Wismarbucht - André Bawar - E-Book

Wismarbucht E-Book

André Bawar

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Beschreibung

Auf der Ostsee herrschen Sodom und Camorra! Organisierte Hehlerei, brutale Piraterie, ein Totenkopf tanzt auf den Wellen - und mittendrin die "Dicke Auster", das pfeilschnelle Küstenstreifenboot mit Oberkommissar Olaf "Ole" Hansen und Kriminalassistent Kubsch von der Wismarer Kommandantur. Ein Küsten Krimi - so delikat wie Lottes Pfeffermakrelen und so spritzig wie die Ostseegischt.

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André Bawar, 1962 in Schleswig an der Schlei geboren, arbeitete nach Abschluss seines Studiums der Kommunikationswissenschaften und Soziologie zwanzig Jahre lang als freier Autor für Fernsehsender in Berlin. In seiner Wahlheimat Wismar entstand nach dem Debüt-Roman »Lachsblut« nun sein zweiter Kommissar-Hansen-Krimi mit dem Titel »Wismarbucht«.

www.moewenkopf.de

Menschen, Tiere und Sensationen in diesem Roman sind frei erfunden. Sollten sich dennoch Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Wesen ergeben, so sind diese nicht gewollt, sondern rein zufällig.

© 2010 Hermann-Josef Emons Verlag Alle Rechte vorbehalten Umschlagzeichnung: Heribert Stragholz Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch, Berlin eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, LeckISBN 978-3-86358-003-2 Küsten Krimi Originalausgabe

Unter falscher Flagge Kurs Nordnordwest,zu dritt hielten sie das Steuerrad fest.Backbord wird ein Schiff gerammt,der Ausguck hatte es zu spät erkannt.…Die Fahrt ist zu Ende, ein Leck im Bug,von achtern tönt der Enterruf.Wir lassen die Karre am Straßenrand stehen,versuchen zu Fuß zur Party zu gehen.…

Die Toten Hosen, 1984

Für Janka und Julika

Prolog

Liber proscriptorum

Die zwei Wismarer Bauernburschen Balhorst Boldelage und Lucius Craan hätten heute zwei weitere zur Anzeige gebracht, da die Beschuldigten in einer Schlägerei im Brauhaus am Lohberg zu Wissemara den besagten Kerlen verschiedene Knochenbrüche und je fünf blaue Flecken zugefügt hätten.

Die Angeklagten seien dem Stadtrat als Gherardo Torfmann, Knecht des Popen, und Nicolao Stortebeker, geächtet und frei von hanseatischer Bestallung als Kapitän einer Seeräuberkogge, am Platze bekannt.

Beide Beschwerdeführer hätten übereinstimmend beschrieben, dass der Beklagte Stortebeker nach einer zweistündigen gemeinsamen Probe ihrer Trinkfestigkeit einen Vier-Liter-Humpen Bier dem einen und einen ellenlangen Becher Wein dem anderen über deren Schädel geleert und hernach gezogen habe.

Die folgenschwere Schlägerei auf der offenen Empore obiger Brauereistube sei von einem halben Dutzend städtischer Büttel mit Mühe unterbunden worden. Der angeschuldigte Raufbruder Gherardo Torfmann sei festgenommen und ihm seien die Bürgerrechte aberkannt worden, und der beklagte Unruhestifter Nicolao Stortebeker sei in dem handgreiflichen Zanke nicht dingfest gemacht worden und über das Brauereidach geflohen. Das Brauhaus sei wegen des Wiederholungsfalles auf Anweisung des Stadtkämmerers augenblicklich geschlossen.

Der Büttel habe die Meldung bestätigt, der flüchtige Freibeuter sei bärenstark und unverwundbar. Selbst ein kräftiger Degenhieb mitten auf seine Brust habe zu keiner Abkühlung seines Gemütes geführt. Im Gegenteil: Als ob Stortebeker mit dem Höllenfürsten paktiere, habe er mit dem eigenen Dolche sein zugehöriges Wams verzieret. Dies sei allemal dem übermäßigen Hopfengenuss geschuldet.

