Wo das Land abbricht - Wogersien Anke - E-Book

Wo das Land abbricht E-Book

Wogersien Anke

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Beschreibung

Ein Roman über die Zerbrechlichkeit von Natur und Mensch Es waren glückliche Tage, damals auf Rügen. Die junge Anni suchte am Strand nach Hühnergöttern, heimlich naschte sie die Sanddornmarmelade der Mutter und fuhr im Kutter mit ihrem Großvater zum Fischen raus aufs Meer … Erst viele Jahre später kehrt Anni nach dem Tod ihrer Eltern auf die Insel zurück. Doch inzwischen sind aus den Fischerorten große Touristenzentren geworden. Tourismus, Konsum und Industrie zerstören mehr und mehr die blühende Natur der Ostseeinsel. Der Kreidefelsen bröckelt. Als es zu einem tragischen Unfall an der Abbruchkante am Hochuferweg des Königsstuhls kommt, reicht es den Einheimischen. Die Naturschützer wollen weitere Eingriffe in die Umwelt verhindern. Der packende Rügenroman von Anke Wogersien zeigt, wie schwer es ist, die Kluft zwischen Massentourismus und Ökologie zu schließen.

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Dieser Roman ist all jenen Menschen gewidmet,die ihr Leben für die Rettung anderer einsetzen.

»Ick bin keen Held, ick bin Profi.«Frieder Friedrichs, Seenotretter

Inhaltsverzeichnis

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

58. Kapitel

59. Kapitel

60. Kapitel

Die Handlungskulisse Des Romans

Die Personen

Glossar

Die Seenotretter

Rügen Geniessen Mit Süssem Aus Dem Café Sorglos

Danksagung

Autorin

PROLOG

Solange ich denken kann, tanzte der Wind mit mir. Bin ein Septemberkind. Von Rügen. Heute aber dreht er voll auf und, was soll ich sagen, rockt die Ostsee. Der Wind wird zum Orkan. Die Insel trotzt dem Meer, das unermüdlich die Küste berennt. Eine unheilvolle Drohung klingt aus dem Rauschen und Heulen.

Ich habe Angst. Eine Sturmbö schmeißt mich fast um. Regen peitscht in mein Gesicht. Ich wische mir über die Augen. Was ich dann sehe, ist eine Katastrophe. Auf den senkrecht abfallenden Kliffhöhen der Stubbenkammer schütteln die jahrhundertealten Buchen wie von Sinnen ihre dunklen Wipfel. Der Wirbelsturm entwurzelt die Bäume des Urwalds, holt sich ihre Stämme. Die Naturgewalt bewegt Mengen zerriebenen Gesteins, nimmt Felsbrocken mit und die Kreide, welche sich in Millionen von Jahren Schicht um Schicht aus dem Staub unvorstellbar vieler Kleinstlebewesen, Korallen, Muscheln und Schnecken gebildet hat. Hier, an der Steilküste, ragt auf der Halbinsel Jasmund die markanteste Erhebung empor: ein hundertachtzehn Meter hoher Felsen, der von fern an einen großen Thron erinnert – der berühmte Königsstuhl.

Mit Grollen schiebt sich der Sturm wie ein Monster an ihn heran, setzt ihm zu und schleudert riesige Abbruchstücke auf den Strand. Als die Brocken am Ufer auf ein Hindernis treffen, verwandelt sich ihre Bewegung in eine kolossale Energie der Zerstörung. Weißen Kreidestaub umherwirbelnd drängen sich die Steine als Masse vorwärts. Der vom Wasser umspülte Fels zerbricht in unzählige Einzelteile.

Die Fluten stürzen zu beiden Seiten des Weges hinunter, der zur Aussichtsplattform führt. Grauschwarze Wolken jagen über den Himmel, ballen sich zur Masse zusammen, reißen auseinander. Tosend bricht sich die Brandung an den Klippen.

»Hilfe!« In der Ferne erkenne ich ein kleines Motorboot. Es scheint manövrierunfähig zu sein, ringt verzweifelt mit dem Meer, legt sich auf die Seite. Die Wellen schlagen ins Heck. Jeden Augenblick droht es zu kentern. Jemand zündet ein Signalfeuer. Das Meer wird in rotes Licht getaucht.

Mein Herz rast. Ich laufe, den Kopf geduckt, die Kapuze fest unter meinem Kinn zusammenhaltend, ins Besucher-Zentrum des Nationalparks. Wieso lässt sich die schwere Eingangstür nicht öffnen? Endlich!

»Schnell, die Seenotretter! Da kentert ein Sportboot!« Ich zittere.

»Heute ist der Teufel los!« Der Leiter des Bistros alarmiert die Wasserwacht. »Einen Tee?« Dieser Notfall scheint nicht sein erster zu sein, so ruhig wie er bleibt. Der Mann reicht mir einen heißen Becher über den Tresen. »Der Notruf geht ans Maritime Rescue Coordination Center. Die schicken sofort einen Seenotkreuzer«, erklärt er mir. »Einfach die Ruhe bewahren! Frieder und seine Leute sind unterwegs. Die machen das!«

»DERK STEENSEN, DERK STEENSEN, DERK STEENSEN – MRCC! Einsatzart: Bootsunfall. Einsatzort: Große Stubbenkammer. Gekentertes Motorboot, Person im Wasser.«

Seenotretter Frieder Friedrichs an Bord des Sassnitzer Rettungskreuzers erkennt schon an der Stimme der Leitstelle Bremen: Es geht raus auf die Ostsee. Noch während die Details über Funk kommen, wirft die Besatzung die Leinen los und kappt den Landanschluss für Strom und Telefon. Die nächsten Stunden werden kein Spaziergang.

Die Uhr bleibt stehen.

»Hoffentlich passiert nichts!« Ich streife meinen durchnässten Parka ab, falle auf einen Stuhl und lausche nach draußen. Unter den Spuren der Zeiger fängt sich mein Puls im »Was nun?«. Ich bin in eine Zeitschleuse geraten. Allerdings werde ich jetzt nicht wie eine Besucherin der Ausstellung virtuell in die Kreidezeit zurückversetzt. Das hier ist echt. Draußen auf dem Meer kämpfen Menschen um ihr Leben. Nebenan rinnt am Fenster der Regen. Und ich? Sitze da, im Dämmerlicht von Vielleicht. Dort, wo das Land abbricht. Während ich auf eine Nachricht warte, stelle ich mir vor, wie meine Welt gestern noch aussah. Aber es fing schon früher an. In Wirklichkeit begann es in Stralsund.

1. KAPITEL

Die Hansestadt Stralsund, vor wenigen Wochen

Sie wechselte ihre Welt an einem stürmischen Tag im April. Niemals hätte sie gedacht, dass sie dazu fähig wäre. Anni Arndt erreichte das Schiff in letzter Sekunde.

»Nichts geht verloren, alles wird verwandelt.« Es klang, als bete sie. Doch das Massenerhaltungsgesetz half nicht. Gott ist kein Naturwissenschaftler. Der Boden schwankte, als Anni die Stufen zum Oberdeck der MS Altefähr hinaufstieg. Sie kämpfte mit ihrer inneren Unruhe und umfasste Halt suchend das eiskalte Metall der Reling. Ahnt ein Mensch, wenn der Tod in den nächsten vierundzwanzig Stunden seine Fratze zeigt?

