WISMAR-MORDE - Thorsten Pietsch - E-Book

WISMAR-MORDE E-Book

Thorsten Pietsch

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Beschreibung

AHOI ... zum Morden im Norden! Vier Fälle, die Kommissar Ole Hansen und seine Kollegen von der berühmten Wismarer Kommandantur in der alten Hansestadt und Mecklenburger Küstenregion in norddeutscher Flachlandmanier knacken müssen. --- 1. LACHSBLUT: Ein Serienkiller, gejagt von einem karrieregeilen Reporter, vier tote Ladies und jede Menge Fischblut... Ein Psychotrip, stets begleitet von kehligem Möwengeschrei... / "Es stinkt nach Fisch - sehr zu empfehlen!" - SAT1 --- 2. FETTE BEUTE: Sodom und Camorra auf der Ostsee! Organisierte Hehlerei, brutale Piraterie, ein Totenkopf tanzt auf den Wellen. Mittenmang die pfeilschnelle Auster, das Torpedoboot der Küstenpolizei... / "Für alle, die es abgedreht mögen" - Radio ZuSa. --- 3. POELER POKALE: Die Trophäen des SC Ankerwinde gestohlen, der Platzwart liegt in den Scherben der Vereinsvitrine. Roadmovie und Küsten-Odyssee! Die Lösung lautet: Go West! / "Verflucht Schwarzer Humor" - Wismar TV. --- 4. ABGETAKELT: Mord im Seniorenheim Glatter Aal! Und in Wismar grassiert Algenpest und Lottofieber. Wie das Eine mit dem Anderen zusammenhängt, klärt der vorweihnachtliche letzte Fall! / "Irrwitzige Killerposse! Das reinste Lesevergnügen" - Ruhr Nachrichten. --- Wer ein Freund der Ostsee oder gar Liebhaber von Makrelenbrötchen ist, sollte sich die fischfidelen Fälle um Lotte Nannsen, Wurst-Willi, den ominösen Möwenkopf-Mann und die anderen schrägen Vögel aus der beschaulichen Hansestadt nicht entgehen lassen. --- Die Sonderedition zum zehnjährigen Jubiläum der Erstausgaben! Erstmals alle vier Wismarer Kultfälle in einem Buch!

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Inhaltsverzeichnis

LACHSBLUT

FETTE BEUTE

Prolog

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

Epilog

Dank

POELER POKALE

ABGETAKELT

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

Nachtrag

Impressum

WISMAR - MORDE

Thorsten Pietsch ist in Schleswig geboren, in Hamburg zur Schule gegangen und hat an der Freien Universität Berlin Theaterwissenschaft sowie Soziologie studiert. Nach zwanzig Jahren als Autor für diverse Fernsehsender begann er 2010 mit der Schriftstellerei. »WISMAR-MORDE« ist eine Sonderedition seiner populären Hansen-Krimis, die stets in Mecklenburg-Vorpommern und an der deutschen Ostseeküste spielten.

Außer diesem Buch veröffentlichte er unter Pseudonym oder Klarnamen:

»Lachsblut«, Küstenkrimi, 2010, Emons Verlag;

»Wismarbucht«, Küstenkrimi, 2011, Emons Verlag, bzw. »Fette Beute«, 2016, Neuauflage;

»Poeler Pokale«, Küstenkrimi, 2011, Emons Verlag;

»Abgetakelt«, Küstenkrimi, 2012, Emons Verlag;

»Amok Baby«, Thriller, 2015, Emons Verlag;

»Zölibat«, Thriller, 2016, bzw. »Raukopf«, Thriller, 2016, Independent;

»Nakszynski – Portrait eines Darstellers – Zum 25. Todestag von Klaus Kinski«, Biografie, 2016;

»Karma Punks«, Erzählungen, 2019, Independent;

»Die dunkle Nacht, die lacht…«, Erzählungen, 2020, Independent;

»Boulevard of Broken Dreams – Die Storys der Salamisten«, Kurzgeschichten, 2021, Independent.

Weitere Informationen unter: www.pietsch.weebly.com

© Thorsten Pietsch, 2022, überarbeitete Originalausgabe:

»WISMAR-MORDE: Küstenkrimis« / ISBN 979-8-7097-2794-6

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere die des öffentlichen Vortrags, der Verwertung durch Film und Fernsehen sowie der Übersetzung. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne vorherige schriftliche Genehmigung des Autors reproduziert, verarbeitet, vervielfältigt und anderweitig verbreitet werden.

Cover-Gestaltung: Katharina Reichert, Motiv: © Sokaeiko / pixelio.de

Urheberrechtlich geschütztes Material.

Impressum: Thorsten Pietsch, Matthiasstr. 2, 10249 Berlin, Deutschland.

Thorsten Pietsch

WISMAR - MORDE

Küstenkrimis

LACHSBLUT

Hansens erster Fall

Inhalt

Ein frauenbesessener Psychopath treibt in Wismar sein Unwesen. Norbert »Nobbi« Strauß, Boulevardreporter des OSTSEE-BLICK, und Olaf »Ole« Hansen, Chefermittler der Wismarer Kommandantur, verfolgen den Ripper der Hansestadt – der eine im Sinne seiner Karriere, der andere aus Sorge um die Bewohner. Überrascht von der Lösung sind sie schließlich beide.

Der Flachlandkrimi changiert zwischen nordischer Fischplatte und bizarrer Mordserie – immer gewürzt mit einer Prise Seemannsgarn. Und über allem wachen die Mecklenburger Sturmmöwen mit ihrem kehligen Geschrei.

Für den Raben

1

Montag, den 2. März

In meinem Leben sind mir schon viele Frauen begegnet. Mit etlichen pflegte ich intensive sexuelle Kontakte. Vielen tat ich weh, nicht unbedingt körperlich, eher psychisch. Etwa jede zweite spielte von vornherein das Opfer, das lässt sich später nicht immer eindeutig zuordnen. Die meisten jedenfalls nahmen die Rolle dankbar an. Mit vielen von ihnen verkehrte ich nur ein einziges Mal, bei den wenigsten blieb ich die ganze Nacht. Es gab auch welche, die waren noch Jungfrauen, jede einzelne unvergesslich. Zwei mussten bislang leider sterben, sie hatten es nicht besser verdient. Fragt mich jetzt jemand, ob mir mein Leben bis hierhin gefällt, würde ich antworten: Es scheint alles vorherbestimmt, aber warum nicht! Klar. Das Ganze am besten noch mal...

Doch so weit sind wir noch nicht. Doreen und ich sind nicht am Ende, wir stehen erst am Anfang unserer kurzen Liaison. Das harte Kopfsteinpflaster glänzt im spärlichen Schein der alten Straßenlaternen. Ein dünnes Licht, fast wie zu Störtebekers Zeiten. Es ist kurz vor Mitternacht und zu kalt für diese Jahreszeit, mehr Frost, weniger Feuchtigkeit. Die Temperatur sinkt langsam, aber stetig unter den Gefrierpunkt.

Mein Blick wandert abwechselnd von der Finsternis am Ende der Straße zu der gegenüberliegenden Pension und dann die Fassade hinauf. »Pour La Mère« – komischer Name hier oben an der Ostsee. Klingt eher nach einem Bordell in Paris. »Zur lustigen Puffmutter« oder so ähnlich. Aber Französisch ist nicht meine Stärke, das überlasse ich anderen.

Der lange Schatten von Doreen huscht in diesem Augenblick über die Hauswände am Ende der Gasse. Ihr Weg, das weiß ich aus den Beobachtungen der letzten beiden Tage, führt sie zu der kleinen Pension.

Sie ist von mir aufgrund solider Erfahrungswerte und reifer Überlegung auserwählt worden: groß, schlank, rothaarig, schön, das dreißigste Lebensjahr noch nicht vollendet.

Ich weiß nicht, woher sie stammt, auch nicht woher sie gerade kommt. Aber das ist unerheblich. Doreen ist zu Gast in unserer beschaulichen Hansestadt, wie so viele Urlauberinnen vor ihr. Vielleicht flaniert sie sonst über die Shoppingmeilen in Hamburg oder Düsseldorf oder München. Keine Frage,sie hat Stil. Der kleine Mann dieser kleinen Stadt würde bei ihrem Anblick wahrscheinlich vom Großstadtflair schwärmen. Das schiefe Wismarer Kopfsteinpflaster jedenfalls bietet den Pumps keine Heimat und keinen Halt.

Ein kurzer hoher Schrei hallt von den Wänden wider, gefolgt von einem Fluch. Warum sie sich selbst immer so quälen? Stöckelschuhe, dazu die bittere Kälte – doch solche Gedanken bedeuten für mich in diesem Moment nur verlorene Zeit.

Sie kommt auf dem Bürgersteig langsam die Straße hoch, ihre Bewegungen sind müde, vielleicht ist sie ein wenig beschwipst. Es ist finster, sie geht nachts durch eine fremde Stadt, aber sie kennt keine Furcht. Sie weiß, ihr Zimmer ist nicht mehr weit.

Die Auswahl der Frau erfolgt nach akribischer Planung. Die perfekte Organisation ist die Voraussetzung für den erfolgreichen Ablauf der Unternehmung und einer sorgenfreien Zeit danach.

Die letzte Rothaarige ist lange her, in Doreens Fall ist es eine Initialzündung gewesen. Ihr Gang und ihre langen schlanken Beine haben mich aufs Äußerste provoziert. Sie zeigt auf Spaziergängen gern unvermittelt ein Lächeln, das hat eine Magie, die mich betört und verwirrt.

Seit drei Nächten wohnt sie im »Pour La Mère«. Ein guter Ort, vor allem für mich. Hier gehen Touristen ein und aus, oftmals Frauen, die alleine reisen, die ein kostengünstiges Einzelzimmer wollen und nicht die feinen Adressen am nahen Marktplatz buchen. Sie suchen die Einsamkeit der engen Altstadtgassen.

Doreen schlüpft durch einen schwachen Lichtkegel unweit ihres Gasthofes. Sie fummelt in der Handtasche herum, wahrscheinlich um den Hotelschlüssel zu finden.