Eine irdische Erklärung sei das bei der Schlacht vor Marstal vom Seeräuber erbeutete Artefakt des heiligen Vicentius, dessen Reliquie Stortebekers Torso vortrefflich gegen Pfeile und Klingen schützen helfe. Nach dem heutigen Vorfall erlaube sich der Stadtrat, den flüchtigen Raufbold ein weiteres Mal zum Zwecke der Vorführung bei Scharfrichter Petersen ins Fahndungsbuch einzutragen.

Noch am selbigen Abend hätten zwei Fischer bekundet, den Stortebeker am Hafen zu Wissemara gesehen zu haben, wie er vier Fässer Heringe und über fünfhundert Brotlaibe ohne schriftliche Bevollmächtigung an sogenannte bedürftige Bürger leibhaftig verteilt habe. Ein hinzugeeilter besoldeter Nachtwächter habe ihn, erhaben über jeden Zweifel, als den Beklagten aus dem Brauereistreit ermitteln können.

Merkmale der Wiedererkennung seien mehrerlei: das wirre lange Haar, der wilde dunkle Bart, das dick wattierte Wams, hohe lederne Stulpenstiefel. Und an seinem Hosenbunde habe unerlaubt ein roter Lappen gehangen, der joli rouge des fernen Franzmanns. Der Posten habe ihn angerufen und Zeichen gesetzt, dass fremde Flagge dicht vor dem Stadttor Gesetzesbruch bedeuten könnte.

Der Unhold habe darauf nur eine Handvoll Heringe genommen und sie dem Wachmann, der allein der Einhaltung städtischer Verordnung nachgekommen sei, mit dem bezeugten Schlachtruf »Aller Welt Feind. Und Gottes Freund!« in den Schlund gedrückt.

Die Menge habe unrechtmäßig gejubelt.

Der Vorfall könne als Zeichen von Aufruhr und Brechung des ewigen Landfriedens der langen Liste der Bosheiten von Nicolao Stortebeker anhängig gemacht werden.

Ungesehen – der Gesetzesbrecher habe keine Ehre, verstoße willentlich gegen gute Sitten, sei von vorlauter Natur und einer, der der Hanse schweren Schaden bereite. Fortan gelte er als niederträchtige Kreatur.

Bevor der zuständige Schultheiß den Büttel habe senden können, sei der Fliehende unter Umgehung des Wassertors nochmalig dem Zugriff über einen Geheimgang durch den nahen Deich bis zum offenen Meer hin entkommen.

Hermann Kroners, der wachhabende Kommandant im Rathaus, habe noch nächtlich in einer Begehung die Länge des geheimen Tunnels mit zweihundertzwanzig Ellen festgestellt. Seine Tore von Land- wie Meeresseite seien auf städtische Anordnung unwiederbringlich mit frischem Torfmull verschüttet worden.

Der Angeklagte werde heutigentags auf der gesuchten Kogge Likedeeler in tieferen Gewässern der Mecklenburger Bucht vermutet. Hermann Kroners übernehme die Aufgabe, mit zwei Kanonenkoggen am morgigen Kirchtag den gefährlichen Grobian zu stellen und ihn ohne Zögern dem Kellerverlies des Schlosses Gottesgabe zu Schwerin zu überbringen.

Anno Domini 1380 im Wonnemond zu Wissemara

1

Donnerstag, den 21. Mai

Es war morgens kurz vor halb acht, als Lotte Nannsen in den Alten Hafen schlurfte, um ihren Kutter aufzusperren. Heute wollte sie ausnahmsweise etwas früher Klarschiff machen, weil zu Himmelfahrt das Geschäft mit Fischbrötchen brummte. Das lag zwar weniger am kirchlichen Feier-, als vielmehr am gleichzeitigen Herren- oder Vatertag, aber für eine Fischverkäuferin war das unerheblich. Der Unterschied zu sonst: Die Männer mit den Bollerwagen kamen früh, der Rest der Familien meist erst gegen Mittag.

Später gab sie zu Protokoll, dass sie schon aus der Ferne verwundert gewesen sei, dass das obligatorische Willkommensgeschwader der Wismarer Seemöwen fehlte. Die treuen Vögel saßen sonst in Reih und Glied und in aller Stille auf dem Dach ihrer Kajüte und linsten gelassen der Lotte entgegen, um sie dann mit einem heiseren Krächzen und einer kleinen Ehrenflugrunde in vertrauter Art zu begrüßen.

