Wo der Name wohnt - Ricarda Messner - E-Book

Wo der Name wohnt E-Book

Ricarda Messner

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Beschreibung

»Lange dachte ich, Früher heißt das Land, aus dem sie kamen.«

Hausnummer 36 und 37, hier in Berlin haben sie jahrelang in direkter Nachbarschaft gelebt. Als Kind spielte die Enkeltochter Tischtennis auf dem Glastisch im Wohnzimmer der Großeltern. Als Erwachsene löst sie deren Wohnung schließlich auf, bringt Besteck, Töpfe und Musikkassetten nach nebenan zu sich. Und sie will noch etwas bewahren: Levitanus, den Familiennamen. Der Wunsch, den Namen wieder anzunehmen, begleitet sie nicht nur im Alltag, sondern führt sie auch nach Riga. Sie folgt den Worten ihres Urgroßvaters Salomon und findet ein Fenster im ehemaligen Rigaer Ghetto, das eng mit ihrer Familiengeschichte verknüpft ist – und sie zeichnet die Bewegungen von vier Generationen nach, vom sowjetischen Lettland der siebziger Jahre bis nach Deutschland.

Ricarda Messner erzählt in ihrem Debütroman vom Ort ihrer Erinnerungen, kehrt immer wieder zurück zum Leben in zwei Wohnungen, nähert sich Verlusten und Lücken, verbindet Heute und Gestern. Wo der Name wohnt lässt so zärtlich wie klar eine Familie aufleben und bewahrt ihre Geschichten.

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Seitenzahl: 183

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ähnliche


Cover

Titel

Ricarda Messner

Wo der Name wohnt

Roman

Suhrkamp

Impressum

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eBook Suhrkamp Verlag 2025

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2025.

Originalausgabe© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2025

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Umschlaggestaltung: Studio Yukiko, Berlin

Studio Yukiko GmbH, Berlin

eISBN 978-3-518-78213-2

www.suhrkamp.de

Widmung

Für S.

Motto

Ich schreibe aus meinem Zimmer (ja – aus, und nicht in!).

Marina Zwetajewa, Unsre Zeit ist die Kürze

Ich bleibe zu Hause und manchmal suche ich sie. Wenn sie nicht da ist, suche ich sie in Kochtöpfen, Pfannen, Schränken und auf dem Herd.

Yevgenia Belorusets, Glückliche Fälle

Der Name steht grundsätzlich nicht zur freien Verfügung des Namensträgers.

Bezirksamt Berlin-Charlottenburg, September 2020

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Motto

Gestern war der 4.Dezember

Soweit Ihre Eltern nach Ihrer Geburt einen Ehenamen bestimmten

Sie sagen, Sie besitzen den Namen nicht mehr

Der bloße »Herzenswunsch«

Je länger ich hierbleibe

Unter Zugrundelegung Ihrer Schilderung

Vorhin habe ich mich wieder kurz im Haus verirrt

Des Weiteren schildern Sie

Avenītes, Avenītes, Avenītes nevajag?

Das Aussterben eines Familiennamens

Am 9.April 1971

Ihr Namenserwerb

An guten Tagen, an denen wir uns nahe sind

Die Verwaltungsgebühr

In den letzten Tagen

Nach §3 Abs.1 des Gesetzes

Die letzten drei Monate seines Lebens

Im Falle einer Ablehnung oder Rücknahme

Wer noch nie hier war

So ginge der Ausnahmecharakter

Großvater hatte mir nach einer der ersten Aufführungen erklärt

Dank

Informationen zum Buch

Wo der Name wohnt

Gestern war der 4.Dezember

Gestern war der 4.Dezember. Gleich nach dem Aufwachen habe ich gedacht, heute sind fünf Jahre vergangen, seit ich nach Großmutters Tod das letzte Mal durch ihre leere Wohnung gelaufen bin. Wobei die Wohnung nicht ganz leer war. Die neue Mieterin behielt die an der Wand angebrachte Garderobe und den dazu passenden Spiegel im Flur, bei der Besichtigung hatte sie sich danach erkundigt. Sie ist sehr nett, lädt mich oft zu sich ein. Komm doch vorbei, sagt sie. Ich erfinde jedes Mal Ausreden, möchte mit der Anordnung ihrer Möbel nicht meine Bilder im Kopf durcheinanderbringen. Irgendwann kann ich es ihr vielleicht erklären. Ich glaube, sie würde mich verstehen.

