Without You - Ohne jede Spur - Saskia Sarginson - E-Book

Without You - Ohne jede Spur E-Book

Saskia Sarginson

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Beschreibung

Sie dachten alle, du wärst tot ...


Die 17-jährige Eva lebt mit ihrer Schwester Faith und ihren Eltern im beschaulichen Suffolk an der britischen Küste. Als sie eines Tages einen Segelausflug mit ihrem Vater unternimmt, geschieht etwas Schreckliches: Das Boot kentert. Evas Vater verliert das Bewusstsein. Er wacht erst wieder auf, als ihn die Küstenwache aus dem Meer rettet - von Eva fehlt jede Spur. Nur ihre Schwimmweste wird treibend auf dem Wasser gefunden.

Die Familie droht an dem Verlust der ältesten Tochter zu zerbrechen. Nur Faith will nicht glauben, dass ihre Schwester wirklich tot ist. Sie sucht verzweifelt einen Weg, um Eva zu finden. Dabei vertraut Faith auf das Einzige, was wirklich zählt - das Band zwischen Schwestern.


Ein düsteres Familiendrama vor atmosphärischer Kulisse. Nach "The Stranger - Wer bist du wirklich?" ist "Without You - Ohne jede Spur" bereits der zweite Roman von Saskia Sarginson, der bei beTHRILLED erscheint.


eBooks von beTHRILLED - spannende Unterhaltung.



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Seitenzahl: 503

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Ähnliche


Inhalt

Cover

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

PROLOG

TEIL EINS – VERSCHOLLEN

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TEIL ZWEI – GEFUNDEN

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Anmerkung der Autorin

Danksagung

Über dieses Buch

Die 17-jährige Eva lebt mit ihrer Schwester Faith und ihren Eltern im beschaulichen Suffolk an der britischen Küste. Als sie eines Tages einen Segelausflug mit ihrem Vater unternimmt, geschieht etwas Schreckliches: Das Boot kentert. Evas Vater verliert das Bewusstsein. Als er wieder aufwacht, wird er gerade von der Küstenwache aus dem Meer geborgen – von Eva fehlt jede Spur. Nur ihre Schwimmweste wird treibend auf dem Wasser gefunden.

Die Familie droht an dem Verlust der ältesten Tochter zu zerbrechen. Nur Faith will nicht glauben, dass ihre Schwester wirklich tot ist. Doch sie kann nicht wissen, dass Eva tatsächlich noch lebt. Gefangengehalten auf einer kleinen Insel nicht weit von der Küste, sucht sie verzweifelt einen Weg zu entkommen …

Über die Autorin

Saskia Sarginson schloss ihren Master in kreativem Schreiben am Royal Holloway College mit Auszeichnung ab. Bevor sie sich ausschließlich dem Schreiben von Romanen widmete, arbeitete sie als Redakteurin für Gesundheits- und Beautythemen bei verschiedenen Frauenzeitschriften, als Ghostwriter für die BBC und Harper Collins sowie als Werbetexterin und Lektorin. Sie veröffentlichte bereits mehrere Romane. Ihr Titel »The Stranger – Wer bist du wirklich?« ist ebenfalls bei »be« erschienen.

Weitere Titel der Autorin:

The Stranger – Wer bist du wirklich?

SASKIA SARGINSON

WITHOUTYOU

OHNE JEDE SPUR

Aus dem Englischenvon Sabine Schilasky

beTHRILLED

Deutsche Erstausgabe

»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2014 by Saskia Sarginson

Titel der britischen Originalausgabe: »Without You«

First published in Great Britain in 2014 by Piatkus, an imprint of Little, Brown Book Group

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Clarissa Czöppan

Lektorat/Projektmanagement: Anna-Lena Meyhöfer & Johanna Voetlause

Covergestaltung: Massimo Peter-Bille unter Verwendung von Motiven © shutterstock: BlueOrange Studio | airn | Ase | Infinity Time

eBook-Erstellung: Olders DTP.company, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-4718-0

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

PROLOG

Es war April, als ich ertrank, ein Monat nach meinem siebzehnten Geburtstag. Wir waren draußen auf dem Meer, als sich der Himmel schwarz färbte und aus dem Nichts ein Unwetter aufzog. Wir beeilten uns, die Segel einzuholen und den Motor anzuwerfen. Dad saß an der Pinne und versuchte, das Boot ruhig zu halten. Der Außenborder mühte sich gegen die riesigen Wellen ab, während das Boot hin und her schwankte und krängte. Da war ein knirschendes Ächzen von Kunststoff, und Wasser überspülte das Deck. Bei solch einem Wetter waren wir noch nie draußen gewesen. Ich hätte Angst haben müssen, nur glaubte ich ja nicht, dass ich sterben würde. Und nicht bloß, weil ich auf Dads Segelerfahrung vertraute; ich war wütend auf ihn, und meine Wut gab mir das Gefühl, übermenschlich zu sein.

Als die Welle von der Seite zuschlug, sah ich sie aus dem Augenwinkel kommen: Eine Wasserwand türmte sich neben uns auf. Als sie brach, musste sie den Baum herumgeschwenkt und gegen meinen Hinterkopf geschleudert haben, denn ich spürte einen Hieb gegen meinen Schädel, und dann fiel ich, rutschte über das geneigte Deck und seitlich über die Reling. Ich sah Dad nach vorn greifen, seine Hand in Zeitlupe öffnen. Das Wasser schloss sich über meinem Kopf, und es war nichts mehr da außer Dunkelheit und Kälte.

Es ist komisch, denn ich erinnere mich nicht, wach gewesen zu sein, vielmehr an ein Existieren in der Ferne, weit über dem Boden schwebend. Mondlicht wob mich ein. Das Universum war voller Sterne, ein großer Schwarm von Planeten, und ich trieb mit ihnen. Unter mir konnte ich die weiße Gischt der Sturzwellen sehen, die auf den Strand rollten, einen Helikopter, der über dem Meer kreiste, und die Lichter des Dorfs, die durch die Finsternis schienen. Ich bemerkte etwas auf dem Kiesstrand, ausgespuckt von den Wellen. Was es war, konnte ich nicht erkennen; ein verknüllter nasser Teppich vielleicht oder ein großer Fisch. Als ich wieder hinsah, erkannte ich die Wölbung einer Hüfte, einen zurückgeworfenen Arm, Haar, ausgebreitet wie Seetang. Ein Mädchen, das bewegungslos auf der Seite lag.

Eine aufrechte Gestalt kämpfte sich ins Bild: Ein kompakter Schatten, der sich auf das tote Mädchen zubewegte, dessen Füße sich auf der unebenen Schräge abrollten und knirschten. Er blieb ruckartig stehen, als er sie sah, verfiel dann in einen Laufschritt und sank neben ihr auf die Knie. All das beobachtete ich ohne großes Interesse. Ich war losgelöst und ruhig, hatte ein wunderbar schwebendes Gefühl im Bauch, ähnlich dem Flattern von Schmetterlingsflügeln.

Der Mann bewegte den Kopf des Mädchens, und er fiel schlaff nach hinten, sodass ich sie richtig sehen konnte. Ich blickte in mein eigenes Gesicht, die Züge dunkel und verzerrt von der Nacht, doch eindeutig meine. Eine ferne Stimme in meinem Kopf staunte, wie seltsam es hier oben war, und zugleich nahm ich jedes Detail wahr: meinen offenen Mund, meine Zähne, die sich zwischen den schlaffen Lippen abzeichneten, und meine nassen, spitzen Wimpern. Ich hatte einen Bluterguss an der Wange. Und ich fand, dass ich friedlich aussah. Leer.

Ich beobachtete, wie der Mann sich über mich beugte. Er warf den Kopf in den Nacken und schrie etwas gen Himmel. Das sah lächerlich, verzweifelt aus. Dann legte er eine Hand an mein Kinn, hob es an und schob die Finger in meinen Mund, um meine Lippen weit zu öffnen. Ich wollte die beiden Menschen dort hinter mir lassen: die Tote und den Lebenden. Doch es war, als wäre ich schwerer geworden. Ich stürzte durch Schichten von Nachthimmel, näher zu dem Mann. Mir fiel der krause Ansatz seines fettigen Haars auf, ein aufribbelndes Loch am Ellbogen seines Pullovers. Unter den gebeugten Schultern des Mannes sah ich, wie die Brust des Mädchens erbebte, wie sich ihr Brustkorb hob und senkte. Mein Brustkorb. Er holte mich mit seinem Atem zurück. Es tat weh. Erschrocken wurde mir die unförmige Anordnung von Knochen und Knorpeln unter meiner Haut bewusst, die Dichte von Gewebe. Ich verschwand aus der Leichtigkeit, wurde in mich zurückgezogen, erdrückt vom bleiernen Gewicht meines Körpers.