Die beeindruckende Silhouette von Stralsund präsentierte sich an diesem Morgen nur verschwommen, gleichgültig, ob ihre Betrachterin sich vorbeugte. Und Annerose Arndt beugte sich nicht vor. Nie. Den Passagieren, die um acht Uhr fünfzig an Bord gegangen waren, es waren Sundstädter, Rügener und Feriengäste, blieb der an hellen Tagen herrliche Blick auf die alte Hansestadt mit ihren mächtigen Kirchtürmen und Baudenkmälern verwehrt. Lediglich das Ozeanum und die hohen Schiffsmasten des Segelschulschiffes Gorch Fock I waren andeutungsweise zu erkennen. Von den historischen Kontorhäusern im Hafen sah man nichts. Es goss in Strömen. Die Nadel des Thermometers zitterte unter der Zehn-Grad-Marke. Böige Winde holten sich den Regen aus einem grauweißen Himmel und trieben die Gischt gegen den Bug. Die Ostsee war kabbelig. Durch die Luft wehte ein Geruch nach Algen. Möwen kreischten. Sie ließen sich vom Sturm jagen.

»Wir können lösen!« Der Kapitän gab das Zeichen zur Abfahrbereitschaft.

»Aye, aye, Chef!« Ein Matrose machte die Leinen los, die das Schiff an der Landungsbrücke festhielten. Aus dem Schiffshorn ertönten drei kurze Signale, und die schlankste unter den Töchtern der Weißen Flotte legte ab.

»Maschine langsam voraus!«

»Auf der Back alles klar?« Mit konzentriertem Blick lenkte der Kapitän das Schiff im Zeitlupentempo aus dem Hafenbecken. »Allet klor! Dat gifft soveel Schietwetter as Fleigen op de Mess!«, antwortete der Matrose.

Wenige Augenblicke später verschwanden Anleger und Kaimauer im Nebel. Die Altefähr nahm Kurs auf Rügen.

Anni blieb auf dem Außendeck und suchte sich einen überdachten Sitzplatz. Während sie den einige Meter entfernt stehenden Kapitän beobachtete, vermochte sie beim besten Willen nicht exakt zu definieren, was am nachdrücklichsten seine Lotsenfunktion betonte. War es die weiße Schirmmütze oder seine aufrechte Haltung? Keiner der Fahrgäste schien sich über das Aussehen des Schiffsführers Gedanken zu machen, erst recht nicht über die schlechte Sicht.

»Navigation ist, wenn man trotzdem hinkommt. Ein guter Seemann beweist sich bei schlechtem Wetter.« Nur auf dem Radarbild ortete der Kapitän, wo sich die Altefähr im Strelasund befand. »An Tagen wie heute muss man Witze machen, damit die Laune nicht sinkt.« Liebevoll streichelte er sein Funkgerät.

»Bangbüx, dat is alltied hitzig worn!« Respektlosigkeit diente dem kleinen Maat als Selbstbehauptungsmittel.

»Wartet auf mich, ich komme!« Ein Mädchen im pinkfarbenen Anorak mit klatschnassen Haaren rannte quer über die Planken und verschwand in der Kajüte.

»Die Insel bereitet uns nicht gerade einen warmen Empfang«, seufzte Anni. Ihr gegenüber saß eine ältere Frau. Ihre Augen wanderten von oben nach unten über die junge: Vom Mittelscheitel, der das glatte Haar über der Stirn teilte wie ein Schneider glänzende Seide, bis zu den ledernen Boots, die sich am geblümten Maxirock stießen.

»Ich glaube, für die Überfahrt verziehen wir uns besser nach drinnen.« Die Alte wies mit dem Zeigefinger zum Himmel. »Hoffentlich behält der Mann mit seiner Wetterprognose auf Hitze recht. Ich hab’ nichts gegen Sonne!«

»Schön wäre ein wolkenloses Blau. Dann ist Rügen Capri.« Anni fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und schmeckte Salz. »Auch wir in Arkadien!« Ihre Laune stieg.

»Man müsste den Wettergott bestechen können!« Die detaillierte Formulierung eines meteorologischen Wunschzettels war irdischen Passagierinnen nicht vergönnt. Petrus demonstrierte ihnen, was er von Korruption hielt. Ein Windstoß brachte das Schiff heftig ins Schwanken.

»Meine Güte, was für ein Seegang!«

»Haben Sie Angst?«

»Das wäre albern, fürchte ich.« Annis Kichern misslang. »Ich stamme aus einer Seefahrerfamilie!« Sie unterdrückte den lächerlichen Impuls, sich an die Bank zu klammern.

»Ach?«

»Wissen Sie, was mir mein Großvater prophezeite, als er mich das erste Mal mit rausnahm aufs Meer?«

»Nu?«

»›Anni, mien Deern‹, sagte er, ›dien erste Seefahrt ist die aufregendste, die du je beläven wirst.‹« Sie seufzte. »Jahrzehnte ist das her!« Ihre erste Seefahrt war wirklich die aufregendste, die sie je erleben würde.

»Kommt Ihr Großvater von Rügen?«

»Aus Sassnitz. Derk Steensen.«

»Nee, so wat!«

»Kennen Sie ihn?«

»Der olle Steensen? Klor, kenn ick den!« Bei dem Gedanken an den vertrauten Fischer verfiel die Frau in die plattdeutsche Mundart. »Der wor bekannt wie een bunter Hund. Awer hett he Enkelkinner?«

»Nein. Opa Derk war eigentlich gar nicht mein Großvater. Er war ein sehr guter Freund meiner Großmutter Ida. Als Seemann hatte er nie eine Ehefrau abgekriegt, gehörte zu den Sitzengebliebenen, dem Strandgut seines Geschlechts.«

»Wie das? Bis in die 1970er galt Sassnitz als Heiratsmarkt«, erwiderte die alte Rüganerin. »Hier lebten eine Menge Fischer. Im Seemannsheim hatte jeder sein Zimmer, wo er die Plünnen dreckig abgab und gewaschen schrankfertig wiederbekam. Der Hafen war ein bedeutender Marinestützpunkt. Es gab Männer noch und nöcher.«

»Echt? Das wusste ich gar nicht.«

»Logisch, Sie waren damals noch nicht auf der Welt. In der Fischverarbeitung arbeiteten viele Frauen. Wir hatten bei uns ein ausgiebiges Nachtleben.« Sie lächelte versonnen. »Ick war och mol jung!«

»Wahrscheinlich wollte Derk Steensen nicht heiraten. Mein leiblicher Großvater Karl-Heinrich blieb im Krieg. Steensen spielte für meine Mutter den Ersatzvater und für mich den Opa.« Annis ebenmäßigen Gesichtszüge enthüllten das frühere Kind.

»Dann sind Sie Lütt-Anni?«

»So hat er mich gerufen.«

»Dat givt et nich’!« Die Frau lachte in Annis verdutzte Miene. »Erkennst mich nicht, Deern? Kamt ihr Kinder in den Laden, habt ihr jedes Mal gefragt: ›Minna, haste Bananen?‹«

»Bananen? Die gab es doch so gut wie nie.« Anni begriff und fand stammelnd ihre Sprache wieder. »Moment, Sie sind …, du bist nicht etwa Minna Minschlich aus dem Konsum-Laden in Sassnitz?« Annis Kindheitserinnerungen an die Frau waren verschwommen, mehr das Bewusstsein einer Präsenz als das Bild eines Menschen.

»Genau die!« Ihre Mitreisende hielt sich die Hand vor den Mund.

»Das ist nicht wahr!« Anni umarmte sie. »Minna Minschlich! »Ausgerechnet dich treffe ich als Erste bei meiner Rückkehr. Ich war seit der Wende nicht mehr hier.«

»Dann wird es Zeit! Inzwischen gibt’s auch Südfrüchte.« Minna zwinkerte.

»Das will ich stark hoffen!«, lachte Anni.

