist befriedigt von ihrem Shoppingerlebnis. Doch nächstes Wochenende will sie Phil wiedersehen.
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