Der 4.Dezember ist nirgends vermerkt. Das Datum ist als Ereignis in mir geblieben, die letzte Begehung der Räume, und wahrscheinlich funktionieren Ereignisse insgeheim wie innere Kalender, zerteilen ein Jahr in viele Jahre, fächern die Tage zu Jahrestagen auf. Ich könnte weiter darüber nachdenken, welche Ereignisse mir mit genauem Datum noch geblieben sind, Geburtstage ausgenommen.

Und also stand ich gestern Morgen in der Küche, wärmte Milch in einem kleinen schwarzen Topf auf, und bevor ich wusste, was ich tat, verbrachte ich den ganzen Tag damit, alle Schränke und Schubladen zu öffnen, ich wollte wissen, was ich damals aus der Wohnung außer dem kleinen schwarzen Topf noch mitgenommen hatte. Alles, was ich finden konnte, legte ich auf den Boden. Jetzt ist da diese Ausstellung in der Ecke. Sie gefällt mir gut. Vielleicht lasse ich sie eine Weile liegen.

Als Mutter und ich damals die zweieinhalb Zimmer im fünften Stock ausräumten, sagte sie, ich solle einfach zwei Kisten packen, dann müsste ich auch nur ein- oder zweimal rübergehen. Ich habe es doch nicht weit, habe ich ihr gesagt, nach nebenan. Trotzdem, hat sie geantwortet. So, wie ich mit den unverpackten Gegenständen in den Händen zwischen den Häusern hin- und herging, muss es ausgesehen haben, als würde ich Heiligtümer tragen, als würde ich eine Art Prozession veranstalten. Gut möglich, eine Prozession wird erst dann zu einer, wenn mehrere Personen daran beteiligt sind. Ich war jedenfalls die Einzige, die an diesem Umzug teilnahm. Nur für den Geschirrspüler brauchte ich Hilfe.

Obwohl, jetzt, im Blickwinkel meiner Erinnerung, erscheint da jemand, sitzt auf einer der Bänke auf dem Mittelstreifen der Straße. Der Mittelstreifen ist ein großzügig angelegter Weg, mit Bäumen zu beiden Seiten, eine Allee. Stirbt ein geliebter Mensch, der auf dieser Straße gewohnt hat, verwandelt die Allee sich in einen Trauerweg. In den ersten Wochen nach Großmutters Tod saß ich oft dort, auf der Bank direkt gegenüber dem Haus, schaute durch die Äste bis in den fünften Stock. Das Licht im Wohnzimmer der neuen Mieterin brannte. Unangenehm grell erhellte es die neuen Winternachmittage. Ich versuchte Flüche, erschrak über mich selbst, hörte sofort wieder auf damit. All die Jahre später stehe ich vor dem Haus auf der Straße, kneife leicht die Augen zusammen, drehe mich zur Seite, schaue hinter mich, über meine Schulter, als könnte ich die Person auf der Bank doch noch erkennen, als würde sie so an Kontur gewinnen. Aber ich sehe kein Gesicht, das ich beschreiben könnte. Da ist nur das Gefühl, dass da wer gesessen und mich bei meinen Wegen beobachtet haben könnte. Wir wären also zwei Teilnehmende gewesen. Ich wünsche mir, die andere Person hätte an jenem Abend oder zu einem anderen Zeitpunkt ihre eigene Geschichte aus diesen Bildern gemacht, beginnend mit einer Frau, die mit einem kleinen schwarzen Topf, Büchern, einem weißen Ordner, Musikkassetten, einem mittelgroßen silbernen Topf, einem Bügeleisen, Kleinigkeiten, die zu klein waren, um sie aus der Ferne eindeutig erkennen zu können, einem rosa Jäckchen, Gabeln, Messern, Löffeln, Acrylregalen aus der Haustür Nummer 36 kam, durch eine Gittertür nebenan verschwand, mit leeren Händen zurückkehrte und so einige Male hin- und herlief. Hätte die Person mir über die Straße zugerufen, was für ein Buch ich da trage, hätte ich ihr sofort geantwortet: Жемчужины мыслей, es heißt Жемчужины мыслей. Das sind Großvaters Gedankenperlen oder Perlen der Gedanken, nicht seine eigenen, sondern eine Sammlung von Sätzen anderer.

