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Deer Valley ist eine seltsame kleine Stadt. Immer wieder verschwinden hier Hunde und Katzen. Aber nun fehlt von dem zwölfjährigen Jude Brighton jede Spur. Die Bewohner von Deer Valley bereiten sich auf das Schlimmste vor. Denn vor Jahren verschwand hier schon einmal ein Junge. Nach Tagen fand man seine verstümmelte Leiche im Wald, doch nie seinen Mörder. Die Erleichterung ist groß, als Jude doch wieder zurückkehrt. Nur Steve merkt, dass mit seinem besten Freund etwas nicht stimmt. Dieser Junge ist nicht Jude! Ein neuer, unvergesslicher Roman von Ania Ahlborn – der gefeierten Autorin mehrerer unheimlicher Bestseller. Publishers Weekly: »Eine Prosa, die auf elegante Weise Spannung hervorruft.« J. Lincoln Fenn: »Gruselig … Geht unter die Haut und hinterlässt Spuren.« Vicki Pettersson: »Ania Ahlborn ist eine Autorin, die Sie nicht so schnell vergessen werden.«
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Seitenzahl: 528
Veröffentlichungsjahr: 2019
Aus dem Amerikanischen von Michael Krug
Impressum
Die amerikanische Originalausgabe The Devil Crept In
erschien 2017 im Verlag Gallery Books.
Copyright © 2017 by Ania Ahlborn
Copyright © dieser Ausgabe 2019 by Festa Verlag, Leipzig
Titelbild: Arndt Drechsler
Alle Rechte vorbehalten
eISBN 978-3-86552-796-7
www.Festa-Verlag.de
Und dann rannte das Kind hinein in den Wald.
Und fand seinen Freund bei des Teufels Gestalt.
– Anonym
Da mir gewiss ist, dass im Himmelsreich
Die Engel, wenn sie glühend sich benennen
Mit Liebesnamen, dennoch keinen kennen,
Der den geweihten Lauten »Mutter« gleich.
– Edgar Allan Poe
TEIL EINS
1
Jude Brighton war verschwunden. Stevie Clark stand am Rand des Waldes, die kleinen Hände gefaltet, während er beobachtete, wie die Menschen zwischen den Bäumen nach seinem Freund suchten.
Jude war an diesem Sonntag verschwunden, nachdem er und Stevie stundenlang hinter Gebäuden nach alten Kanthölzern gesucht hatten. Ihre Festung, ihr Fort war beinahe fertig. Fehlten nur noch ein paar weitere Bretter und Ersatzsprossen für die Leiter. Die Sprossen, die sie an den Baumstamm genagelt hatten, waren tückisch wie der Aufstieg in Saurons Turm. Aber die Gefahr gefiel ihnen beiden – sich mit bloßen Händen an den splitterigen Brettern festklammern, oben die Kratzer und Abschürfungen vergleichen, sich bei jedem Abstieg von ihrem Verschlag beinahe den Hals brechen. Denn, so sagte Jude: Ohne Risiko macht das Leben keinen Spaß. Und wenn Stevie jemanden kannte, der die Gefahr suchte, dann unbestreitbar sein Cousin. Sein bester Freund. Nun verschwunden wie ein Geist.
Stevie hatte auf der Couch gesessen und ferngesehen, als seine Tante Amanda an die Vordertür geklopft hatte. »Ist Jude da?«, hatte sie mit dem üblichen brüchigen Lächeln im Gesicht gefragt. Allerdings schwang zu dem Zeitpunkt etwas in ihrer Stimme mit, das Stevie aufhorchen ließ. Es klang wie etwas Schwärendes, das sie plagte. »Wäre an der Zeit, nach Hause zu kommen«, sagte sie. »Das Abendessen ist im Ofen.«
Stevie liebte seine Tante Mandy. Trotz ihrer zu stark ausgeprägten Züge empfand er sie als hübsche Frau. Sie besaß ein langes Gesicht und riesige Augen. Sie hat ’n Pferdegesicht. So hatte es sein Stiefvater Terry beschrieben und dazu schallend gelacht. Pferdegesicht Brighton. Wir sollten sie beim Kentucky Derby ins Rennen schicken, damit sie ’n bisschen Knete für uns gewinnt. Terry Marks war ein gewaltiges Arschloch. Stevie hasste ihn, wahrscheinlich mehr als jeden anderen Menschen auf der Welt.
Und dennoch, obwohl er »den Tyrannen« hasste, weil er so ein Arsch war, ertappte sich Stevie gelegentlich dabei, dass er gegen seine Mutter einen noch größeren Groll hegte. Teilweise, weil sie Tante Mandy nicht verteidigte, wenn Terry über sie herzog. Überwiegend jedoch, weil sie zuließ, dass der Tyrann ihr Leben versaute. Einmal hatte sie fast zwei Wochen lang ein blaues Auge gehabt. Bin mit voller Wucht in die Ecke des Küchenschranks gelaufen, hatte sie lachend behauptet. Ehrlich, wenn mein Kopf nicht angewachsen wäre … Du weißt ja, wie das ist. Ja, Stevie wusste es. Die ganze Gemeinde wusste es, trotz der Lüge.
Deshalb wirkte Tante Mandy immer angespannt, wenn sie vorbeischaute. Man konnte Terry nicht unbedingt als gastfreundlich bezeichnen. Es kam einem Wunder gleich, dass sie Jude überhaupt zum Spielen zu Stevie nach Hause kommen ließ. Zum Glück tat sie es trotzdem, denn in ihrem Haus bekam Stevie immer Kopfschmerzen. Es roch dort irgendwie rosa, wie Blumen. Abgesehen davon war er ziemlich sicher, dass in ihrer Toilette eine Schlange hauste. Er hatte sie gesehen, auch wenn Jude steif und fest behauptete, das hätte er sich bloß eingebildet.
»Nee, er ist nicht da«, antwortete Stevie.
Dass Jude an jenem Nachmittag nicht vorbeigekommen war, um abzuhängen, oder dass er noch nicht zu Hause aufgekreuzt war, schien für Stevie keine große Sache zu sein. Jude lebte nach eigenen Regeln. Wenn er sich den ganzen Tag lang im Wald herumtreiben wollte, dann tat er es. Wenn ihm danach zumute war, das Abendessen auszulassen, dann tat er auch das. Aufhalten konnte ihn niemand, schon gar nicht seine Mutter.
Aber wenngleich Jude ein Regelbrecher war, wie er im Buche stand, und trotz des alten Sprichworts Jungs sind nun mal Jungs, überzeugte Stevie die kaum verhohlene Panik in Tante Mandys Gesichtsausdruck, dass diesmal viel mehr dahinterstecken musste. Nicht nur dass sich ihr Sohn von seiner üblichen trotzigen Seite zeigte. Diesmal ging es um etwas anderes. Um etwas weit Ernsteres als eine verspätete Heimkehr. Tante Mandys brüchiges Lächeln zerbarst in tausend Scherben blanker Besorgnis.
»Weißt du, wo er ist?«, fragte sie.
»Mhm.« Stevie vermutete, Jude könnte in der Festung sein, allerdings war es dorthin ein langer Marsch, zudem langweilig, wenn man ihn allein antrat. Abgesehen davon galt die Festung als streng geheim. Da die Hauptstraße aus einem Park und einer nicht mal einen Kilometer langen Geschäftszeile bestand, konnte man Deer Valley nicht gerade als angesagte und ereignisreiche Ortschaft bezeichnen. Die beiden Jungen hatten den ganzen Sommer damit verbracht, jenes Baumfort zu bauen, und bereits darüber gesprochen, eine weitere – größere und bessere – Festung in Angriff zu nehmen, sobald die erste Konstruktion fertig wäre. Sie fantasierten sogar davon, eine viereinhalb Meter hohe Seilrutsche einzubauen – eine weitere Möglichkeit, Kopf und Kragen zu riskieren, wenn sie sich nicht gerade gegenseitig mit ihren Spielzeugblastern Schaumstoffgeschosse in die Augen feuerten oder sich Wasserballons an die Köpfe warfen. Wenn sie Glück hätten, würden sie auf dem Schrottplatz ein Rohr aufspüren, das lang genug für eine Rutschstange wäre. Diese Ergänzungen waren ihnen alle erst nach Beginn der Arbeit an der ersten Festung eingefallen, viel zu spät, um sie noch in den ursprünglichen Plan einzubauen. Stevie hatte nicht vor, ihr Geheimnis auszuplaudern, nur weil sich Tante Mandy ein wenig wegen Judes verspäteter Rückkehr nach Hause sorgte.
Bei jedem anderen Jungen hätte es Orte gegeben, die man abklappern könnte. Zum Beispiel ein anderer Freund auf der gegenüberliegenden Seite der Ortschaft. Oder man könnte bei Nachbarn nachfragen, andere Eltern anrufen. Allerdings hatte Jude keine Freunde. Nicht in dem Sinn, dass man gemeinhin scherzhaft meinte: Er ist ja so ein Einzelgänger. Eher so, dass es aufrichtig hieß: Niemand kann Jude Brighton leiden. Man konnte getrost sagen, dass er nur deshalb Hunderte Stunden damit verbracht hatte, mit Stevie, einem zwei Jahre jüngeren Cousin, ein Baumhaus zu bauen, weil ihm sein Ruf vorauseilte. Stevie mochten andere Kids nicht, weil er schräg war und weil ihm Finger an der rechten Hand fehlten. Ihre Abneigung gegen Jude war simpler: Ihn mochten sie nicht, weil er ein Arsch war.