Heute Morgen jedoch störte ein massives, vielfach aufgeregtes, kehliges Geschrei, begleitet von heftigstem Flügelschlagen irgendwo hinter der Backbordwand des Fischkutters, die Ruhe des gemütlichen Hafens und der fünfundsechzigjährigen Lotte Nannsen. Rund um ihr Boot öffnete die rüstige Mecklenburgerin mit Schwung die schweren Regenplanen und guckte über die Reling, wo sie den Grund für das Gezeter vermutete.

Der Anblick war nichts für schwache Nerven. Im Brackwasser der Ostsee dümpelte ein Kopf, der bei leichtem Seegang mit stetigem Klopfen gegen die Außenwand des Kutters bollerte. Die Seemöwen machten sich zeternd und balgend an ihm zu schaffen, sie hatten den Morgen über ganze Arbeit geleistet. Die Physiognomie war grotesk zerpickt.

Mit drei gezielten Schüssen in die Luft mussten Oberkommissar Hansen und ich die Biester erst einmal verjagen, bevor wir uns jetzt mit Lotte Nannsen gemeinsam über Backbord beugten und staunten. Tatsächlich, ein Menschenkopf!

Oder das, was von ihm übrig geblieben war. Aufgedunsen und bleich, mit mächtig zerpflückten Hautflächen. Das rechte Sehorgan fehlte komplett, ein bisschen Glibber mit Seewasser schwappte am Grund der Augenhöhle. Das linke sah man nicht sofort, da eine schwarze Filzklappe über ebenjenem vermutlich unversehrten Auge mit einem elastischen Band befestigt war. Aus dem langen, lasch herabhängenden Hals hingen noch längere weiße Venen- und Fleischfäden heraus. Keine Frage: der Kopf eines männlichen Individuums.

»Das ist Quatsch!«, knurrte Hansen jetzt. »Denken Sie mal logisch, Kubsch!«

»Was ist Quatsch, Chef?«, fragte ich irritiert zurück.

»Das mit dem linken unversehrten Auge.«

Wo er recht hat, hat er recht. Die Augenklappe war ein untrügliches Zeichen dafür, dass vermutlich auch mit dem anderen Sehorgan irgendetwas nicht stimmen konnte. Unwillkürlich fummelte ich etwas verlegen an meiner Brille herum.

»Aber davon mal abgesehen, tut das jetzt auch nichts zur Sache.«

Mein Chef war kein Freund vieler Worte, vor allem dann nicht, wenn die Arbeit rief. Lotte war da anders, die war stadtbekannt für ihre plattdeutschen Weisheiten. Sie hievte drei Kisten fangfrischen Fisch, die an der Kaimauer geduldig auf sie gewartet hatten, auf ihren Kahn.

»De Jung ward nich mihr ut keen kieken können.«

Für das Protokoll war die Bemerkung unerheblich, dennoch wollte ich jede weitere wesentliche Aussage aus Gründen des besseren Verständnisses gleich auf Hochdeutsch in meinen Klappblock notieren.

Zwei Kollegen von der Spurensicherung rückten an. Mit langen Stangen, an deren Enden in der Morgensonne Metallhaken glänzten, versuchten sie den Kopf, der jetzt wie ein Fußball im Wasser unberechenbar herumdriftete, aus dem Hafenbecken zu fischen.

»Da stimmt was nicht!«

Hansen beobachtete die ungeschickten Bemühungen unserer Kollegen.

»Klar«, ergänzte ich selbstsicher, »da fehlt der Rest.«

Der Rumpf schien unsauber abgetrennt, aber auch nach einem ersten gewissenhaften Suchen war er bislang nirgends im Hafenbecken und näheren Umfeld der Segelboote oder Fischkutter aufgefunden worden.

»Das mein ich nicht«, entgegnete er kühl und fügte nach einem kurzen Moment des Nachdenkens erklärend hinzu: »Der Kopf schwimmt oben! Das kann nicht sein.«

Hansen grübelte, ich auch.

Wasserleichen waren für die Wismarer Polizei keine Seltenheit. Die Ostsee konnte ganz schön ungemütlich werden, in einer Hafen- und Küstenregion, in der sich Fischer, Segler und Touristen tummeln, gehörten Seeunglücke fast schon zum traurigen Alltag. Es verging kaum ein Jahr ohne verunglückten Seemann beziehungsweise Badegast.