Er war über mir, als ich aufwachte, sein Mund auf meinem. Raue, heiße Lippen. Meine Lunge brannte. Seine Hitze war in mir. Ich kämpfte, um frische Luft zu atmen, stützte mich auf einen Ellbogen; dann würgte und kotzte ich. Er lehnte sich zurück, während ich mich auf die Kieselsteine erbrach und ein salziges Meer aus mir hinausfloss. Mir war so kalt. Seine Hände waren auf meinen Schultern. Seine Finger krallten sich in meinen nassen Pullover. Er beugte sich näher zu mir, und ich roch modrige Kleidung, ungewaschene Haut. Er flüsterte mir ins Ohr: »Gott sei Dank, dass ich dich gefunden habe.« Ich hatte Schwierigkeiten, ihn zu verstehen, weil ich so sehr zitterte, dass ich außer dem Klappern meiner Zähne kaum etwas hörte. Aber ich glaube, dass er sagte: »Sie hat dich mir geschickt. Du bist mein.«

TEIL EINSVERSCHOLLEN

1

Suffolk, 1984

Ein Stück vom Kai entfernt fischen Jungen nach Krebsen. Ich halte im Sonnenschein inne, blinzelnd und unsicher. Dann ist es okay, weil da niemand ist, den ich kenne. Nur Kinder aus der Stadt, die ihren Sommerurlaub hier verbringen. Sie hocken neben Eimern, stochern darin nach den Krebsen, die sie mit Ködern aus Speck gefangen haben. Blässliche Fremde mit komischem Akzent.

Es ist Ebbe, deshalb setze ich mich ans Ende des Kais und lasse die Beine über den Rand baumeln. Das Wasser unten an dem schleimigen Holzkonstrukt steht höchstens einen halben Meter hoch, und Knäuel von braunem Blasentang wabern unter der Oberfläche. Selbst wenn ich blöd genug wäre hineinzufallen, könnte ich aufstehen und mit den Füßen Halt im schwammigen Grund finden. Es ist jetzt schon heiß. Der Himmel ist klar, und es weht ein Wind, der die Taue an den Masten in ein wildes Klimpern versetzt. Möwen segeln über mir, deren fremdartige Augen nach Stückchen fettigen Specks Ausschau halten. Ihre Flügel leuchten im hellen Sonnenlicht.

Ted, der Hafenmeister, geht mit einem aufgewickelten Tau über seiner Schulter an mir vorbei und verwuschelt mir mit seiner dicken Hand das Haar. »Na, fängst du heute keine Krebse, Faith?«, fragt er in einem ungezwungenen, freundlichen Tonfall, doch sein Blick ist wie der von allen anderen Erwachsenen – voller Mitleid für das kleine Mädchen, dessen Schwester ertrunken ist. Ich konzentriere mich darauf, einem dicken Jungen zuzusehen, wie er seine Leine einholt, vorsichtig eine Hand vor die andere setzend, und beuge mich vor, um zu sehen, ob er etwas gefangen hat. Da hängt ein pockiger Krebs an der Schnur, die Scheren an ein Stück Speck geklammert. Als der Junge gerade hingreifen und ihn packen will, fällt der Krebs mit einem Platschen ins Wasser zurück. Krebse, die schon mal gefangen wurden, wissen genau, wann sie loslassen müssen, um mit einem Fetzen ihrer Beute in den Scheren zu entkommen. Ich beobachte die Gesichtszüge des Jungen, wie sie ihm entgleiten, sich seine Wangen röten. Und dann sieht er mich böse an.

Sofort kneife ich die Augen zu, wende das Gesicht ab und sage mir, dass er mir nichts anhaben kann. Leise fange ich zu summen an. Hello Dolly, you’re still glowin’, you’re still crowin’, you’re still goin’ strong …

Die Boote auf dem Fluss fliegen von Böen angetrieben vorbei. Rote, weiße und braune Segel knallen. Früher sind Dad und Eva da raus. Man konnte ihn vom Strand aus brüllen hören. Mum sagte, es sei peinlich. Dad war schon immer leicht reizbar, und im Boot war es am schlimmsten. Eva ignorierte ihn oder brüllte zurück, bis zu den Knien im Fluss stehend, während Dad sich mit den Tauen abmühte. »Halt das Boot doch still, verdammt!« Aber dann waren sie weg, und wenn sie zurückkamen, windzerzaust und rotwangig, lächelten sie, waren nett zueinander und redeten davon, wie sie um die Insel herum auf die offene See gesegelt waren.

Seit dem Unglück hat Dad nie wieder die Beherrschung verloren. Er kann sich nicht erinnern, was an dem Tag passierte, als er und Eva in das Unwetter gesegelt waren. Das Boot kenterte, und Dad verlor das Bewusstsein. Er wurde von der Küstenwache aus dem Wasser gefischt, aber meine Schwester fanden sie nie. Der Arzt sagt, dass Dad diesen Teil aus seiner Erinnerung aussperrt, und ich weiß, dass meine Mutter wütend auf ihn ist, weil er es tut, wo es doch so viele Fragen gibt. Evas Schwimmweste wurde auf den Wellen treibend gefunden. Mum fragt immer wieder, warum er zuließ, dass Eva sie nicht anzog, aber Dad schwört, dass sie die Weste anhatte. Er hat die Boote verkauft und sagt, dass er nie wieder segeln will. Mir macht das nichts. Ich segle nicht gern. Kentern ist das Schlimmste. Aber es sind auch Evas Boote gewesen.

Immer noch summend beschatte ich meine Augen mit der Hand und blicke zur Insel. Sie liegt jenseits der Flussmündung, ungefähr eine halbe Meile weit draußen. Vor langer Zeit war sie mit einer Landzunge verbunden, die auf der anderen Seite des Flusses verläuft. Aber die Gezeiten und die Wellen haben den Streifen abgetragen. Ohne die Boote, ohne meine Schwester kann ich unmöglich dorthin zurück. Die Insel ist privat, verboten. Wenn Eva und ich dort an Land gingen, mussten wir es heimlich tun. Die Insel duckt sich am Horizont, und die Pagoden ragen in die Luft wie seltsame Schornsteine. Ich kneife die Augen zusammen, weil das Licht zu grell ist, und denke an das letzte Mal, das ich mit ihr dort war.

Das Boot flog über das Wasser, und Sprühnebel stob vom Bug auf. Sterne stiegen aus dem glitzernden Fluss auf und zersprangen vor meinen Augen. Das Segel spannte sich, gebläht vom Wind. Eva, die hinter mir an der Pinne saß, duckte sich bereits, ehe der Baum zur anderen Seite schwang.

»Hey, Shrimp, klar zum Wenden!«, rief sie, und ich löste den Klüver. Das Dingi drehte sich und wurde langsamer zwischen den rollenden Wellen. Dann fing sich der Wind mit einem Knall wieder im Segel. Ich riss so fest, wie ich konnte, die Finger um das nasse Tau geschlungen, und wir rauschten über den Wogen auf die Insel zu. Mit Eva im Boot hatte ich nie Angst. Sie ist eine gute Seglerin.

Wir segelten direkt auf den Kiesstrand. Der Bootsrumpf knirschte, als sich die Steine daran rieben und die Farbe abkratzten. Eva verzog das Gesicht, denn Dad würde wütend sein. Wir versteckten das Boot auf dem Strand und beschwerten den Anker mit einem großen Stein.

»Laufen wir um die Wette zur anderen Seite!«, rief Eva. Es war kein faires Wettrennen. Sie ist sieben Jahre älter als ich, und ihre Beine sind doppelt so lang wie meine. Ich folgte ihr, schlitterte durch den Matsch, Wasser spritzte in kleinen Rinnsalen und Pfützen auf. Ich war froh, wieder an Land zu sein, erleichtert, festen Boden unter meinen Füßen zu spüren. Die Insel steigt vom Strand aus steil bergan, wird steinig und trocken. Stechginster klammerte sich, verkrüppelt und welk, an die windgepeitschte Kieskuppe. Dahinter fiel das Land wieder ab und war nichts mehr als graue Nordsee, über der kreischende Möwen segelten, als würden sie vom Rand der Welt abheben.

Eva streifte ihr T-Shirt und ihre Jeans ab und warf sich in Slip und BH in die Wellen. Ich hockte mich auf den steilen Kiesstrand und schaute zu. Ich kann nicht richtig schwimmen. Wenn es sein muss, kann ich paddeln wie ein Hund, wobei ich den Kopf nach oben recke und mit offenem Mund nach Luft schnappe. Wellen machen mir Angst. Sobald ich ins Meer wate, stoßen sie mich um und schleifen mich über scharfkantige Steine. Sie sprühen mir Salz in die Augen, schlagen mir die Luft aus dem Brustkorb. Und hinterher habe ich lauter blaue Flecken. Nass zu werden hasse ich genauso sehr wie zu frieren.

»Du musst aufhören, so ein Waschlappen zu sein!«, schrie Eva. »Hier ist nichts, wovor du dich fürchten musst. Lass dich einfach treiben und die Wellen alles machen.«

Sie verstand nicht, wie es war, sich vor der Strömung zu fürchten, vor unsichtbaren Fischen, die an meinen Beinen vorbeistrichen, oder einer Welle, die mich hinaus aufs Meer trug. Als ich noch klein war, zogen sie mir eine Schwimmweste an, banden mir ein Seil um den Bauch und ließen mich daran auf dem Wasser auf und ab schaukeln. Sie dachten, dass ich genauso Schwimmen lernen würde wie Eva. Aber das tat ich nicht. Ich schrie und weinte, bis Mum oder Dad mich wieder an Land zogen, mir das Gesicht trocken tupften und mich besorgt ansahen.