Eltern wiederum konnten Jude nicht leiden, weil er als Unruhestifter galt. Er sprach Wörter wie gottverdammt und Scheiße und Arschloch sogar in der Gegenwart von Erwachsenen aus. Einmal hatte er ein herzhaftes verfickt fallen gelassen, einfach nur, um das Wort zu benutzen. Er hatte es ganz beiläufig eingestreut, um die Unterhaltung abwechslungsreicher zu gestalten.
Stevie hörte solche Wörter regelmäßig durch die Wände in seinem Haus dröhnen. Sein großer Bruder Duncan ließ gelegentlich Flüche vom Stapel. Und Terry verfügte in der Hinsicht über ein beachtliches Vokabular und genierte sich nicht, es die gesamte Nachbarschaft hören zu lassen. Aber Dunk besuchte die High School, und Terry war erwachsen, Jude hingegen erst zwölf. Das harsche, schneidende Schimpfwort von einem Kind zu hören, hatte Stevies Nerven damals zum Kribbeln gebracht wie Knisterbrause direkt auf der Zunge.
Man konnte Jude als taff und unerbittlich bezeichnen. So war er seit dem Tod seines Vaters – Stevies Onkel Scott. Nichts jagte Jude Angst ein. Vor zwei Sommern hatte er beim Spielen am Bach einen knurrenden Kojoten verscheucht, abgemagert, wahrscheinlich am Verhungern und in der Stimmung für einen nachmittäglichen Imbiss. Jude griff sich nur einen abgefallenen Ast und stürmte mit einem gellenden Schlachtruf auf das Tier los, als wollte er es damit aufspießen, während Stevie wie vom Donner gerührt zurückblieb und seinem draufgängerischen Waffenbruder mit großen Augen hinterherstarrte.
»Mensch«, hatte Stevie gesagt, als Jude schließlich zurückgekommen war. »Was, wenn er dich angegriffen hätte, statt wegzurennen?«
»Dann wär er jetzt tot statt nur erschrocken«, hatte Jude erwidert, als wäre nichts weiter dabei, Kojoten mit bloßen Händen zu töten. Bei dem Vorfall mit dem Tier war Onkel Scott seit über einem Jahr tot gewesen. Jude war damals zehn, aber die Wut in ihm hätte genügt, um einen doppelt so großen, erwachsenen Mann auszufüllen.
Bereits am nächsten Morgen kursierten Gerüchte, Jude wäre von zu Hause ausgerissen, und es fiel nicht allzu schwer, die Theorie zu glauben. Jedermann wusste, dass mit Jude nicht alles stimmte. Er galt als Deer Valleys Problemkind, eine Bedrohung, ständig in irgendwelchen Schwierigkeiten. Und Amanda Brighton war nicht unbedingt eine strenge oder durchsetzungsfähige Frau. Sie hatte zwar versucht, Jude in eine Therapie zu stecken, doch das schien seinen inneren Aufruhr nur zusätzlich zu schüren. Nach einigen gescheiterten Versuchen ließ sie Jude einfach tun und lassen, was er wollte.
Mehr als einmal war er von der Polizei wegen Bagatelldelikten wie Ladendiebstahl aufgegriffen worden. Einmal auch wegen Vandalismus und Besitzstörung, allerdings bezog sich dieser Verstoß bloß auf eine unzählige Hektar umspannende Farm. Die Besitzer hatten keine Schilder aufgestellt, um Fremde fernzuhalten, deshalb war es Stevies Meinung nach eine völlig haltlose Anschuldigung. Aber die Polizei mochte Jude ebenso wenig wie alle anderen, deshalb machte man ihm dafür trotzdem die Hölle heiß.
Am schlimmsten war es gewesen, als man Jude erwischt hatte, wie er ein Stück Holz mit rostigen Nägeln darin schwang wie einen mittelalterlichen Streitkolben. Er triezte damit eine der unzähligen streunenden Katzen von Deer Valley hinter einem der Geschäfte an der Hauptstraße. Das kränklich wirkende Tier flüchtete sich einen Baum hinauf und brachte sich auf einem Ast in Sicherheit. Indes schwang Jude das Kantholz so überzeugend, dass sich der Ladenbesitzer bemüßigt sah, Hilfe zu rufen. Stevie war sich ziemlich sicher, dass Jude nur versucht hatte, dem dummen Vieh herunterzuhelfen, allerdings interessierte niemanden, was er dachte. Jedenfalls endete es für Jude mit einer Verwarnung wegen versuchter Tierquälerei. Noch ein Fehltritt, und er würde im besten Fall auf vollwertiger Bewährung sein, im schlimmsten vielleicht sogar in der 50 Kilometer entfernten Jugendhaftanstalt einsitzen.
Irgendwie gelang es Tante Mandy, ihren Sohn aus jeder einzelnen Übertretung herauszureden. Wozu sie viel an Bitten, Flehen und Erklärungen in die Waagschale werfen musste. Viele Male musste Tante Mandy den Tod ihres Ehemanns erneut durchleben, während sie schilderte, wie hart der Verlust von Judes Vater ihr einziges Kind getroffen hatte. Beteuerungen wurden abgegeben: Jude sei ein guter Junge, nur verloren und wütend, weil er nicht wusste, wie er mit seinem Kummer umgehen sollte. Und offen gestanden wurde Stevie manchmal wütend darüber, denn er hätte mit Sicherheit lieber einen toten Vater gehabt als Terry Marks, der ständig über ihm schwebte wie ein Damoklesschwert.
Aber in diesem Fall ging es nicht um Stevie.
Keine Stunde nachdem Tante Mandy sein Haus verlassen hatte, traf die Polizei nebenan ein und nahm eine Meldung auf. Stevie hatte genug Serien über Ermittler gesehen, um zu wissen, dass die ersten 48 Stunden als entscheidend galten. Danach sanken die Chancen so rapide, dass es beinahe unmöglich wurde, ein Kind noch zu finden. Und ganz gleich, wie sehr sich Jude aufspielte und selbst glauben wollte, er wäre bereits ein Erwachsener – er war trotzdem immer noch ein Kind. Ein Kind, das Stevies Mutter als überdimensioniertes Baby bezeichnete und sein Stiefvater als nichtsnutzigen kleinen Scheißer.
Gleich am Montagmorgen lief ein Bericht in den Frühnachrichten: Jude Brighton, zwölf Jahre alt, war von zu Hause ausgerissen. Für diejenigen, die ihn nicht richtig kannten, taugte diese Erklärung so gut wie jede andere. Stevie jedoch wusste, dass es sich um völligen Quatsch handelte. Schon allein deshalb, weil Jude nie die Klappe über irgendetwas hielt. Wenn er eine schlaue Idee hatte, erfuhr Stevie immer als Erster davon.
An jenem ersten Vormittag versuchten gelangweilte Reporter, Interviews mit jedem zu ergattern, der mit ihnen reden wollte. Stevies Mutter verlangte von ihm, dass er ihnen fernblieb. Also beobachtete er durch die Fenster, wie sich die Nachbarn zu den ihnen hingehaltenen Mikrofonen beugten – diese Leute kannten Jude nicht mal, trotzdem gaben sie Äußerungen über ihn ab. Ach, dieses Brighton-Kind. Ein Unruhestifter, wie er im Buche steht, wenn Sie mich fragen.
Tante Mandy gebärdete sich hysterisch. Stevies Mutter hatte alle Hände voll mit dem Versuch zu tun, ihre Schwester zu beruhigen, damit sie nicht den Verstand verlor. Da Stevie deshalb sich selbst überlassen blieb, stopfte er sich einen Müsliriegel in die Gesäßtasche seiner Shorts und wanderte los zur Festung, um sich zu vergewissern, dass Jude nicht dort war. Kein einziges Brett erwies sich als lose, kein Nagel war verbogen worden. Keine Spur von seinem Cousin.
Stevie drehte sich in eine andere Richtung und starrte durch den Wald zu einem völlig anderen Ziel, ihrem anderen Geheimnis: dem Haus. Traute er sich? Nein. Er kniff und trat den Rückweg nach Hause an, denn jenes Haus war ein Ort, zu dem keiner der beiden Jungs allein ging. Niemals. Auf gar keinen Fall.
Dienstagmorgen. Stevie war mit den Vögeln aufgestanden und hatte es fast hinaus zur Tür geschafft, als ihn seine Mutter am Arm zurückhielt. »Wo willst du hin?«, fragte sie und schaute skeptisch wie immer drein.
»Ich will h-helfen, nach Jude zu suchen.« Allerdings handelte er sich damit nur ein, dass er von der Vordertür weggezogen wurde. Nicole Clark konfiszierte seinen kleinen Spiralblock und seinen Druckbleistift, Utensilien, die Stevie benutzen wollte, um unterwegs Notizen zu machen. Sie verstaute beides oben auf dem Kühlschrank. Ohne auf die Arbeitsplatte zu klettern oder einen Stuhl durch die Küche zu schleifen, könnte er nicht rankommen. Sie setzte ihn an den Tisch und steckte Pop-Tarts für ihn in den Toaster, als wäre süßes Frühstücksgebäck eine angemessene Alternative zur Beteiligung an der Suche nach seinem verschwundenen besten Freund. »Du musst hierbleiben«, teilte sie ihm rundheraus mit. Keine Erklärung. Nur ein Befehl.
»Aber warum?«, fragte Stevie. Wenn er schon nicht nach Jude suchen durfte, wollte er auf jeden Fall eine bessere Begründung als Weil ich es sage.