Sie ist mir so nah, dass ich in der Kälte ihren Atem sehe. Schlagartig trete ich aus dem Schatten der Mauer, lausche den Atemzügen. Als ich sie jäh von hinten packe, werden Doreen und ich eins, unser Atem vermischt sich. Mit einem kräftigen Ruck reiße ich sie auf den Boden und zerre sie über die Straße. Sie will schreien, sie bekommt keine Luft, sie keucht und würgt. Auf der anderen Seite sind wir vor Blicken geschützt, ihre hohen Hacken erzeugen auf dem Pflaster kratzende Schleifgeräusche. Sie windet sich in meinem Griff wie in einem Schraubstock, schlägt ziellos um sich, verdreht ihre schönen Augen. Sie will ein letztes Mal schreien, doch da kommt kein Mucks.

Die Klinge schnappt aus der Scheide. Doreen röchelt merkwürdig, als ich ihr das Messer zwischen die Rippen stoße. Blut quillt langsam durch ihren Mantel. Ich schlage ihr einmal kraftvoll mitten ins Gesicht, es knackt, schade um die feine Nase.

Hinter einem Mauervorsprung bearbeite ich ihren schönen Körper, gezielte Stiche, erfahrene Schnitte wie mit einem Skalpell – bis nichts mehr ist, wie es einmal war.

Mir wird wohlig warm ums Herz, ihr Blut läuft über meinen Handrücken, in einem Rinnsal über die Pflastersteine und verebbt dort in den dunklen Ritzen. Wie Pech und Schwefel werden nun ihr Blut und ihr Schicksal unlösbar an meinen Händen kleben. Meine Atmung geht ruhig, ihre verstummt. Meine Klinge schnappt zu.

Am Ende der Straße brechen die Lichter eines Lasters durch die kalte Finsternis. Für einen kurzen Moment sehe ich in ihr verzerrtes, einst makelloses Gesicht.

Es ist das Ende ... Es gibt kein Ende. Nur den Gedanken daran.

2

Dienstag, den 3. März

Das Fischbrötchen in Hansens Hand hatte auch schon einen besseren Tag erlebt. Er kaufte die viertel Pfeffermakrele stets bei Lotte Nannsen am Alten Hafen. Fisch war seine Lieblingsspeise. Ehrlich, ich hatte ihn nie etwas anderes zu sich nehmen sehen – immer nur Makrele im Brötchen und Bier.

Nun war es halb sieben Uhr morgens, nicht nur für ein kühles Pils zu früh. Zu dieser Zeit waren selbst die Schotten des alten Fischkutters der stadtbekannten Frühaufsteherin Lotte noch verrammelt. Anzunehmen also, dass nicht nur das Brötchen von gestern war, sondern auch der geräucherte Belag.

Hansen aß nachdenklich vor sich hin. Der Anblick der halb nackten Toten direkt vor unseren Augen auf dem kleinen Gästeparkplatz der Pension »Pour La Mère« war, gelinde ausgedrückt, unappetitlich: halb gefrorener, Blut verklebter Oberkörper mit unzähligen Einstichstellen, ein blutgetränkter Mantel, Würgemale am Hals, hervortretende farblose Augen, nackter Unterleib, komisch verdrehte Beinhaltung, zerrissene weiße Unterwäsche.

In sicherer Höhe über dem Tatort kreisten erste gierige Seemöwen und kreischten, als wollten sie uns mitteilen, was unten alle längst wussten: Es handelte sich um ein Gewaltverbrechen.

In seinen fünfundzwanzig Dienstjahren hatte Kommissar Olaf Hansen eine Menge erlebt und gesehen, das wusste ich aus der Recherche im Pressearchiv. Es gab dort einen großen Karton, randvoll mit Akten, und dazu mehrere kleine Kartons mit Mikrofilmen.

Alle kleinen und größeren Delikte der Küstenregion wurden in unserem Verlag detailliert registriert und katalogisiert, auch absonderliche Vorfälle wie der Kuhklau in der Millenniumnacht, die nie aufgeklärten Fälle wie das plötzliche Verschwinden von Lottes Ehemann, dem Fischer Siggi Nannsen, bei starkem Seegang irgendwo zwischen dem dänischen Bornholm und der Insel Poel, oder die wenigen wirklich schrecklichen Taten wie der brutale Mord an Maurermeister Linsen im November '89, kurz nachdem die Mauer fiel. Doch das waren andere Geschichten, über die ich nicht zu berichten hatte.

Einst waren die alte Hansestadt Wismar und ihre ländliche Umgebung ein echtes Nest für Gesetzesbrecher, Piraten und Strolche aller Art gewesen. Grund war der reiche Handel und rege Schiffsverkehr auf der Ostsee, die goldenen Jahre der Hanse. Aber das war lange her. Im letzten Jahrhundert passierte eine Menge Monströses. Doch konnte man zu DDR-Zeiten die schweren privaten Verbrechen offiziell an zwei Händen abzählen. Das sollte sich merkwürdigerweise auch nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten zuerst nicht ändern.

Im letzten Vierteljahr passierte umso mehr. Drei Morde in drei Monaten, das war eine deutliche Steigerung. Ich hatte über diese mysteriösen Fälle zu berichten, aber zackig und knackig. Mein Brötchengeber: der OSTSEE-BLICK. Mein Name: Strauß. Norbert Strauß. Freunde nennen mich Nobbi.

Olaf Hansen hatte sich zum Jahreswechsel versetzen lassen. Geboren 1962 in Wismar, trat er 1984 in Schwerin in den Polizeidienst ein und hatte die letzten Jahre als Beamter Verbrecher auf Rügen gejagt. Seine Frau war angeblich von einem Tag auf den anderen mit einem reichen Touristen durchgebrannt, hieß es. Sicher war nur, sie hatten sich einvernehmlich getrennt, ihr Haus in Bergen verkauft und den Erlös geteilt. Ohne Rosenkrieg!

Hansen war in seine Heimatstadt zurückgekehrt und hatte den Posten des Dienststellenleiters, seines Vorgängers Hans-Uwe Bartelmann, Uns Uwe gerufen, der guten Seele der Wismarer Polizei, übernommen. Zum Jahresende war Uns Uwe fünfundsechzigjährig in den wohlverdienten Ruhestand getreten.

Der neue Kommissar hatte sich seinen beruflichen Neustart sicher entspannter gewünscht. Ein unauffälliger Typ, stets in Bluejeans gekleidet, Jacke wie Hose. An kalten Tagen wie heute trug er gerne einen gestrickten Norweger-Pullover. Spärliches blondes Haar auf einem runden, wohlgenährten Gesicht, buchstäblich herausragend waren nur seine enormen Segelohren.

Hansen war letzte Woche siebenundvierzig Jahre alt geworden, und er aß nicht nur gern Fisch, er war auch im selbigen Zeichen geboren, notierte ich beiläufig an den Rand meines Notizbuches. Man wusste ja nie, welche Infos einmal brauchbar wurden.

»Jedes noch so kleine Detail ist wichtig!«, knurrte der Kommissar gerade die Kollegen von der Spurensicherung an, die jetzt die Bademutterstraße in ihrer ganzen Breite abgesperrt hatten und nun darangingen, die Fakten im Chaos zu sichern.

Ein Parkplatz mit fünf Autos, eine Ecke voller Bauschutt, vier Abfalltonnen mit Hausmüll, eine Tote unmittelbar hinter der Toreinfahrt. Gegenüber die Pension, nebenan eine Gaststätte, der Tatort umgeben von mehreren zwei- und dreistöckigen Fachwerkhäusern. Die vielen Schleif- und Kampfspuren waren für uns alle unübersehbar, aber schwer zu rekonstruieren.

»Der Tatort riecht!«, meinte Kubsch plötzlich verlegen, Hansens oftmals überfordert aussehender Assistent. »Es riecht nach altem Fisch.«

Kubsch starrte seinem Chef unverblümt auf den kauenden Mund, ein paar lose Brötchenkrümel, garniert mit schwarzen Pfefferkörnern, kullerten heraus und fielen auf den frostigen Boden. Das war gemein und wurde vor allem Lotte Nannsen nicht gerecht. Deren geräucherte Makrele vom Vortag konnte unmöglich schon vergammelt sein.

Für mich war es der Leichnam, der nach Fisch roch. Ich erschrak, denn in diesem Moment schlug über uns ein Möwenschwarm mit kehligem Geschrei ein paar Haken in die Luft.

»Pike! Mach mal Fotos«, raunte ich meinem Fotografen zu, »vor allem von der Toten. Auch mit Hansen drauf.«

Franz Pickrot war ein wieselflinker Pressefotograf, der beste, den der BLICK je hatte. Meist lagen wir zusammen auf der Lauer. Und was der Pike, wie wir Kollegen ihn nannten, vor die Linse bekam, war im Ergebnis stets sehenswert und bedeutete oft schon den halben Artikel.

Wenige Blitzlichter später pfiff ihn der Kommissar zurück.

»Ist die Meute schon wieder auf der Pirsch?«, bollerte Hansen. »Habt ihr keinen Respekt? Unsere Arbeit ist noch nicht getan und ihr zertrampelt den ganzen Tatort.«

Für Hansen war das schon ein Redeschwall, wie selbst Kubsch es von seinem Chef kaum kannte. Verblüfft glotzten nun der Assistent und ich ungeniert zwischen Hansens triefendem Mundwerk und den fettigen Fingern mit dem Fischbrötchen hin und her.

»Frühstück«, sagte Hansen etwas verlegen.

»Klar«, erwiderte ich, nur um hinzuzufügen: »Und? Wer hat die Tote gefunden?«

»Müllabfuhr«, antwortete er trocken, »kurz nach fünf.«

»Und? Der Täter?«

Hansen schaute nach links, dann nach rechts und sagte dann einfach: »Weg!«

Ein Spaßvogel, unser neuer Kommissar.

»Können Sie schon etwas zum Opfer oder Tatmotiv sagen?«

»Doreen Stoppelkamp, wohnhaft in Hamburg. Schmuck, Uhr, Kreditkarten – alles noch da, auch fünfzig in bar. Nichts gestohlen. Ein Triebtäter vielleicht.«

Er schwieg, wischte sich mit dem Ärmel über den Mund und machte nicht den Anschein, noch irgendetwas vermelden zu wollen.