Ich fröstelte, als ich Eva zusah, wie sie vor und zurück schwamm und sich durch die großen braunen Wellen kämpfte. Ihre Arme glänzten, als sie nach oben und über ihren Kopf schwangen, um sie voranzubringen. Sie schwamm nur kurz, denn sogar für sie war es zu kalt. Beim Schwimmen waren ihre Bewegungen exakt und elegant, doch es war unmöglich, würdevoll über die Steine zu gehen. Und ich musste lachen, als sie aus dem Wasser stolperte, das Gesicht vor Schmerz verzog und beim Staksen und Hüpfen die Gliedmaßen in die Höhe warf, dass es an eine Stoffpuppe erinnerte. Um es mir heimzuzahlen, bespritzte sie mich mit Wasser aus ihrem Haar, als sie sich keuchend hinkniete, ihre Sachen in den Armen. Ich konnte ihre Energie fühlen, leuchtend wie die Wassertropfen auf ihrer Haut. Eva scheint lebendiger als andere Leute.

Sie lehnte sich zurück und stützte sich auf den Ellbogen ab. An dem langen, verlassenen Strand waren nur wir beide, als wären nur noch wir übrig auf einem Planeten aus Schiefer, Meer und Himmel.

»Was für ein Dreck«, sagte Eva und blickte zu dem Müll, der über Bord geworfen und an den Strand gespült worden war: Plastikflaschen, Joghurtbecher, Korken, Taustücke und einzelne Schuhe, die sich im Tang und Treibholz am Wellensaum verfangen hatten. »Ehrlich, manchmal frage ich mich, warum wir es hier so schön finden.«

Ich folgte ihrem Blick. Ab und zu wurden richtig eklige Sachen wie Tampons oder Windeln am Strand angespült. Jetzt konnte ich allerdings nichts Ekliges erkennen. Eva hatte eine Zigarette aus ihrer Jackentasche geholt und zündete sie sehr umständlich an, die Hände um das Streichholz gewölbt und den Kopf vom Wind abgewandt. Ihre Fingerspitzen waren rosig und runzelig vom Salzwasser. Nachdem sie einen tiefen Zug genommen hatte, seufzte sie. »Vielleicht weil die Insel uns gehört.«

Die Insel gehörte uns nicht. Sie gehörte dem Verteidigungsministerium. Tut sie noch. Wir hätten sie gar nicht betreten dürfen. Die Hälfte der Insel ist von durchhängendem Draht abgesperrt und von verfallenen Hütten, löchrigen Straßen, Stacheldrahtrollen sowie den Betonpagoden verunstaltet. Es heißt, dass es Labore waren, in denen an Atomwaffen geforscht wurde. Das Projekt wurde aufgegeben, und die Gebäude stehen jetzt leer da, das Betreten ist streng verboten. Ich mag sie nicht, ganz besonders nicht die Pagoden. Es fühlt sich an, als würde man von innen beobachtet, obwohl es keine Fenster gibt. Nackte Mauern starren einen an. Evas Qualm reizte meine Nase. Ich drehte den Kopf weg. Sie bekäme Ärger, wenn Mum und Dad es wüssten.

»Eigentlich dürfte das hier keinem gehören«, fuhr sie fort, »nicht mal uns. Es ist zu wild, um jemandem zu gehören, nicht?«

Ich lag bäuchlings auf den Steinen und wandte den Kopf zu ihr. Sie hatte sich weder abgetrocknet noch angezogen, dabei waren ihre Lippen schon lila vor Kälte, und sie hatte überall eine Gänsehaut. Auf ihren Slip war »Monday« aufgestickt. Sie hatte welche mit allen Wochentagen, trug sie aber an den falschen. Sie schien ganz darauf konzentriert, langsam die Zigarette an ihre Lippen zu führen und den Rauch aus ihrem halb offenen Mund strömen zu lassen. Sie übte ihre Technik.

»Pass auf das Öl auf.« Eva nickte zu einer klebrigen Stelle, wo Öl über die Steine lief, und drückte ihre Zigarette an einem Stück Treibholz aus. Ich bewegte meine Hand. Im Sonnenlicht sahen meine Warzen schlimmer aus. Die erste hatte ich, als ich fünf war. Ein Knoten, der auf meinem Knie wuchs, nachdem ich mir die Haut aufgeschürft hatte. Es kamen noch mehr, die sich wie Pilze auf meinen Knien und Händen ausbreiteten. Ich hasse sie.

Eva zog sich an, und wir machten uns auf den Weg zur äußersten Spitze der Insel, wo sich die Seehunde sonnten. Nahe dem Ginster lag ein toter Fuchs, und ich hockte mich hin, um mir genauer anzusehen, wie sein Fell in Büscheln ausgefallen war und verwesendes Fleisch freigelegt hatte. Man konnte die weißen Knochen dazwischen sehen, wie bei einem auftauchenden Schiffswrack. In ihm bewegten sich kleine Lebewesen. Sie hatten schon seine Augen gefressen. Bald würde er vollständig abgenagt sein. Ich fragte mich, ob ich, wenn wir in ein paar Wochen wiederherkamen, Eva überreden könnte, seinen Schädel mit nach Hause zu nehmen.

»Gott!« Eva drehte sich weg und hielt die Hände vors Gesicht. »Das stinkt!«

Lieber schluckte ich den Gestank von dem toten Fuchs, dachte ich, als den Zigarettenqualm. Eva hatte sich verändert. Ihr neues Interesse an Jungs, Zigaretten und Partys hatte andere Teile von ihr überlagert und bewirkte, dass sie sich idiotisch benahm. Auf einmal tat sie, als hätte sie Angst vor Spinnen und toten Füchsen.

»Weißt du was?«, fragte sie, als wir durch den Meerfenchel auf die Spitze zugingen. »Ich habe jemanden kennengelernt.«

Ich schwieg. Die Möwen segelten tief über den Fluss, es war Ebbe. Boote schaukelten auf ihren Liegeplätzen.

»Er ist … anders«, erzählte sie weiter. »Richtig cool. Cooler als die Jungen hier in der Gegend.« Sie betrachtete ihre Fingernägel und blickte mich von der Seite an. Und ich fühlte mich geschmeichelt, weil sie sich mir anvertrauen wollte.

Ich überlegte, was die richtige Frage wäre. »Wo hast du ihn kennengelernt?«

Sie grinste. »In einem Club in Ipswich. Mum und Dad dachten, dass ich bei Lucy übernachte. Er ist aus London, hat sogar schon in Amerika gelebt. Er ist Musiker, und er steht auf Gothic.« Sie wurde rot und nickte, als wäre das sehr wichtig. »Er heißt Marco. Ich erzähle Mum und Dad nichts von ihm. Die würden ihn nicht mögen, bloß weil er älter ist als ich und ein Tattoo hat und sich die Haare schwarz färbt. Seine Eltern sind nach Ipswich gezogen, aber er findet es blöd hier. Er will zurück nach London.«

An ihn zu denken, schien sie in eine Art Trance zu versetzen. Sie neigte den Kopf nach hinten und blinzelte in den Himmel. »Bei ihm fühle ich mich … ich weiß nicht. Es ist wie Betrunkensein, ohne zu trinken«, sagte sie leise. »Und mir kommt es vor, als könnte alles passieren. Wirklich alles.« Sie griff nach meinen Händen und begann eine Polka zu tanzen, »Eins, zwei, Sprung und drehen«, über die Steine. Und ich war in der wirbelnden Bewegung gefangen, stolperte und drehte mich mit. Unser Haar flog hinter uns auf. Ihre Finger griffen fester zu. Der Himmel und der Strand verschwammen zu einem Feuerrad aus Blau- und Grüntönen. Und wir waren mittendrin – das leuchtende, wirbelnde Zentrum. Mein Bauch rumorte, als wir schneller tanzten, und mir wurde ganz duselig. Atemlos lösten wir uns voneinander und fielen rückwärts auf den Kies. »Vielleicht bin ich verliebt«, sagte sie.

Wir lagen japsend da, alle viere von uns gestreckt, und blickten zu den Fetzen einer vorüberziehenden Wolke und zu hoch oben kreisenden Vögeln, von denen lediglich die Umrisse vor der Sonne zu sehen waren. Ich fragte mich, wie Eva und ich von dort oben aussehen mochten, durch die Augen einer Möwe betrachtet, und stellte mir uns als feste Punkte in ihrem harten, starren Blick vor. Eva rappelte sich wieder auf, und sobald der Strand aufgehört hatte, sich zu drehen, zog sie mich nach oben. Wenig später hatten wir die Spitze erreicht, und ich konnte die fetten Leiber im Schlick sehen. »Seehunde«, sagte ich tonlos, zeigte hin, und Eva zwinkerte.