»Die Banane war eine Hoffnung für viele und Notwendigkeit für uns alle. Das hat Adenauer gesagt, lange vor dem Mauerfall«, sagte Minna mit einer Stimme, die das Alter heiser gemacht hatte.

»Ich bin zu jung für solche Weisheit. Damals war ich noch ein Gedanke Gottes.«

»Deern, ich sage dir, es war nicht alles schlecht bei uns im Osten. Wie alt bist du inzwischen?«

»Achtunddreißig.«

»Mein Gott, wie die Zeit vergeht! Siehst jünger aus. Fährst du in die Sommerfrische? Wie geht es Derk Steensen? Lebt er noch? Ich erinnere mich, dass die Volkssolidarität eines Tages vor seinem Haus stand. Do kommt er wohl ins Heim, de oll’ Bur, heff wi domals seggt.«

»Öpping ist Erinnerung geworden.« Anni spürte einen Kloß im Hals.

»Das ist der Lauf der Dinge«, erwiderte Minna.

»Ich hab’ Derks Fischerkate an den Wissower Klinken geerbt.«

»Gratuliere!«

Die Wolkendecke lichtete sich. Rügens Kreidefelsen wurden im Dunst sichtbar. Zaghafte Sonnenstrahlen malten Konturen in das Nichts von Grau und Grün. Der Himmel zog ein Blau auf.

»Die Kreide ist brüchig«, flüsterte Minna und tat, als verriete sie ein Geheimnis.

»Das war sie immer«, erwiderte Anni. »Wo das Land abbricht, erneuert sich die Kreideküste und bleibt weiß.«

»Jedes Jahr gibt es Tote durch die Abbrüche.«

»Das ist schrecklich.«

»Vor vier Jahren kam es am Fuß der Abstiegstreppe zum Hangrutsch. Eine hundertzwanzigjährige Buche zerschlug den Zugang zum Strand. Die Treppe war nicht mehr zu nutzen. Der Abstieg endet seither fünf Meter über dem Strand.«

»Deshalb ist die Treppe komplett gesperrt?«

»Ja. Das Umweltministerium will die Holztreppe nicht reparieren. Die ersten zweihundertsiebzig Meter der insgesamt fünfhundertfünfzehn Meter langen Treppe verlaufen im Hangbereich. Der rutscht ständig. Es ist zu gefährlich. Die Spaziergänger könnten verunglücken. Kein Mensch möchte Verantwortung übernehmen.«

»Wie schade! Der Abstieg auf der Treppe am Königsstuhl gehört zu meinen liebsten Kindheitserinnerungen!«, bedauerte Anni.

»Er ist ein Klassiker.«

»Ich hab’ mich so darauf gefreut, zum Kreideufer hinabzusteigen und wie in alten Tagen am Strand Steine zu sammeln. Von unten wirkt die Höhe noch gewaltiger.«

»Das verstehe ich. Der Strand auf Rügen ist voller Schätze. Wer einen Hühnergott findet, dem winkt das Glück«, erwiderte Minna. »Sie planen jetzt für Besucher eine neue Schwebebrücke über den Felsen, den Königsweg.«

»Kann man unten am Ufer entlanggehen oder ist dieser Zugang auch gesperrt?« So schnell gedachte Anni nicht, sich vom Glück zu verabschieden.

»Von Sassnitz aus kannst du am Strand bis zum Königsstuhl wandern. Es ist umständlicher und dauert länger.« Minna trat schwerfällig von einem Fuß auf den anderen. »Ist nur etwas für junge Beine.«

»Na, zumindest gibt es diese Möglichkeit.«

»Einige Einwohner Jasmunds protestieren gegen die Sperrung.«

»An der Stubbenkammer kam es schon früher zu Kreideabbrüchen. Vielleicht dauert das Verbot nicht ewig?«, gab Anni einer eher unsinnigen Hoffnung Ausdruck.

»Was auf dieser Welt dauert ewig?« Minna deutete auf die Lichtstreifen im Blau. »Ihre Finger sind blass. Erinnerst du dich?«, fragte sie.

»Natürlich erinnere ich mich.« Anni legte ihren Kopf in den Nacken und betrachtete seit langer Zeit wieder den Himmel von Rügen. Längst vergessene Bilder tauchten aus dem Gestern auf.

»Als Kind habe ich mich mit der Sonne geduzt.«

2. KAPITEL

Die Halbinsel Jasmund, Anfang der 1980er Jahre

Auf Rügen hieß die Sonne Tante Klara. Sie wanderte von Giebelende zu Giebelende, sodass die stets zum Süden ausgerichteten Fischerkaten niemals im Schatten standen. Am Ende des Tages war der helle Kalkstein warm und puderig. In den Jahren ihrer Kindheit bildete das alte Reetdach den Mittelpunkt der Welt für die kleine Anni, wenn sie in den Dünen Sanddorn sammelte oder im Garten hinter dem Schuppen bei den Bienenstöcken Verstecken spielte. Vom Morgengrauen im Osten bis zum Abendrot im Westen zeichnete Tante Klara einen großen Bogen über den Himmel. Hier verlief die Grenze. Dahinter wohnten Gott und die Engel  – und darunter, viel bedeutsamer – Opa Derk.

Sie nannte ihn Öpping. Tatsächlich aber war er nicht ihr Großvater. Dachte sie später als erwachsene Frau an ihre frühe Kindheit zurück, fragte sie sich, ob es überhaupt eine Zeit vor Derk Steensen gegeben hatte. Es mussten die Jahre gewesen sein, als sie im Kinderwagen lag oder später, als sie die ersten Schritte an der Hand ihrer Mutter machte. Aber Anni entsann sich derer kaum. Es war das Haus, das ihr Bewusstsein erfüllte, und der alte Fischer. Steensen ging damals auf die Sechzig zu und seine Persönlichkeit war geistig und körperlich stark ausgeprägt. Der Pomorane von hagerem Körperbau trug einen hellblonden Backenbart und einen beharrlich eigenen Ausdruck im Gesicht, dessen blaues Augenpaar unter buschigen Brauen verborgen lag. Dieser Mann beherrschte Annis Welt, gehörte er doch zu den wenigen Menschen, bei denen sich Schwächen in Stärken verwandeln können. Rief sie sich erste Bilder in ihr Gedächtnis zurück, fiel ihr ein, wie jemand sie als Kind zu ihm emporhob, während er in sein Fischerboot kletterte.

»Allet kloor, lütt Anni?« Seine Stimme, ein tiefes Brummen, fühlte sie auf ihrem kleinen Körper wie den Wind, der ihr ein Jauchzen entlockte.

»Öpping!« Anni patschte ihm ins Gesicht.

Die weißen Kreidefelsen von Rügen zu sehen, das salzige Meer zu riechen, draußen zu sein, allein, ohne die Mutter – das schien jenseits aller Worte.

»Willst mit rutfahrn!« Es war eine Feststellung. Derk Steensen fragte nicht.

»Jaaa!«

»Nu, denn mol los!« Ihr Opa setzte sie auf die Bank. Anni umfasste mit ihren kleinen Händchen das harte Holz des alten Kahns. Sie legten ab. Mit einem Mal bewegte sich der Horizont in großen Wellen auf und nieder. Das Boot hüpfte wie ein Korken in der Flut. Die an einer Reihe von Haken aufgehängten Henkelbecher aus Emaille schaukelten hin und her. Anni rutschte schmerzhaft gegen eine Querstrebe. Ihr Großvater hielt sie fest. Überall um sie herum taumelten die Sandbänke. Plötzlich, wie durch ein Wunder, ruhte die Kimmung, nur die Dünen mit ihren geduckten Häusern eilten an ihnen vorbei. Anni fand das Gleichgewicht wieder, und obwohl der Boden unter ihnen zitterte, konnte sie erneut atmen und sich umsehen.