»Das war's, Herr Strauß«, sagte er dann betont und wies mir und Pike den Weg hinter das rot-weiße Absperrband.

Da standen wir nun zwischen allerlei bekannten oder weniger bekannten Nachbarn. Wismar schrumpft langsam, aber stetig, nur mehr knapp über vierzigtausend Einwohner, eigentlich zu winzig für eine Mordserie von diesem Format, wenn man das so formulieren darf.

Meine Gedanken wurden durch das Klingeln meines Mobiltelefons unterbrochen. Die Redaktion im Entenweg, der Chef wollte wissen, wie es steht. Der Text müsse in spätestens einer halben Stunde abgenommen werden, sonst würde es zeitlich eng mit der ersten Sonderausgabe zum Frauenmörder von Wismar. Ich versprach, rechtzeitig fertig zu sein.

Der Druck auf den OSTSEE-BLICK war enorm, weil wir den ersten Mord buchstäblich total verschlafen hatten. Die Welle Meckpomm war mit der Meldung und nur eine Stunde später mit einer Reportage auch auf ihrer Webseite wesentlich schneller als der BLICK, und der Radiosender saß in Rostock.

Wir dagegen hatten eine Lokalzeitung mit den kürzesten Wegen. Das Verlagshaus lag mitten in der Altstadt, die Redaktion, die Druckerei, der Vertrieb, alles unter einem grünen gotischen Dach, besser ging es nicht. Und dann drei Morde und alle quasi in der Nachbarschaft! Wir saßen förmlich an der Quelle.

Die Leitung hatte deshalb für heute Morgen die Realisierung eines Extrablatts beschlossen. Wie in den guten alten Zeiten, hatte der Chef voller Hingabe betont. Welche Zeiten er damit meinte, wusste ich nicht, nur eines war klar: Wir mussten schnell berichten. Keine Frage, wir hatten weltweit die Ersten zu sein.

Die erste Frauenleiche hatte Pastor Petersen am Morgen des zweiten Januar gefunden, abgelegt unter einem Haufen aussortierter Weihnachtsbäume hinter dem Mittelschiff der Sankt Nikolaikirche. Eine junge Frau aus Bremen, Katharina Reich, siebenzwanzig Jahre, Rechtsanwaltsgehilfin, blond, allein reisend. Massakriert. Ihr Anblick war ähnlich entsetzlich wie heute der von Doreen Stoppelkamp. Mein erster Eindruck war: Das musste derselbe Täter sein.

Unten am Hafen zwischen den Mauern der alten Speicher hatte der Hafenmeister am Rosenmontag das zweite Opfer gefunden, eine fünfundzwanzigjährige Kunststudentin aus Berlin, Susanne Stein, ebenfalls blond und erstochen und elendig verblutet. Die Möwen hatten sich schon, wie bei einem Fischkadaver, über die Leiche hergemacht.

Beiden Frauen war, wie dem dritten Opfer, nachts aufgelauert worden. Alle wurden mit unzähligen Messerstichen bestialisch abgeschlachtet.

Nach dem zweiten Mord war Wismar nicht mehr wiederzuerkennen, es herrschte blankes Entsetzen und regelrechte Panik. Die Menschen hatten schon am frühen Abend Angst, das Haus zu verlassen. Die Blicke in den Straßen suchten den Täter und formulierten stumm wieder und wieder den immer gleichen Satz: Du bist unter uns.

Die Kripo nahm gerade Gipsabdrücke von den Reifenspuren auf dem Gelände, wo Leiche Nummer drei jetzt in eine schwarze Plastikfolie gewickelt und vorsichtig von zwei Bestattungsleuten in ihren vorläufigen Sarg gelegt wurde.

Hansen runzelte die Stirn. Er versuchte zu rekapitulieren, was in der Nacht in der Bademutterstraße geschehen sein musste. Ab und zu ließ er von seinem Assistenten Kubsch etwas in den Klappblock notieren. Der neue Kommissar war wie ein Yorkshireterrier, wenn der sich festbiss, dann ließ er nicht mehr los.

Seit der Scheidung von seiner Frau lebte er wieder mit seiner Mutter zusammen, der vierundsiebzigjährigen Hanna Hansen, in deren hübschem Haus in der Böttcherstraße Nummer 35, das, wie so viele Hansehäuser in der Altstadt, unter Denkmalschutz stand. Die Leute sagten oft, sie sei seine treue Ratgeberin bei schwierigen Fällen. Ihr Ole, wie sie ihn stets liebevoll nannte, hielt die Mama offiziell aus allem heraus. Aber intern, hieß es, habe sie den objektiven Blick auf alle Spuren und Indizien. Wenn Ole Hansen nicht weiterwusste, saß er mit Hanna bei Schwarzbrot und Fischplatte am Küchentisch und diskutierte Fakten und Vermutungen.

Konfrontierte man ihn mit solchem Gerede, antwortete er stets dasselbe: »Spinnt ihr denn komplett!«

Mit Hanna im Rücken durfte sich kein noch so cleverer Mörder der Welt vor unserem Kommissar sicher fühlen, das war meine ehrliche Meinung über Olaf und seine Mutter.

Hansen biss noch einmal hungrig in seine Pfeffermakrele, er sah dabei zu uns herüber. Bildete ich mir das ein oder musterte er mich misstrauisch?

»Die Polizei müssen wir uns warmhalten«, raunte ich Pickrot zu. »Den Hansen brauchen wir noch.«

»Als Fischfutter, Norbert. Als Fischfutter für unsere Leser«, ergänzte Pike lakonisch.

Ich warf dem Kommissar ein reichlich verlogenes Lächeln zu, der wandte sich angewidert ab. Pike stieß mir in die Rippen und deutete mit einer Kopfbewegung zur anderen Straßenseite.

Ich sah Carsten Kracht, den kahlköpfigen Wirt, aus einem oberen Stockwerk seiner Pension spähen. Er wirkte angespannt. Lässig winkte ich ihm zu. Als er mich bemerkte, zog er schnell die Gardine vor seinen breiten Bollerkopf. Wir hatten vor zwei Jahren bereits einmal das Vergnügen gehabt, ein grobschlächtiger Kerl, dieser Kracht.

Ich schaute mich weiter um. Was wäre, wenn der Täter noch in der Nähe war? Vielleicht beobachtete er die ganze Szenerie. So etwas sollte es ja geben, das hatte ich mehrfach in einschlägiger Literatur gelesen.

Die etwa fünfzig Schaulustigen rund um das Absperrband tuschelten um die Wette, doch keiner mochte zu laut reden. Niemand wollte auffallen. Als wenn die Anwesenheit des Todes nicht allein das Gemüt bedrückte, sondern auch mächtig auf den Mut jedes Einzelnen schlüge.

»Angst ist kein guter Ratgeber«, fabulierte Pike neben mir und knipste in die Menschenmenge. »Unser Mörder weiß so was.«

Die Fotos waren Gold wert, das war klar.

Mit Block und Stift bewaffnet befragte ich einige Passanten und Anwohner aus der Bademutterstraße nach dem Verlauf der Nacht. Aber keiner wollte etwas gehört, geschweige denn gesehen haben. Seeluft mache ja todmüde, war noch die glaubhafteste und dennoch dreisteste Ausrede der zumeist älteren Herrschaften. Schnell wurde klar, bei den stoischen Rentnern der Hansestadt war für mich nicht viel zu holen.

Beruflich stand ich jetzt unter enormen Druck: kein Täter, keine Zeugen, nicht einmal die üblichen Wichtigtuer, die immer etwas von sich geben wollten, nur um sich selber am nächsten Tag in der Zeitung bewundern zu können. Mir musste etwas einfallen und das plötzlich. Eine Hammerstory mit Reportagecharakter. Das schrie geradezu nach verwegenen oder absurden journalistischen Winkelzügen.

Auch Pike war voll in seinem Element. Für uns zwei, da waren wir uns wortlos einig, konnte das die berufliche Chance beim BLICK bedeuten. Und die Story sollte für uns beide erst jetzt so richtig beginnen.

Mein Handy klingelte schon wieder, jetzt war die Sekretärin vom Chef dran: Text und Fotos sollten sofort in die Redaktion, die Druckerei säße uns im Nacken. Ich kannte das schon, kurz vor knapp wurden alle nervös.

Wir wanderten um die Absperrung, schlüpften unbeobachtet auf den Parkplatz, setzten uns in Pikes Pick-up und brausten etwas zu dynamisch vom Tatort.

Im Seitenspiegel sah ich Kubsch wild hinter uns hergestikulieren und Hansen den Rest seines Brötchens fluchend auf den Bürgersteig werfen. Im Sturzflug zerriss eine Handvoll Möwen die kläglichen Überbleibsel der Makrele. Eines schien klar, unser neuer Kommissar zeigte Nerven.

***

Kaum war am Vormittag die erste Sonderausgabe zum Frauenmörder von Wismar auf dem Markt, da nahm das Schicksal auch schon seinen Lauf.

»Unterschätze nie deine Gegner.«

Das Leitmotiv vom Chef wurde oft genug quer durch die Redaktion zitiert, aber leider genauso häufig wieder vergessen. Redaktionsleiter Gregor Mahlzan, sechsundfünfzig Jahre, hatte eine Menge in seinem Journalistenleben mitgemacht, und sein Lieblingsmotto bestätigte sich in diesem Moment einmal mehr: Der härteste Gegner sitzt einem oft näher im Nacken als vermutet.

Raimund Tomsen kochte, er war ganz rot vor Zorn.

Meine Idee hatte aber auch eine perfide Genialität: den Mord und seine Hintergründe aus der Ich-Erzähler-Perspektive, als Semi-Dokumentation zu verfassen, das Ganze quasi aus der Sicht des vermeintlichen Täters zu protokollieren. Das war nicht nur ungewöhnlich, das war an Dreistigkeit kaum zu überbieten und für manchen Kollegen eine ziemliche Unverfrorenheit.

Und Tomsen, der harte Knochen, hakte da natürlich sofort ein. Er giftete, das sei eine Frechheit und nur zu vergleichen mit den Hitler-Tagebüchern. Rumms! Das saß.

Die schnelle Eva, wie sie aufgrund ihrer Vorliebe für Sportwagen gern genannt wurde, die Sekretärin vom Chef, ließ vor Schreck ihre Nagelfeile fallen.