Sie blieb stehen. Inzwischen hatte der Wind ihr Haar getrocknet und blies ihr Locken ins Gesicht. Sie sah mich ernst an. »Versprich mir bei deinem Leben, dass du Mum und Dad nichts von Marco erzählst.«

Sie spuckte in ihre Hand, einen Klecks schleimiger Blasen, und streckte sie mir hin, damit ich sie schüttelte. Wir verwoben die Finger, und ich fühlte ihre nasse Spucke.

Dann gingen wir auf Hände und Knie und krabbelten leise durch das Gestrüpp. Scharfkantige Kiesel pikten in unsere Handflächen und Knie. Wir hatten Gegenwind, sodass wir nahe genug an die Seehunde herankonnten, um die Schnurrhaare zu erkennen, die ihre Nasen umgaben und sie wie zu große Katzen wirken ließen.

»Selkies«, murmelte Eva.

»Meinst du, alle von ihnen sind welche oder nur einige?«

»Ach, das können wir nicht wissen«, flüsterte sie. »Sie legen ja nur nachts ihr Robbenfell ab und werden zu Menschen.«

Die Geschichte hatte ich schon unzählige Male gehört, doch ich wurde sie nie leid.

»Und dann werden sie zu Frauen«, erzählte Eva verträumt. »Sie legen ihre Seehundgestalt ab und tanzen die ganze Nacht am Strand, mit Schwimmhäuten zwischen den Zehen. Wenn sich eine von ihnen in einen Sterblichen verliebt, einen hübschen Fischer zum Beispiel, gibt sie ihre Robbenform auf und lebt als Frau.« Eva lächelte mich an. »Aber ihr Mann muss ihr Robbenfell verstecken, sonst ruft das Meer sie zurück.«

»Wir müssen mal nachts kommen«, schlug ich vor. Die Idee fand ich aufregend. »Hersegeln, damit wir sie sehen.«

»Hast du denn den Mut?« Sie reckte ihr Kinn. »Wir müssten vorsichtig sein, damit uns die Selkies nicht erwischen oder die da …« Nun nickte sie mit dem Kopf zu den fensterlosen Betonpagoden. »Weiß der Himmel, was da nachts rausgekrochen kommt.«

Ich fröstelte in der Sonne. Evas Augen waren dunkel wie Lakritz, genauso wie ich mir die von Selkies vorstellte. Ihre Finger streiften meine Hand und drückten sie. Ihr machten meine Warzen nichts. Ihr Kopf berührte meinen, und ich roch Nikotin in ihrem Haar und Salzwasser.

Ich vermisse sie.

Ich vermisse sie, obwohl sie diese blöden Große-Schwester-Sachen gemacht hat, wie mir die Tür vor der Nase zuzuschlagen und mir zu sagen, ich solle mich verpissen. Einmal hatte sie mich eine Stunde lang oben in dem Flurschrank eingeschlossen. Aber Evas Zimmer fühlt sich leer an ohne sie, ohne ihre sich beißenden Parfüms, ihre Wutanfälle und Tanzübungen, ohne Police und Culture Club, die viel zu laut aus dem Radio schallten.

Sie ist seit drei Monaten weg.

Wenige Tage vor dem Unfall ging ich in ihr Zimmer und fand sie kniend vor ihrer Frisierkommode, die Hände fest zum Gebet gefaltet. Sie hatte ihre Augen geschlossen. Alles, hörte ich sie beten, ich tue alles, wenn du machst, dass ich dieses Wochenende keinen Pickel habe.

Ich schnaubte und klatschte mir eine Hand vor den Mund. Eva schleuderte mir ihre Haarbürste an den Kopf. Sie traf nicht. Im Werfen ist sie furchtbar schlecht.

»Ich glaube nicht, dass Gott interessiert, ob du einen Pickel kriegst«, sagte ich und hob die Bürste auf. »Hat er keine Kriege und hungernden Babys, um die er sich sorgen muss?«

»Oder Warzen?«, rief sie mit großen Augen aus.

»Nein …«, begann ich zu erklären, aber sie hatte mich schon vergessen.

Mum sagt, dass ich eines Tages aufwachen werde und alle meine Warzen fort seien. Bis das passiert, ziehe ich meine Ärmel weit nach unten. Ich dachte, Eva könnte das Interesse an ihrem Spiegel verlieren und mit mir reden. Ich lungerte an ihrer Tür herum, die ausgefransten Enden meiner Ärmel zwischen den Fingern, und die losen Fäden kitzelten meine Haut. Aber sie sah mich nur genervt an.

Ich weiß nicht, warum Eva immer wieder ihr Spiegelbild ansah. An dem änderte sich doch nichts. Sie hat einen breiten Mund, ein eckiges Kinn und hohe Wangenknochen wie eine Katze. Ihre Haut schimmert in einem dunklen Goldton wie polierter Bernstein. Mein Gesicht ist schmal und weiß wie Papier.

Zuerst wollte Mum nicht mal den Haufen schmutziger Klamotten von Evas Fußboden aufheben, aber schließlich landeten sie doch gewaschen, gebügelt und zusammengelegt in Evas Schubladen. Ich gehe hinein und streichle ihre Sachen, die Porzellanhasen und die Wüstenrose; manchmal probiere ich ihre Perlenkette an. Die Perlen glänzen in meinen Händen, und sie scheinen noch warm von Evas Haut. Wenn ich ihre Kleidung zusammendrücke und mir vor die Nase halte, kann ich sie noch riechen. Einmal, als ich ihr Nachthemd unter dem Kissen vorholte, fand ich eines ihrer dunklen Haare an dem Stoff.

Ich hasse es, wenn Leute mit dieser gedämpften Stimme von ihr reden, als wären sie in der Kirche. Sie sagen, sie war dies, sie tat das. Aber sie ist nicht ertrunken, sage ich zu ihnen. Sie schütteln den Kopf, lächeln mich besorgt an und sehen dann verlegen weg.

Sie ist nicht tot. Nicht wie Granny Gale, die kalt in einer Kiste auf dem Friedhof liegt. Granny vermisse ich auch. Sie hat früher in einem Wohnwagen in unserem Garten gewohnt. Sie zu vermissen ist wie ein dumpfer Schmerz in meinen Knochen. Es ist nur so, dass sie sehr alt war und keine Angst vor dem Sterben hatte. Sie erzählte mir, dass sie gesegnet war, in ihrem Alter noch die Liebe zu finden. »Nach über vierzig Jahren allein, glaubt man das?«, sagte sie. »Aber nichts ist für ewig, Schatz. Wenn die Show vorbei ist, fällt immer der Vorhang.« Eva ist viel zu jung zum Sterben. Sie ist erst siebzehn und verloren in dem tiefen Wasser, weit weg von der Oberfläche und menschlichen Stimmen. Eva zu vermissen ist ein schneidender Schmerz, der mein Herz schneller schlagen lässt.

Im Meer gibt es Kreaturen, uralte, erhaben über jede Fantasie und jedes Wissen, die noch nie von Leuten gesehen wurden. Als sie durch die Wellen nach oben sahen und Evas schwarze Locken und goldene Haut ohne Pickel erblickten, mussten sie sich in sie verliebt haben, so wie eine Selkie-Frau in einen Fischer. Jeder ist in meine Schwester verliebt. Die Jungs, die an der Bushaltestelle im Dorf herumhingen, riefen ihr nach, pfiffen laut und ritzten mit Taschenmessern ihren Namen in das Holz der Haltestelle. Robert Smith ging ihr von der Schule bis nach Hause nach. Er stand hinter der hundertjährigen Eiche auf der anderen Straßenseite und spähte hinauf zu ihrem Fenster. Ich sah unter dem Baum nach, als er wieder weg war, und dort war alles voller Zigarettenstummel und harten rosa Kaugummis. »Perversling«, sagte sie, als ich ihr erzählte, dass er da gewesen war. Aber sie lachte.

»Lass es dir nicht zu Kopf steigen«, hatte Granny Gale sie gewarnt, als Eva fünf Valentinskarten bekommen hatte. Ich hatte nur die eine, die Mum mir geschickt hatte. Sie hatte sie durch den Briefschlitz gesteckt, aber vergessen, eine Marke draufzukleben, deshalb wusste ich, dass sie von ihr war. Dad meinte zu Eva, sie sei zu jung für einen Freund. Sie stritten sich darüber, wie viele Abende die Woche sie ausgehen durfte und wann sie zu Hause sein musste. »Das ist wie in einem Gefängnis!«, brüllte sie. Und Dad erzählte ihr immer wieder, wenn sie sich in der Schule anstrengte, würden sich ihr Chancen eröffnen und ihre Welt würde eine größere werden. »Du hast noch den Rest deines Lebens Zeit für Jungen«, sagte er.

Dads Spitzname für Eva war »Herzogin«. Es sollte ein Witz sein, weil sie so launisch und eingebildet war. Aber Eva hatte wirklich eine Art zu gehen, als würde sie einen Bücherstapel auf dem Kopf balancieren, und die Art, wie sie ihr Haar nach hinten warf, wenn sie verärgert war, ließ einen sie sich automatisch in einem langen, rauschenden Kleid und mit lauter Dienern vorstellen, die hinter ihr hereilten.