»Dien erste Seefahrt ist die aufregendste, die du je beläven wirst«, brummte der Alte.

»Wo ist Bummi?« Anni wünschte sich ihren Plüschbären herbei. Sie fühlte einen Angstschrei und gleichzeitig ein seelenfrohes Kichern in ihrer Kehle.

»Die olle Landratte sitzt tohuus«, brummte Opa. Links huschten die wenigen Bäume vorbei, allesamt Windflüchter. Dahinter erstreckten sich Felder, die ihre Ähren wie Gliedmaßen dem Himmelblau entgegenstreckten. Die Sonne malte auf den Schiffsbohlen den hellen Mund einer Höhle, in deren Inneren eine Seenixe ihr blondes Langhaar kämmte.

Als Derk Steensen das Boot auf offener See anhielt, veränderte sich die vorübergleitende Landschaft in ein Stillleben.

»Gefällt dir die Fahrt?« Sein tiefes Lachen rann ihr den Rücken herab.

»Jaha!« Anni schlenkerte übermütig mit den Beinen. Ihre bisherigen Ausflüge hatte sie im Kinderwagen und später auf dem Roller unternommen, aber nie in einem Kahn auf der Ostsee. Der frische Wind, der am Meer stets gleichmäßig und stark weht, roch nach Algen und Freiheit und kitzelte sie in der Nase.

Hinter ihnen lag das Dutzend Fischerkaten des Dorfes, weiß getüncht und behaglich. Die rohrgedeckten Häuser wirkten anheimelnd. Sie erkannte die Kirche, das Pfarrhaus, den großen Schwanenstein unweit des Ufers im Meer. In der Ferne leuchtete das Kap Arkona. Derk Steensen ließ das Steuerrad los.

»Is ’ne feine Utsicht hier.« Mit unnötigen Tränen auf der Netzhaut folgte sein Blick der Küste. »Ick glööf nich’, dat es een schöneren Ort givt op Rügen.«

»Der schönste auf der Welt!«, krähte Anni mit der Begeisterung eines Kindes.

»Hm«, brummte er und zwinkerte seiner Enkelin zu. »Recht hett mien Deern.«

Auf dem Rückweg ließ er sie beide in herrlicher Einsamkeit auf den schwankenden Wellenbergen reiten und gab ihr das Steuer in die Hand.

»Nu, mien Lütt, wüllst uns na Huus fahrn?«

Natürlich wollte Anni sie nach Hause fahren. Triumphierend hielt sie das Ruder fest.

»Da is dien Modder!« Er deutete zum Strand.

Doch kein Applaus begrüßte sie am Ufer.

»Steig sofort aus dem Kutter, Anni!«, befahl ihre Mutter unbeeindruckt. Sie hatte das Anlegemanöver vom Fenster aus beobachtet und war hinunter zum Strand geeilt. »Ihr wart viel zu lange draußen! Ich muss dich umziehen und deine Sachen waschen. Du riechst wie ein Fischer.«

»Nu, mien Lütt, küm eis rut ut de Plünnen un treck di wat Dröges an!« In den Augen des Alten lag jene Reue, die sich durch liebenswerte Verschmitztheit besiegen lässt. Die Mutter schob Anni ins Haus. Dort zog sie ihr die Spielhose aus und entdeckte am Knie die blutige Schramme, die sich ihre Tochter bei der Schaukelei auf rauer See geholt hatte, als sie gegen die harte Bootswand gerutscht war.

»Derk Steensen!« Die Stimme von Annis Mutter war ein einziger Vorwurf. »Du bist leichtsinnig«, maßregelte sie den Alten.

»Hundertfuffzigprozentige!« Er duckte sich. Ihre Blicke konnten Hiebe sein.

»Das stimmt nicht, Steensen, das weißt du.« Inge Arndt war groß, manch einer nannte sie dürr. Ihr Äußeres und ihre Art hatten etwas Strenges. Und obwohl Inge nicht schön war mit ihren breiten Schultern, so schien es doch, als sprühten ihre leuchtenden Augen hinter dem schwarzen Brillengestell, ihr großer Mund, ihre Brüste und Hüften ein zornig forderndes Leben aus, einen kraftvollen, wenngleich töricht unbewussten Wunsch nach Freude und Zärtlichkeit, was einen Mann für sie einnehmen konnte. In jungen Jahren hatte sie sich in den Schiffer Hanns Arndt verliebt, ihn geheiratet und war ihm auf die Insel Rügen gefolgt. Trotz des Privilegs, an einer Pädagogischen Hochschule studiert zu haben, war aus Inge keine stromlinienförmige Sozialistin geworden. Ihr Mann stand dem DDR-Regime indessen kritisch gegenüber. Die ideologische Indoktrination durch Vorlesungen in Marxismus-Leninismus hatte bei Inge allerdings ein tief verankertes Bewusstsein für Pflicht und Disziplin hinterlassen.

»Vertell mi lever nix!« Der Fischer wollte sich lieber nichts erzählen lassen. Ratlos strich er sich durch den Bart. »Worüm hest nich’ seggt, dat du di wehdeid hest, mien Deern?« Er zog Anni auf seine Knie und vor Sorge die Brauen zusammen. Warum hatte sie ihm nicht gesagt, dass ihr Knie weh tat?

»Ich wollte mit dir fischen fahren, Öpping!«, ereiferte sich die Kleine. »Und ich will wieder raus aufs Meer!«

Als er das hörte, leuchteten die Augen des alten Seebären. Ein heiseres Lachen entwich seiner Kehle. »Dat is mien Deern! Wüllst wedder in See, wat?«

Der Fischer nahm sie mit, wann immer die Ostsee und die Mutter es erlaubten. Und schon in diesem jungen Alter wusste Anni Arndt: Das sind die glücklichen Tage meiner Kindheit.

3. KAPITEL

Die Halbinsel Jasmund, Mitte der 1980er Jahre

Die Schaabe ist eine fast zwölf Kilometer lange Nehrung. Die Landzunge, an mancher Stelle sechshundert Meter, an anderer bis zu zweitausend Meter breit, liegt zwischen den Halbinseln Jasmund und Wittow. Für ihn war sie seine Heimat. Derk Steensen fuhr mit seinem siebzehn Meter langen Kutter mit den Jahren immer seltener um das Kap Arkona. Der Grund dafür war nicht etwa, dass er sich inzwischen zu alt fühlte. Wäre es nach ihm gegangen, hätte er dereinst in seinem Boot beim Einholen der Netze das Zeitliche gesegnet. Wie so viele andere seiner Kollegen arbeitete er für das Fischkombinat Sassnitz.

»Ick glööf, dat werd heut’ wedder nix!« Steensen blickte in das Morgengrauen, was er heute wörtlich nahm, obwohl er als Fischer ein Liebhaber der Stunden vor Tau und Tag war. Sie standen zu zweit auf dem Kutter.

»Magst recht haben!« Hanko Langwisch knotete die Wurfleine zu einer Affenfaust. Er war als junger Decksmann für Hilfsleistungen und den Ausguck an Backbord zuständig.

»Mook klor Schiff, Hanko!«

»Aufklaren hat Zeit.«

»Nee, dat hett keen Tied!«

»Nu, denn!« Widerwillig schüttete Langwisch einen Eimer Wasser aufs Deck und griff nach Schrubber und Feudel.