Mit seiner Analyse war Kollege Tomsen eine Nuance zu weit gegangen, das merkte er jetzt selber und ruderte auch prompt zurück. Das sei ein Griff in die billige Trickkiste, bei eiskaltem Mord nicht angebracht.

»Der Stil ist zu reißerisch, einfach schamlos. Das ist reine Hobby-Psychologie, sich die Sichtweise des Mörders zu eigen zu machen und in dessen Seele zu kriechen. Impertinent!«, schimpfte er wie ein Rohrspatz. »Und dann kommt solch eine Kaffeesatzleserei dabei heraus!«

Das ließ sich schon eher hören, damit konnte ich leben. Gut war die Story allemal, handwerklich gut, inhaltlich vielleicht ein wenig vage, dafür aber in der Wirkung exzellent.

»Warum hält er sich nicht einfach an die Fakten? Allein die Tote gibt doch sicher eine Menge her!« Tomsen richtete seine Frage nicht an mich, sondern direkt an den Chef. »Stattdessen wildeste Spekulationen über die Psyche des Täters! Versteh ich nicht.«

»Opferschutz!«, log ich kurz und bündig. »Außerdem kriegt die Geschichte so mehr Würze. Frauenbesessener Psychopath aus dem armen Osten lyncht reiche Schöne aus dem Westen! Das knallt wie ein Chinaböller D!«

Das wusste auch Tomsen, das konnte er nur nicht zugeben, so wie ihn der Neid gerade zerfressen dürfte. Wende hin oder her, das Geschäft mit der Mauer im Kopf, das lief geschmiert wie am ersten Tag. Tomsen kam aus dem Osten, der hatte noch Ideale und Vorstellungen von Gut und Böse, trotz fünfundzwanzigjähriger Berufserfahrung.

Die anderen Kollegen und eine Menge Leute auf der Straße zerrissen sich aber die Mäuler, seit die Sondernummer auf dem Markt war. Der BLICK war buchstäblich über Nacht endlich mal wieder in aller Munde.

Vom nahen Sankt-Marien-Kirchturm verkündete das dezente Glockenspiel, dass es gerade Punkt zwölf Uhr war. Und Mahlzans Designertelefonanlage klingelte heute bereits zum x-ten Mal. Auch das war ein Maßstab für Erfolg.

»Auflage: dreißigtausend!« Gregor Mahlzan sah es pragmatisch und trommelte mit dem Zeigefinger auf die Titelseite. »Das hatte der BLICK seit der Sturmflut anno 1962 nicht mehr.«

1962. Da wäre meine Familie in Hamburg fast abgesoffen. Oma soll mit den Kindern auf dem Dachsims gesessen haben. Der Hubschrauber hatte sie vor den Fluten gerettet. Das waren die Knüllergeschichten von damals, die noch heute um die Welt gingen, vor allem wenn Helmut Schmidt mal wieder runden Geburtstag hatte. An Nordsee und Elbe traf es die Menschen zwar weit schlimmer als hier in Mecklenburg-Vorpommern, aber auch die Ostsee konnte gefährlich ungemütlich werden.

»Und dann diese Macho-Psycho-Nummer gleich am Anfang! Respekt, Norbert, meinen ehrlichen Respekt. Du bist auch kein Kostverächter, wie? Du kennst dich aus mit Frauenherzen, das merkt man gleich.«

Eva starrte ihren Chef etwas perplex an. Die einzig adäquate Reaktion – schließlich war die hübsche schwarzhaarige Eva seit fast einem Jahr nicht nur die unangefochtene Chefsekretärin, sondern auch Mahlzans heimliche Geliebte.

Mit seiner Ehefrau war er über zwanzig Jahre verheiratet, das sei wichtig gewesen für die Karriere, hatte er einmal ziemlich blau auf einer Betriebsfeier in feuchtfröhlicher Runde erklärt. Seinen guten Geist nannte er seine vier Jahre jüngere Frau. Sie hieß übrigens Evi und wusste von nichts.

Jetzt glotzte Eva mich an, als könnte sie Gedanken lesen. Ich wandte mich wieder Tomsen zu, der sich mit Mahlzan wegen meines gewagten Kunstgriffs zunehmend in die spärlichen Haare bekam.

Raimund Tomsen war einer der wenigen, die sich harte Meinungsverschiedenheiten mit dem Chef erlauben konnten, schließlich war er fast so lange beim BLICK wie sein Redaktionsleiter. Er war jetzt fünfzig, und er hatte es mit zunehmendem Alter nicht leichter. Seine Frau war vor drei Jahren bei einem Verkehrsunfall gestorben. Sein Sohn, gerade achtzehn geworden, machte ihm schwer zu schaffen. Ladendiebstähle und Drogen, berichtete der Flurfunk. Lauter ärgerliches Zeug jedenfalls. Aber noch war Raimund der Platzhirsch, er hatte schon zu einer Zeit mit Regelmäßigkeit und großem Erfolg Leitartikel verfasst, da hatte ich noch von einem Praktikum beim OSTSEE-BLICK geträumt.

Seit 1991 war der BLICK ein Tochterunternehmen vom Lübecker Echo und gehörte dadurch zu über fünfzig Prozent einem weltweit bekannten Hamburger Verlagshaus. Die Auflage stagnierte normalerweise bei knapp unter zwanzigtausend. Das war nicht schlecht für eine regionale Tageszeitung, aber auch kein Grund zum Jubeln. Unsere Leserschaft lebte hauptsächlich im Küstenbereich Mecklenburgs. Für die Region um Wismar war der BLICK die Zeitung schlechthin. Wer hier auf der Titelseite gedruckt wurde, der war gesellschaftlich ein gemachter Mann.

Für Raimund Tomsen wurde die Luft zwar langsam dünner, aber noch wagte niemand, sich mit offenem Visier gegen ihn zu stellen.

»Raimund! Denk doch an die Chancen, die darin schlummern. Das ist wie das Tagebuch eines Mörders. Da machen wir eine Psycho-Serie daraus. Die Konkurrenz ärgert sich schwarz«, versuchte Malle ihn zu überzeugen.

»Malle« war seit Urzeiten Mahlzans Spitzname beim BLICK, weil er in seinem journalistischen Leben schrägen Geschichten und gewagten Mitteln gegenüber stets aufgeschlossen war.

Mahlzan hatte mitten in seinem Reporterleben in den Neunzigern eine Bande auf der Halbinsel Fischland-Darß-Zingst wochenlang auf eigene Faust beschattet, und im Kielwasser ihrer Einbrüche, meist in die Villen auf dem Millionenhügel in Ahrenshoop, den Aufmacher noch in derselben Nacht druckfertig gehabt. In der Morgenausgabe standen bereits Details exklusiv nachzulesen, bevor die zuständige Polizeidienststelle in Bad Doberan überhaupt Wind von der Sache bekam.

Eine nur schwer zu überflügelnde Glanzleistung, die Malle Name, Rang und Ehre beim BLICK eingebracht hatten.

Auf dem Schreibtisch klingelte schon wieder das Telefon. Die schnelle Eva legte langsam die Feile zur Seite und nahm das Gespräch an.

»OSTSEE-BLICK. Redaktionsleitung. Eva Pretorius am Apparat.«

Es entstand eine kurze Pause, in der sich Fräulein Pretorius symbolisch mit der Hand an die Gurgel griff. Das hieß wohl: Ärger im Anmarsch. Sie reichte mir den Hörer herüber und sagte nur: »Für dich, Norbert.«

»Ich mach Sie fertig«, blökte es wie ein Schaf am anderen Ende der Leitung. »Strauß! Ich mach Sie fertig!«

Der Anrufer hatte die nervige Angewohnheit, fast alles, was er sagte, zu wiederholen.

»Strauß, Sie sind ein Schwein! Ein Schwein! Ein echtes Schwein sind Sie! Wissen Sie, wie man das nennt? Das ist ganz klar Rufschädigung! Ach was, Rufmord! Rufmord ist das! Wir sind eine seriöse Pension. Seriös, verstehen Sie? Keine billige Absteige für irgendwelche Flittchen. Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind, Strauß?«

Ich machte Eva ein Zeichen, den Knopf am Telefon zu drücken, sodass die Kollegen das Gespräch mithören konnten.

»Was glauben sie, wer Sie sind? Ich will Schadensersatz. Ich verklage Ihr Schmierblatt auf Schadensersatz! Ihnen wird noch Hören und Sehen vergehen, Hören und Sehen...«

So blökte es noch eine Weile ohne längere Unterbrechungen, bis seine Atmung stockte. Er holte mehrfach kurz und kräftig und geräuschvoll Luft, das machte wohl die Aufregung.

»Beruhigen Sie sich doch, Herr Kracht. Das ist Kreativität und Pressefreiheit.«

Ich hatte seine erregte Stimme früh erkannt, es war der Wirt vom »Pour La Mère«, der sich nach dem Mord unmittelbar vor seiner Pension schon vor dem sicheren Ruin sah. Carsten Kracht hatte einfach das Pech, das Todesopfer beherbergt zu haben. Das war keine gute Publicity. Aber Publicity ist Publicity und schon lange kein Grund, persönlich beleidigend zu werden.

»In der Regel ist es doch so, dass der Leser weiß, dass der Artikel ein Mix aus Phantasie und Faktenrecherche des Reporters ist. Lieber Herr Kracht, lassen Sie die Kirche im Dorf. Der Name Ihres Hotels wurde heute auf der ersten Seite dreißigtausendfach gedruckt und gelesen – wenn das keine Werbung ist.«

Das krächzende Gestammel des Wirtes nahm bedrohliche Ausmaße an, in diesem Moment überschlug sich seine Stimme. Carsten Kracht, von seiner Pension in der Bademutterstraße Luftlinie keine fünfhundert Meter von unserer Redaktion entfernt, ließ Evas Designertelefon vibrieren.

Der Chef selber drückte auf den Knopf, gab seiner Sekretärin den Hörer, die legte auf, und es wurde angenehm still im Raum.