Wenn man hier nicht wohnt, könnte man meinen, dass es nur die Hausnummer 36 gibt. Dass es ein einziges großes Haus ist, bei dem sich Fensterfronten mehrfach wiederholen und Balkone wie Dreiecke in die Luft ragen. Aber dieses Haus mit einer fugenlosen Fassade hat drei Nummern: 35, 36, 37. Der Eingang in der Mitte ist von außen gut sichtbar, die anderen sind leicht versetzt. Hinter der Gittertür, hinter der ich in jenem Dezember immer wieder verschwand, könnte auch nur der Weg zum Müll sein. Also ja, da sind auch die Mülltonnen, aber da ist eben auch der Eingang zu Nummer 37. Dort in den zweiten Stock habe ich die Sachen gebracht, dort im zweiten Stock wohne ich.

Und irgendwo zwischen den beiden Häusern, ich zählte während der Wohnungsauflösung zum ersten Mal die Schritte, überkam mich eine Sehnsucht. Ich wollte den Nachnamen wieder tragen, sehnte mich nach ihm wie nach Großmutters Gesicht, das ich nicht mehr sehen würde. Es waren ungefähr vierzig Schritte von Tür zu Tür.

Ohne Großmutter wäre es nicht dazu gekommen, dass ich hier wohne. Wir haben sieben Jahre als Nachbarinnen gelebt. Es war sogar unsere zweite Nachbarschaft. In der Wohnung, in der ich jetzt wohne, habe ich mit meiner Mutter gelebt, bis ich ein Jahr alt war. Es war ihre erste große Wohnung, in der sie allein lebte, anderthalb Zimmer. Als ich auf die Welt kam, stellte sie die Möbel etwas um. Von Fotos weiß ich, dass ihr Bett vom Schlafzimmer ins Wohnzimmer mit offener Küche kam. Das Bett rückte das schwarze Ledersofa weiter in den Raum. Mein kleines Bett kam in ihr altes Schlafzimmer. Über die Nachbarschaft mit ihren Eltern sagt meine Mutter heute noch, was für ein Glück. Ich stimme ihr zu, was für ein Glück. Es war ein ständiges Miteinander, unsere Ausbreitung von innen heraus, in und zwischen zwei Häusern, ein unauffälliges Besetzen von Räumen, die uns nicht gehörten. Das erste Jahr wohnte mein Vater nicht mit uns. Ich war ein Jahr alt, als meine Eltern heirateten, kurz darauf zogen wir aus. Mutter und Kind nun weiter im Vatersnamen.

