Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht - Julia Jost - E-Book

Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht E-Book

Julia Jost

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Beschreibung

»Ein reiches und reichhaltiges Buch. Diese heitere Bösartigkeit führt vielleicht zur Verbesserung der Welt oder ins nächste Wirtshaus.« Elfriede Jelinek

Es ist das Jahr 1994. In einem Kärntner Dorf am Fuß der Karawanken sitzt die Erzählerin unter einem Lkw und beobachtet die Welt und die Menschen knieabwärts. Sie ist elf Jahre alt und spielt Verstecken mit ihrer Freundin Luca aus Bosnien. Zum letzten Mal, denn die Familie zieht um. Der Hof ist zu klein geworden für den Ehrgeiz der Mutter, die ausschließlich eines im Kopf hat – bürgerlich werden! Nach und nach treffen immer mehr Nachbarsleute ein, um beim Umzug zu helfen, und das Kind in seinem Versteck beginnt zu erzählen: von seiner Angst, im Katzlteich ertränkt zu werden, weil es kurze Haare hat. Weil es Bubenjeans trägt. Weil es heimlich in Luca verliebt ist. Dabei ist sie nicht die Einzige, die etwas verbergen muss. Sie kennt Geschichten über die Ankommenden, die in tiefe Abgründe blicken lassen und doch auch Mitgefühl wecken.

Julia Jost schildert in ihrem Debütroman das Aufwachsen in einer archaischen Bergwelt zwischen Stammtisch und Beichtstuhl – und wie man hier als querstehendes Kind überlebt und sich der vorgegebenen Ordnung widersetzt: dank einer zärtlichen Freundschaft und durch ein wildes, überbordendes Erzählen, das die Wirklichkeit besser macht, als sie ist.

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Seitenzahl: 286

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Cover

Titel

Julia Jost

Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht

Roman

Suhrkamp

Impressum

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Die Autorin dankt dem Goethe Institut Kigali für die »Writing Gender residency – organised by Goethe Institut Kigali with Huza Press«, dem Österreichischen Bundesministerium und dem Land Kärnten für Arbeitsstipendien für Literatur, der Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt Berlin für ein Arbeitsstipendium sowie der VG WORT für ein Neustart-Kultur-Stipendium.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024

Der vorliegende Text folgt der Originalausgabe, 2024.

© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2024

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: studio hanli

eISBN 978-3-518-77858-6

www.suhrkamp.de

Widmung

Für Doro und für Lila

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Zitatnachweis

Dank

Informationen zum Buch

Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht

Eins

Unweit von dem Tal drunten, das wir Schakaltal nennen und das somit nicht von Anfang an das Schakaltal gewesen war, sondern ganz anders geheißen hatte, ganz anders, steht der Gasthof Gratschbacher Hof meiner Eltern. Von dort, wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht, sind es vielleicht vierzig Kilometer zum Gratschbacher Hof. Vom gigantisch alpinen Hochstuhl, der anno dazumal wie heute für viele Einheimische das Ende der Welt markiert, gelangt man zum Flussufer der Drau. Der rabiat plätschernden Drau kann man stromaufwärts folgen. Erst kommt das Dörfchen Bruder Elend, in dem ein römisch-katholischer Bettelorden einer burlesken einheimischen Bauerstochter verfiel, und dann die Brücke namens Jungfernsprung, wo sich seit jeher die Unglücklichen in den Freitod stürzen. Es folgt der Wörthersee, meeresgroß zu deiner Rechten, mit der verwitterten und morschen Seebühne aus Dunst, die im barschen Wind bis in alle Ewigkeit knattert und Stück für Stück bricht. Hör genau hin, und dir entgeht nicht der Kontrapunkt des klunzenden Klagens von Alpen und Adria, und wenn dein Gehör besonders gut ist, entdeckst du sogar noch ein paar nachhallende Textfetzen unvergesslicher Konzerte. »Mäh Mäh Mäh Märchenprinz«, stottert es da zum Beispiel aus einem längst vergangenen Jahr herauf. Bleib nicht stehen. Fast ist es geschafft. Geh weiter, ins Innere des Landes hinein. Da sind Maisfelder, Kürbisse und Kohlrabi, je nach Jahreszeit, Wiesenblumen auf unbewirtschafteten Flächen, und man sieht Jagdhunde im Dreisprung über den frisch gepflügten Acker einem Fasan nachsabbern. Dazwischen immer wieder Bäume, zuerst vereinzelt, dann vermehren sie sich und drängen zu einem maßlosen Schatten eng aneinander, es ist nur noch Nadelwald. Hier bist du richtig. Geh ruhig tiefer hinein. Immer dem Dunkel nach. Und der Stille. Wird einem schon ganz bänglich, lichtet sich das Geäst, und ein frei atmendes Grundstück zeigt sich, dessen Schönheit man sein ganzes Leben lang nie wieder vergessen wird, nie wieder. Das ist es. Dieses Grundstück gehörte meinen Eltern, und genau hier steht der Gasthof Gratschbacher Hof.