»Schrubb ordentlich! Unsere Tanja muss glänzen, wenn wer zur Besichtigung kommt.«

»Im Kombinat sind Boot und Gerät unser Gemeineigentum. Willst nicht mit anpacken, Genosse?«

»Dat gehört mit dazu. Der Stärkere hilft dem Schwächeren.« Zufrieden zog Derk Steensen an seiner Pfeife. Funktionierte das Kollektiv, war die Flotillenfischerei eine feine Sache. Sechs bis acht Zubringertrawler arbeiteten im Verband mit einem Transporterschiff.

Seemöwen schwebten über dem Hafen. Sie kämpften mit starken Schwingen gegen den Wind, kreisten, stießen herab, stürzten sich auf einen Fisch, verfehlten ihn und stiegen erneut auf zu ihrem nicht endenden Schwebeflug. Dies taten sie bereits, als die Slawen vor langer Zeit ihre Hütten aus Lehm und Rohr hinter den Dünen gebaut hatten. Und das würden sie noch in ferner Zukunft tun. Auf ihren Erkundungsflügen entdeckten die scharfen Vogelaugen früher, was die Fischer nun schmerzhaft zu spüren bekamen.

»Uns Bodden sünd utfischt«, klagte Derk Steensen, »un de landnahe See ok!« Er paffte verdrießlich. Seine Gedanken waren so düster wie sein Gesicht. In den kleinen Buchten sah man an den Stränden verschlungene Reusen und trocknende Fischernetze, die, zwischen bizarren Weiden gespannt, im Wind wehten wie Trauerschleier.

»Wird Tied, dat de Verrückten kommen.«

»Verrückt, das sind sie! Haben alle was an der Schraube. Aber zahlen tun sie.« Hanko kratzte sich am Kopf. »Du hast sie am Hals. Irgendwie haben wir sie alle am Hals. Mit ihnen kannste nicht leben und ohne auch nicht.« Er dachte an die gute Thüringer Wurst.

»Manch eener von uns hat se verdammt nötig.«

»Erst seit die Industrie unsere Fischschwärme ortet, die Heringe weit draußen fängt und in den Werkhallen am Hafen verarbeitet. Das ist die neue Zeit: Kühlhäuser mit Gleisanschluss.« Hanko goss den nächsten Eimer Wasser aufs Deck und wischte hin und her.

»Als Fischer kannst dien Fang alleen nich’ loswern. Minsch, wir saufen gleech ab! Nu weeß ick, wo du dien Nam herhast, Langwisch!«

»Was du alles weißt, Genosse!«

»Mook hinne, du Held der Arbeit, da kommt een Gast.«

»Tach!«

»Moin! Ümmer rop op’n Kudder, mien Herr!«

Der Feriengast trat zögernd näher. Neugierig wandte er sich an den Fischkopp mit der Pfeife und dem silbernen Anker am Ohr. Der sah schließlich aus, wie man sich im Erzgebirge einen typischen Vertreter dieser Zunft vorstellte.

»Seid ihr Fischer?«

»Dat kannst glööfen! Een Traktorist givt dat nicht op’n Kudder.« Derk Steensen rollte mit den Augen.

Der Besucher ließ sich nicht irritieren, beugte sich vor, nahm die Brille ab und las, was im Rahmen an der Wand hing: »Befähigungszeugnis als Kapitän in Großer Hochseefischerei – B 6.«

»Willst wat fragen?« Steensen musterte den Mann argwöhnisch.

»Sind Sie das?« Der Gast wies auf das eingerahmte Kapitänspatent, das die Deutsche Demokratische Republik einem verdienten Parteigenossen verliehen hatte.

»Nee, dor schiet ick op. Ick bin Retter. Dor heff ick Wind und Wellen im Jesichte.« Um aufzusteigen, hätte Steensen in die SED eintreten müssen. Das kam für ihn nicht infrage.

»Ähm, was fischen Sie denn?«

»Schiffbrüchige.« Steensen lachte. »Un Aale. Die heff wi heut’ Morgen ut de See holt!« Er zeigte auf eine Kiste mit Heringen.

»Ähm, sind das nicht …«? Der Kurgast geriet ins Stottern.

»Seemannsgarn is dat, sonst nix!« Derk lachte laut. »Dat sind Heringe, Minsch, Proletenforellen!«

»Bin nicht plemplem!« Das Gesicht des Besuchers verfärbte sich dunkelrot. »Fahren Sie allein raus?«

»Manchmol, awer im Grunde lohnt dat nich’ mehr.« Derk Steensen schüttelte den Kopf.

»Wir Fischer auf Rügen haben uns zusammengeschlossen.« Breitbeinig stand Hanko da. »Im Deutschen Reich gründeten sich die ersten Fischereigenossenschaften. Bis dahin haben wir unseren Fang in Sassnitz und Umgebung mit Schubkarre oder Pferdefuhrwerk vertrieben.«

»Mit der Schubkarre? Wie mühsam!«

»Die Städter holten sich den Fisch per Auto nach Stralsund.«

»Aha.«

»Fischerei ist Handarbeit«, erklärte Hanko Langwisch. »Wir Fischer sind Frühaufsteher. Wir fahren mit kleinen Fischerbooten zu unseren Reusen. Die stehen monatelang im Wasser, dort wo man gute Fänge erzielen kann. Wir nehmen sie auf, lösen die Schnüre und lassen die Heringe ins Boot.«

»Mit dem Ding?« Auf dem Foto waren die Reusen in einem langen Wehr aufgestellt und mit Seitenarmen ausgelegt.

»Dat is keen Ding, Minsch!«, schnauzte Steensen.

»Ist das eine Reuse?«

»Op’n Prick – genau richtig! Hier rin schwimmt der Fisch! Dor is sien Freiheit to End.« Steensen fuhr mit dem Finger an der Fanghülle entlang bis hinten zum Netzbeutel. »Hier hol ick em rut. Dat is sien Dood.« Der Besucher, der bis dato seinen Hering gedankenlos verspeist hatte, horchte beinahe ehrfürchtig den Worten des Fischers, wobei der Furcht mehr Gewicht zukam als der Ehre. Seeleute sind Teufelskerle!, dachte er. Mittlerweile fühlte sich der Thüringer wie ein Weichei.

»Fischerei ist eine harte Arbeit. Früher, als mein Großvater mit dem Fischen anfing, da gab’s Schleppnetze, schwere Baumwoll- und Sisalnetze. Alles mit der Hand hochziehen, das ging ganz schön in die Muckis. Das is ja nu vorbei. Auf diesem Bild kannst du ein Stellnetz sehen. Das bauen wir auf, wenn wir nicht im unmittelbaren Küstenbereich fischen.« Hanko hielt ein altes Schwarz-Weiß-Foto hoch. Es zeigte eine rechteckige Netzwand. »Der Hering kommt, schwimmt in die Wand und wird gefangen. Er passt nur mit dem Kopf, nicht mit dem zu dicken Körper durch die Masche. Zurückschwimmen kann er nicht, weil er sich mit den Kiemen verhakt. Um den Fisch aus dem Netz zu kriegen, fassen wir jeden Hering an und schieben ihn durch die Maschen.«

»Harte Arbeit.«

»Joah! Das Durchschieben nennen wir Fischer »Puken«. Hast du eine vierstellige Zahl von Heringen herausgepukt, hast du abends die Schnauze voll.«

»Und am Feierabend gibt’s Rum?«

»Nee! Aussetzen … hiev up … aussetzen … Fisch verarbeiten … Netze flicken … hiev up! Da macht ein schwerer Schädel keine Freude!« Hanko zwinkerte dem Gast zu.

»Danke schön!« Der Besucher hatte genug gehört. Er ließ eine leckere Rotwurst da.

»Schaut her, den habe ich am Strand gefunden!« Anni jumpte auf den Kutter. »Ein Hühnergott!« Stolz zeigte sie ihren Fund.