Mir fällt auf, dass wir nie wieder über diesen einen Morgen gesprochen haben, als Großmutter anrief und sagte, unsere Wohnung sei wieder frei, ich solle mich beeilen. Ich weiß, dass sie auf dem Weg zum Einkaufen war, dass sie ihren Weg schnell unterbrach, nicht weit kam, einen Umzugswagen sah. Ihre Einkäufe erledigte sie immer zu Beginn des Tages. Einkaufszettel schrieb sie am ovalen Glastisch im Wohnzimmer. Keine langen Listen, denn die täglichen Wege waren ihr wichtig. Erwartete Großmutter keinen Besuch, an Tagen ohne besondere Anlässe, kaufte sie Tomaten, Gurken, Zwiebeln, Butter, Kartoffeln, Dill, Crème fraîche, Milch. Ganze Zahlen schrieb sie aus, nicht ganze Zahlen in Brüchen. Zum Beispiel: zwei Zwiebeln, ½ Butter. Die Zettel waren mal grün, mal gelb, mal weiß, abgerissen vom Stapel neben dem Telefon, wo sie sonst Namen oder Nummern von Nachrichten auf dem Anrufbeantworter notierte. Sie steckte die Einkaufszettel in die linke Jackentasche oder, wenn sie keine Jacke trug, in die Handtasche. Bevor Großmutter die Wohnung verließ, kämmte sie sich erneut die Haare, ging zur Garderobe, tauschte ihre Tapatschki, Jahre später ihre Noppensocken gegen Straßenschuhe, dann öffnete sie die Tür, zog den schwarzen Einkaufswagen hinter sich her, stieg in den Aufzug, fünf Stockwerke nach unten, siebzehn Stufen bis zum Hauseingang. Je nachdem was sie auf den Zettel schrieb, ging sie links zum Supermarkt die Straße entlang oder, wenn nur Obst und Gemüse auf der Liste standen, nach rechts zum Obst- und Gemüseladen um die Ecke, wo es die besten grünen Trauben ohne Kerne gibt, sie schmecken besonders süß. An dem Tag, an dem ihr der Umzug auffiel, wollte sie wohl Trauben.

Kurz nach ihrem Tod ging ich jeden Tag zum Obst- und Gemüseladen. Ich kaufte Tomaten, Gurken, Dill, Kartoffeln, Crème fraîche, muss in Crème fraîche, Kartoffeln, Dill, Gurken, Tomaten nach ihr gesucht haben. Nach dem dritten Tag fragte mich der Verkäufer, wie es ihr gehe, er habe sie länger nicht mehr gesehen, ich solle sie bitte grüßen. Da habe ich ihm gesagt, dass sie leider gestorben sei. Er ließ mich nicht bezahlen. Bei den nächsten Einkäufen auch nicht. Irgendwann nannte er mir wieder den Preis, entschuldigte sich, leider müsse er wieder Geld verlangen. Natürlich, antwortete ich. Wochenlang habe ich nichts anderes gegessen, bis ich mich eines Nachts von Kartoffeln mit Crème fraîche erbrach. Dabei spürte ich Großmutter neben mir, sie hielt meine Haare über der Toilette und flüsterte mir etwas zu, woran ich mich nicht mehr erinnern kann. Dafür höre ich heute ganz deutlich ihre Stimme von dem Tag, als sie den Umzug sah, zurücklief, mich anrief und sagte, eure Wohnung ist wieder frei, beeil dich. Ich bewarb mich, reichte Unterlagen ein, darunter die Kopie eines Fotos, auf dem meine schwangere Mutter am Küchentisch sitzt. Ich schrieb, da im Bauch bin ich, sprach von einer Rückkehr und Wiederkehr, suchte nach passenden Formulierungen. Die Antwort folgte, ohne Kommentar zum Foto, ich solle warten, die Verwaltung würde sich bei Interesse melden. Fünf Monate vergingen.