»So was läuft unter Kollateralschäden«, bemerkte Malle trocken. »Wir müssen jetzt nachlegen, das Eisen schmieden, solange es heiß ist. Drei tote Frauen in drei Monaten! Wie wird das weitergehen? Wie viele soll es noch erwischen? Wer kommt als Täter in Frage? Das müssen wir jetzt recherchieren. Da ist kein Verlass auf hiesige Polizeiarbeit. Das kann noch einmal drei Monate dauern, bis dieser Hansen uns einen Verdächtigen präsentiert.«

Der Chef guckte Tomsen an. Der starrte geschlagen zu Boden und bekam den undankbaren Auftrag, sich ohne zeitlichen Aufschub ins Archiv zu vertiefen und Informationen über Mordserien in der Geschichte der Bundesrepublik zusammenzutragen, damit könnten Folgeartikel in den nächsten Ausgaben entsprechend angereichert werden.

»Und du, mein Lieber!« Malle blickte mich mit funkelnden Augen an, zweifellos hatte ihn der Jagdinstinkt gepackt. »Du eruierst noch heute Nachmittag im Wismarer Gefängnis, ob einer von den dortigen Freigängern die betreffende Zeit nicht in seiner Zelle verbracht hat. Dann heftest du dich an die Fersen des neuen Kommissars. Und gleich für morgen machen wir einen Termin klar auf dem Sofa vom Polizeipsychologen Dr. Möller. Ein guter Bekannter von mir, bei dem habe ich noch etwas gut. Und der sitzt bestimmt an seinem Schreibtisch auf Poel und beginnt mit Genuss, für uns ein Täterprofil zu erstellen. Bessere Hintergrundinformationen kriegst du nirgendwo.«

Er sah mich freundschaftlich, ja fast väterlich an, bevor er gut gelaunt hinzufügte: »Mein lieber Nobbi, dann müssen dir auch nicht wieder die Gäule durchgehen. Dann hat das zur Abwechslung mal alles Hand und Fuß. Nicht wahr?«

Ich hatte es kapiert. Das Besondere war nicht, dass Tomsen statt meiner Wenigkeit in den Keller musste, viel wichtiger war, dass der Chef mich zum ersten Mal Nobbi nannte. Das konnte er nur von Eva haben, diesem Miststück. Die Koseform von Norbert war bis dahin nur Verflossenen oder engen Vertrauten vorbehalten gewesen.

Egal. Nach den erhitzten Diskussionen am Vormittag freute ich mich immer auf die Recherchen am Nachmittag. Das bedeutete, außer Haus unterwegs zu sein, mit Pickrot im Pick-up die Freiheit des Reporterlebens zu genießen. Spätestens um zweiundzwanzig Uhr war dann normalerweise Zapfenstreich, da musste die Story durch den Chef vom Dienst oder von der Leitung persönlich abgenommen werden.

Aber ein Reporter machte keine Pausen, in Stoßzeiten schrieb er die ganze Nacht. Bei einem Extrablatt wurde der Leitartikel auch schon mal morgens um fünf wieder umgeschrieben oder sogar komplett neu verfasst. Seit der Mordserie kannte ich überhaupt keine geregelten Arbeitszeiten mehr. Immer wachsam. Das war mein Motto. Immer auf der Lauer. Immer im Einsatz für den BLICK.

***

Die Justizvollzugsanstalt Am Fürstenhof befand sich am Rande der inneren Altstadt, unmittelbar neben der Kirche Sankt Georgen, einem der drei sakralen, monumentalen Wahrzeichen Wismars. Pike setzte mich direkt vor der Mauer der Haftanstalt ab, er wollte in der Zwischenzeit im Fachhandel ein neues Teleobjektiv ausprobieren.

Bevor ich in die dunklen Verliese des Gefängnisses abtauchen durfte, blinzelte ich in die Sonne. Selten genug, dass sie zu dieser Jahreszeit schien. Vor dem Eisentor begleitete mich Möwengeschrei – der Soundtrack von Wismar, dachte ich etwas geschwollen, da machte es »Platsch«, und ein sehenswerter Vogelschiss schmückte das Schulterstück meiner neuen braunen Wildlederjacke.

Scheiße! Doch so etwas sollte ja angeblich Glück bringen, hatte ich irgendwann einmal gehört. Und Glück brauchte ich jetzt, ob von oben oder anderswo.

Das Gerichtsgebäude und das Gefängnis lagen praktischerweise auf einem Gelände, eben dem früheren Fürstenhof, der einstigen Residenz des Herzogs von Mecklenburg, der sich bereits im 14. Jahrhundert wegen der berüchtigten Aufmüpfigkeit der Wismarer Bürger mit Sack und Pack nach Schwerin verzogen hatte. Sukzessive entstand hier ein Kleinod Mecklenburger Rechtsprechung, geachtet oder gefürchtet (abhängig allein vom Standpunkt des Betrachters) weit über die engen Altstadtgrenzen hinaus. Es diente als Gericht und Stadtarchiv und ein später erbautes Nebengebäude als Haftanstalt, sodass die Straftäter nach ihrer Verurteilung den kürzesten Weg in ihre neue Behausung nehmen konnten.

Laut Auskunft der Pressestelle der Bürgermeisterin der Hansestadt Wismar konnten derzeit von einundzwanzig Insassen drei aufgrund ähnlich gelagerter Verbrechen zu den möglichen Verdächtigen gezählt werden. Einer kam wegen mehrfacher Vergewaltigung, ein anderer wegen Messerstecherei mit Tötungsabsicht und der dritte wegen wiederholtem Exhibitionismus im geschlossenen Trakt des Fürstenhofes zu freier Kost und Logis.

Bei der Leitung der JVA erfuhr ich, dass der letzte Kandidat komplett aus unserem Raster fiel, da er als Wiederholungstäter keinen rechtlichen Anspruch auf Freigang hatte. Hart und ungerecht, wie ich empfand, aber das Los eines Exhibitionisten, das war jetzt wirklich nicht mein Job. Dagegen waren die beiden erstgenannten Häftlinge Freigänger, das hieß, sie durften sich für bestimmte Zeitabschnitte unter strengen Auflagen außerhalb des Fürstenhofes bewegen. Ein Privileg, bei guter Führung zur sozialen Wiedereingliederung gedacht, wovon der Vergewaltiger am letzten Montag gar keinen Gebrauch gemacht hatte. Selig hatte er in seiner Zelle die betreffende Nacht zum Dienstag verschlafen.

Blieb also nur mehr der Insasse mit der klangvollen Häftlingsnummer 23966, der Messerstecher Manfred Kemmann. Er hatte wie die fünf Wochenenden zuvor verlängerten Freigang, das hieß, drei Tage und drei Nächte verbrachte er draußen und erschien erst wieder Dienstag früh pünktlich um sechs Uhr dreißig am Fürstenhoftor zur Wiederaufnahme seiner zweieinhalbjährigen Haftstrafe, von der er zwanzig Monate bereits verbüßt hatte.

Nach Aussage des zuständigen Justizvollzugsbeamten hatte Kemmann genaue schriftliche Angaben zu machen, wo er die Zeit verbringen wollte. Das gesamte verlängerte Wochenende war seine derzeitige Anschrift An der Koggenoor 13 gewesen, die Wohnung seiner langjährigen Freundin Grit Schiffer. Das galt es zu prüfen. Ich fragte nach der Erlaubnis, direkt mit Herrn Kemmann sprechen zu dürfen.

Mit den Worten: »Versuchen Sie nur Ihr Glück, Herr Strauß«, entsprach der Anstaltsleiter vieldeutig meinem Wunsch.

Auf dem Weg durch die Haftanstalt, die bei insgesamt dreiundzwanzig Einzelzellen die überwiegende Zeit des Jahres ausgebucht war, fühlte ich mich beobachtet, obwohl ich weit und breit niemanden zu sehen bekam. Die Insassen hockten hinter dicken Stahltüren. Der Beamte schlenderte mit mir im Schlepptau und seinem Schlüsselbund klingelnd an den Zellen vorüber, um dann am Ende des Ganges die Tür zum Besucherraum zu öffnen.

Beim Anblick des Messerstechers wurde mir schnell klar, was der JVA-Leiter gemeint hatte. Tätowierter und aggressiver ging es kaum, optisch schon mal ein ganz harter Bursche, dieser Kemmann. Und je härter er sich fühlte, umso glücklicher schien er, so mein erster Eindruck.

Mit der Bemerkung, dass er gleich zurückkommen werde, zog der Beamte überraschenderweise die Tür hinter sich zu, schloss ab und trottete draußen auf die gleiche schlurfende Art und Weise den Gang wieder zurück.

Manfred Kemmann kratzte sich am Kopf, nahm einen Pappbecher vor sich vom Tisch, setzte an und schlürfte lautstark ein paar kleine Schlucke, ohne mich dabei aus den Augen zu lassen.

Nach kurzer, sehr einseitiger Vorstellung fragte mich mein bis dahin wortkarger Interviewpartner: »Hast du? Oder hast du nicht?«

»Wie?«

»Na, warst du das, der den Scheiß in die Zeitung gesetzt hat?«

»Ich habe einen Artikel geschrieben, wenn Sie das meinen.«

Er beobachtete mich zwar grimmig, doch mit unverhohlener Neugier. Ich war für ihn eine willkommene Abwechslung in seinem Knastalltag. Mehr nicht, dachte ich.

»Du bist eine hohle Nuss und weißt gar nichts. Du hat ja keine Ahnung! Willst du wissen, wie ein Schlitzer in Wirklichkeit seine Arbeit tut?«

»Gerne, Herr Kemmann.«

»Was soll der Scheiß. Nenn mich Manni, alle nennen mich hier so.«

»Okay. Manni.«

Ein Teufelskerl mit dreister Schnauze, so sah er sich selbst am liebsten. Seine Knasttätowierungen breiteten sich über seine muskulösen Arme den Hals hinauf aus, bis zu einem schwarzen Kreuz mit roter untergehender Sonne mitten auf seiner Stirn. Und das war nur das, was zu sehen und nicht von Hemd und Hose bedeckt war. Reizender Anblick eines humanistisch erzogenen Menschen in seinem etwa vierzigsten Lebensjahr.