»Weil …« Terrys Stimme mischte sich in die Unterhaltung. Er füllte den Eingang der Küche aus. Seine kantigen Schultern blockierten das Sonnenlicht, das durchs Fenster in der Diele hereindrang. Gleich darauf betrat er die Küche mit seinen plumpen Schritten. »Wenn’s was Wichtiges zu erledigen gibt, kann niemand einen bescheuerten kleinen Spinner gebrauchen, der bloß im Weg ist, deshalb.« Er schleuderte Stevie einen strengen, tadelnden Blick zu. Andererseits wirkte jeder Blick aus so tief in den Höhlen sitzenden, schmalen Augen wie jenen des Tyrannen zwangsläufig hasserfüllt. Mit der hohen, ständig glänzenden Stirn und dem sandbraunen Vokuhila war der Mann genauso hässlich wie gemein. Am ekligsten jedoch fand Stevie den Schnurrbart – ein ungepflegtes, auf den Kopf gestelltes U, das seitlich am Mund nach unten zu kriechen schien wie eine sterbende Raupe.
»Ach, Ter.« Stevies Mutter. »Lass ihn doch in Ruhe.« Nur meinte sie es nicht ernst. Wenn der Tyrann entschiede, an Ort und Stelle über Stevie herzuziehen, würde sie nur kleinlaut aus dem Raum schlurfen.
Stevie blickte auf seinen Pappteller hinab und starrte finster auf das Süßgebäck. Außer dem Abendessen wurde jede Mahlzeit auf Wegwerfgeschirr serviert. Was daran lag, dass der Geschirrspüler kaputtgegangen war und nicht repariert wurde, ganz gleich wie sehr Stevies Mutter quengelte.
»Wenn ich nicht mithelfe, finden sie ihn also schneller?« Das hielt Stevie für höchst unwahrscheinlich, vor allem, da die Polizei nicht wirklich viel herumfragte. Tatsächlich wirkten die Beamten kaum besorgt.
Seine Mutter seufzte. »Stevie …«
»Vielleicht«, meinte Terry. »Und wenn du nicht so viele scheißdämliche Fragen stellst, bringst du mich vielleicht heute Morgen ausnahmsweise mal nicht auf die Palme.« Terry kratzte Judes Verschwinden kein bisschen. Es hätte ihn mehr gestört, wenn irgendjemandes Hund in ihren von Unkraut verseuchten Vorgarten gekackt hätte.
Nur besaß niemand in Deer Valley einen Hund. Auch keine Katze. Als Stevie jünger gewesen war, hatte ihm seine Mutter eingeredet, es gebe keine Haustiere, weil sie Keime übertrugen und im Ort nicht erlaubt seien. Als er diese Lügengeschichte irgendwann durchschaut hatte, kam von ihr die Erklärung, seit dem »Zwischenfall« mit Dunks Hund gebe es für die Clarks keine Haustiere mehr, und damit basta. Was genau bei dem Zwischenfall passiert war, hatte sie nie näher ausgeführt.
Mürrisch starrte Stevie auf seinen Teller, bevor er zu seiner Mutter aufzuschauen wagte. Natürlich hatte sie ihm den Rücken zugekehrt. Tat an der Arbeitsplatte so, als wäre sie schwer beschäftigt und würde kein Wort hören, das zwischen Terry und ihm fiel.
Regungslos saß Stevie da, bis der Tyrann seinen Instantkaffee schlürfte und den vor ihm liegenden Donut verschlang – mit der Schokoladenglasur erinnerte das Gebäck Stevie an einen porösen alten Traktorreifen. Er ließ den Blick abgewandt und zählte im Kopf stumm die Sekunden – eins, zwei … zehn –, bis sich sein Stiefvater vom Tisch abstieß und zur Arbeitsplatte ging, wo nach wie vor Stevies Mutter stand. Stevie sah nicht hin, doch die Geräusche, die aus der Nähe des Spülbeckens zu ihm drangen, begleiteten die Bilder in seinem Kopf: Terry, der sich ans Hinterteil seiner Mutter presst, mit den großen, klobigen Pranken ihre Hüften packt und sie mit einem Ruck zu seinem Schritt zieht. Manchmal schob er die Hand vorn zwischen ihre Beine, während sie wie erstarrt und ohne Reaktion dastand, als hätte sie vielleicht Angst oder wäre insgeheim sogar angeekelt. Und dann löste sich Terry Marks wie ein Lotsenfisch von einem Hai von Stevies Mutter, griff sich den Schlüssel seines riesigen Pick-ups und ging ohne ein Wort der Verabschiedung.
Dunk meinte oft, Terry habe deshalb eine so große Karre, weil er einen so kleinen Schwanz habe.
Davon wollte Stevie nicht das Geringste wissen. Er wusste nur, dass er manchmal mit dem Gedanken spielte, den dämlichen Wagen seines Stiefvaters zu sabotieren oder sein Essen zu vergiften. Allerdings hatte er noch keinen dieser großen mordlüsternen Pläne umgesetzt. Denn das war so eine Sache mit Stevie: Er war ein feiges Huhn. Ein Quälgeist, der sich jede Menge Gedanken machte, aber letztlich nichts unternahm.
»Ich weiß, es ist hart, Schatz.« Die Stimme seiner Mutter zerbrach die erstickende Stille, die Terry zurückgelassen hatte. Ihre gruselige Gabe, so zu tun, als würde Terry in irgendeinem Paralleluniversum leben, verblüffte Stevie immer wieder aufs Neue. In der einen Sekunde wurde sie von einem unappetitlichen geilen Bock förmlich bestiegen, in der nächsten fragte sie Stevie, ob er Käsetoast zum Mittagessen wollte. Als ob Kosenamen wie Schatz und Liebling aufwiegen könnten, dass sie ihre Kinder und sich selbst von einem erwachsenen Mann misshandeln ließ.
Aber das war so eine Sache mit Terry: Er hatte einen anständig bezahlten Job. Und seit sich Stevies richtiger Vater aus dem Staub gemacht hatte, fiel es schwer, die Rechnungen allein zu bezahlen.
»Ich weiß, dass dich dieser Ermittlungskram unheimlich interessiert«, meinte seine Mutter zu ihm, »aber du musst trotzdem hierbleiben.«
Beinahe hätte Stevie über ihre Begründung höhnisch geschnaubt. Genau. Sicher. Er wollte bloß bei der Suche nach Jude mithelfen, weil er so auf »diesen Ermittlungskram« stand. Nicht weil Jude sein einziger Freund war. Ein Freund, der vielleicht irgendwo tot im Wald lag.
»Die Polizei wird ihn finden«, sagte sie. »Bis zum Abendessen ist er zurück.«
Nur glaubte das Stevie keine Sekunde lang.
Jude Brighton war weg. Als hätte er nie existiert. Verschwunden, als hätten er und Stevie nicht ihr gesamtes Leben damit verbracht, die Bürgersteige der Hauptstraße entlangzulatschen und im Sommer die Wälder zu erkunden. Für sie bildeten die Farne zwischen den Bäumen Orientierungspunkte. Jede Biegung des Cedar Creek glich einem Kompass. Wenn jemand Jude zwischen diesen Bäumen gejagt hätte, wäre er demjenigen entkommen. Hätte ihn jemand tief in die Wildnis verschleppt, hätte er sich befreit und wäre geflohen.
2
Stevie blieb den ganzen Tag in seinem Zimmer, um seine Mutter glücklich zu machen. Seine Gedanken hingegen wanderten in verschiedenste Richtungen davon. Was, wenn Jude tatsächlich ausgebüxt war? Vielleicht saß er gerade in einem schäbigen Diner 150 Kilometer entfernt, überlegte sich, wie er sich das spärliche Bargeld einteilen würde, das er aus Tante Mandys Handtasche geklaut hatte, und wartete auf einen Bus, der ihn nach Westen zu den Universal Studios bringen würde. Dort wollte er schon immer mal hin. Disneyland, meinte er oft, ist was für dumme Babys. In den Universal Studios haben sie den Weißen Hai und das Haus aus Psycho. Voll cool.
Und cool betrachtete Jude als die goldene Regel.
Oder vielleicht war Jude der nächste Max Larsen geworden. Dunk hatte die Geschichte schon ein Dutzend Mal erzählt, wahrscheinlich sogar öfter. Ein Kind geht in den Wald und kommt nie zurück. Zwei Wochen später findet man die Leiche. Verstümmelt. Halb aufgefressen. Aufgedunsen wie ein Ballon. Die Polizei behauptete, der Junge wäre von einem Tier angefallen worden, aber alle wussten, dass es das Werk eines Wahnsinnigen gewesen sein musste. Eines so üblen Psychopathen wie Albert Fish, vielleicht noch schlimmer. Eines Kannibalen mit einer Vorliebe für den Geschmack von Kindern.
Und die Geschichte stimmte tatsächlich. Man fand sie auf Google und überall sonst. Dunk hatte es ihm gezeigt. Die Erwachsenen erwähnten den Larsen-Jungen kaum einmal, als fürchteten sie, ein einziges Aussprechen des Namens jenes vor langer Zeit verlorenen Kindes würde das Böse aus den Wäldern um die Gemeinde herbeirufen. Aber alle Kids kannten die Geschichte. Ein toter, am Straßenrand gefundener Junge war kein Geheimnis, das man in einer so kleinen Ortschaft wie Deer Valley bewahren konnte, schon gar nicht vor den hellhörigen Ohren und der düsteren Vorstellungskraft der Jugend.
Stevie fand es eigenartig, dass kein Erwachsener je über Max Larsen redete. Als würde es ihn irgendwie aus der Vergangenheit löschen, wenn man ihn nicht erwähnte.
Einmal hatte Stevie den Namen in den Mund genommen, als seine Mutter gerade Hühnerkeulen auf dem Grill hinter dem Haus gebraten hatte, und er konnte beobachten, wie ihr heiterer Gesichtsausdruck in Entsetzen umschlug. Woher hast du diesen Namen?, verlangte sie zu erfahren. Von Duncan? Erzählt dir dein Bruder schon wieder dumme Geschichten?