Die Küstenwache arbeitete dreißig Stunden durch, ehe sie die Suche abbrach. Es waren ein Hubschrauber und mehrere Boote im Einsatz gewesen. Einen Monat später gab es einen Gedenkgottesdienst für Eva. Die Kirche war überfüllt – es standen sogar schluchzende Leute auf dem Friedhof, die mit zittrigen Stimmen die Lieder mitzusingen versuchten. O Christ! Whose voice the waters heard, and hushed their raging at thy Word. Der Vikar sprach von der Kanzel über Eva, über die Tragödie ihres kurzen Lebens. Andere Leute standen auf, um Gedichte vorzulesen oder Geschichten über sie zu erzählen, die sie immer wieder unterbrechen mussten, um sich die Nase zu putzen oder die Tränen abzuwischen. Sie schienen gar nicht über meine Schwester zu reden. Es war, als wäre sie zu gut gewesen, um wahr zu sein – wie eine Heilige. Ich stand in der vordersten Kirchenbank zwischen Mum und Dad, unfähig zu singen, das geschlossene Gesangbuch in meinen Händen, und weiße Blumen, die einen ekligen Geruch verströmten, leuchteten im gedämpften Licht.

Eva, wenn du mich hören kannst, hoffe ich, dass du nicht frierst und nicht einsam bist. Dir müssen Mum und Dad fehlen, deine Topshop-Jeans und dein alter Teddy. Du sollst wissen, dass ich dich nicht aufgegeben habe. Und mir tut leid, dass ich deinen Lippenstift benutzt und damit so wild gemalt habe, dass nur noch ein Stummel übrig ist. Ich liebe dich, Eva. Ich werde einen Weg finden, dich zurückzuholen.

2

Lange Zeit hatte er mir seinen Namen nicht verraten. Eines Morgens jedoch sagte er, er heiße Billy. Aus meinem Mund fühlt es sich weich und harmlos an, wie ein trällerndes Flüstern, zwei Silben, gleich einem Vogelzwitschern. Meinen Namen hatte ich ihm gleich am Anfang gesagt, weil ich mich erinnerte, irgendwo gehört zu haben, dass es wichtig sei, eine Person aus Fleisch und Blut zu werden, den Entführer dazu zu bringen, dass er einen als menschliches Wesen sieht. Doch er nennt mich weiterhin »Mädchen«.

Als ich mir an dem Strand die Seele aus dem Leib kotzte, meine Lunge brannte, konnte ich nicht sehen, wer über mich gebeugt war. Ich war verwirrt und schwach, und er war nichts als ein verschwommener Umriss, dunkel im Dunkeln. Er hob mich hoch wie ein Baby. Er keuchte, hatte Mühe, mich zu halten, als sich seine Füße über den Kies bewegten. Ich wurde durchgerüttelt, sodass mein Kopf gegen seine Schulter schlug, als er sich einen steilen, rutschigen Hang hinaufarbeitete. Da war ein Rutschen und Kiesknirschen unter uns. Und dann eher ein Wandern – diesmal auf ebenem Grund. Wir betraten ein Gebäude, in dem es so finster war, als wäre mir eine Augenbinde umgelegt worden. Er legte mich auf den Boden: Stoff an meinem Kinn, eine kratzige Decke, die juckte und rau an meinem Gesicht war. Ich roch modrige Luft, und ich erinnere mich, dass ich dachte, ich sollte fragen, wo mein Dad war und ob es ihm gut ging, doch mir fehlte die Kraft.

Als ich im dämmrigen Morgenlicht aufwachte, glaubte ich, das Meer zu hören. Ich blickte mich um, reckte vorsichtig den Hals, um die fensterlose Wand anzusehen, von der die Farbe abblätterte. Mein Kopf fühlte sich schwer an, zerschrammt. Die Wellen schienen unter meiner Schädeldecke zu sein, gegen mein Gehirn zu branden. Ich starrte verwundert zu den zerrissenen, lose hängenden Kabeln, dem Muster rostiger Rohre und der gewölbten Decke. Dies hier war eine Art verfallener Unterstand. Angst regte sich in mir. Ich wusste, dass ich zu Hause oder sogar in einem Krankenhaus hätte sein müssen und dies hier falsch war. Mein Atem ging flach und schnell. Ich bewegte meine spröden Lippen und die geschwollene Zunge, wollte um Hilfe bitten, herausfinden, wo ich war, nach Dad rufen.

Eine gesichtslose Gestalt beugte sich über mich. Seine Hand hielt meinen Mund zu, und der Druck seiner Finger schwächte meinen Schrei ab. Ich blickte in graue Augen, so ausdruckslos wie Steine. Der Rest seines Gesichts war von einem blauen Wollschal verhüllt. Ich schrumpfte innerlich zusammen, als könnte ich mich in meiner Haut verstecken, mich in meinen klammen Sachen ganz klein machen. »Aufgewacht?« Die Stimme klang tief und wurde von dem Stoff gedämpft. »Durstig?«

Erst da bemerkte ich, dass meine Handgelenke gefesselt waren.

Inzwischen spart er sich den Schal. Der ist auch nicht nötig. Sein Haar verdeckt das meiste von seinem Gesicht. Er hat einen dichten braunen Bart und verfilztes, strähniges Haar, das ihm in die Augen fällt. Ich hasse es, wenn er näher kommt und ich seine stinkende, ungewaschene Haut rieche. Da könnte ich würgen.

»Zeit, in die Grube zu gehen.« Er nickt in Richtung des Kraters im Fußboden. »Ich muss Proviant holen.«

»Nein.« Meine Zehen krümmen sich, und mein Herz schlägt schneller. »Ich laufe nicht weg.« Ich spreche in diesem flehenden Ton, den ich nicht ausstehen kann. »Bitte lass mich nicht da unten …«

»Nee.« Er schüttelt den Kopf und grinst, als würde er es witzig finden. »Das hast du schon zu oft versucht. Komm her.«

Er hat ein Tau in den Händen, ein dickes Seil. Ich habe mich ganz in die Ecke gedrängt. Ein abgebrochener Metallstab, der aus der Wand ragt, sticht mir in den Rücken. Es ist zwecklos, mich wehren oder gegen ihn kämpfen zu wollen. Unter dem Bart und den dreckigen Sachen ist er jung und stark, größer als ich. Vielleicht sogar so groß wie Dad. An seinem Gürtel trägt er ein Messer. Er hat mir erzählt, dass er früher Soldat war; er wurde dazu ausgebildet, Menschen zu töten. Hat Menschen getötet. Als ich einmal versuchte, an ihm vorbeizulaufen, hatte er blitzschnell meinen Arm nach hinten gedreht und die Klinge an meinen Hals gesetzt, deren Spitze er an meine Haut drückte, sodass ich mein Blut darunter pulsieren fühlte.

Ich warte in der Ecke. Ich kann nirgends hin. Er ist zu schnell für mich. »Bitte.« Ich versuche, vernünftig zu klingen, doch meine Stimme ist ein heiseres Flüstern. »Bitte, Billy.«

Er zuckt zusammen, als er seinen Namen hört. Mit einem kurzen Murmeln, den Kopf gesenkt, packt er meine Handgelenke. Er legt das Tau um meine Mitte, dann um seine eigene. Dann stellt er sich breitbeinig hin, nickt mir zu und sagt, dass ich rückwärts über die Kante treten soll, damit er mich in das Loch hinunterlassen kann. Billy sagt, dass es früher zum Lagern von Atombomben benutzt wurde. Wir sind in einer der Betonpagoden auf der Insel. Sobald ich das mitbekommen hatte, ergaben die hohe, gewölbte Decke mit den Lücken zwischen den Säulen, die komischen Metallrohre und die kaputte Ausrüstung einen Sinn.

Die vielen Male, die Faith und ich auf der Insel waren, kam uns niemals der Gedanke, in einen dieser Türme zu gehen. Es stehen Warnschilder neben den Reihen von Stacheldraht, die sagen, dass man sich fernhalten soll – auf Abstand zu Landminen unter dem Kies, die auf der halben Insel vergraben sind. Und ich wusste, wofür die Pagoden genutzt worden waren, also dachte ich wohl, die Luft darin wäre verseucht, giftig von den Dämpfen von Bombentests.

Meine Füße rutschen über die Betonwand; das Seil schneidet in meine Taille. Ich halte mich mit beiden Händen an dem faserigen, rauen Knoten fest. Unter mir geht es ungefähr drei Meter in die Tiefe. Ich schürfe mir die Knie auf, ringe um Kontrolle, während ich mich langsam in das dunkle Loch abseile. Sobald ich auf dem Grund stehe, bedeutet Billy mir, das Seil loszumachen, damit er es nach oben ziehen kann. Er wirft mir eine Plastikflasche mit Wasser zu.