Fand man die Leiche nicht sofort, sogen sich die Lungen voll Salzwasser, und der Tote ging nach allen Regeln der Physik kurze Zeit später unter. Vorausgesetzt, dass er sich nicht im Seetang oder Fischernetz verhedderte, kehrte der Körper dann nach etwa drei Tagen wieder an die Wasseroberfläche zurück. Durch den Verwesungsprozess entstanden Fäulnisgase, die die Leiche aufblähten und nach oben trieben.

Aber so eine Wasserleiche schwamm nicht ewig. Nach drei bis vier Wochen war die Haut so vollgesogen mit Flüssigkeit, dass der Leichnam fast das Doppelte an Masse hatte, dann sank er aufgrund seines Gewichts zum letzten Mal und endgültig auf den Grund des Meeres. Der Tote wurde langsam zu Modder und war dann irgendwann ganz weg.

Das Ganze funktionierte nur auf der Basis eines geschlossenen Systems. Davon konnte man bei einem einzelnen Kopf natürlich nicht sprechen.

Die beiden Kollegen von der Spurensicherung hatten endlich Erfolg und balancierten den Schädel zwischen zwei Stangen von der Wasseroberfläche in ein Auffangnetz und kippten ihn von dort kullernd auf eine schwarze Plastikplane, die man vorausschauend an der Kaimauer ausgelegt hatte.

Neben Lotte, der Fischbrötchenverkäuferin, versammelten sich die ersten neugierigen Schaulustigen, die an diesem Feiertag sehr früh den Weg zum Hafen gesucht und gefunden hatten. Nun standen sie auf ihrem morgendlichen Spaziergang im angemessenen Abstand um einen Leichenkopf herum.

Ich war zwar schon seit fünf Jahren bei der Polizei, davon zwei Jahre als Kriminalassistent bei der Kripo Wismar, als sogar ein Serienmörder monatelang in der Altstadt sein Unwesen getrieben hatte, aber so ein Totenschädel war auch für mich ein gruseliger Anblick.

»Kennt den jemand?«, fragte ich in die Runde. Die meisten glotzten entsetzt und schüttelten nur ihren eigenen, ohne den Blick von dem aufgedunsenen, zerfledderten Kopf abzuwenden.

Hansen kniete jetzt auf der Plane und begutachtete den Schädel genauer. Dazu benutzte der Kommissar einen Bleistift, mit dem er hier und da in den Öffnungen des Kopfes herumpulte.

»Da haben wir ja das Corpus Delicti.«

Hansen zog mit dem Stift ein Stück weißen Kunststoff aus dem offenen Hals. Keine Ahnung, ob die Gerichtsmediziner im Labor das gern gesehen hätten, aber eines musste man ihm lassen, den richtigen Riecher für das Lösen rätselhafter Phänomene hatte Hansen wie kein Zweiter.

Die Plastiktüte (denn als solches erwies sich der Kunststoff) verstopfte den Zugang in die Kopfhöhle, sodass weder Wasser eindringen noch die Verwesungsgase aus dem Hirnbereich austreten konnten, vermutete ich. Das entstandene Vakuum zwischen Schädeldecke und künstlichem Pfropfen füllte sich mit fauligem Gas und ließ den Kopf auf der Meeresoberfläche tanzen.

»Sieht fast aus wie ‘ne Qualle.«

Das war einmal mehr Lotte, die nahm nie ein Blatt vor den Mund, sie band sich gerade eine alte Küchenschürze um. Fast jeder kannte und mochte die Nannsen vor allem wegen ihrer exquisiten Fischbrötchen, die waren nicht nur hier unten am Pier des Alten Hafens konkurrenzlos, die hatten mittlerweile einen Ruf weit über die Grenzen der Hansestadt hinaus.

»Wenn du nur lang genug auf die See schaust«, fabulierte Lotte (im Original natürlich auf Plattdeutsch) mit schlauer Zunge zwischen ihrer großen Zahnlücke hindurch, »dann schwimmen irgendwann die Leichen deiner Feinde an dir vorbei.«

Ich schrieb das auf, verstand es aber nur ungefähr. Auch Hansen guckte, als sei das Chinesisch gewesen.

»Was meinst du damit, Lotte?«

»Altes Mecklenburger Sprichwort!«

Sie grinste und kratzte sich am Kopf.