Tatsächlich war es Dunk gewesen, der die grausige Geschichte zum Besten gegeben hatte – eine Geschichte, die große Brüder jüngeren Geschwistern in der Hoffnung erzählten, ihnen eine Fülle wiederkehrender Albträume zu bescheren. Als Stevie sie zum ersten Mal gehört hatte, war es für ihn bloß eine Schilderung von etwas gewesen, das in der Vergangenheit passiert war und sich nie wiederholen würde. Mittlerweile jedoch bekam er Dunks Wortgemälde nicht mehr aus dem Kopf, unscheinbare Silben, die in ihrer Zusammensetzung verstörende Bilder entstehen ließen. Hackfleisch. Summende Fliegen. Schreie. Tod. Tod.
An jenem Abend ging Stevie, der einfach nicht still sitzen konnte und seine Mutter damit in den Wahnsinn trieb, mit Dunk ins Kino. Der Ausflug musste auf eine Bitte ihrer Mutter zurückgehen, wahrscheinlich gewürzt mit der einen oder anderen Bestechung. Denn ohne einen Anreiz von ihr nahm Duncan Clark von der Existenz seines kleinen Bruders kaum Notiz. Höchstens um Stevie gelegentlich herzhaft gegen den Hinterkopf zu klatschen oder ihm Schauergeschichten zu erzählen, die ihn nachts nicht schlafen lassen würden. Und trotz Stevies Beklommenheit wegen der Sache mit Jude fand er es schön, aus dem Haus zu kommen. Er brauchte das. Denn sein Stottern, sein Wortsalat, sein Hang zum Reimen kehrten allmählich schleichend in sein Gehirn zurück, und das fand er nicht gut.
Duncans feste Freundin Annie stieß im ValleyPlex zu ihnen. Sie war hübsch und schien sich nicht daran zu stören, dass Dunk nie etwas anderes als Basketball-Klamotten trug. Nicht mal sein alberner Haarschnitt störte sie – an den Seiten rasiert und obenauf ein Schopf längerer Haare, die sich wie bei einer Softeistüte spiralförmig nach oben schraubten. Dunk war fest entschlossen, sich bis zum Ende des Sommers ein Muster ins Haar rasieren zu lassen. Ihre Mutter lehnte das zwar kategorisch ab, aber als einer der Star-Basketballer der Olympia High wollte Dunk unbedingt alle Augen auf sich gerichtet haben … Vor allem die von Annie, die groß und rund wie die Böden von Limonadendosen waren und an die von Mädchen in diesen japanischen Comics erinnerten.
Das ValleyPlex war ein Kino mit sage und schreibe zwei Sälen und konnte sich nur alle drei Monate einen populären neuen Streifen leisten. In Saal zwei lief immer Zeug, von dem Stevie noch nie gehört hatte, das jedoch seine Mutter und Tante Mandy zum Seufzen brachte, als wären sie verliebt: Pretty in Pink, St. Elmo’s Fire, Teen Lover … Was auch immer das für Filme sein mochten.
Im ValleyPlex ließ sich Stevie auf seinem schäbigen Sitz nieder – die Armlehne erwies sich als so wackelig, dass er sein Getränk zwischen die Knie klemmen musste. Die Kälte des Bechers verursachte Phantomschmerzen in den fehlenden Spitzen des Zeige- und Mittelfingers seiner rechten Hand – beide am ersten Knöchel abgeschnitten und zermahlen. Die Überreste trieben irgendwo in der Kanalisation herum.
Er schloss die Finger zu einer Faust, um sie zu wärmen. Dabei bemühte er sich, nicht darauf zu achten, wie Dunks Hand über Annies Bein und unter ihren Faltenrock wanderte. Ebenso bemühte er sich zu ignorieren, wie sie auf dem Sitz tiefer sank und den leeren Popcorneimer auf ihren Schoß stellte. Dunks emsige rechte Hand war darunter verschwunden, während er mit der linken an seiner Jeans zupfte, als wäre sie im Schritt plötzlich zu eng.
Da Popcorn somit nicht mehr infrage kam, versuchte Stevie, sich auf die Velociraptoren – seine Lieblingssaurier – zu konzentrieren, die in Jurassic World für Chaos sorgten. Beinahe gelang es ihm zu vergessen, was sich zu Hause abspielte, bis Dunk gegen seinen Schuh trat, als der Abspann begann.
»Hoch mit dem Arsch«, befahl er.
Als sie den Parkplatz erreichten, ertrank Stevie wieder in Besorgnis.
Nachdem sie in die Einfahrt gerollt waren, presste Dunk dieselbe rechte Hand, die unter Annies Rock gewesen war, gegen Stevies Brust, um ihn am Aussteigen zu hindern. »Du hast nichts gesehen, oder, Sack?« Duncan bedachte Stevie mit einem warnenden Blick, aus dem das Versprechen einer brüderlichen Tracht Prügel sprach, sollte Stevie ihrer Mutter gegenüber etwas von Annie und dem Popcorneimer erwähnen.
Stevie verzog das Gesicht zu einer Grimasse, einerseits wegen der Hand an seiner Brust, andererseits weil sein Bruder seinen verhasstesten Spitznamen benutzte. Die Initialen von Stephen Aaron Clark ergaben ein harmloses S-A-C, es sei denn, man pappte das k aus seinem Nachnamen ans Ende. Dann wurde aus Stevie plötzlich Sack oder Sackgesicht oder Hodensack oder Sack Scheiße oder – wenn eine Tracht Prügel drohte – Sandsack.
»Ich hab nur Dinosaurier gesehen«, murmelte Stevie. »N-nur Dinolinos …« Er löste die Aufmerksamkeit von der Hand seines Bruders und richtete sie auf den Basketballständer – nur ein rostiger Ring vor einer schiefen Rückplatte an einem Gestell mit Rollen wenige Zentimeter vor Dunks vorderer Stoßstange. Dunks Zukunft. Sein Leben.
Duncan schien mit Stevies Antwort zufrieden zu sein und zog die Hand zurück. »Gehst du morgen den Jud suchen?«
»Sack« war schon ein beschissener Spitzname, aber Jude hatte es in der Hinsicht noch schlimmer erwischt. Jude war kein Jude, doch einen Schwachkopf wie Duncan kratzte das kein Stück. Sack und der Jud, in einen mistigen Topf geworfen.
Dunks Frage brachte Stevie völlig aus dem Konzept. Nicht nur weil Terry und seine Mutter ihm ausdrücklich verboten hatten, bei der Suche nach seinem Cousin mitzuhelfen, sondern auch, weil er sich nicht erinnern konnte, wann ihm Dunk zuletzt eine Frage gestellt hatte, auf die er tatsächlich eine Antwort erwartete.
»Ma hat gesagt, ich darf nicht«, erklärte er.
»Ma.« Dunk verdrehte die Augen. »Weil ja ausgerechnet sie jemand ist, der mit Lebensratschlägen um sich werfen sollte. Aber in dem Fall is’ es wohl besser so.«
Stevie betrachtete mit zusammengekniffenen Augen die abgewetzten Knie seiner Jeans. Er würde bald ein neues Paar brauchen. Noch einmal unbedacht in die Hocke, und die Hose würde aufplatzen wie eine Piñata bei einer Geburtstagsparty. Er hoffte nur, es würde nicht ausgerechnet in der Schulkantine passieren, wo es all die bescheuerten Fünftklässler sehen würden, denn einen solchen Vorfall würden sie ihn nie vergessen lassen. Einmal war ein Junge mit seinem Tablett voll Essen gestolpert. Danach war sein T-Shirt vorn voll mit Makkaroni und Käse. Hatte ein bisschen wie Kotze ausgesehen, deshalb hatten sie den Jungen das ganze restliche Jahr lang so genannt. Ein anderes Kind hatte während der Pause einen Tetherball ins Gesicht bekommen, war rückwärtsgekippt und hatte geheult, als Blut aus der Nase geschossen war. Der Junge hieß fortan Sprudelnde Ballfresse. Denn so dämlich die Fünftklässler sein mochten, sie erwiesen sich als ungemein kreativ, wenn es darum ging, totale Ärsche zu sein. Und das Letzte, was Stevie brauchen konnte, war ein weiterer bescheuerter Spitzname. Er war bereits zu Hause Sack und diverse Abwandlungen davon und in der Schule Schizo-Steve,Stotter-Stevie und der Leise mit der Meise.
»Wieso besser?«, fragte Stevie.
»Du weißt schon …«, erwiderte Dunk. Stevie ließ den Blick abgewandt, doch er konnte das Grinsen in der Stimme seines Bruders hören. »Niemand will, dass ein Spinner im gottverdammten Wald rumrennt.« Er zog den Schlüssel aus dem Zündschloss und tätschelte das Lenkrad, als wollte er sich bei dem alten Firebird für seine Dienste bedanken. Der Wagen glich einem rostigen Schrotthaufen, trotzdem liebte ihn Dunk. Wenn er mal nicht gerade Körbe warf oder die Hand unter Annies Rock verschwinden ließ, sah man von ihm für gewöhnlich nur ein Paar Beine, weil sein Oberkörper tief im Motorraum seiner treuen Karosse steckte. »Jetzt steig aus«, forderte er Stevie auf. »Und schließ besser die Tür hinter dir ab, sonst gibt’s was auf die Fresse.«
Stevie kletterte aus dem Auto, in dem es leicht nach Zigaretten, Pommes und Scheiße roch, drückte die Verriegelung runter und schlug die Tür hinter sich zu.