Ich bin starr vor Angst, Angst, die mir vertraut ist. Die hohen, steilen Seitenmauern sind zerkratzt und pockennarbig. Auf ihnen zeichnen sich dunkle Schatten ab, und die abgestandene Luft ist drückend. Hier unten ist nichts außer rostigen Blechdosen, Flaschendeckeln und Glasscherben, zerknülltem Papier sowie einem dreibeinigen Schemel, den die Army zurückgelassen haben muss. Weit über mir höre ich Billy herumgehen, dann seine sich entfernenden Schritte. »Bin bald wieder da«, ruft er. »Geh nicht weg.«

Diese unerwarteten Anfälle von Humor sind neu. Sie sind grausam, denke ich, sarkastisch, aber immerhin eine Verbesserung. Das erste Mal, als er mich hierließ, sagte er gar nichts. Ich hatte mich gewehrt, als mir klar wurde, dass er mich in das Loch stecken wollte. Und er hatte mir blaue Flecken an den Armen beigebracht, als er mich hineingezwungen hatte. Ich war gestolpert, an dem Seil nach unten geschwungen und hatte mir die Wange an den rauen Seitenwänden aufgeschürft. Dabei starrte ich zu ihm nach oben und war sicher, dass er eine Waffe ziehen würde. Ich hatte meine Augen geschlossen. Taub. Kalt. Ich konnte nirgends hin. Mich nirgends verstecken. Hinter meinen geschlossenen Lidern hatte ich Bilder aufblitzen gesehen, Erinnerungsfetzen von einem ganzen Leben, das wie ein Film im Schnellvorlauf vor mir ablief. Als ich die Augen wieder öffnete, war er fort gewesen. Und ich hatte begriffen, dass er mich umbringen könnte, ohne einen Abzug zu drücken. Er muss mich bloß hierlassen.

Obwohl ich jetzt weiß, dass ich höchstens ein paar Stunden in der Grube sein werde, ist es unerträglich. Es riecht nach altem Urin und Metall. Ich bekomme Platzangst, und es fühlt sich an, als würde der enge Raum schrumpfen, würden die Wände näher rücken, alles Leben aus mir herausquetschen. Panik, dass ihm etwas passieren und ich hier für immer festsitzen könnte, regt sich in mir. Nichts kann die verscheuchen. Mir ist schlecht vor Angst. Die Hilflosigkeit gräbt mir ein Loch in den Bauch. Ich hocke auf dem Müll, den Rücken an die Wand gelehnt, und schließe die Augen. Ich kann das leise Rauschen des Meeres hören, die Schreie der Möwen, als sie über das flache Dach der Pagode segeln. Manchmal verirrt sich ein Vogel versehentlich nach drinnen, flattert verwirrt umher und lässt beißende grün-weiße Kleckse fallen.

Die Wände sind gerade und die Pockennarben gerade groß genug, um eine Fingerspitze hineinzustecken. Ich hatte versucht, mit der scharfen Kante einer Blechdose Vertiefungen hineinzukratzen, in die ich meinen Fuß stellen könnte, als er mich das erste Mal hier unten ließ. Dabei ritzte ich mir den Daumen auf, und Blut rann in leuchtenden Streifen über mein Handgelenk. Ein anderes Mal schrie ich, bis meine Stimme versagte und mein Hals so wehtat, dass ich noch Tage danach nur in einem heiseren Flüstern sprechen konnte. »Dich kann keiner hören«, hatte er gesagt. Er hatte am Rand der Grube gestanden, die Hände in die Hüften gestemmt. »Schrei so viel du willst.« Jetzt warte ich still und horche. Aber da sind nur die Seevögel und die Geräusche von Wind und Wasser. Ich erinnere mich an das Knattern eines Hubschraubers, kurz nachdem er mich gefunden hatte, und an Stimmen in der Ferne. Ich denke, sie hatten nach mir gesucht, nach meiner Leiche am Strand. Und ich weiß, dass sie es aufgegeben haben, weil nie wieder etwas zu hören war.

Vor der schmutzigen Mauer sehe ich Bilder von Dad, Mum und Faith. Ich sage mir, dass Dad lebt. Dass er nicht ertrunken ist. Er hatte seine Schwimmweste an, und er ist ein guter Schwimmer. Ein sehr guter. Ich muss daran glauben, dass es ihm gut geht. Er lebt und ist zu Hause, sorgt für Mum und Faith. Mir die drei zusammen vorzustellen macht mich stärker, aber ich habe Angst, dass ich vergesse, wie sie aussehen, deshalb zeichne ich im Geist immer wieder ihre Gesichter nach. Ich wünschte, ich hätte Stift und Papier. Stattdessen halte ich mich damit auf, über Details nachzugrübeln, wo genau ein Muttermal ist, wie sich die Farbe der Iris verändert, wie das Haar in die Stirn fällt. Ich stelle mir Szenen vor, wie Faith um den Küchentisch tanzt und ihre knochigen Gliedmaßen plötzlich fließend werden; Mum mit angewinkelten Beinen in einem Sessel, in ein Buch vertieft; Dad, der die Segel einholt, mit Wind in seinem Haar. Ich denke an Silver, dessen Fell sich weich unter meinen Fingern anfühlt und der mir seine Hundenase in die Hand drückt.

Und dann das Essen: Essen, das ich weder gerochen noch geschmeckt habe, seit ich hier bin. Das Essen, das ich früher naserümpfend am Tellerrand liegen ließ, als ich dachte, ich müsse abnehmen. Daran denke ich immerzu. Mir wird der Mund wässrig bei der Vorstellung von Brathähnchen, dessen Fleisch nach einem Hauch von Butter schmeckt und dessen Haut knusprig golden ist. Ich stelle mir mein Lieblingsschokoladeneis vor, bei dem winzige Eiskristalle in den cremigen Kugeln glitzern. Ich sehne mich nach ein paar Scheiben Schwarzbrot mit Erdbeermarmelade. Nach frisch gepresstem Orangensaft von der Farbe der Sonne, in dem Kerne schwimmen.

Billy sagte, ich sei ihm geschickt worden. Bevor er herkam, nachdem er aufgehört habe, Soldat zu sein, habe ihm eine Stimme gesagt, er solle auf die Insel gehen. Er habe einen Traum von einem Mädchen gehabt. Dem würde er das Leben retten, und dann müsse er es bei sich behalten, bis sich ein Sinn ergebe.

Was für ein Sinn? Ich wagte nicht zu fragen. Für mich klingt es wahnsinnig. Irre. Ich glaube ihm nicht. Es muss einen anderen Grund geben, warum er mich verschleppt hat. Aber Geld hat er nicht erwähnt. Als ich ihm zu Anfang sagte, »Meine Eltern sind nicht reich. Sie können dir kein Lösegeld zahlen«, hatte er gelacht. Es war ein kurzes, raspelndes Lachen gewesen. Wenn er bemerkt, dass ich weine, sieht er verwirrt aus. Einmal hatte er mir seine Hand auf die Schulter gelegt. »Ich habe dich gerettet«, sagte er, als würde es alles erklären.

Oft ist er wütend. Am zweiten Tag hier versuchte ich wegzurennen. Da packte er mich am Hals und warf mich zurück, sodass ich mir das Steißbein prellte und das Bein aufschürfte. Meistens richtet er seinen Zorn gegen sich selbst, schlägt seinen Kopf gegen die Wand und reißt sich Haarbüschel aus, die wie braunes Gras zwischen seinen Fingern kleben bleiben. Wenn er mich satthat, fesselt er mir stramm die Knöchel und Handgelenke und befiehlt mir, die Klappezu halten. Am Anfang musste ich so schlafen und muss es immer noch ab und zu, wenn ich ihn verärgert habe. Dann staut sich das Blut in meinen Händen und Füßen, und sie werden blau und taub. Er hat Albträume. Ich liege wach und höre ihm von der anderen Seite des Raums aus zu. Er schreit und ruft Worte, die ich nicht verstehe. Mein Herz rast vor Angst, dass er aufwacht und mich verletzt. Doch bisher hat er mich nicht richtig verletzt. Noch nicht.

Er beugt sich über den Rand der Grube, späht nach unten, und ich freue mich, ihn zu sehen. Ich bin erleichtert, dass er nicht verhaftet, von einem Wagen angefahren wurde oder plötzlich auf die Idee kam, nicht mehr zurückzukehren. Er hält ein totes Kaninchen an den Ohren. Es schaukelt über mir, die Beine schlaff baumelnd. »Die habe ich aus der Falle auf dem Weg drüben.«

Als ich aus der Grube wieder raus bin, schüttle und beuge ich die wunden Finger und taste meine Taille ab, wo das Seil hineingeschnitten hat. Ich verziehe das Gesicht, weil meine Haut wund gerieben ist. Er ignoriert mich. Er denkt, dass ich übertreibe. Er hockt auf dem schmutzigen Fußboden, zufrieden mit sich, dem heimgekehrten Jäger. Er hat die Plastikkanister mit frischem Wasser gefüllt und zwei Zucchini und einige Karotten mitgebracht. Für die Sachen muss er auf dem Festland gewesen sein, also hat er irgendwo ein Boot versteckt. Ich überlege, wo er es haben könnte. Sein Boot zu finden wäre meine größte Chance, der sicherste Fluchtweg. Schwimmen wäre eine Möglichkeit, doch die Strömung ist sehr stark, und ich bin noch nie so weit geschwommen.

Wie dem auch sei, wir bleiben auf der Inselseite, die dem offenen Meer zugewandt ist, und halten uns von der anderen fern, die man vom Festland aus sehen kann. Und er fesselt mir die Hände, wenn wir aus der Pagode gehen, lässt mich keine Sekunde aus den Augen.