»Kennst du vielleicht den … den Namen zum Kopf?«

»Nö, kenn ich nicht. Aber die Piratenbinde spricht Bände.«

»Die was?«

»Na, die olle schwatte Klüsenklappe!«

»Wieso?«, entfuhr es mir.

»Na, das ist einer von den Störtebeker Söhnen!«

»Die wer?«

Hansen wurde neugierig, er kletterte mit Lotte und mir im Schlepptau zurück auf ihren Kahn und wies mich an, alles Weitere aufs Genaueste zu protokollieren. Hätte der Chef gar nicht so betonen müssen, das war selbstredend.

Lotte Nannsen begann mit einem kleinen scharfen Messer flink und routiniert ihren Frischfisch zu schuppen und auszunehmen.

Sie hätte schon öfter und meistens weiter unten am Kai eine über die Monate wachsende Gruppe von jungen Männern beobachtet, die allein dadurch auffielen, dass sie ausstaffiert seien wie die Seeräuber.

»Ein gutes Dutzend sind das«, ergänzte sie mit dem Küchenmesser in der Luft nachzählend.

»Und das ist kein Seemannsgarn?«, fragte Hansen ungläubig.

»Wo denkst du hin, Olaf. Hab ich das nötig?«

Olaf Hansen war einer von Lottes Stammkunden, regelmäßig speiste er hier zu Mittag, meist Pfeffermakrele im Brötchen mit Bier, oder nahm sich fangfrischen Fisch zum Abendbrot mit nach Hause. Daher kannten sich beide schon gut und hatten in den letzten Monaten ein herzliches und vertrautes Verhältnis zueinander aufgebaut.

»Und was machen die, die See … die … Seeräuber?«

»Na, nichts Genaues weiß man nicht. Nur dass sie so Tücher um den Kopf tragen.«

Sie unterbrach ihre Arbeit und deutete mit der Messerspitze hinüber zum Schädel auf der Kaimauer. »Und manche tragen auch solche Klüsenklappen! Oder sie haben Säbel dabei und so komische Pluster- oder Pumphosen.«

»Und dann?«

Hansen guckte Lotte begierig an, wenn man das in Anbetracht ihres Alters so ausdrücken durfte.

»Die haben da ein Boot liegen, den modernen Holzkahn dahinten, von hier aus gesehen gleich hinter der schwarzen Hansekogge.«

Sie zeigte noch einmal die Hafenanlage hinunter und wies auf eines der dort vertäuten Segelschiffe.

»Da hocken sie denn drauf oder basteln dran herum oder fahren raus und machen einen Törn und kommen dann wieder zurück. Mehr weiß ich nicht, Olaf. Ehrlich.«

Hansen war ganz Ohr und schien von der Beobachtungsgabe seiner Fischverkäuferin begeistert zu sein.

Begleitet von gierigem Möwengezeter kippte Lotte jetzt einen kleinen Plastikeimer voller Schuppen und Eingeweide flugs über die Reling ins Hafenbecken, und zwar ziemlich genau an der Stelle, wo vorhin noch der tote Kopf gedümpelt hatte. Das war eine klare Ordnungswidrigkeit und, wenn ich mich richtig erinnerte, nicht erst seit gestern verboten. Das hätte eine saftige Strafe von bis zu fünftausend Euro zur Folge haben können …

»Aber Lotte, das ist doch eine ganze Menge, was du da beobachtet hast. Kommen Sie, Kubsch, den Kahn schauen wir uns aus der Nähe an.«

Wir kletterten vom Boot und waren schon fast auf dem Kai, da rief uns Lotte aufgeregt hinterher: »Kann ich nun endlich meinen Kutter aufmachen und Fischbrötchen verkaufen, oder habt ihr noch was?«

Das Geschäft musste laufen, der Kommissar hatte nichts dagegen. Lotte zeigte dankbar ihre große Zahnlücke – einmal mehr ein entsetzlicher Anblick, aber das nur nebenbei.

Am Pier mussten die Spurensucher eine Absperrung aufbauen, denn die ersten Reporter waren eingetroffen und versuchten hartnäckig, dem Kopf auf seinen nicht mehr vorhandenen Leib zu rücken.