»So sticht man zu. Und so. Und so. Und hierhin. Und dahin.«

Beim besten Willen, der Mann hatte einen an der Klatsche. Manni zog doch glatt ein Messer aus dem Stiefel und wollte demonstrieren, wie er sich als Autodidakt den professionellen Umgang mit dem Werkzeug beigebracht hatte. Er drückte sich zwar nicht so gewählt aus, meinte aber das Gleiche, als er ausrief:

»Und so mach ich das. Und so. Schlitz. Schlitz. Das muss man trainieren. Und dann wieder zu.«

Die Klinge zischte in rasender Geschwindigkeit hin und her und zerschnitt die abgestandene Luft in diesem jetzt viel zu kleinen Raum.

Ich war bestimmt kein Kind von Traurigkeit und als Reporter mit feuilletonistischem Anspruch schon gar kein Schöngeist, aber Manni Kemmann war zu viel für mich, seine Kunststücke mit offener Klinge brachten mich zunehmend aus dem seelischen Gleichgewicht.

»Du musst kraftvoll schlitzen, sonst hat das keinen praktischen Nutzwert. So. Du. Und so.«

Manni war gemeingefährlich und hatte mehr als eine Schraube locker. Dem war alles zuzutrauen, auch versehentlicher Mord. Ich kam mächtig ins Schwitzen und schaute Hilfe erflehend zur verschlossenen Tür.

»Ich wüsste nicht, dass wir schon beim Du sind«, erwiderte ich etwas unüberlegt.

Ein reiner Reflex, um Distanz zu schaffen, um ihm durch Autorität Respekt einzuflößen.

»Was quatschst du?«

»Wo waren Sie in der Nacht von Montag zu Dienstag?«

Ich versuchte die Situation in den Griff zu kriegen. Sollte er sein Spielzeug ruhig behalten, das ging mich nichts an. Es war mir nur wichtig, hier gesund wieder herauszukommen.

Er schaute etwas dösig und steckte das Springmesser wieder ein.

»Wie? Wo war ich?«

»Na, in der Nacht, als der Mord an dieser Doreen geschah, wo steckten Sie da?«

»Zu Hause.«

»Wo ist das?«

»Na, An der Koggenoor, wo sonst?«

»Bei Ihrer Freundin?«

»Bei Grit, ja.«

»Grit Schiffer?«

»Ja. Was willst du eigentlich? Mir den Mord anhängen?«

Flink zückte er erneut das Messer und begann wieder wild vor meiner Nase herumzufuchteln, und weit und breit kein Beamter in Sicht. Überall das Gleiche: Wenn man sie braucht, sind sie nie da.

»Manni! Mann! Nimm doch das Ding weg. Steck es ein, sonst sieht es nachher doch noch der Aufseher.«

»Die sehen nix. Alles Dösköppe.«

Ich hatte langsam die Faxen dicke von seiner Wichtigtuerei. »Was macht deine Grit Schiffer denn so?«

»Beruflich?«

»Ja.«

»Fischer.«

»Wie? Die fischt Fische?«

»Ja. Ist halt 'ne Emanzipierte. Kann auch eine Frau, Fische fangen fahren. Deshalb bin ich ja auch immer pünktlich im Knast. Die schmeißt mich um Mitternacht raus. Ihr Boot liegt gleich am Alten Holzhafen, nicht weit weg, dann fährt sie mit dem Kahn aufs Meer. Und ich hol mir am Automaten im Bahnhof noch zwei, drei Büchsen Lübzer zum frühen Frühstück. Ich bin dann zwischen vier und fünf am Tor, da pennt der Wächter meistens noch vorn in seinem Kabäuschen. Dann muss ich über eine Stunde bis Schichtwechsel draußen in der Scheißkälte warten.«

»Wissen Sie, was Sie da sagen?«

Messer-Manni glotzte mich nur doof an.

»Das heißt, Herr Kemmann, Sie haben kein Alibi für die Tatzeit!«

Die Tür flog auf, und der Justizvollzugsbeamte schlurfte mit einem Kaffee herein. Manni steckte rasch sein Springmesser weg und nuckelte unschuldig am Limonadenbecher.

Das sprunghafte Siezen und Duzen in diesem merkwürdigen Interview flog auch weiter wild durcheinander, die Gesprächsführung und der Verlauf unserer Konversation waren wirklich nichts für schwache Nerven.

»Haben Sie Ihre Grit ... damals, meine ich. Hast du auch die Grit mit dem Messer ... gekitzelt?«

Er wurde lauter.

»Bist du plemplem?!«

»Manni! Sie haben kein Alibi und eine einschlägige Vergangenheit. Das nährt einen Anfangsverdacht!«

Er wurde noch lauter.

»Das tut was?«

»Sie sind verdächtig!«

»Halt die Fresse, du Spinner!«

Besseres bekam Messer-Manni zur eigenen Verteidigung nicht zustande. Er stand auf und war plötzlich gar nicht mehr so groß, wie ich vorher angenommen hatte. Er war, um es auf den Punkt zu bringen, fast so breit wie hoch und damit eher als klein zu bezeichnen, vielleicht ein Meter fünfundsechzig, sicher nicht mehr. Lügen hatten kurze Beine.

Manni wuchtete seine Wampe herum, die er bis dahin diskret unter der Tischkante verborgen gehalten hatte, tapste nervös von einem Bein auf das andere und richtete seinen Blick tatsächlich Hilfe suchend an den Beamten.

»Werner! Schmeiß den Kerl raus, der nervt.«

»Sie könnten mit mir zusammenarbeiten, Manni. Ich bring dich groß raus«, versuchte ich, noch schnell die Kurve zu kriegen.

»Werner! Ich will sofort in meine Zelle«, fing er jetzt übertrieben an zu jammern.

»Sie hören, was der Häftling sagt«, richtete sich Werner an mich. »Wir müssen den Besuch jetzt beenden.«

»Manni! Waren Sie vorgestern Nacht in der Bademutterstraße? Haben Sie die Frau erstochen? Sind Sie der Mörder?«

Meine Stimme überschlug sich und war jetzt auch deutlich zu offensiv. Manni wirkte für einen kurzen Moment von der Rolle. Ich bekam Oberwasser, da flog mir ein Becher mit Zitronensprudel an den Kopf und bekleckerte meine schöne Wildlederjacke.

»Du Arsch, du! Komm du hier rein irgendwann! Ihr gehört eh alle eingebuchtet, ihr Schmierfinken. Da kriegst du 'ne Sonderbehandlung von mir. Eine Abreibung, die sich gewaschen hat. Weißt du überhaupt, was man mit solchen Leuten wie dir hier macht? Ich reiß dir den Arsch auf bis zum Stehkragen! Das schwöre ich hoch und heilig, so wahr, wie ich Messer-Manni heiße.«

Dem Wortschwall war in seiner Deutlichkeit nichts hinzuzufügen. Werner führte einen strampelnden und zeternden Manni Kemmann aus dem Besucherraum.

Ich wischte mir mit einem Taschentuch, das mir der Werner freundlicherweise gereicht hatte, das Gesicht trocken und kam so auch endlich dazu, zumindest provisorisch den Möwenschiss auf meiner Schulter zu beseitigen.

Dann machte ich mich allein auf dem Weg zurück durch den Zellentrakt. Ich wollte nur eines: schleunigst raus aus dem Fürstenhof.

3

Mittwoch, den 4. März

Das passierte in den letzten Jahren immer öfter, dass mich die Arbeit bis in die tiefen Nächte verfolgte. Das hieß, ich träumte die halbe Nacht absonderliches Zeugs von Manni Kemmann und Olaf Hansen, der schnellen Eva und der toten Doreen. Tomsen wollte mir ans Leder, und Mahlzan schlug mir pausenlos auf die immer gleiche Stelle auf der rechten Schulter, bis sie schmerzte.

Ich weiß nicht, ob das anderen auch so ergeht, aber für uns Journalisten ist das fast Normalität, eine Art Berufskrankheit.

Schweißgebadet wachte ich viel zu früh auf. Durch das Balkonfenster meiner kleinen Dachgeschosswohnung in der Mühlengrube Nummer 3 drang spärliches Morgengrauen.

Das konnte aber auch täuschen. War der Morgen wolken- und regenverhangen wie so oft hier oben an der Küste, dann verwechselte man im Halbschlaf schnell das ewige tiefe Grau mit der Dunkelheit der Nacht.

Für solche halben Sachen hatte ich einen Wecker, und der zeigte auf kurz vor sieben. Zeit zum Aufstehen, genügend Zeit für ein intensives Studium des druckfrischen OSTSEE-BLICK und noch mehr Zeit zum Nachdenken, wie der heutige Tag zu einer guten Story kommen würde.

Das A und O des Reporters ist die Menschenkenntnis. Sein Geschick wird bestimmt durch die Kunst der Verstellung. Er braucht Informationen, oftmals solche, die man ihm nicht allzu gern geben will.

Empfand sein Gegenüber erst einmal ein Gefühl der Überlegenheit, hatte der geschickte Reporter so gut wie gewonnen. So schnell konnte kein Mensch der Welt den Schalter eines Gespräches umlegen, wie ein erfahrener Reporter seine Substanz aus Gesagtem oder Nichtgesagtem gezogen beziehungsweise den Schnitt im Kopf für den optimalen O-Ton schon vollzogen hatte.

Das Schreiben an sich machte dann nur noch den feinen Unterschied. Für Stil und Technik waren schlichtes Handwerk und, wenn es wirklich sehr gut laufen sollte, ein bisschen Talent vonnöten. Mehr brauchte es nicht. Jeder, der einen Stift führen konnte, eine Schreibmaschine oder einen Computer beherrschte und in der Lage war, einen Satz zu formulieren, konnte für die Tageszeitung einen Artikel oder für den Fernsehbeitrag seinen Off-Text schreiben. So simpel erschien mir manchmal mein Leben.

Doch bereits in meinem Alter mit Mitte dreißig fing es an: Kaum etabliert, musste man nachlegen, einfach immer ein bisschen schneller als die anderen sein, ein bisschen mutiger, fieser, aggressiver. Der Druck durch die jungen Wilden, die Upstarts, die einem das Terrain streitig machten, wuchs von Monat zu Monat, dann von Woche zu Woche. Die eigenen Mittel wurden vager, der Stil glatter, die Absichten kälter.

Der Schlaf war dann kein gerechter mehr, die Kemmanns oder Mahlzans dieser Welt drangen in die Träume ein und machten damit das Leben zum Alptraum.