Die Karotten sind in einer braunen Papiertüte. Ich wette, dass er sie nicht bezahlt hat. Meine Vermutung ist, dass er Essen von den Tischen klaut, die Einheimische aufstellen, um überschüssige Ernte aus ihrem Garten zu verkaufen. Oder er gräbt Sachen auf den Feldern aus; dort bleiben nach der Ernte oft noch Kartoffeln oder Karotten im Boden – Essen, das nur darauf wartet, mitgenommen zu werden. Das tote Kaninchen liegt im Staub, die Nagezähne zwischen den Lippen vorgeschoben. Stumpfe, starrende Augen.

»Hunger?« Er hockt sich vor mich, nimmt das Messer aus seinem Gürtel und öffnet mit einem Stoßen und Ziehen den weichen Kaninchenbauch. Ein Schwall von verdrehtem Eingeweide quillt zwischen seinen Fingern hervor und gibt den metallischen Geruch von Gedärm frei. Ich ziehe eine Grimasse. Er schüttelt den Kopf, amüsiert von meiner Zimperlichkeit, während er das dunkle, tropfende Herz herauszieht. Wäre Faith hier, würde sie sich nicht abwenden; sie würde den Hals recken, um besser sehen zu können, und am liebsten selbst die verschlungene Masse in seinen Händen untersuchen.

»Ich mache ein Feuer, wenn es dunkel ist.« Er ist beschäftigt, zieht das Fell über die Ohren und stülpt die Kreatur von innen nach außen. Zum Vorschein kommt ein milchiges, blau geädertes Ding. Ich sehe die schrecklichen Konturen von Gliedmaßen und Rumpf, den Hals, die Schultern, und ich denke an ein Kind. An den toten Leib eines Kindes.

»Ich habe dir die hier besorgt …« Er kickt einen Haufen Sachen in meine Richtung. Es ist eine Jungenjeans, ein bisschen klamm und nach Waschpulver riechend. Ich stelle mir vor, wie er sie von einer Wäscheleine gestohlen hat, mit flinken Fingern aus den Klammern rupfte und zur Pforte flitzte. Außerdem ist da ein blauer Pullover, dick und ölig. Ich frage nicht, woher die Sachen sind, sondern umklammere sie dankbar. In den frühen Morgenstunden, wenn der Nebel vom Meer heranwabert und sich die Pagode von Schwarz in Grau wandelt, wird es kalt.

3

Clara öffnet die Augen und runzelt die Stirn. So beginnt jeder Morgen. Mit einem einzigen Wort in ihrem Kopf: »Nein!« Manchmal sagt sie es laut. Ihre Tage sind kein Geschenk mehr. Sie sind eine schockierende Realität. Ihre Tochter ist tot. Sämtliche Dinge in ihrem Schlafzimmer, dämmrig und makellos hinter den geschlossenen Vorhängen, bestehen darauf, dass es wahr ist. Der Wecker fängt an zu klingeln. Es ist sieben Uhr, und sie muss aufstehen. Ihre andere Tochter lebt und braucht ein Frühstück, eine Unterschrift im Hausaufgabenheft, geputzte Schuhe. Faith braucht ihre Mutter, die sie liebt.

Es ist nicht das Lieben, das Clara schwerfällt. Es sind die Handlungen, die dieses Lieben ihr abverlangt. Ihre Glieder sind schwer, praktisch unbrauchbar; ihr Herz ist ein Stein, der ihr Inneres erdrückt, bis sie keine Luft mehr bekommt. Von ihrem Kissen aus vernimmt sie eine gedämpfte Männerstimme von Radio Four. Max hört im Bad die Nachrichten, wie jeden Morgen. Clara findet es befremdlich, dass sie alte Gewohnheiten weiterhin durch jeden Tag begleiten, die Dinge, die sie tun, die nicht enden wollenden Aufgaben und Rituale, denen sie wieder und wieder nachgehen. Sie kann sich die Nachrichten nicht anhören, interessiert sich nicht für Politik, will nichts von anderen Tragödien hören. Die Welt ist voller Konflikte: Arthur Scargills Schlacht mit Thatcher, der Kampf der militanten Sikhs um den Goldenen Tempel in Punjab. Sie hat die Schlagzeilen gelesen, die verkündeten, dass anstelle der O-Levels die GCSEs als Schulabschlüsse eingeführt werden sollen, und weiß, dass sie sich um Faiths willen dafür interessieren muss.

Hinter dem Plärren des Radios kann sie Max hören, wie er sich im Bad bewegt, das Gurgeln in den Wasserrohren, ein plötzliches Rauschen und das Geräusch einer Tür, die geschlossen wird. Sie muss aufstehen und sich anziehen, bevor er hereinkommt. Sie mag es nicht mehr, wenn er sie nackt sieht.

Clara kämpft sich in ihre verdrehte Jeans. Sie trägt nun meistens tagelang dieselben Sachen. Als sie die Arme durch die Ärmel ihrer Bluse fädelt, nimmt sie das Vogelgezwitscher im Garten wahr: ekstatische Musik. Für einen Moment stellt sie sich vor, wie es sein muss, eine Lerche zu sein, wenn die Sommerwärme in der Luft wirbelt, erfüllt von Pollen und dem Summen von Insekten. Nicht sie selbst zu sein. Dann erinnert sie sich an die Vogeljungen, die in dieser Jahreszeit aus den Nestern fallen. Sie hat Vogeleltern gesehen, die hilflos über ihren winzigen Sprösslingen flatterten, während eine Katze schon zwischen Petunien und Lupinen heranschlich.

Max sieht zur Tür herein. Er bindet seine Krawatte, also muss er sich im Bad angezogen haben. Ihr fällt auf, dass sich ihr Mann nackt genauso unwohl fühlt wie sie. Es ist Teil ihres beiderseitigen Bestrebens, alles Natürliche zwischen ihnen auszusperren. Offene Trauer. In ihr ist zu viel Wut, in Max zu viel Schuldgefühl, als dass sie irgendwas riskieren würden, außer der neuen Höflichkeit, die zwischen ihnen herrscht. »Soll ich schon mal Frühstück für Faith machen?« Er atmet tief, als wäre er gerannt.

»Nein, ich bin gleich da.« Sie setzt sich hin, um ihre Socken anzuziehen.

Er sieht sie an und reibt die Unterlippe mit seinem Daumen. »Du musst nicht aufstehen … Ich kann das machen.«

»Sei nicht albern.« Clara streicht sich das Haar hinter die Ohren. »Ich gehe nicht wieder ins Bett.«

Nach Evas Verschwinden hatte Clara sich wochenlang an die Möglichkeit geklammert, dass sie lebte. Dass sie von einem anderen Boot aufgelesen oder meilenweit weg angespült wurde und es noch nicht zurück nach Hause geschafft hatte. Doch mit jedem Tag, der verging, wurde es unwahrscheinlicher. Eva war im Meer verschwunden, mit Haut und Haaren vom Wasser verschluckt. Als Clara sich endlich erlaubte, das zu begreifen, war sie ins Bett gegangen und dort geblieben. Sie hatte ein altes T-Shirt von Eva mitgenommen, ihr Gesicht in den Knitterfalten vergraben und einen Hauch von Evas Haut eingeatmet, den Duft ihres Haars, den verschmierten Lipgloss-Klecks am Kragen.

Eines Morgens hatte sie Max und Faith vor der Tür reden gehört. Faith konnte ihren Sport-Rock nicht finden, und Max hatte keine Ahnung, wo er war. Clara wusste, dass er im Trockenschrank hing und dass sie aufstehen, den Rock holen und in Faiths Ranzen packen musste. Es war Zeit aufzustehen, sich der Welt zu stellen und dem Kind, das noch da war, eine Mutter zu sein.

»Es tut mir leid.« Sie hatte Faith an ihre Schulter gezogen und ihr ungekämmtes Haar geküsst, als sie ihr den Rock gegeben hatte. »Ich bessere mich, versprochen.«

»Ist schon gut, Mum.« Faith hatte Clara tröstend den Rücken gerieben, als wäre sie die Erwachsene und ihre Mutter das Kind. »Ich verstehe das.«

Clara hatte sich geschämt. Sie hatte aufgehört, im Bett zu bleiben. Jeder Tag war ein Kampf, doch sie war entschlossen, Faith nicht noch einmal im Stich zu lassen. Faith, ihr Wunderkind, von dem sie nie gedacht hatte, dass sie es bekommen würde. Faith war ein ruhiges Baby gewesen, hatte nachts durchgeschlafen und zufrieden auf dem Windelpopo gesessen, bis sie fast fünfzehn Monate alt gewesen war. Trotz ihrer zarten Gestalt war sie erstaunlich zäh gewesen, nur selten krank geworden. Als Kleinkind hatte sie auf den Fersen gehockt, um Insekten und Blumen zu untersuchen, fröhlich in Pfützen gespielt und immer vor sich hin gesummt. Weil Faith keine Zuwendung eingefordert hatte, war es zu leicht gewesen zu vergessen, dass sie diese genauso sehr brauchte wie ihre laute Schwester. »Eva ist der wandelnde Beweis dafür, dass Frechheit immer siegt«, hatte Max’ Mutter oft gesagt.