»Ich schenk ihn dir!« Anni drückte Hanko den durchlöcherten Stein in die Hand. »Bringt Glück!«

»Der hält die bösen Geister vom Federvieh fern«, bedankte sich Hanko.

»Nu kannst ja noch dickere Eier legen, Langwisch!« Steensen gingen die Aufschneidereien des Jüngeren bisweilen auf die Nerven. Nicht so Anni. Sie liebte es, der Unterhaltung zu lauschen.

»Habt ihr mitgekriegt, dass sie neue Wohnungen bauen?«, tat sich Hanko Langwisch sogleich wichtig. »Erich sagt: ›Hier und nur hier hat der Sozialismus gesiegt.‹«

»Darum givt et och hier und nur hier nischt to koofen«, raunzte Steensen. »Die Russen bauen Schiffe in kapitalistischen Reedereien, aber keene Wohnungen, Kolleje Langwisch!«

»Keine Ahnung hast du, Genosse! Die Pommern wollen raus aus den Seemannsheimen«, erwiderte der Jüngere. »Es hat sich rumgesprochen, dass wir in Sassnitz die Fischerei aufbauen. Da kommen viele Arbeitslose, um wieder in ihrem Beruf zu arbeiten.«

»Der Ostpreuße nimmt dir dien Fru weg!«, unkte Steensen, der nicht wirklich unter seinem Junggesellendasein litt.

»Für die Arbeitskräfte schaffen sie Wohnungen«, meinte Hanko, »und ich warte mit Helga seit Jahren auf eine größere.«

»Seggst dat als een Parteimitglied?«

»Ist das wichtig?« Hanko hielt sich bedeckt. »Wir haben doch immer einen guten Faden zusammen gesponnen, Genosse Steensen.«

»Auf jedem Schiff, dat schwimmt und schwabbelt, is eener drauf der dämlich sabbelt!« Derk Steensen schlug ihm auf die Schulter. »Hauptsache, der Smutje sorgt für unser leibliches Wohl!« Der Koch kam aus Insterburg. Königsberger Klopse und Geschmorte Nierchen versöhnten ungleiche Weltanschauungen.

»Steuerbord, Backbord, Mittschiffs, Prost!« Die Männer hoben ihre Bierflaschen und ließen sie aneinanderklingen.

»Auf unsere Freundschaft!« Sie lachten in ausgesprochener Einmütigkeit.

»Alle Werften sollen nun Schiffe konstruieren.«

»Wenn die Genossen noch mehr Schiffe bauen,« erklärte Steensen, »will ick de gesamte Ostsee befischen!« Er war wie viele andere Fischer mit seinem Siebzehn-Meter-Kutter nur im Küstenbereich tätig.

»Und wie willst du das anstellen, Genosse Steensen?«

»Ick geh op een Zuckerdamper!«

»Ha, das schaff erstmal!«

»Transportiert der Dampfer den Zucker aus Kuba?«, schaltete sich Anni ein, die plötzlich eine diffuse Furcht spürte, übersehen zu werden.

»Nee, Deern«, die Männer lachten, »die Zuckerdampfer sind vor über dreißig Jahren in Dienst gestellt worden.«

»Red’ keen Stuss, Kollege! In den Fuffziger war dat«, unterbrach ihn Steensen.

»Meinetwegen, Genosse. Die Stahlkutter hat unsere Regierung von Schleswig-Holstein gekauft. Weil die DDR selbst keine Kutter bauen konnte. Es gab zehn Stück von den Dingern. Während des Zweiten Weltkrieges fuhren sie für die Küstenwache als Vorpostenboote, sogenannte KFK, also Kriegsfischkutter. Die hatten sogar eine kleine Flak.«

»Joah, op’n Prick!«, erinnerte sich Steensen mit glänzenden Augen. Die Beschreibung traf den Nagel auf den Kopf. Genau so war es gewesen.

»Die Schiffe sind mit geringem Aufwand zum Fischereifahrzeug umgebaut worden. Eine großartige Leistung des Staates der DDR«, lobte Hanko Langwisch.

»Waffenschiffe, och! Und warum heißen die Zuckerdampfer?« Anni war enttäuscht. Sie liebte es, beim Fernsehen Klebriges in sich hineinzustopfen, während Mutti lieber an der Mattscheibe klebte und die West-Stars fotografierte.

»Nu, die Regierung bezahlte die Kutter mit Zucker. Die Lieferungen gingen an einen Kaufmann in Schleswig-Holstein.«

»Ach so!«, Anni rümpfte die Nase.

»Jeder von uns Fischern weiß, was für ein Schiffstyp der Zuckerdampfer ist – und du jetzt ok, Deern.« Langwisch zwinkerte ihr zu.

»Wie ick op een Zuckerdamper kom, dat lat mien Sorge sin, Genosse. Ick segg di, et komt de Dag, dor werd de Demokratie grootschreven«, orakelte Derk Steensen. Demokratie zählte zu seinen Lieblingswörtern und entstammte dem sorgfältig ausgewählten Wortschatz, den er sich im Laufe seines Lebens angeeignet hatte.

Plötzlich gab das Funkgerät einen Alarmton von sich. »Notruf!«, rief Hanko Langwisch. »Wir müssen raus!«

»Passt auf euch auf!« In Annis Augen stand Angst.

»Ich habe ja nu den Hühnergott, Deern!« Der Glücksstein verschwand in Hankos Hosentasche.

4. KAPITEL

Die Männer stürmten vom Kutter, schnappten ihre Fahrräder und rollten zum Seenotkreuzer. Kaum waren sie auf dem Schiff, erhielt der Vormann das Signal zum Auslaufen.

»Werft die Leinen los!« Sicher lenkte er den in die Jahre gekommenen polnischen Kreuzer zum Hafenausgang. Dort lag die Zollstation. Zwei Stasi-Männer kamen an Bord. Einer kontrollierte die Gesichter: »Steensen, Langwisch …« Der andere durchsuchte das Schiff nach Republikflüchtlingen.

»Seefahrtsbücher vorzeigen!«

»Macht schneller oder habt ihr Klebstoff am Hintern? Da draußen säuft einer ab!«, versuchte der Vormann die Prozedur voranzutreiben.

»Was soll der Scheiß?« Der Grenzer trat gegen eine Verstrebung. »Im Meer verrecken lassen, müsste man die Schweine!« Er ließ sich noch mehr Zeit. Schneller machen war nicht. Die Kontrolle dauerte lange. Viel zu lange. Erst nach zwanzig Minuten verschwanden die Aufseher. Sie durften in See stechen.

»Hebel auf den Tisch!«, brüllte der Vormann, dem das Ganze stank. Bei voller Geschwindigkeit ging es hinaus auf die Ostsee. Draußen wartete ein Verunglückter auf Hilfe.

»Maschinen Stopp!«

In einem Holzkahn trieb ein junger Mann ohne Rettungsring und ohne Paddel inmitten der hohen Wellen. Er schrie nicht um Hilfe. Dazu war er zu schwach.

»Halt durch!« Derk Steensen warf dem Verzweifelten einen Rettungsring zu. Dann versuchte er ihn an Bord des Rettungskreuzers zu hieven. Starker Seegang, Wind, und die Panik des Schiffbrüchigen erschwerten die Bergung.

»Heb an!« Zu zweit hoben sie den Mann auf das nasse, rutschige und schwankende Deck.

»Schnell, auf die Trage!« Der Verunglückte zitterte. Er war stark unterkühlt.

»Hast Dussel gehabt, dass dich die ›wahren Retter‹ nicht an die Kandare gekriegt haben.« Die Grenzbrigade der NVA eskortierte Republikflüchtlinge mit Waffen. Es war nicht zu empfehlen, mit der Nationalen Volksarmee, den Streitkräften der Deutschen Demokratischen Republik, zu streiten.