Dunk verschwand ins Haus, während Stevie stehen blieb und hinüber zu Judes Zuhause starrte, das direkt an sein eigenes grenzte. Alle Fenster erwiesen sich als hell erleuchtet. Sie warfen lange, kummervoll wirkende Rechtecke über den ungepflegten Rasen. Aber Tante Mandys Vorgarten – ganz gleich wie unkrautverseucht – war nicht annähernd so schlimm wie der bei Stevie zu Hause. Denn der große Terry Marks hatte ein Faible dafür, allen möglichen Krempel zu sammeln, und sein Müll hatte sich mittlerweile vom Garten hinter dem Haus auf die Seite ausgebreitet. Zeug, das er auf dem hiesigen Schrottplatz und in Wiederverwertungsanlagen fand. Er wollte es reparieren und verkaufen, denn: Idioten kaufen praktisch alles aus dem Internet. Nur stellte Terry nie etwas online, und ein Garagenverkauf kam für ihn nicht infrage, weil das zu viel verdammte Arbeit bedeutete. Also türmten sich die Stapel einfach immer weiter auf.
Nun jedoch, da Jude verschwunden war, wirkte Tante Mandys Haus trauriger als sonst, vielleicht sogar noch trauriger als das von Stevie, trotz des unansehnlichen, vom Tyrannen gehorteten Gerümpels.
Tante Mandys eingeschossiges Craftsman-Haus hatte ein durchhängendes, von Moos überwuchertes Dach. Stevies Mutter war überzeugt davon, dass es eines Tages einstürzen und sowohl ihre Schwester als auch ihren Neffen erschlagen würde. Mehr als ein übles Unwetter, starker Wind oder etwas Hagel wäre dafür nicht nötig, meinte sie. Aber Tante Mandy hatte nicht genug Geld, um es reparieren zu lassen, und Terry würde mit Sicherheit nicht aus reiner Herzensgüte hinaufklettern, um es in Ordnung zu bringen. Er konnte sich ja nicht mal dazu aufraffen, sich mit dem defekten Geschirrspüler in seiner eigenen Küche auseinanderzusetzen.
Der Anstrich des Hauses sah genauso schlimm aus wie das Dach. Riesige weiße Streifen des Materials schälten sich von der Stülpschalung wie schmutzige alte Pflaster, die nicht mehr hafteten. Tante Mandys einst so gepflegte Rosenbüsche wucherten als chaotisches Gewirr von Weiß, Fuchsia und Pink. Noch vor nicht allzu langer Zeit hatte sie mit dem Gedanken gespielt, der Oregon Rose Society beizutreten. Sie wollte mit ihren Blumen an Wettbewerben teilnehmen und träumte davon, Seidenschleifen und glänzende Trophäen zu gewinnen, die sie stolz am Kaminsims für jedermanns Blicke zur Schau stellen könnte. Stevie hatte sich vorgestellt, wie sie auf einer Bühne stand, einen goldenen Pokal mit zwei Griffen über den Kopf streckte und dabei strahlte, als hätte sie einen Jackpot im Wert von Millionen Dollar geknackt, während Scheinwerfer ihr Gesicht erhellten. Knips,knips! Er hatte sogar für ein Foto davon einen Platz in seinem Regal freigeräumt, weil er so überzeugt von der Bestimmung seiner Tante war.
Aber nach dem, was Onkel Scott widerfahren war, hatte sich Tante Mandy nie wieder dazu aufgerafft, eine Blüte zu stutzen. Beide Häuser – das von Stevie und das von Jude – waren ungefähr zur selben Zeit errichtet worden, aber Stevies Mutter gelang es, ihres einigermaßen in Schuss zu halten. Nebenan herrschte indes unübersehbare Trauer.
Als Stevie in der Dunkelheit stand, überkam ihn der Wunsch, nach seiner Tante zu sehen. Manchmal, wenn Terry seinen Gürtel auspackte und Stevies Mutter vorübergehend blind wurde, war er überzeugt davon, seine Tante Mandy mehr als irgendjemanden sonst zu lieben. Deshalb wurde Stevie manchmal sogar wütend darüber, wie sich Jude aufführte. Schon klar, Jude war aufgebracht und verstört darüber, dass er seinen Vater verloren hatte. Aber Tante Mandy war genauso verletzt. Was also gab Jude das Recht, sich wie ein Idiot zu benehmen, respektlos zu sein und das Leben seiner Mutter noch schwieriger zu gestalten, als es ohnehin schon war? Für Stevie wäre es so schön gewesen, nebenan zu leben, wo nicht die Gefahr bestand, von einem zornigen Tyrannen in die Enge getrieben zu werden. Denn nebenan gab es trotz der erlittenen Tragödie noch Mitgefühl. Offenherzigkeit. Liebe. Deshalb hoffte Stevie, dass Jude nicht weggerannt war. Denn, Mann, was wäre sein Cousin dumm, wenn er es getan hatte. Dümmer als ein Haufen Steine.
Eine streunende Katze schlenderte über Tante Amandas Rasen und blieb im Lichtrechteck eines Fensters stehen. Das Tier sah krank aus, wie alle Streuner im Ort, von denen es nicht viele gab. Mehr Katzen zwar als Hunde, doch das spielte keine Rolle. Jedenfalls lieferte es Stevies Mutter den perfekten Grund, ihm das Haustier zu verweigern, das er schon immer haben wollte. Die Bewohner von Deer Valley hatten die schlechte Angewohnheit, ihre Tiere frei herumlaufen zu lassen. Und dann waren da noch die Ausgaben für Futter und Tierarztrechnungen. Die Katze auf Tante Mandys Rasen sah aus, als wäre sie mit beidem schon lange nicht mehr in Berührung gekommen, falls überhaupt je. Das Tier bestand aus kaum mehr als Haut und Knochen. Das fleckige Fell hing an dem Vierbeiner wie ein zu großer Nerzmantel am gebrechlichen Körper einer reichen alten Dame. Die Katze erstarrte kurz und sah Stevie direkt in die Augen, dann rührte sie sich wieder und kratzte eine räudige Stelle. Ein Fellbüschel stand dort ab, wo sich das Tier geleckt hatte, und ein Klumpen oranger und weißer Haare fiel aufs brüchige, absterbende Gras.
Stevie rümpfte die Nase und drehte sich seinem eigenen Haus zu. Vermutlich wäre es an diesem Abend ohnehin bereits zu spät, um Tante Amanda einen Besuch abzustatten. Höchstwahrscheinlich lag sie bereits im Bett. Außerdem verursachte ihm die Katze eine Gänsehaut. Er war nie ein Fan von Katzen gewesen. Dunk behauptete, sie hätten Parasiten, Insekten, die sich den Weg in die Gehirne ihrer Besitzer bahnten und sie in geistlose Sklaven verwandelten. Auf keinen Fall würde sich Stevie in die Nähe dieser Kreatur wagen. Wäre das Risiko nicht wert.
Stattdessen bewegte er sich einen müden Schritt nach dem anderen auf seine eigene Veranda zu. Er überlegte, ob er seine Mutter bitten sollte, ihn nebenan übernachten zu lassen. Bestimmt würde sich Tante Mandy über die Gesellschaft freuen. Die Nächte mussten besonders hart sein, und Tante Mandy sollte sie nicht allein verbringen. Stevie würde sich besser fühlen, wenn er auf ihrer Couch schliefe, nur für den Fall, dass Jude doch noch nach Hause käme.
Aber selbst wenn seine Mutter es in Erwägung zöge, der Tyrann würde es nie und nimmer erlauben. Und sei es nur, um seine Macht zu demonstrieren. Stevies Wohlergehen könnte ihm kaum gleichgültiger sein, aber wenn es darum ging, Nachsicht zu zeigen, spielte sich Terry immer als Diktator auf. Allerdings wäre es diesmal ein besonderer Fall. Vielleicht würde er ja eine Ausnahme machen, weil Tante Mandys Haus nur ein paar Meter entfernt lag.
Kurz vor der Eingangstür blieb Stevie stehen, als er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Irgendetwas befand sich da draußen, drückte sich an der Seite des Hauses in der Nähe von Terrys Bergen von Gerümpel herum.
»J-Jude?« Der Name löste sich von seinen Lippen, bevor er seine Hoffnung bremsen konnte. Und was immer sich dort in den Schatten verbarg, es rührte sich beim Klang seiner Stimme, kauerte sich hinter einen von Terrys schiefen Mülltürmen, als wartete es darauf, dass Stevie es bemerkte – oder als wartete es darauf, dass er weiterginge.
Aber Stevie war zehn Jahre alt, und selbst wenn er ein Erwachsener gewesen wäre, hätte er seine Neugier nicht abzuschütteln vermocht. Auf Zehenspitzen schlich er über die Dielen der Veranda zum Seitengeländer. Er wollte den geheimnisvollen, sich bewegenden Schatten nicht durch eine jähe Geste verscheuchen. Gleichzeitig versicherte er sich in Gedanken, ein Vollidiot zu sein.
Die Streuner in der Gegend hatte man zum offiziellen Gemeindeproblem erklärt. Die Menschen redeten bei Bürgerversammlungen darüber. Gelegentlich wurden in der wöchentlich erscheinenden Deer Valley Gazette Lösungen vorgeschlagen. Terrys Gerümpel bot sich als perfektes Versteck an. Erst letzten Sommer hatte Stevie einen Wurf Kätzchen in einem alten Lastwagenreifen gefunden, hungrig und vom Regen völlig durchnässt. Und auf einmal bettelte sogar der Junge, der sonst keine Katzen mochte, seine Mutter an, wenigstens eines behalten zu dürfen, und sei es nur draußen. Die Kätzchen waren einfach zu putzig. Aber der Tyrann schob dem prompt einen Riegel vor, ehe Stevies Mutter auch nur Gelegenheit hatte abzulehnen. Er warf die Kätzchen in einen vom Regen verformten Karton, den er auf die Ladefläche seines Pick-ups verfrachtete, und damit hatte es sich. Stevie hoffte nur, sein Stiefvater hatte sie zum Tierschutz gebracht und nicht einfach irgendwo am Straßenrand ausgesetzt.