In der Küche ist alles voller Dampf, und Max fuchtelt mit den Armen im weißen Dunst herum. »Verfluchter Kessel«, sagt er. »Der Strom muss ausgefallen sein.«

Auf dem Boden steht ein Korb mit einem Berg Bügelwäsche. Silver kratzt an der Tür, will nach draußen gelassen werden. Faith blickt in den Kühlschrank. »Ist noch Käse da?«, fragt sie. »Ich muss mir Brote zum Mitnehmen machen.«

»Ich habe vergessen, welchen zu kaufen.« Clara beißt sich auf die Unterlippe. »Entschuldige.« Sie dreht den Türknauf, und der Hund drängt sich an ihren Knien vorbei in den Garten. Evas Hund. Sie beobachtet, wie das Tier schwanzwedelnd über den Rasen tapst. Auf dem Dielentisch liegt ein ungeöffneter Brief vom Tierarzt. Clara vermutet, dass die Impfungen für den Hund anstehen. Die Liste von zu erledigenden Sachen beginnt durch ihren Kopf zu wirbeln, immerzu im Kreis. Ein vertrautes Stechen setzt in ihren Schläfen ein.

Faith legt einen Apfel und ein Butterbrot in eine Dose, während sie sich gleichzeitig einen Keks in den Mund steckt. Sie muss los zur Schule. Clara hat es nicht geschafft, an das Lunch-Paket zu denken, es nicht geschafft, für ihr Kind zu sorgen.

»Das ist kein Frühstück.« Clara blinzelt durch den Schmerz, der ihre Sicht beeinträchtigt. »Ich füll dir ein paar Cornflakes ein.«

Sie nimmt eine Schale, und als sie sich umdreht, um nach der Cornflakes-Packung zu greifen, ist Max an ihrem Ellbogen und beugt sich zu ihr. »Lass nur, ich mache das …«, sagt er, und sie will widersprechen, da stößt sein langer Arm die Milch auf den Boden. Glas zerbricht, und Milch ergießt sich über den Steinboden. Schimmernde Pfützen bilden sich um ihre Füße. Sie bückt sich, um eine große Flaschenscherbe aufzuheben, und ringt nach Luft. Eine Scherbe ragt aus ihrem Finger. Ein kleiner blauer Dolch. Clara zieht sie heraus. Blut pulsiert rot aus der pochenden Fingerspitze. Tropfen rinnen ihre Hand hinunter, beflecken ihre Kleidung und fallen auf den Boden, wo sie die verschüttete Milch rosa färben.

»Oh Gott, Clara!« Max steht direkt neben ihr. »Das sieht tief aus. Halt die Hand nach oben.«

Sie fühlt seine Finger an ihrem Handgelenk, warm und stark. Und sie wünscht sich, er würde sie weiter so halten, nicht weggehen. Seine Berührung gibt ihr immer ein Gefühl von Sicherheit. Sie wird ganz ruhig und starr, schließt die Augen. »Lauf und hol ein Pflaster«, hört sie ihn zu Faith sagen.

Sie zieht ihre Hand weg. »Nicht nötig. Mir geht es gut.« Der Raum dreht sich eiernd. Clara holt tief Luft, konzentriert sich darauf, den wabernden Nebel zu klären, das Verschwommene wegzudrängen, damit ihr die Klarheit der alltäglichen Objekte Stabilität gibt.

»Dir geht es nicht gut.« Wieder umfängt er ihr Handgelenk und führt sie zur Spüle, wo er das kalte Wasser aufdreht. Sie beobachtet, wie ihr Fleisch unter dem Strahl aufklafft und das Blut in dem Schnitt herumwirbelt. Das scharfe Ziehen ist fast wohltuend, denn der Schmerz in ihrem Finger vertreibt den dunklen, tiefen Schmerz in ihrem Herzen.

Faith ist wieder zurück und gibt ihrem Vater die Pflasterdose mit einer Aura von Wichtigkeit. »Hol deinen Ranzen, Faith«, sagt er zu ihr, während er Claras Hand weiter unter den Wasserstrahl hält. »Ich fahre dich zur Schule, sonst kommst du zu spät.«

Als Faith weg ist, neigt Max sich näher und wickelt ein Pflaster um Claras Finger. »Du brauchst Hilfe, Clara«, sagt er leise. »Wir sollten uns um ein Au-pair-Mädchen bemühen. Das Haus ist riesig. Du hast zu viel zu tun.«

Sie wendet sich ab, sieht in den Garten. Eine Drossel pickt mit ihrem orangen Schnabel im Gras. Clara hört das leise Winseln des Hundes, der wieder hereinwill.

»Es wäre das Vernünftigste.« Er sieht sie an. »Und sei es nur für die Sommerferien. Wir hatten doch schon mal darüber geredet, und ich dachte, du wärst einverstanden. Lass mich bei einer Agentur anrufen. Ich sorge mich um dich. Bitte.«

Clara schüttelt verhalten den Kopf. »Ich weiß nicht, ob ich noch jemanden im Haus haben kann.« Ihre Stimme bricht. »Eine Fremde. Und das Geld … es sind zusätzliche Kosten, die wir nicht brauchen können.«

»Clara, sieh mich an.«

Zögernd blickt sie zu ihm auf und bemerkt, dass er sich beim Rasieren geschnitten hat. Kleine Papierfetzen kleben in seinem Gesicht, mit roten Punkten mitten im Weiß. »Wir bluten beide«, murmelt sie.

»Es wäre gut für Faith«, sagt er fest. »Gesellschaft für sie.«

»Na gut.« Clara richtet sich auf. »Ich denke darüber nach.« Sie sieht zu der Bescherung auf dem Fußboden und der unangetasteten Schale mit Cornflakes. Sie muss die Scherben aufsammeln, bevor der Hund reinkommt. Silver bellt draußen, was wie ein verärgertes Japsen klingt. Er hat Hunger. Und Clara weiß nicht, wo sie anfangen soll – bei der Milch oder dem Glas? Mit dem Wischmopp oder dem Besen?

Sie sieht zur Uhr. »Wo ist Faith? Ihr müsst los.«

Es ist meine Schuld, denkt sie. Ich bin nutzlos. Egoistisch. Sie möchte sich ohrfeigen. Wach auf, befiehlt sie sich streng. Sie schnappt sich den Besen und fängt an, die Pfütze mit den Scherben zusammenzufegen. Milchblasen bilden sich um ihre Füße. Faith ist vernachlässigt; Max ist unglücklich. Sie weiß nicht, was sie dagegen tun soll. Vielleicht hat Max recht. Sich bezahlte Hilfe zu holen ist ein erster Schritt.

Sie hört draußen den Motor starten, lässt den Besen klappernd fallen und rennt zur Vordertür. Faith schnallt sich gerade an. Hinterm Lenkrad dreht Max sich um und sieht überrascht aus. »Ich rufe eine Agentur an«, ruft Clara. »Gleich heute.«

Faith blickt zu ihrer Mutter auf und spreizt die Hand am Beifahrerfenster, wo ihre Fingerspitzen weiß gegen das Glas drücken. Clara streckt ihre Hand vor, spiegelt die Geste, sodass sich ihre Hände berühren. Nur fühlt sie nichts als kaltes Glas zwischen ihnen. »Wiedersehen, Schatz. Hab einen schönen Tag«, sagt sie tonlos, als sich der Wagen in Bewegung setzt.

Clara zwingt ihre Muskeln, die Lippen auseinanderzuziehen, zumindest ein Lächeln zu versuchen. Sie winkt so munter, wie sie kann. Ihr Finger pocht, und das Pflaster ist klebrig von Blut.

4

In Gedanken kann man überallhin. Ich schließe die Augen und bin wieder in meinem Zimmer, wo ich die Kommodenschublade öffne und die Sachen durchwühle: Hier sind der grüne Lurex-Rock, den ich auf einem Flohmarkt gefunden hatte, mein hellgelbes T-Shirt mit FIORUCCI-Aufdruck in pinken Lettern. Ich finde das schwarze Kleid mit dem einen Schulterträger und entwirre ein Paar weiße Netzstrümpfe, um sie als Handschuhe zu tragen, sowie einen Streifen schwarzen Stoffs, den ich mir ins Haar binden will. Ich werde aussehen wie Madonna, mit lauter Armreifen und einem Lippenstiftgrinsen.

Ich male mir Marcos Blick aus, wenn ich in den Club komme. Musik wummert aus den Lautsprechern, etwas von Joy Division oder The Cure. Stroboskopblitze leuchten in der Dunkelheit auf, und eine Nebelmaschine läuft. »Du siehst unglaublich aus«, sagt er, wobei seine Lippen meinen Hals streifen und seine weiße Haut leuchtet. Ich kann Marco alles in den Mund legen, was ich will. Aber er hatte mir wirklich gesagt, ich sähe unglaublich aus, und ich erinnere mich noch, wie mein Herz einen Sprung machte, als er es sagte.