Einige Freundinnen und Freunde fragten mich damals, ob ich denn wirklich so nah bei Großmutter leben wolle. Vielleicht wäre es doch besser, wenn die erste Wohnung mit der Familie bricht, und ob ich denn keine eigene Zukunft wolle, kein eigenes Leben. Bis heute nehme ich es ihnen nicht übel, verstehe allerdings immer noch nicht, wie das gehen soll und was das sein soll, ein eigenes Leben. Begegneten Großmutter und ich uns in den ersten Wochen nach meinem Einzug vor den Hauseingängen oder liefen wir uns zufällig in den Seitenstraßen über den Weg, fragte sie, wohin gehen Sie denn, liebe Nachbarin? Und Sie?, antwortete ich. Wir mussten beide lachen. In diesen ersten Wochen fragte sie mich ständig, wie sie aussehe. Sag mir, wie ich heute aussehe. Großvater war elf Monate vor meiner Rückkehr gestorben, und aus ihrer Trauer machte Großmutter einen einzigen besonderen Anlass. Für die alltäglichen Dinge, für die Wege zum Einkaufen, trug sie ihre beste Hose, ihre beste Jacke, ihren besten Mantel, in den sie manchmal, nicht immer, eine falsche rosa Rosenblüte steckte. Etwa ein Jahr lang trug sie kein Schwarz, keine allzu dunklen Farben, die machten sie zu blass, und blass wollte sie in diesem ersten Jahr ohne ihn nicht sein. Jeden Tag wickelte sie sich die Haare auf. Wenn sie nicht frisch gewaschen waren, nahm sie die Sprühflasche, eigentlich für Blumen gedacht, machte die Haare damit ein wenig nass. Großvater hatte die Sprühflasche fürs Bügeln benutzt. Er liebte es zu bügeln, denn man sah gleich die Resultate, wie er es nannte, und wenn er im schwarzen Sessel im Wohnzimmer saß, fragte er manchmal aus dem Nichts, ob es nicht noch etwas zu bügeln gäbe. Meine Mutter kaufte ihren Eltern einmal ein neues Bügeleisen, eines, aus dem automatisch das Wasser kommt, Dampf entsteigt. Großvater versuchte es, kam damit allerdings nicht zurecht und gab es seiner Tochter zurück. Großmutter konnte Bügeln nicht ausstehen. Trotzdem hätte sie nie in ungebügelter Kleidung das Haus verlassen. Im ersten Jahr nach seinem Tod habe ich ihr irgendwann gesagt, sie sehe besser aus als je zuvor, keine einzige Falte. In der Hoffnung, sie würde aufhören zu fragen.

Für Notfälle hatte jede von uns den Schlüssel zur Wohnung der anderen. Notfälle, legten wir fest, können in Anwesenheit und während Abwesenheit passieren. Nachdem ich das erste Mal für ein paar Tage verreist war und von der Reise zurückkam, war ich mir sicher, jemand ist in die Wohnung eingebrochen. Allerdings war es nicht das Bild eines Einbruchs, das man erwartet, mit offenen Schränken und Schubladen, herausgerissenen und herumgeworfenen Gegenständen. Der Unterschied zu vorher lag in Kleinigkeiten, die auf den ersten Blick leicht zu übersehen waren. Die Couch war ein wenig verschoben, ein paar umgestellte Vasen, und überhaupt wirkte die Wohnung aufgeräumter. Besonders Boden, Tisch und Waschbecken fielen auf. Ich rief Großmutter an, erst um ihr zu sagen, ich sei wieder da, dann um sie zu fragen, was passiert sei. Sie meinte, nichts ist passiert, sie habe nur ein bisschen aufgeräumt. Beim zweiten Mal, als sie während meiner Abwesenheit wieder aufgeräumt hatte, wollte ich mit ihr reden, darüber, wie sie Notfälle verstehe. Vielleicht sollten wir lernen, mit mehr Abstand zu leben, sagte ich. Sie verstand nicht. Was für ein Abstand?, fragte sie. Und überhaupt, ich solle mir keine Gedanken machen, im Gegenteil, sie brauche die Bewegung, um lange zu bleiben, und ich wollte doch, dass sie lange bleibt. Nach dem dritten Mal schämte ich mich zu sehr dafür, dass sie bei mir aufräumte. Mir erschien das Bild vor dem inneren Auge, wie sie sich in meiner Wohnung bückte, Dinge sortierte, mit ihrem Körper, der meinem Körper siebzig Jahre voraus war. Von der Scham erzählte ich ihr nichts, nahm ihr ohne große Erklärung den Schlüssel weg, sagte, jetzt müssten wir den Abstand wirklich lernen. Drei Wochen sprach sie nicht mit mir. Trafen wir uns auf der Straße, vor den Häusern, nickte sie mir bloß zu. Nach drei Wochen legte ich ihr den Schlüssel wieder in den Briefkasten. Jahre später, ich weiß nicht mehr in welchem Zusammenhang, erinnerte sich Großmutter an diese Phase, gab dieser Geschichte eine Überschrift, nannte sie unseren ersten großen Riss.