»Mein lieber Schwan, schön blau. Das wird nix mehr!« Die Beine des Mannes waren dunkel und stark angeschwollen. »Die sind abgestorben.« Hanko hüllte den Flüchtling in eine warme Decke.

»Schnack nicht, Langwisch, das werden sie in der Klinik feststellen. Ab zum Hafen!«, rief der Vormann. »Wenn einer blöd genug ist, über die Ostsee zu flüchten, hat er Pech gehabt.«

»Staatsschutz gibt es überall«, bestätigte Hanko.

»Wie is’ dien Name?«, fragte Derk Steensen mitleidig.

»Frieder Friedrichs.« Der Junge stöhnte.

»Wüllst rut, wat?«

Der Gerettete schwieg.

»Dat lässt sich nicht verheimlichen. Tut ma leid! Nu geit dat wol nach Bautzen.«

»Hier Kamerad, sauf, hast genügend Fische gefüttert.« Hanko Langwisch drückte dem jungen Mann einen Becher mit heißem Tee in die Hand.

An Land übergaben sie den armen Teufel der NVA. Sie wussten, dass er tagelange Verhöre über sich würde ergehen lassen müssen. Jedes Mal, wenn sie einen Flüchtling aus dem Wasser zogen, spürte Derk Steensen die Machtlosigkeit gegen das System. Im Gegensatz zu Ida glaubte er jedoch, dass eine Kraft, die dem Drang nach Freiheit entspringt, unaufhaltsam ist.

»Ick glööf dat nich’ mit de Demokratie,« zweifelte Ida und sah ihn skeptisch an, als er am Abend von seinen Visionen sprach. »Wie soll dat gehn?« Sie schüttelte den Kopf. Es war naiv, zu glauben, die Grenzen ließen sich nach dreißig Jahren verändern. Gegen das sozialistische Regime war jeder Protest in der Bevölkerung letzten Endes machtlos. Aber man wusste nie. Manchmal hatte Derk Steensen das zweite Gesicht.

5. KAPITEL

Sassnitz, 9. November 1989

Anni Arndt besuchte die Polytechnische Oberschule. Ihr Schulalltag bestand aus Pausenbroten, Strebern, Löchern in den Jeans, Fahnenappell und dem Jugendradio DT 64. Ihre Träume bestanden aus ›Mal weg von zu Hause‹ und ›Eis essen‹. Sie mochte die Songs von City. Die Texte hatten Bedeutung. Doch ehe es für Anni richtig ernst wurde, war alles vorbei. Der zweite Donnerstag im November 1989 veränderte ihr Leben.

Wie so oft stand Anni am Nachmittag mit ihrer Großmutter Ida auf der langen Mole und beobachtete die Einfahrt der kurzen, gedrungenen Logger in den Sassnitzer Hafen. Das Verfahren lief nach den genauen Plänen der VEB-Fabriken ab: Ankunft der Schiffe, Anlegen, Löschen der in Kästen sortierten Fische, Übergabe der Papiere an die Werktätigen, Verhandlungen über die Auslaufzeit, Scheuern der Decks. Die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges unter sowjetischer Besatzung entstandenen volkseigenen Betriebe hatten die Privatunternehmen enteignet und unterstanden als ökonomische Volkseigentum der Zentralverwaltungswirtschaft der DDR-Partei- und Staatsführung.

»Sie tuckern in, Ömming!«, rief Anni. Die Besatzungen gingen an Land, in ihren Netzen Dorsche, Heringe und Hechte. Die gab es nur an guten Tagen. Heute war ein guter Tag. Irgendwo dudelte ein Radio Ich mache sowieso, was ich will. Feierabendtoll schwangen sich die jungen Seeleute auf ihre motorisierten Zweiräder.

»Iiieh, es stinkt nach Fisch!« Anni hielt sich die Nase zu. Seemöwenschwärme flogen kreischend ihre Runden über den Schiffsmasten. Nimmersatt und gefräßig stürzten sich die Vögel auf die Kübel, die bis oben mit abgeschlagenen Fischköpfen gefüllt waren. Wie Ratten der Lüfte rissen sie halbverschlungene Heringe aus klaffenden Fischmäulern, würgten sie hinunter und schrien.

»Ist ein Schietwetter, Deern! Der Wind hat sich gedreht.« Aus den Augenwinkeln bemerkte Ida einige Militärs. Im nahen Mukran hatte man einen Güterfährhafen mit direkter Fährverbindung ins litauische Klaipeda in Betrieb genommen. Nutznießer waren vor allem die in der DDR stationierten Soldaten der Roten Armee. Ihnen wurde nicht mehr der Landtransport durch das politisch instabile Polen befohlen. »Komm, lass uns nach Hause gehen!« Sie gingen heim. Beim Abendessen tat Ida ihre Meinung kund.

»Eigentlich ist es eine Verschwendung, die Fischköpfe von Möwen fressen zu lassen. Wenn man überlegt, was durch die fliegenden Räuber an Material vergeudet wird, wo es dem Aufbau des Sozialismus an jeder Ecke mangelt.« Sie füllte die Teller. Pragmatisch wie Ida war, kochte sie die Fischköpfe, die sie von den Fängen der Männer übrig behielt, zur Fischsuppe aus, um Versorgungsengpässe zu überwinden.

»Ida, du weißt Bescheid!« Hanns Arndt lachte auf. »Jetzt wird dem System wortwörtlich der Kopf abgehackt.«

»Hanns, bitte!«, rief Annis Mutter.

»Was willst du, Inge? Die sogenannte Planwirtschaft hat abgewirtschaftet.« Annis Vater hatte längst die Nase von ›diesem Staat‹ voll. »Wir sind am Ende. Die hauen alle ab, über Tschechien!«

»Unser Hausmeister sagt, dass im Osten die Luft sechzehnmal schlechter ist als in der Bundesrepublik«, Anni schlürfte die heiße Flüssigkeit in sich hinein. »Er meint, in unserer Aula riecht es entweder nach Kotze oder Wofasept. Sie kicherte. »Wir haben ihm zum Trost eine Dose Florena geschenkt!«

»Der säuerliche Mief kommt vom Tapetenkleister«, erklärte Hanns.

»Es stinkt, weil die BRD jährlich Hunderttausende Tonnen kapitalistischen Sondermüll bei uns ablädt«, schimpfte Inge.

»Als Belohnung kassieren wir Millionen Westmark. Ohne das Geld wären wir seit Langem pleite. Sie vergiften uns und halten uns gleichzeitig am Leben«, erwiderte Hanns.

»Awer nich’ mehr lange, wetten?«, meinte Derk Steensen.

»Es müssen alle erfahren, dass das Grundwasser verseucht wird. Dafür kämpfen wir.« Inge strich sich über die Stirn. »In der Bewegung sagen sie, wir werden demnächst an eine Kläranlage angeschlossen«. Inge Arndt protestierte seit Kurzem gegen den staatlichen Raubbau an der Natur. Umweltschutz und Heimat waren wichtige Themen der Oppositionsbewegung.

»Träumen dürfen wir.«

»Die Suppe taugt nicht als Sättigungsbeilage«, maulte Hanns.

»Ich mag sie sowieso nicht.« Anni verzog das Gesicht und sah ihre Oma an.

»Dann esst den Pudding!«

»Vanille, Erdbeere, Nuss – schmeckt alles wie Teppichkleber«, kommentierte Hanns.

»Mach uns lieber rote Grütze, Ömming.« Anni leckte sich die Lippen.