Die Villa der Familie Möller stand auf Poel, der kleinen Insel, keine fünfzehn Kilometer nördlich von Wismar gelegen. S. K. Möller hatte sich hier mit seiner attraktiven Frau Christine und ihrer vierjährigen Tochter Nele vor drei Jahren im kleinen Ort Am Schwarzen Busch niedergelassen.

Auf der Insel Poel bauten die Leute, die für Sylt, Binz oder auch Ahrenshoop nicht das nötige Kleingeld hatten und dennoch die Exklusivität suchten. Hier waren in der letzten Dekade teure Reetdachhäuser und schönste Sommervillen für betuchte Großstädter oder erfolgreiche Mecklenburger entstanden, die einfach dabei sein wollten. Polizeipsychologe Möller gehörte samt Familie zu den Letzteren.

Und doch war er beim Hauserwerb cleverer als die vielen Neureichen, Möchtegernreichen oder all die anderen Emporkömmlinge gewesen, die zu schnell oder zu teuer gebaut hatten. Die Möllers hatten sich ihr Anwesen aus einem reichen Pool der Zwangsversteigerungen von Inselimmobilien gefischt, die am Amtsgericht Wismar mittlerweile zum traurigen Alltag gehörten. Das Resultat konnte sich sehen lassen: eine Halbemillionenvilla für weniger als die Hälfte.

»Drei Morde in drei Monaten. Und niemand weiß, wie es weiter gehen wird. Wir müssen schleunigst reagieren, es herrscht dringender Handlungsbedarf.«

In seinem geschmackvollen Arbeitszimmer saßen wir uns gegenüber, er hinter einem mittelgroßen Berg von Akten referierend, ich mit Stift und Block wie sein Sekretär andächtig vor seinem massiven Schreibtisch.

Dr. S. K. Möller war mit dem alten Mahlzan und den jeweiligen Ehefrauen im gleichen Reitclub, das verpflichtete natürlich, und die Pflichten beruhten auf Gegenseitigkeit. Der Unterschied zwischen den beiden mächtigen Ms war eigentlich nur, dass Möller schon allein des Images wegen gern ritt und Mahlzan viel lieber beim örtlichen Fußballverein das Zepter des Präsidenten schwang.

Übrigens stehe das Kürzel S. K. für Seelenklempner, erzählte man sich in der Redaktion – ein Treppenwitz, mehr nicht.

Sönke Knut Möller war ein smarter junggebliebener Mittfünfziger, sportlicher Typ, volles schwarzes Haar, Sommer wie Winter gesunder Teint, einer, der stets das Beste aus seinen Möglichkeiten gemacht hatte, privat wie beruflich.

Mahlzan und Möller waren Schulfreunde, beide machten sie die Bänke des humanistischen Städtischen Geschwister-Scholl-Gymnasiums unsicher, bevor S. K. am Ende das weit bessere Abiturzeugnis in der Tasche gehabt habe, wie der Chef gelegentlich ehrlich anerkennend versicherte.

Und obwohl sie nunmehr in Wismar in ihren Funktionen auf sehr verschiedenen gesellschaftlichen Seiten standen, brauchten sie einander in schöner Regelmäßigkeit. Der BLICK wollte eine Fortsetzung der Story, am besten schon am nächsten Morgen, und die Polizei benutzte unsere Lokalzeitung, um den Täter durch gezielte Informationen indirekt anzusprechen.

»Schlag aufs Schilf, und du scheuchst die Schlange auf!«, kommentierte ich die Vorgehensweise.

S. K. schaute mich kurz forschend an, fragte dann aber nur: »Schreiben Sie mit, Herr Strauß?«

»Klar. Los geht's.«

»Es handelt sich in meinen Augen um einen Mann mittleren Alters, so etwa zwischen vierzig und fünfundfünfzig. Das ist nur eine Schätzung, genauer lässt sich das zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht sagen. Ein Triebtäter, der in der letzten Zeit seinen Trieb nicht ausleben konnte. Denn er ermordet die Mädchen, missbraucht sie aber nicht. Wahrscheinlich kann er nicht mit ihnen verkehren, oder er will es aus irgendeinem Grunde nicht.«

Bis hierhin klang alles plausibel und nahe liegend.

»Pervers und impotent!«, fügte ich mit Kennermiene hinzu.

Möller ging nicht darauf ein.

»Ich glaube, er hat oder hatte einmal eine große Anziehung auf das weibliche Geschlecht. Ein Schwerenöter, könnte man altbacken formulieren, der aus einem uns bislang unbekannten Motiv zum Serienmörder wird.«

»Wurde!«, verbesserte ich.

Dieses Mal schaute mich S. K. stirnrunzelnd an.

»Die Serie ist nicht beendet«, fügte er wissend hinzu. »Wir müssen davon ausgehen, dass der Täter sich schon bald das nächste Opfer sucht. Es ist für ihn wie eine Sucht, wie ein Blutrausch, etwas, das er trotz seiner offensichtlich akribischen Planung im Grunde gar nicht mehr kontrollieren kann.«

Das klingt nach viel Arbeit, dachte ich und sah die Fortsetzung meines Tagebuches eines Mörders schon vor meinem inneren Auge.

»Sie haben da wirklich ein gutes Näschen bewiesen mit Ihrem ersten Artikel zum Tathergang. Meinen Respekt, Herr Strauß.«

Und das aus berufenem Munde, ich fühlte mich geschmeichelt.

»Ihre etwas spekulativen Gedankengänge könnten der wahren Intention des Mörders relativ nahekommen. So wie er die Mädchen inspiziert und verfolgt, so wie er sie gnadenlos brutal verstümmelt, das lässt Rückschlüsse zu auf ein äußerst seltenes pervertiertes Bedürfnis und auch auf seinen schier unstillbaren Hunger. Das ist vergleichbar mit einem Alkoholiker, der keinen Schnaps mehr kriegt und keinen anderen Ausweg weiß, als zum Brennspiritus zu greifen. So oder ähnlich müssen Sie sich das bei einem Psycho-Killer vorstellen. Es geht bei unserem Jack the Ripper nicht primär um die Lustbefriedigung, sondern um das Gefühl der Macht, das ihm bis zum Augenblick des ersten Messerstichs fehlt.«

»Der Ripper von Wismar«, schrieb ich begeistert in meinen Block, als sich die Tür öffnete und Christine Möller mit leisen Schritten und einem Tablett das Arbeitszimmer ihres Mannes betrat.

»Möchten Sie mit oder ohne Zucker?«

Der Tee in der Kanne dampfte.

»Kein Zucker, keine Milch«, dankte ich freundlich.

»Einfach pur. So mag ich es auch am liebsten«, flüsterte sie mit einem bezaubernden Lächeln.

Ich schluckte und verschluckte mich fast.

»Die Eroberung von Frauen ist ihm zum Zwang geworden«, fuhr der Polizeipsychologe in seinen Ausführungen ohne Pause fort, »aber die bloße Eroberung, wie Sie und ich und andere Männer sie kennen, reicht ihm nicht mehr aus, sie hinterlässt in seiner Seele eine klaffende Wunde.«

»Faszinierende Vorstellung, nicht wahr?«, fügte seine charmante Gattin hinzu.

Ob sie damit die Ausführungen ihres Mannes oder den psychischen Zustand des Mörders meinte? Ich wusste es nicht. Ich nickte nur. Mit ihrer Attraktivität konnte ich nur mehr schlecht als recht umgehen. Sie war etwa Mitte dreißig, hatte kastanienrotes Haar, eine intelligente Physiognomie und eine sehr erotische Ausstrahlung, vielleicht einen Hauch zu sexy für die Mutter eines vierjährigen Mädchens.

»Die Wunde schreit nach Vergeltung. Eine Vergeltung, die nie gänzlich befriedigt werden kann, sodass der Kreislauf aus Eroberung, Wunde und Rache zu einem ihn gänzlich beherrschenden Ritual wird.«

Was ein Psychologe alles aus ein paar diffusen Kampfspuren und unzähligen Messerstichen herleiten kann – ich war beeindruckt.

Möller war dafür bekannt, in die Seelen der Verbrecher und Psychopathen zu kriechen. Darin war er Experte, angesehen in Fachkreisen weit über die Grenzen Wismars hinaus.

»Habt ihr noch Wünsche, die ich erfüllen könnte?«, fragte seine Christine.

»Danke, mein Liebling. Ich glaube, wir sind glücklich.«

Seine Frau schaute noch einmal lächelnd herüber und verließ uns genauso leise und stilvoll, wie sie vorhin eingetreten war. Die Tür schloss sich hinter ihr. Für eine viel zu kurze Zeit hing ein Duft im Raum, der mich zum Träumen brachte.

S. K. Möller räusperte sich. Was blieb, war eine Lücke zwischen meinen Gedanken und natürlich der Tee, der in den Tassen auf dem Tisch zwischen Möller und mir einladend dampfte.

»Ein Mann mit komplett gespaltener Persönlichkeit.« Der Psychologe war in seinem Element. »Im Alltag ist er eher unauffällig, geht diszipliniert seiner Arbeit nach, wirkt zufrieden, ja vielleicht sogar glücklich mit sich und der Welt. Schaut man aber genauer hin, merkt man deutlich, dass dieses Glück nur eine gekünstelte Fassade ist. Er ist ein prächtiger Blender und versteht sich perfekt darzustellen. Mehr nicht, aber auch nicht weniger.«

Nach einer kurzen, mit Bedacht gewählten Pause setzte er hinzu: »Für uns stellt sich jetzt die Aufgabe, die Spaltung zwischen seinem äußeren und seinem inneren Ich zu erkennen und zu unterwandern. Äußerlich charismatisch und anpassungsfähig. Und auf der anderen Seite seiner Seele paranoid und beherrscht durch starke negative Emotionen.«

Das Wir-Gefühl, das Möller sehr gezielt betonte, holte mich aus der Tagträumerei von Christine, fünfunddreißig, schlank, schön, ein Kind, zurück in die Realität meiner Reporterfunktion.

Mir klebte die Zunge am Gaumen, ich nahm einen Schluck Tee.