Я аккуратная. Ich bin akkurat. Sonst sprach Großmutter nicht auf Russisch von sich. Zumindest fällt mir kein anderes Beispiel ein. Sie war akkurat, weil sie nicht anders konnte. Dabei wünschte sie sich, nicht ständig Ordnung halten zu müssen, zu wischen und zu saugen, versuchte ab und an, die Dinge, Kleider, Dokumente, das Geschirr, einfach liegen zu lassen, nicht weiter zu beachten, daran vorbeizugehen. Nur stieg ihr die Unruhe sofort in Glieder und Nerven, Kopf, Arme und Beine ließen keine Ruhe. Wenn sie mich fragte, was ich gemacht hatte, und ich Nichts sagte, wollte sie wissen, wie ich es schaffte, mich so wenig zu bewegen, schließlich konnte ich stundenlang im Bett liegen bleiben, ohne etwas zu tun. Wie machst du das?, fragte sie. Selbst abends im Bett, unter der Decke, bewegte sie ihre Füße. Vor und zurück, Fersen angezogen, Zehen gestreckt. Alles für den Kreislauf. Sie machte sich Sorgen um mich, meine Durchblutung. Sie sagte, dein Blut schafft es nicht bis in die Spitzen der Füße, sorgte sich auch um die, denn wie die Knochen zu wachsen begannen, meinte sie, würde ich Krallenzehen kriegen.

Ich will ihr sagen, schau, dieses Vor und Zurück ist in mir geblieben, irgendwo, aber nicht in den Beinen, es versteckt sich zwischen den Geschichten, die mich hin- und herziehen.

Großmutter kaufte weiße und hellgraue Ordner, sortierte sie in die zwei untersten Fächer in ihrem Schlafzimmerregal ein. Eine Reihe höher standen neun Bände mit dunkelgrünem Einband, Puschkin I-IX. Mutter hat Puschkin nach der Wohnungsauflösung zu sich genommen, und beinahe wäre ich in die Falle der Vorstellung geraten, hätte Großmutter oder Großvater Sätze Puschkins in den Mund gelegt. Aber es gab keinen lauten Puschkin bei uns, keines seiner Worte schaffte es ins Wohnzimmer. Über ihm waren die Reihen mit Büchern von Großmutters Lieblingsautorin Danielle Steel gefüllt. Irgendwann bat sie uns, ihr keine Bücher von Steel mehr zu schenken, zu häufig erschienen neue, im Regal war nicht genug Platz. Sie merkte die Ausgaben stattdessen in der Bibliothek vor, lieh sich eine nach der anderen aus, las jedes Buch und gab es lange vor Rückgabedatum zurück. Sie meinte, Danielle Steel schreibe so hübsch über gebrochene Herzen, über die Wege des Lebens.

In ihren Ordnern legte Großmutter die Dokumente ab, von denen sie glaubte, dass sie in Zukunft wichtig wären, von den eigenen Briefen, die sie in offiziellen Angelegenheiten schrieb, machte sie Kopien, falls man irgendwann zeigen musste, was man selbst einmal gesagt hatte. Um ihre Briefe zu kopieren, ging Großmutter aus dem Haus links bis zur Straßenecke, dann nach rechts bis zu einem Fotogeschäft. All die Jahre hatte ich das nicht gewusst, habe es erst vom Besitzer erfahren. Als ich Batterien brauchte und wir auf Großmutter zu sprechen kamen, zeigte er auf das Gerät in der Ecke und sagte, hier hat sie viele Kopien gemacht. Als Kind verstand ich nicht, wie es ihr gelang, dass sich ihre Buchstaben auf den weißen Blättern nicht verirrten, dass die Zeilen in gleichem Abstand blieben. Einmal, sie saß nicht am Glastisch, nahm ich ein angefangenes Schreiben aus dem Block, fand unter dem Blatt eine Vorlage, eine Seite mit Linien, auf der Rückseite Karos, und ich weiß nicht mehr genau, ob ich diese Entdeckung enttäuschend oder beruhigend fand, ob ich Großmutter danach mit anderen Augen sah. Die Briefe, erhaltene oder selbstverfasste, wurden nach ihrem jeweiligen Inhalt in die Ordner einsortiert, unterteilt von Trennregistern. An manchen Tagen suchte Großmutter laut nach dem passenden Anfangsbuchstaben, sagte das Alphabet auf, sprang zwischen ihren drei Sprachen hin und her, in ihrem lettischen, russischen, deutschen Alphabet.