»Räucherhering kannst äten, Deern. Rote Grütze givt et nich’. Ick hev een Glas ingelegte Gurken to’r Erfrischung.«

»Eingelegte Gurken zur Erfrischung? In dem Fall lieber Fassbrause!« Anni nahm einen Schluck von dem bonbonroten Prickelzeug.

»Eene goote Jenossin leevt Fischköpp!«, war Opas Kommentar, der deutlich machte, was er vom Kommunismus hielt.

»Morgen kommt eine Gruppe aus Stralsund und besichtigt das Denkmal«, erzählte Anni schlürfend.

»Iss ordentlich, Annerose!« Inge sah sie mahnend an.

»Die Suppe ist heiß, Mutti.«

»Zum Klassenausflug?«

»Hm.« Anni nickte.

»Schwenkt mol hübsch die Fähnchen!«, feixte Steensen. » Lenin-Denkmal, Lenin-Platz, Lenin-Straße, Lenin-Oberschule. Ick heeß ok bald Lenin.« Derk Steensen gehörte nicht zu denjenigen, die stolz darauf waren, einen kleinen Baustein zur Oktoberrevolution 1917 geliefert zu haben.

»Bis nachher!«, Hanns stand auf.

»Gehst du noch mal weg?«, fragte Inge. Anstelle einer Antwort öffnete ihr Mann die Tür.

»Versammlung«, brummte er. Die Tür klappte. Er hatte keine Lust auf die Geschichte, die Inge aufs Stichwort aufsagte.

»Im Ersten Weltkrieg befand sich Lenin im Schweizer Exil. In Geheimverhandlungen boten ihm die Deutschen die Rückkehr nach Russland an. Sie wollten den Zweifrontenkrieg beenden und hofften, dass Lenin daheim eine Revolution anzetteln würde. Lenin wollte Russland nicht mithilfe von Deutschland destabilisieren. Er ahnte, das würde ihm irgendwann auf die Füße fallen. Aus dem Grunde schuf man ein nicht hoheitliches Territorium: Man verplombte in der Schweiz einen Reichsbahnwaggon, zog einen Kreidestrich drumherum und erklärte das zu russischem Staatsgebiet.«

»Kreide hatten wir wahrlich genug!«, feixte Steensen.

»Dieser Waggon ist nach Sassnitz zur Fähre nach Trelleborg gebracht worden.«

»Von Schweden kann man nach Helsinki und von dort nach St. Petersburg fahren«, überlegte Anni.

»Op’n Prick, Deern.« Sie traf es auf den Punkt.

»Die Sassnitzer wussten nichts Genaues. Sicherheitshalber hatten sie für die Honoratioren inkognito im Bahnhof ein Empfangskomitee organisiert.«

»Sünd all Dösbüddel!«

»Lenin saß in seinem exterritorialen Staatsgebiet im Waggon fest. Eine Schülergruppe ehrte zwei deutsche Wachmänner mit Blasmusik, Tamtam und Fähnchen. Lenin fuhr am nächsten Tag nach Trelleborg, von dort nach St. Petersburg. Die Sache endete in der Oktoberrevolution. Vier Stunden Aufenthalt am Bahnhof Sassnitz, mehr ist es nicht gewesen«, schloss Inge.

»Un dorför mok se all Johr solch een Geschreev!« Steensen verabscheute das alljährliche Geschrei.

»Vadder, lass dat bloß nicht die Genossen hör’n!« Ida kippte eine Wilde Sau. Derk hatte den Likör mitgebracht, als er im letzten Winter mit kaputter Windschutzscheibe und einem Fass Heringe quer durchs Land bis runter nach Lauscha gefahren war. Dort besaßen sie Glas, jedoch keinen Seefisch oder Aal. Der Likör und die Thüringer Wurst schmeckten auch an der Ostsee. Man hielt zusammen.

»Pass op, dat dich nich’ eener verpfeifen tut!«, unkte sie. Legte Derk Steensen los und wetterte gegen den Überwachungsapparat, befiel Ida schiere Angst. Kam Besuch aus dem Westen, verschlimmerte sich ihre Gefühlslage noch. Sie fing regelrecht an zu zittern, sobald sie mit dem Hausbuch die Gäste bei der VOPO anmelden musste. Hinter jeder Ecke lauerten die Spitzel der Volkspolizei. Die Nummer der Staatssicherheit stand im Telefonbuch. Anschwärzen ging per Anruf: »Teilnehmer. Sie sprechen mit der Stasi. Hier ist der Offizier vom Dienst. Mit wem spreche ich?« Macht erzeugt Ohnmacht.

»Di geiht dat bannig schetterig, wat? Musst di nich’ opregen, Ziepeltrine!« Derk legte ihr die Hand auf den Unterarm. Er mochte es nicht, wenn sie sich aufregte und zitterte.

»Ick geb’ di gliek Ziepeltrine!« Sie schüttelte ihn ab. »Is Tied, mok de Kiekschapp an, Deern!« Es war Zeit für die Nachrichten im Fernsehen.

»Awer nich’ dat Gedröhn!«, befahl Steensen. Anni schaltete das Fernsehgerät ein.

»Die tagen pausenlos.« Anni hockte sich dicht vor die Mattscheibe. »Das ist eine Pressekonferenz.«

»Schabowski hett een Zettel inne Hand.« Derk Steensen hörte auf zu kauen. Aufmerksam verfolgte er das Geschehen auf dem Bildschirm.

»Hört euch dat an!«

»Allerdings ist heute, soviel ich weiß, eine Entscheidung getroffen worden. Und deshalb, äh, haben wir uns dazu entschlossen, heute, äh, eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht, äh, über Grenzübergangspunkte der DDR, äh, auszureisen.« Anni guckte ihre Mutter Inge an. Inge guckte Derk an. Derk guckte Ida an.

»Wat hett he seggt?«

»Stell lauter, Deern!«

»Ab wann tritt das in Kraft?«, fragte ein Reporter im Fernsehen. Schabowski, sichtlich verwirrt, suchte die Antwort in seinen Notizen.

»Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich.«

»Reisefreiheit!«, rief Inge.

Opa schluckte. Dann steckte er sich die Pfeife in den Mund. Inge, Ida und Anni starrten auf das Fernsehgerät und kreischten.

»Nee, dat givt et nich’!«

»Heißt das, wir dürfen rüber?«, juchzte Anni ungläubig.

»Joah!«

»Ick glööf dat nich’. Der hat sich versabbelt. Esst weiter!«, befahl Ida. Ihre Augen glänzten. Das Fenster stand offen. Von draußen hörten sie Gejohle. Es war ein warmer Abend. Sie löffelten die Suppe aus. Das DDR-Fernsehen informierte in der Aktuellen Kamera über die neuen Reiseregelungen. Nachbarn klopften aufgeregt an die Tür. Anni, Ida und Inge rannten hinaus auf die Straße. Eine Reihe von Zweitaktern setzte sich in Bewegung. Überall sah man winkende Hände.

»Die hauen ab, Mutti!«, rief Anni aufgeregt. »Die hauen echt ab!«

»Kommt ihr wieder?«

»Klar, nur gucken!«

»Wenn dat man got geiht … «, unkte Ida den nach Westen rollenden Trabis hinterher. Sie gingen zurück ins Haus.

»Wo bleibt nur Hanns?« Inge sah zur Wanduhr.

»Der is schon röwer!«

»Red keinen Unsinn, Öpping! Ohne uns? Das würde Vati niemals tun!«

»Der Opel Calibra ist eine Mördermaschine!« Hanns stürmte zur Tür herein.

»Dor kommt een Glücksritter«, Steensen schlug sich auf die Schenkel.

»Willst du mir meinen Traum vermiesen?«