Andererseits: Vielleicht hatte er doch Letzteres getan, und vielleicht handelte es sich bei der traurig wirkenden Katze auf Tante Amandas Grundstück um eines der verstoßenen Tiere. Stevie stellte sich vor, die Katze würde die ganze Nacht darauf warten, dass Terry herauskam. Und wenn er es täte? Wusch! Ein geschmeidiger Sprung mit Anlauf. Flupp! Eine perfekte Landung in der dämlichen Visage des Tyrannen. Fauch! Ausgefahrene Krallen, die nach dem potthässlichen Raupenschnurrbart hieben. Wenn Stevie das erleben dürfte, würde er jede einzelne streunende Katze im Ort adoptieren, Gehirnwürmer hin, Gehirnwürmer her.
In Deer Valley wimmelte es nicht nur von herrenlosen Katzen und vereinzelten streunenden Hunden. Es gab auch Waschbären. Dunk wäre beim Basketballspielen eines Abends fast das Gesicht zerfetzt worden.
Und manchmal, auch wenn er es sich ungern eingestand, sah Stevie Dinge, die vermutlich gar nicht wirklich existierten. Wie die Schlangen, die aus dem gesprungenen Verputz an der Decke über seinem Bett krochen. Oder Ameisen in der Zuckerdose. Käfer, die aus Steckdosen krabbelten. Schattengestalten, die in leeren Räumen standen, im einen Moment da, im nächsten verschwunden. Vielleicht sah er gerade das – einen Haufen Nichts, ein Hirngespinst.
Allerdings achtete er nicht auf diese Überlegungen, während seine schmutzigen Turnschuhe leise über die alten Holzdielen zum Geländer schlichen. Langsam ging er in die Hocke, um das Grundstück seitlich des Hauses besser einsehen zu können. Was immer sich dort herumtrieb, hatte sich wieder bewegt, war weiter zurückgewichen.
»H-hallo?«
Der verrostete Kotflügel eines Trucks – anscheinend etwas, das sich hervorragend für den Verkauf übers Internet eignete, wenn man Terry den Onlineunternehmer fragte – geriet unter den Bergen von sonstigem Krempel in Bewegung. Womit es Stevie zu tun hatte, musste demnach real sein – und etwas Größeres als eine Katze oder ein Waschbär. Stevie mutmaßte, es könnte ein Kojote sein, nur galten Kojoten nicht unbedingt als verstohlen. Und wenn es ein Hund wäre, dann war sich Stevie ziemlich sicher, dass sich das Tier mittlerweile gezeigt hätte. Oder es wäre geflüchtet, hätte dabei eine Menge Gerümpel umgestoßen und die gesamte Nachbarschaft in hellen Aufruhr versetzt.
Eigentlich juckte ihn ja gar nicht wirklich, was sich da draußen herumtrieb. Wieso sollte es auch? Sollte er etwa Terrys vermeintliche Schrott-Goldmine beschützen? Aber da man ihm nicht erlaubt hatte, sich an der Suche nach Jude zu beteiligen, strotzte er vor aufgestauter Energie. Also könnte er zumindest dem Geräusch im Garten seitlich des Hauses auf den Grund gehen. Er schwang ein Bein über das Geländer und hopste den halben Meter hinunter zum Boden.
Wieder stieß etwas gegen den verbeulten Kotflügel.
»Wer ist da?« Albtraum, antwortete sein Verstand. Halt das Vaterunser bereit. Nimm dich in Acht. Plötzlich musste er an eine Nachrichtensendung denken, die er vor einer Weile gesehen hatte, und er zögerte. Es bestand die Möglichkeit, dass es sich um einen Obdachlosen wie jenen handelte, der versteckt über einem Schrank und hinter einer geheimen Luke in einer schicken Stadtwohnung gelebt hatte. Nur gab es in Deer Valley keine nennenswerte Ansammlung von Obdachlosen. Leute, die sich kein eigenes Zuhause leisten konnten, lebten bei Leuten, die sie kannten. Der erste Winter, nachdem Stevies Vater die Familie ohne Geld zum Bezahlen der Gasrechnung im Stich gelassen hatte, war grauenhaft gewesen. Als die Lichter letztlich ausgingen, mussten Stevie, Dunk und ihre Mutter eine Zeit lang bei Tante Mandy und Jude einziehen.
Sehr wohl jedoch gab es im Ort einige Trunkenbolde – Kerle, die sich jeden Abend im Antler volllaufen ließen. Ab und an gehörte auch Terry zu diesen Kerlen und gebärdete sich nach einem Sixpack viel zu linkisch und laut. Es schien möglich zu sein, dass einer von Terrys Saufkumpanen hierhergetorkelt war und sich im Labyrinth von Terrys Schätzen verlaufen hatte. Den Tyrannen begeisterte sein nutzloser Krempel so sehr, es wäre keine Überraschung, wenn er vor anderen damit prahlte, als wären die Schrotthaufen ihr Gewicht in Gold wert. Wahrscheinlich herrschte bloß Ebbe in der Kasse eines seiner Freunde, dem eine Nacht, in der er betrunken das eine oder andere von Terry klaute, gerade recht käme. Allerdings stellten sich Betrunkene ungefähr so verstohlen an wie halb ausgehungerte Hunde. Wenn es einer der Kerle aus dem Antler wäre, dann müsste er inzwischen längst über die Stapel von Fahrradteilen und kaputten Küchengeräten gestolpert sein, statt sich lautlos in der Dunkelheit zu verstecken.
»Ich … ich weiß, dass du da bist …«, sagte Stevie. Am liebsten hätte er es gebrüllt, aber er wollte den Tyrannen nicht in seinem Lehnsessel vor dem Fernseher wecken. Andererseits konnte er sich aber auch nicht wie ein Feigling benehmen und nur tatenlos neben dem Haus stehen. Denn was, wenn es sich wirklich um einen Einbrecher handelte? Oder was, wenn es irgendein Widerling war, der Tante Mandy durch ihre Fenster beäugte, während sie auf Judes Heimkehr wartete? »Du verziehst dich besser, bevor ich die Cops rufe, Freundchen.« Der Satz wie aus dem Drehbuch eines Fernsehkrimis rutschte ihm einfach so heraus. Instinktiv, ein Abwehrmechanismus. Wenn das für Leute in Fernsehsendungen funktionierte, würde es bestimmt auch hier funktionieren … oder?
Und dennoch wollte die Beklommenheit nicht weichen und Stevie sich nicht weiter in die Finsternis vorwagen. Aber er stählte sich, und irgendwie gelang es ihm, seinen Füßen eine weitere Handvoll Schritte abzuringen. Er weigerte sich, vor seiner Angst zu kapitulieren und der spinnerte, feige, fingerlose Junge zu sein, für den ihn Dunk und Jude und die gesamte Schule hielten. Mit zusammengebissenen Zähnen ballte er die Hände zu Fäusten und rückte weiter vor. Aber er schaffte es nur wenige Meter, bevor er jäh erstarrte, erschrocken von dem seitwärts rutschenden Kotflügel, der krachend gegen das Haus fiel.
Der Lärm versetzte Stevies Herz einen Schlag wie ein Starterkabel, das am korrodierten Pol einer Batterie Funken sprüht. Als ihn sein Selbsterhaltungstrieb jäh zurückweichen ließ, verfing sich sein linker Fuß zwischen den verbogenen Speichen eines schlauchlosen Fahrradreifens. Seine Hände schossen nach hinten, als er kippte und verzweifelt versuchte, inmitten des Ozeans aus Altmetall – und dessen scharfen Kanten und Tetanusgefahren – das Gleichgewicht zurückzuerlangen. Ein Schatten bewegte sich. Ein dunkler Schemen preschte vom Haus weg, tiefer in den vermüllten Hinterhof. Eine unförmige Gestalt, die sich bucklig und ungelenk auf allen vieren fortbewegte.
Sasquatch! Das Wort hallte wie ein Schrei durch Stevies Kopf, als er letztlich fiel. Aus dem Fernsehen wusste er von Menschen, die diese Kreaturen jagten. Dies war Oregon. Bigfoot-Gebiet. Nur schien dieses Wesen nicht behaart zu sein. Im Mondschein wirkte es bleich, als es über den hinteren Zaun kletterte, mit schnellen, fließenden Bewegungen, ein krasser Gegensatz zu der Plumpheit, mit der es vom Haus weggerannt war. Und dann, genauso unverhofft, wie Stevie es gesichtet hatte, war es verschwunden.
Das alles spielte sich im Verlauf von zwei, vielleicht drei Sekunden ab. Und Stevie kämpfte indes darum, sich weder ein Fuß- noch ein Handgelenk zu brechen. Dunkelheit paarte sich mit Verstörtheit, als Stevie auf dem Hintern saß. Sein Bein ragte durch das ausgebaute Rad eines Zehn-Gang-Fahrrads. Seine Hände lagen in einem dichten Teppich aus weißblütigem Klee und verdorrten Löwenzahnhalmen vergraben. Sein Herz flatterte wie ein in einem Marmeladenglas gefangener Schmetterling, schnell genug, um den Himmel für seine Augen mit Sternschnuppen zu überziehen. Und das Krachen des Kotflügels gegen einen Haufen anderen Gerümpels und die Hauswand? Laut genug, um Tote zu erwecken. Definitiv laut genug, um den Tyrannen aus seinem Sitz hochschießen zu lassen.