Reporter Raimund Tomsen und Fotograf Franz Pickrot vom OSTSEE-BLICK. Letzterer das schärfste Auge der Mecklenburger Meute. Pike, wie ihn seine Kollegen und wenigen Freunde nannten, hatte bestimmt wieder einen heißen Tipp aus unserer Kommandantur erhalten. Irgendwo war da ein Loch im internen Polizeiapparat, dem wir eines Tages nachgehen müssten.

Wir schlenderten an der schönen schwarzen Hanse-Kogge vorbei, ein originalgetreuer Nachbau eines mittelalterlichen Wracks, das man vor gut zehn Jahren im Ostseeschlick zwischen den Inseln Poel und Langenwerder gefunden hatte.

Der Alte Hafen von Wismar war in seiner strukturellen Entwicklung irgendwo zwischen dem ausgehenden 19. Jahrhundert und der Moderne der Nachwendezeit hängen geblieben. Einige wenige Fischerboote hielten trotzig ihre roten und schwarzen Markierungsfähnchen in die steife Ostseebrise. Eine Handvoll abgetakelter Ausflugsdampfer versuchte sich mit saisonabhängigen Hafenrundfahrten mehr schlecht als recht über Wasser zu halten. Die vielen Fenster der hohen Backstein-Getreidespeicher waren zugemauert, die imposanten Gebäude zerbröselten witterungsbedingt und standen im merkwürdigen Kontrast zum Rohbau einer neuen, eindrucksvollen Markthalle, die schon bald Eröffnung feiern wollte, und zu dem gegenüberliegenden futuristischen Technologie- und Forschungszentrum am Alten Holzhafen, von dem niemand so richtig wusste, was dort drinnen eigentlich wirklich konkret erforscht wurde. Dazwischen konkurrierten vier Fischverkaufskutter samt weiblichen Besatzungen, balgten sich zahllose, stets hungrige Seemöwen und versanken im tiefen Schlick viele verworfene Pläne, was alles mit diesem beeindruckenden Hafenareal zukünftig möglich wäre …

Die großen Segelohren meines Chefs begannen an der frischen Luft schnell kräftig rot zu leuchten. Das waren aber auch schon seine auffälligsten Merkmale. Ansonsten war er ein eher unscheinbarer Typ. Stets in Bluejeans gekleidet, Jacke wie Hose, häufig ein Sweat- oder nur T-Shirt darunter, selten ein gebügeltes Hemd. Gegen Oberkommissar Olaf Hansen wirkte ich – trotz Feiertag – mit meinem Sakko von der Stange, meiner rahmenlosen Designerbrille und dem Paar salopper Leinenturnschuhe komplett overdressed.

Einige Schritte später standen wir vor einem ebenfalls hübschen, etwas kleineren Segelboot, es schien verwaist. »Vandalia«, stand in schwarzen gotischen Lettern am Heck des Schiffes, darunter wie üblich der Name des Heimathafens: Wismar.

Ein schnelles, leichtes Holzschiff, erklärte ich Hansen mit Kennermiene.

In meiner Jugend hatte ich mich zeitweise sehr intensiv mit der Schifffahrt beschäftigt. Mein Traum war es, einmal zur See zu fahren, vielleicht sogar Kapitän zu werden und, wie so viele junge Männer, von der Durchquerung der Ozeane zu berichten.

Nicht allein wegen meiner Kurzsichtigkeit rieten mir meine Eltern damals ab, ich hätte so oft Nasen- und Zahnfleischbluten, damit gehe man nicht leichtfertig auf See, da gebe es so schnell keinen Zahnarzt. Ich hatte mich dann für den Polizeidienst entschieden, der Polizeibehörde schienen bei der Einstellung das Zahnfleischbluten sowie die leichte Sehschwäche total egal.

Nun, das Ganze war lange her, aber das eine oder andere Detail über Schiffe und die Seefahrt hatte ich mir merken können. Mein Herz pocherte immer noch, wenn ich ein schickes Schiff oder das offene Meer sah.

Die »Vandalia« war ein einmastiger, schneller Küstensegler, gebaut aus braunem Lärchenholz, knapp fünfzehn Meter lang, satte drei Meter breit und ausgelegt für vielleicht maximal zehn Mann Besatzung.