Von ihr muss ich das mit den Ordnern gelernt haben. Unter G habe ich meine beiden Geburtsurkunden eingeheftet.

Soweit Ihre Eltern nach Ihrer Geburt einen Ehenamen bestimmten

Soweit Ihre Eltern nach Ihrer Geburt einen Ehenamen bestimmten und Sie noch nicht das fünfte Lebensjahr vollendet hatten, hat sich der Ehename Ihrer Eltern kraft Gesetzes nach §1617c Abs.1 BGB auf Ihren Geburtsnamen erstreckt.

Sie sagen, Sie besitzen den Namen nicht mehr

Sie sagen, Sie besitzen den Namen nicht mehr. Ich verstehe nicht ganz, antworte ich und zeige, hier, die beiden Geburtsurkunden, und weiter erklären sie, die erste ist nicht mehr gültig. Der Name, in dem Sie geboren sind, ist nicht Ihr Geburtsname. Im Namen Ihrer Mutter. Im Mutternamen. Ich sehe den Mutternamen, sage ich, auf der ersten Urkunde, auf der, die meine Geburt bestätigt, und sie wiederholen, nein, Sie sind im Namen des Vaters geboren. Ich frage sie, bin ich wirklich geboren und überhaupt, woher kommt die Fünf, woher kommen die fünf Jahre, noch mit dem fünften Lebensjahr hätte ich also sagen können, ich will so oder so heißen. Fünf wie fünf Gebote auf zwei Steintafeln, die zusammen zehn Gebote ergeben, oder fünf Wundmale am Leib Christi. In einem Gedankenspiel denke ich an den Mutternamen, er ist ein Feld auf einem Spielbrett, bereits mit dem nächsten Würfeln ziehe ich weiter zu den Vätern und Großvätern und Urgroßvätern. Ich gedenke meiner namenlosen Mutter und stelle ihr Fragen über unser erstes Jahr, in ihrem Namen, auf dieser Straße.

Hat uns der Briefträger, als wir neben ihren Eltern wohnten, bei der Zustellung von Briefen und Paketen mit demselben Namen auf zwei Klingelschildern zusammengedacht? Hat er das Paket, wenn die einen nicht da waren, einmal bei den anderen abgegeben und bei der persönlichen Übergabe gefragt, Sie gehören doch zusammen, kann ich Ihnen das Paket geben? Stelle ich meiner Mutter solche Fragen, kann sie mir nicht weiterhelfen, wundert sich. An die von mir gewünschten Details kann sie sich nicht erinnern, auf solche Dinge hat sie nicht geachtet, und überhaupt erinnert sie die Vergangenheit schlecht. Oft erwähnt sie dann andere Namen, wenn die noch leben, die oder der, die wissen es bestimmt besser. Aber ich will, dass sie erzählt. Egal was. An manchen Tagen wirkt sie müde, erschöpft von meinem Ziehen in die Vergangenheit, sie möchte, dass ich mehr von meinen Tagen erzähle. Sie wisse nichts von mir oder nur sehr wenig, sagt sie dann. Und dann gibt es andere Tage, die ich nicht verstehe, über die ich mich aber freue. Da will Mutter von alleine zurück, schenkt mir fantastische Geschichten, schickt Fotos, erzählt die Geschichten hinter den Fotos, nur um am Ende zu sagen, das sind Nebensächlichkeiten, Kleinigkeiten, wen interessiert das. Gelegentlich erklärt meine Mutter, dass viel Zeit zwischen uns liegt. Ja, ich weiß, ich zähle fast durchgehend die Zeit, häufiger als sie sich vorstellen kann. So habe ich ihr das noch nie gesagt.

Vierzig Jahre liegen zwischen uns, und nach dem 9.