Eine halbe Sekunde lang kreiste Stevies Geist um die Möglichkeit, dass real gewesen sein könnte, was er gesehen hatte. Wie sonst hätte der Kotflügel in Bewegung geraten sollen? Etwas hatte sich dahinter aufgehalten, etwas hatte ihn zum Kippen gebracht. Aber nein. Das konnte nicht sein. Er hatte es sich bloß eingebildet, richtig? Wie die Kröten, die aus dem Abfluss des Spülbeckens krochen, und wie die Schlangen in der Toilette oder ganze Bäume voll grünflügeliger Fledermäuse statt Blätter.
Die Muskeln seiner Beine zuckten, während er auf dem Boden saß, bereit, sich in Bewegung zu setzen, bereit, zum Zaun zu rennen. Falls da tatsächlich etwas gewesen war, könnte es noch in der Nähe sein. Es war ins Dickicht der Bäume gehuscht, das in die Wälder von Deer Valley überging. Was, wenn es dort wartete, ob Stevie ihm folgen würde? Oder vielleicht hatte Stevie bloß einen weiteren Aussetzer und verlor allmählich …
»Was, verfluchte Scheiße noch mal, war das?« Der Tyrann befand sich auf der Veranda vor dem Haus und war sichtlich stinksauer. Stevie kämpfte darum, auf die Beine zu kommen, bevor er verheddert im ach so kostbaren Schrott seines Stiefvaters gesichtet würde. Er versuchte, das Rad über sein Fußgelenk nach unten zu schieben, aber sein Schuh hatte sich verfangen.
»Was zum verfickten Henker soll das werden?« Zu spät für Flucht. Terry hatte die Veranda bereits verlassen und einen vernichtenden Blick auf seinen Stiefsohn geheftet. »Was hab ich dir übers Rumspielen hier draußen gesagt?«
Terry hatte Stevie gar nichts gesagt. Was er getan hatte, als er Stevie im vergangenen Sommer beim Stöbern zwischen den Schrotthaufen erwischte, war, dass er ihn in eine alte Gefriertruhe stopfte und den Deckel zuhielt. Unwillkürlich heulte Stevie damals. Und beim Versuch, sich zu befreien, hämmerte er so heftig mit den Fäusten von innen gegen den Deckel, dass die Knochen in seinen Händen noch Tage später schmerzten. Er wusste nicht, wie lange ihn der Tyrann darin gefangen hielt, vielleicht eine Minute, wahrscheinlich sogar weniger, doch angefühlt hatte es sich wie Stunden. Als Terry den Deckel letztlich geöffnet hatte, war Stevie aus dem kaputten Gerät gekrochen wie ein Soldat aus einem Schützenloch. Völlig verängstigt. Halb taub von den eigenen panischen Schreien.
Terry würde ihn wieder darin einsperren. Und diesmal würde er einen alten Motorblock auf die Gefriertruhe packen und Stevie darin sterben lassen, statt ihn herauszuholen. Und wenn Stevies Mutter um ihren verlorenen Sohn weinte, würde Terry mit den Schultern zucken und zu ihr sagen, es sei besser so. Ist wahrscheinlich hinter seinem nichtsnutzigen, bescheuerten Quälgeist von einem Scheißcousin hergerannt. Und dabei würde Stevie nur wenige Meter entfernt von seinem Zimmerfenster in einem alten Haushaltsgerät verrotten, während seine Mutter um ihn trauerte.
»I-i-ich dachte, ich … ich hätte … hätte was gesehen«, erklärte Stevie stockend und hoffte, seinen Stiefvater mit einer lahmen Ausrede zu beschwichtigen. »Hier draußen war jemand.« Noch bevor Stevie zu Ende gesprochen hatte, wusste er, dass Terry es ihm nicht abkaufen würde. Den Tyrannen interessierte nicht, ob sich vielleicht jemand auf dem Grundstück herumgetrieben hatte. Er war ein Mann, der glaubte, was er sah. Und im Augenblick sah er nur, dass sein ungehorsamer kleiner Scheißer von einem Stiefsohn genau das tat, was er ihm unmissverständlich verboten hatte.
»Komm sofort hier rüber!« Terrys Worte peitschten ihn wie das dicke Leder eines Gürtels.
Stevie mühte sich weiter ab. Hastig rappelte er sich auf und schob das Rad nach unten zu seinem Fuß. Eine der gebrochenen Speichen schrammte über den Knochen seines Fußgelenks und hinterließ einen gezackten, blutigen Kratzer. Stevie biss sich auf die Unterlippe, um nicht laut aufzuschreien, und er beeilte sich, so gut es ging, um seinen Stiefvater nicht noch wütender zu machen, als er ohnehin schon war. Aber sein Turnschuh wollte sich nicht von dem Rad lösen.
»Ich komm schon, komm schon, komm schon …« Er hasste sich wegen des atemlosen, hirnlosen Echos, das dem ursprünglichen Satz wie der zerfledderte Schwanz eines Drachens folgte. Bei solchen Gelegenheiten wünschte Stevie, er wäre mehr wie Jude. Zornig. Trotzig. Bereit, schlagartig in Wut zu verfallen, statt den Kopf einzuziehen, B-bitte und D-d-danke zu murmeln und sich durch eine Entschuldigung zu stammeln, die der Mann, den er so abgrundtief hasste, ohnehin nicht verdiente. Am liebsten hätte er dem Tyrannen ins Gesicht gespuckt und ihn aufgefordert, sich zum Teufel zu scheren. Zur Hölle zu fahren. Mich am Arsch zu lecken. Verdammt, Jude an Stevies Stelle hätte sich einen Dreck um die unweigerlich folgende Tracht Prügel geschert und dem Mann ins Gesicht gespien, er solle sich mitsamt seinem idiotischen Vokuhila verpissen. Aber solchen Mumm besaß Stevie nicht. Sogar Dunk mied ihren Stiefvater, wenn es hitzig wurde. So war es einfacher. Und vor allem sicherer.
Endlich löste sich das Rad von Stevies Fuß. Er stieß es von sich und taumelte. Um ein Haar wäre er über einen alten Küchenmixer gestolpert, ein Standgerät, an dem mehr Teile fehlten, als es noch übrig hatte. Sein blutiger Knöchel stieß unsanft gegen den Stahlsockel des Mixers. Schmerzen schossen wie ein Blitz sein Bein hinauf und fuhren ihm geradewegs in den Schritt. Am liebsten wäre er stehen geblieben und hätte aufgeschrien, weil es so wehtat, doch er schleppte sich humpelnd weiter.
Als er schließlich die Verandastufen erreichte, wo sein Stiefvater wartete, schlossen sich Terrys dicke Finger um seinen Oberarm. Er bohrte die Fingernägel dermaßen in Stevies Bizeps, dass es sich anfühlte, als würde er den Muskel vom Knochen reißen wollen. Stevie wimmerte unter seinem Griff, aber das Zeichen von Schwäche schien den Tyrannen nur zusätzlich anzustacheln. Statt Stevie loszulassen, schleifte ihn Terry zur offenen Vordertür des Hauses und rammte Stevies Oberkörper gegen den Pfosten.
»Hast du das Rad ruiniert?«, fragte der Tyrann, als wäre das verbogene Mistding nicht etwas gewesen, das Terry vom Straßenrand aufgelesen hatte, sondern ein Rad in tadellosem Zustand, bevor Stevie mit dem Fuß hindurchgetrampelt war.
»N-nein. Nein. Nein, Sir. Nein.«
»Hör auf, mich zu verscheißern.« Terry stieß Stevie durchs Wohnzimmer in Richtung des Gangs, der zu den Schlafzimmern führte. »Ich hab doch die verbogenen Speichen gesehen«, spie ihm der Tyrann entgegen. »Hältst du mich für blind oder bloß für blöd?«
Wie wär’s mit blöd? Nur zu gern hätte Stevie die Frage gestellt, doch der rebellische Gedanke entglitt ihm, als Terry die Tür zu Stevies Zimmer aufriss und ihn unsanft hineinstieß. Stevie taumelte. Das vertraute Klirren der Gürtelschnalle des Tyrannen hallte wie eine Totenglocke durch den Raum. Übelkeit entfaltete sich in Stevies Magen wie eine nachtaktive Blume, die im Zeitraffer erblüht. Er wollte schreien und aus dem Zimmer flüchten. Er wollte das Haus in Brand stecken. Terry in Brand stecken. Und zusehen, wie der Tyrann loderte, während er um den verkohlten, glimmenden Kadaver tanzen und freudig den Mond anheulen würde.
Trotz der unzähligen flüchtigen Gedanken, die Stevie schon darüber gehabt hatte, die Polizei anzurufen, ins Revier zu gehen und dort seinen von blauen Flecken übersäten Rücken herzuzeigen, oder seinen Stiefvater einfach im Schlaf zu ermorden, kniete sich Stevie wie zum Beten vor sein Bett.
»Warte«, wimmerte er. »Ich blute, ich blute … äh, äh, ein Pflaster …« Er blickte hinunter zu seiner vom verwundeten Fußgelenk rot durchnässten Socke und betete stumm, der Tyrann möge diesmal etwas Gnade walten lassen. Vielleicht würde er an diesem Tag nur genervt seufzen, den Kopf schütteln und Stevie in seinem Zimmer allein zurücklassen.
Aber Terry hantierte erbarmungslos weiter an seinem Gürtel, und Stevie drückte das Gesicht in die Matratze, ergab sich seinem Schicksal und richtete die Gedanken auf Jude. Er fragte sich, wo sein Cousin stecken mochte, und wusste nicht recht, wie er die Hölle, als die er sein Leben empfand, ohne seinen besten Freund an der Seite überstehen sollte.
Jude macht gerade Fotos von einem dämlichen Hai, ging ihm durch den Kopf. Von einem Hai in einem Vergnügungspark.
Jude war in den Universal Studios. Hatte dort einen Heidenspaß. Und er würde zurückkommen. Es musste ihm gut gehen.