Hansen rief nach dem Kapitän, ohne Erfolg, es war niemand an Bord. Ich zeigte hinauf zum Mast, dort wehte locker bei nur schwacher Brise eine rote Fahne mit zwei gekreuzten gelben Knochen darauf.

»Das ist ja wohl ein Witz!«, staunte Hansen nicht schlecht.

»Eine Piratenflagge!«, fügte ich einmal mehr selbstsicher hinzu.

»Was soll der Unfug! So was gibt’s doch gar nicht mehr.«

»Zumindest nicht auf der Ostsee.«

»Richtig, Kubsch. Vielleicht im Golf von Aden oder im Arabischen Meer oder in der Andamanensee, aber doch nicht hier.«

Der Kommissar schien verärgert. Da pustete von achtern eine plötzliche Windböe, blähte erst die Segelohren vom Chef auf und ließ dann direkt vor uns den roten Lappen straff am Mast flattern. Stolz zeigte sich der Jolly Roger.

»Fragen Sie doch mal beim Hafenmeister nach, wem der Kahn gehört. Und dann werden wir den Witzbolden einen kleinen Besuch abstatten.«

Hansen machte ein paar Kritzeleien. Wenn ich das richtig deutete, malte er die Fahne in sein Notizbuch. Danach schien er mit sich und der Welt wieder im Reinen und gab mir ein Zeichen, dass wir einpacken und abrücken würden.

Die Kollegen von der Spurensicherung rollten den toten Kopf gerade in eine Plastikfolie und legten ihn vorsichtig in einen grauen Metallbehälter, der eigens für abgetrennte Körperteile stets zu ihrer Ausrüstung gehörte. Sarg konnte man das Ding ja nicht nennen, aber einen anderen Namen hatte der Kübel auch nicht.

Die gaffende Menge war zwischenzeitlich auf eine stattliche Zahl an Schaulustigen angewachsen. Die meisten von ihnen entschieden sich zögerlich, ihren Feiertagsspaziergang fortzusetzen, nur die Reporter nicht, von denen mittlerweile ein halbes Dutzend Kollegen gekommen war.

Die knappen Fragen, die sie Hansen aggressiv hinterherriefen, ließ der an sich abtropfen wie Fischöl am Dosenbückling.

Lotte kletterte noch mal von ihrem Kutter und überreichte dem Kommissar eine Tüte mit frisch eingewickelten Fischbrötchen.

»Hier hefft ji noch’n bäten Makreel. Ik weet doch, wat juch smeckt.«

»Danke, Lotte. Und bis bald.«

»Tschüss, Jungens, und schön Vadderdag!«

»Tschüss, Lotte. Und gutes Gelingen.«

Beim Einstieg in unseren Dienstwagen sah ich noch den ersten festlich geschmückten Bollerwagen mit einem Trio mächtig schwankender Kerle vor dem Fischkutter haltmachen. Mit einem großen »Ahoi« prosteten sie Lotte mit ausschweifenden Armbewegungen und schweren Ein-Liter-Bügelflaschen zu und verlangten lautstark nach einer fischigen Grundlage für ihren anstehenden feuchtfröhlichen Marsch durch Gottes schöne Natur.

Lottes Geschäft sollte heute brummen, als wäre nichts geschehen.

2

Freitag, den 22. Mai

Am nächsten Morgen sollte extra ein Forensik-Experte von der Uni Lübeck eintreffen, um uns die ersten schnellen Resultate der gerichtsmedizinischen Untersuchung dezidiert zu erklären. Viel Neues gab es jedoch in unseren Büros im ersten Stock der Wismarer Kommandantur nicht zu berichten.

Mit Wasserleichen sei das statistisch so eine Sache. Der Mann zum Kopf sei sicher kein Jungspund mehr, eher ein Mannsstück mittleren Alters, schloss Steffen Stieber. Er war ein Mann vom Fach, aber nicht der versprochene Experte. Stieber war relativ neu im Team und mehr ein Allround-Talent. Er hatte in den Kriminologie studiert, wo sie Forensik und Ballistik miteinander vereinen – an deutschen Hochschulen oder in der hiesigen praktischen Ausbildung fast undenkbar. Am gestrigen Himmelfahrtstag war Stieber dreiunddreißig Jahre alt geworden und stolperte als hochgewachsener Hamburger samt seiner frechen Stupsnase wirklich über jeden spitzen Stein.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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