»Wir müssen ihn provozieren und aus seiner Deckung locken. Richtig?«

»Richtig, Herr Strauß. Und hier kommt Gregor ... Ähh ... also Herr Mahlzan ins Spiel, der sich in diesem Fall für Sie starkgemacht hat. Es ist aber auch im behördlichen Interesse. Ab heute arbeiten wir für eine geraume Zeit zusammen, ich meine damit den OSTSEE-BLICK und die Polizei. Und zwar solange, bis der Täter einen entscheidenden Fehler macht oder ...«

Er stockte und überlegte gewissenhaft, ob er das Folgende sagen oder es lieber lassen sollte. Lächelnd entschied er sich, es auszusprechen: »... oder sich freiwillig meldet.«

Ich verstand ihn nicht. Noch nicht. Aber eines wusste ich mit Sicherheit: Aus meinen Aufzeichnungen ließ sich eine Menge stricken, die Story nahm zügig Fahrt auf.

Ich verabschiedete mich beim Dr. Möller, bestellte etwas ungeschickt die schönsten Grüße an die entzückende Gemahlin und saß eine Minute später neben Franz Pickrot im Pick-up, der vor der Villa der Möllers Am Schwarzen Busch auf Poel geduldig gewartet hatte.

Pike schmökerte in einem Pornoheft, warf das Blatt auf die Rückbank, startete durch und wollte nichts wissen. Ihn interessierten nur gute Motive, erklärte er kurz und bündig, nicht das Geschwätz von so einem Psychoheini. Er war Reporter so wie ich. Während ich pro Zeile bezahlt wurde, machte er sein Honorar ausschließlich mit Fotos. Das war der einzige Unterschied.

Also schwiegen wir uns auf der Rückfahrt an und hingen jeder für sich unseren eigenen Gedanken nach. Ich hatte das ungute Gefühl, dass mir eine lange arbeitsreiche Nacht bevorstand.

Der Weg von der Insel zum Festland führte immer wieder durch eine der reizvollsten Naturkulissen der Region: Pikes Pick-up rollte auf einem schmalen Damm über einen dünnen Meeresarm der Ostsee, dem Breitling, der mit seinem Schwemmland und seinen Prielen ein einzigartiges Refugium für Wasservögel und anderes dort nistendes Federvieh bedeutete. Links und rechts von uns war die See auf einer Breite bis zu einem Kilometer wahrscheinlich nicht tiefer als einen Meter.

Wer vor über zweihundert Jahren auf die Insel wollte – als es noch keinen Damm gab – und kein Boot oder Geld hatte, der musste hier mitten durch den Breitling waten. Und wenn die Bauern heute ihre Schafe und manchmal sogar Pferde zum Grasen auf die sich aus dem Wasser erhebenden Salzwiesen führten, konnte man im Gegenlicht der tief stehenden Sonne denken, die Gäule stünden unmittelbar auf dem Meer.

So geriet man mit dem Blick auf den Breitling und seine unberührte Natur schnell ins Träumen. Das galt für die knappe Freizeit, die ich gerne in dieser Gegend verbrachte, aber auch den verdienten Jahresurlaub, den mittlerweile viele Menschen aus der ganzen Republik mit Vorliebe auf Poel verlebten.

Aber Pike und ich waren im Einsatz. Da hatte man leider nur wenig Sinn für die Reize der Landschaft und die Schönheiten der Heimat. Denn Heimat war es für uns beide. Pike stammte vom Darß. Und ich war zwar ein geborener Hamburger Jung, hatte den letzten Teil meiner Jugend aber im Seebad Boltenhagen verbracht, einen Steinwurf von Wismar entfernt. Meine Mutter wollte nach der Wende unbedingt sofort ans Meer nach Mecklenburg-Vorpommern ziehen, eine weise Entscheidung, wir hatten das beide nie bereut.

Erst zehn Jahre später und nach einem abgebrochenen Studium in Rostock hatte ich dann beim OSTSEE-BLICK angeheuert. Der BLICK war zu meiner neuen Heimat geworden. Doch auch Heimat kann vom Traum schnell zum Alptraum werden.

In der Verlagskantine saß ein frustrierter Raimund Tomsen über einem dicken Erbseneintopf mit Bockwurst und Apfelschorle. Tomsen stocherte eher lustlos in seinem dampfenden Erbsenbrei herum. Ich leistete ihm mit einer Cola Gesellschaft.

»Wir hätten da eine Kleinigkeit zu klären!«, begann er durchaus kollegial gestimmt.

»Die Karten sind neu gemischt, das muss ich akzeptieren. Ich möchte aber nicht, dass wir zukünftig nebeneinander herarbeiten, geschweige denn uns als Konkurrenten in die Parade fahren.«

»Ganz meine Meinung.« Ich war froh, dass er die Niederlage sportlich nahm.

»Ich bin kein Freund deiner Phantastereien. Aber wie immer heiligt die Auflage die Mittel.«

Darauf meinen Segen.

»Du bist ein aufstrebender Reporter mit Biss und Leidenschaft. Du stehst für die Zukunft des BLICK. In jedem Journalistenleben geht es aber auf und ab. Das passiert zyklisch und funktioniert wie ein Naturgesetz.«

Der Ältere wollte dem Jüngeren anscheinend zeigen, wo der Hammer hängt. Sollte er, ich hielt mich bedeckt.

»Schreib du nur weiter an deinem Tagebuch eines Mörders, meinetwegen bis zum bitteren Ende. Aber halt mich über den Stand der Dinge auf dem Laufenden.«

»Welchen Stand der Dinge?«

Ich stellte mich ahnungslos.

»Ich meine den Stand der Ermittlungen. Du arbeitest ab heute im Auftrag von Malle mit den Polizeiorganen zusammen. Und ich möchte, während ich im Archiv Akten entstaube, nicht das Geringste vom Geschehen an der Kriegsfront versäumen. Verstanden?«

Etwas übertrieben pathetisch setzte er hinzu: »Das bist du mir schuldig.«

»Warum?«

Ehrlich, ich war mir keiner Schuld bewusst.

»Wenn man sich so rasant wie du auf dem Weg nach oben befindet, vergisst man schnell, woher man kommt und wem man was zu verdanken hat.«

Tomsen sprach in Rätseln. Zugegeben, er war über Jahre die Nummer eins im Stall, und ich hatte mir sicher das eine oder andere von ihm abgeguckt. Aber daraus irgendwelche Ansprüche abzuleiten, das schien mir übertrieben.

»Tomsen! Du bist der Beste beim BLICK. Und ich werde nie vergessen, wie du mir damals die Modenschau in Heringsdorf vermittelt hast. Die Story war der Durchbruch für mich.«

Ich versuchte es mit der schmeichlerischen Tour.

Tomsen nickte, er hatte das Gedächtnis eines Elefanten.

Das Ganze ist mittlerweile fast zehn Jahre her. Was er jedoch geflissentlich unterschlug, war, dass er selber unter keinen Umständen dorthin gewollt hatte.

Zweimal im Jahr war damals die Modewelt zu Gast in Heringsdorf gewesen. Zweimal im Jahr hieß es „Usedom Wants Fashion“. Jedes Mal handelte es sich um denselben langweiligen Laufsteg mit den gleichen nichtssagenden Fummeln von denselben hauptsächlich norddeutschen Möchtegern-Designern.

Kein Reporter des Landes wollte zur fünften Auflage der Veranstaltung freiwillig dorthin, es sei denn, er gierte nach einer der vielen pommerschen Jungfrauen, die hier aus Vor- oder Hinterpommern zusammenkamen und von denen jede ihren Traum von einer steilen Karriere träumte.

»Ja, das war damals gute Arbeit, Norbert!« Tomsen nickte noch einmal anerkennend.

Ich hatte mich während des Fashionweekends in mehrere naive Herzen geschlichen und so an der Quelle eines für die hiesigen Verhältnisse echten Skandals gesessen.

Denn der Herr Veranstalter hatte schon im Vorspiel regelmäßig minderjährige Mädchen flachgelegt, seine Bedingung für ihren großen Auftritt beim wichtigsten Usedomer Society-Event.

Eine Vierzehnjährige packte erst vor mir und dann auch vor dem Richter aus, und bugsierte damit den Heringsdorfer Big Boss wegen wiederholter Verführung Minderjähriger und schwerer Vernachlässigung seiner Fürsorgepflicht für ein Jahr in den Knast nach Rostock, ohne Chance auf Bewährung.

Wenn mir meine Erinnerung keinen Streich spielte, hieß die Vierzehnjährige ulkigerweise Claudia Klump. Sie machte später eine bescheidene Modellkarriere in norddeutschen Landen. Mit der Erlaubnis ihrer Eltern gab sie mir als einzigem Reporter ein Interview, das damals eins zu eins auf Seite eins im BLICK gedruckt wurde.

»Okay, Tomsen. Ich liefere dir alle Infos, die ich kriegen kann, und du hältst mir dafür in Zukunft beim Chef den Rücken frei.«

Eine Hand wusch die andere, so war es, und so würde es immer sein im Haifischbecken Medienwelt.

»Abgemacht, Norbert. Und nenn mich ruhig Raimund.«

Wie stießen stilecht mit Cola und Apfelschorle an und beschlossen flachsend den ersten inoffiziellen Friedenspakt im OSTSEE-BLICK.

Und dann tauchte der Möwenkopf-Mann auf. Nicht dass er sofort so komisch hieß, den Namen bekam er erst im Laufe des Tages. Pike hatte sich die Fotos von der Bademutterstraße noch einmal buchstäblich unter die Lupe genommen. Mehrere seiner Schnappschüsse, die er in der Menge der Schaulustigen um den Tatort herum gemacht hatte, zeigten immer wieder einen Typen, der uns fremd war und irgendwie komisch aussah.

Uns beiden war er vor Ort gar nicht aufgefallen. Doch hatte er sich wie von Geisterhand in schöner Regelmäßigkeit vor die Linse gedrängt. Ob gezielt oder zufällig, das hätte er uns nur selbst verraten können.

Pike ging dann logisch vor und verglich die Fotos vom letzten Tatort mit den Motiven vom Leichenfund an der Nikolaikirche und denen am alten Speicher. Und tatsächlich tauchte neben diversen unterschiedlichen Gesichtern nur dieser eine uns unbekannte Mann immer wieder um alle drei Leichen herum auf.