3
Mittwoch. Tag drei. Die Kreatur kehrte zurück.
Nachts. Mit milchigen, vorquellenden Augen spähte sie durch Stevies Fenster und beobachtete ihn beim Schlafen. Krumme Finger verschmierten Blut auf der Scheibe – Blut, von dem am nächsten Morgen jede Spur fehlte. Dennoch blieb Stevie überzeugt davon, dass da Blut gewesen war. Jude hatte die Kreatur geschickt. Er fühlte sich irgendwo dort draußen einsam und wünschte sich seinen besten Freund zurück.
Stevie erwachte schreiend.
Vor nicht allzu langer Zeit hätte ihm seine Mutter etliche Fragen darüber gestellt, felsenfest überzeugt davon, dass es ihrem Jungen helfen würde, die Dämonen in seinem Kopf in den Griff zu bekommen, wenn er darüber redete. An diesem Morgen jedoch erkundigte sie sich nicht nach seinem Traum, und Stevie schwieg sich ebenso aus wie sie. Er erzählte ihr nicht, was er in der vergangenen Nacht zwischen Terrys Schrott gesehen hatte. Und erst recht erwähnte er nichts davon, dass die Erscheinung später zurückgekehrt war und ihn im Schlaf heimgesucht hatte.
Aber er brauchte auch nichts zu sagen, um zu wissen, dass sie besorgter als sonst war. Das merkte er daran, wie sie ihm immer wieder verstohlene Blicke aus dem Augenwinkel zuwarf.
Seit Stevies Vater sie sitzen gelassen hatte, schleppte Nicole Clark einen Ausdruck dauerhafter Betroffenheit mit sich herum, und an diesem Morgen lagen ihre Nerven praktisch völlig blank. Vermutlich ging ihr durch den Kopf, dass die Albträume schlimmer statt besser wurden. Und wahrscheinlich sorgte sie sich, was es bei Stevie bewirken würde, wenn Jude nie zurück nach Hause käme. Eine berechtigte Angst, denn immerhin kennzeichnete dieser Tag offiziell das Überschreiten dessen, was die Ermittler im Fernsehen als das so wichtige 48-Stunden-Fenster bezeichneten.
Und genau deshalb würde Stevie an diesem Tag mit der Suche nach Jude beginnen. Und nichts und niemand würde ihn davon abhalten können.
Nach dem Frühstück marschierte er in den Ort, bis er den Waldrand erreichte, von wo er das Geschehen beobachtete. Männer in Schutzwesten und Jagdausrüstung durchkämmten das Areal zwischen den Bäumen. Es sah lächerlich aus, wie sie als lose, krumme Linie durch das Waldland stapften, als suchten sie nach verlorenen Autoschlüsseln statt nach der Leiche eines Kindes, die Häupter tief geneigt. Ihre Stiefel wirbelten Laub und Kiefernnadeln auf. Als würden sie auf diese Weise irgendwo in dem weitläufigen Bereich auf einen so winzigen und so gut versteckten Jungen stoßen, dass selbst die sie begleitenden Hunde weder die Erhebung im Erdreich noch den Geruch menschlicher Verwesung bemerkten.
Stevie stählte sich, bevor er sich in Bewegung setzte und sich der Suchmannschaft näherte. Plötzlich jedoch geriet seine Entschlossenheit ins Wanken, wurde von allem Möglichen verwässert. Von Schuldgefühlen, weil er seine Mutter darüber belogen hatte, wohin er ging. Will mir nur ein paar Fruchtgummibonbons aus dem Krämerladen holen. Von Trauer über den Grund, warum er sich überhaupt in diesem Wald herumtreiben musste. Von gedämpfter Erregung, weil er gleich an seiner ersten offiziellen Untersuchung überhaupt teilnehmen würde. Von Grauen davor, was er vielleicht finden würde, sobald er mit der Suche begonnen hätte. Denn was, wenn der schlimmste Fall einträte? Was, wenn Jude wirklich tot wäre und ausgerechnet Stevie über seinen Leichnam stolperte, nachdem er sich der Suchmannschaft angeschlossen hätte?
Es war ein Paar Schuhe, in alten Folgen von Unsolved Mysteries einen Schauspieler zu sehen, der sich tot stellte. Die Möglichkeit jedoch, im echten Leben über einen Leichnam zu stolpern, und erst recht den Leichnam von jemandem, den er so gut gekannt hatte … Stevie war nicht sicher, wie gut es ihm nach so etwas gehen würde. Und wenn es Stevie jetzt schon nicht gut ging, wo würde er danach erst landen? Wahrscheinlich in einer psychiatrischen Anstalt. Verdammt, dort befand er sich ohnehin schon mit einem Bein. Nachts wälzte er sich regelmäßig unruhig hin und her. Geplagt von Erinnerungen an Dunks Geschichte über Max Larsen. Und von dem einen Mal, als Jude so furchterregend geworden war – durch die Bösartigkeit, die Stevie damals in seinen Augen gesehen hatte.
Es war zu Beginn dieses Sommers gewesen, nur wenige Tage nach dem Ende der Schule. Jude hatte in Stevies Hinterhof gewartet und Terrys Schrotthaufen beäugt, als Stevie aus dem Haus gestürmt war. Überschwänglich rannte er vorbei an seinem Cousin zwischen die Bäume hinter ihren Häusern, bis er auf den Weg stieß, der zum Cedar Creek führte. Jude folgte ihm. Und als sie sich ein gutes Stück im Wald befanden, fing Stevie zu weinen an. Die Arme starr an den Seiten. Die Hände zu Fäusten geballt, die Zähne zusammengebissen, die Lider fest zugepresst. Blut troff ihm mit einem metallischen Geschmack über die frisch aufgebissene Lippe und bahnte sich wie eine Schneckenspur den Weg über sein Kinn. Jude wusste nicht recht, was er sagen sollte, als Stevie weinte, denn man konnte Jude nicht unbedingt als einfühlsamen Jungen bezeichnen. Sogar nach Onkel Scotts Tod hatte Stevie nie erlebt, dass Jude geweint hatte. Sein Cousin schien nur ständig wütend zu sein, bereit, die Welt in Stücke zu reißen.
Letztlich öffnete Jude den Mund, zweifellos um etwas zu sagen wie Was ist denn los mit dir? oder Deine Lippe blutet. Oder vielleicht sogar: Hör auf zu flennen wie ein bescheuertes Baby. Jedenfalls kam ihm Stevie mit einem undeutlichen Schrei solcher Wut zuvor, dass sein Cousin mehrere Schritte zurücktaumelte.
»Ich h-h-hasse ihn!«, brüllte Stevie. »Ich hasse ihn! Will ihn elimini… elimini… elimini…«Eliminieren.
Jude stand schweigend da, während sich Stevie nach und nach beruhigte und zornig mit dem Handrücken die Tränen und das Blut wegwischte. Sie hatten nie darüber geredet, aber Jude war nicht dumm. Er wusste, weshalb Stevie seinen Stiefvater hasste. Sogar Tante Amanda hasste ihn, und sie mochte sonst praktisch jeden. Stevie hatte sie einmal in der Küche seiner Mutter weinen gehört. Dabei hatte sie stockend gemurmelt, dass sie nicht verstehen … nicht begreifen könne, warum meine große Schwester diesem Monster nicht die Stirn bietet. Wie kannst du einfach tatenlos zusehen und es hinnehmen, Nicki? Schon klar, für die Jungs. Aber sieh doch nur, was er deiner Familie antut!
Für die Jungs. Pah, von wegen. Höchstens wegen seiner Kohle. Aber für Dunk und Stevie? Auf keinen Fall.
»Wenn das mein Vater wäre«, meinte Jude nach einer Weile betretenen Schweigens, »würd ich ihm von Ohr zu Ohr die Kehle aufschlitzen und hätte keine Gewissensbisse dabei. Du weißt schon, ihn eliminieren.«
War Stevie das Wort deshalb in diesem Augenblick seines unfreiwilligen Gefühlsausbruchs herausgerutscht? Eliminieren. In der Bedeutung von Mord. Eliminieren. Auslöschen. Für Stevie war es nur ein flüchtiger Gedanke. Aber für Jude? In ihm steckte eine Dunkelheit, eine Feindseligkeit, die Stevie nicht besaß, ganz gleich wie sehr er sie sich herbeisehnte. Wie Jude redete, passte zu bösen Menschen wie Schurken, Straßenräubern und Arschlöchern wie Terry Marks. Aber das konnte Stevie nicht laut aussprechen, nicht vor seinem Cousin. Sonst würde er zum Waschlappen gestempelt. Zum feigen Huhn. Zu einem Jungen, dem die Eier fehlten, für sich selbst einzutreten, geschweige denn für jemand anders.
Und wenngleich es Stevie in tausend Jahren nicht zugegeben hätte, jagte ihm Jude manchmal Angst ein.
So wie damals, als er das Brett mit den Nägeln darin nach der Katze auf dem Baum geschwungen hatte und dabei erwischt worden war. Oder wie das eine Mal, als er auf der Suche nach Sperrholz hinter den Geschäften entlang der Hauptstraße ein scharfkantiges Stück Metall gefunden und zum Spaß an Stevies Kehle gedrückt hatte, als wollte er ihn aufschlitzen und zum Sterben zurücklassen. Oder wie das andere Mal, als sie beide in der Festung gewesen waren und Jude gedroht hatte, Stevie durch die als Luke dienende Öffnung im Boden zu stoßen. Damals hatte es tatsächlich den Anschein gehabt, sein Cousin wäre bereit, ihn vom Baum gute fünf Meter in die Tiefe zu schubsen. Was einen gebrochenen Arm, ein gebrochenes Bein oder noch Schlimmeres bedeutet hätte.