Und du trittst hinaus aus dem Wald, mit goldenem Schuh, denkst du zuerst, wegen des edlen Lichts, das ihn trifft. Nach links hinüber gehst du. Wo eine entwurzelte Urfichte den Waldrand kreuzt wie ein bemoostes Tier im Winterschlaf. An diesem Baum entlang gehst du, und geh ruhig mit sicherem Schritt. Du läufst weiter, rechts von dir rotglühender Sand am Tennisplatz, die Luft darüber flirrend umsäumt vom dumpfen Klang des Abschlags und von den Geräuschen bremsender Stan-Smith-Schuhe. Zur Heimat einiger Schwalben-Clans, zur Pfettendachgarage, kommst du, die der Alte, der Stubenhofopa Louis Bressler, über ein halbes Jahrzehnt von Hand gezimmert hat. Baum für Baum aus eigener Kraft zu den Brettern dieser Bedachung schlägernd. Bis in die Gegenwart hörst du seine pochende Axt aus dem Forst heraus, im zögernden Off-Beat, und mit jedem Hieb springt irgendwo ein Tier. Du vernimmst das heilige Trommeln eines Spechts und siehst ein Rehkitz auf seinen Stelzenbeinen hechten. Duft umspült dich. Von Hölzern, Wildblumen und Wasser. Von weit weg überhitztes Hundegebell, spitz, geil, hechelnd zum Rasseln einer Kette. Bienen mäandern unter dem Gewicht der Blütenstaublast über die Felder wie Betrunkene. Du spürst die Grashalme gegen deine Beine peitschen, wenn du über die Wiese zum Schwimmbecken zwischen Gasthaus und Wohnhaus läufst. Ein schillerndes Landschaftsgewebe. Insekten in den Hecken.

Die Gratschbacher Gegend ist ein Wald ohne Augen. Ohne Sträucher und Äste, die sich hinter deinem Rücken raschelnd zusammenbiegen, um die Todesangst vorzubereiten, die sie gleich in dir auslösen werden. Einen sprechenden Wolf gibt es auch nicht. Der dir geifernd dabei zusieht, wie du in ein Tellereisen jagst. Hinterlist und Bosheit sind, auf diese Fauna wie Flora bezogen, Kokolores. Mit einem Wort meiner Mutter ausgedrückt. Der Gratschbacher Wald und die Felder, die Wiesen, der Teich sind eine ganz übliche Summe aus Pflanzen, Wasser und Tieren, die darin wohnen. Sonst nichts. Das ist alles, was es mit der Gratschbacher Gegend auf sich hat.

Zwei

Der dritte Zahn links oben fehlte mir, als das Foto in meiner Hand neunzehnhundertneunundachtzig aufgenommen wurde, und der Wirbel an der Schläfe stellt ein kleines Haarbüschel spitz nach oben auf. Topffrisur, Hochwasserjeans, türkiser Nickipullover. Ich rümpfe die Nase, so dass die Augen ganz klein werden, und feixe verkniffen und frech zur Fotografin, die mir, nach meinem Gesichtsausdruck zu urteilen, gefallen hat. Den Klassenältesten, den fast schon neunjährigen Andreas, sieht man in der Mitte der letzten Reihe von dreien stehen. Er trägt einen gelben Pullunder mit großer, weißer Champion-Aufschrift über einem grauen Kurzarmhemd. Ein Bein winkelt er majestätisch auf der Bank vor sich ab, zeigt uns die Spitze seiner nigelnagelneuen Adidas-Jogging-High-Schuhe, die ihm ein halbes Jahr später vom Winzling Frieder aus der Umkleidekabine der Turnhalle gestohlen wurden. Am nächsten Tag stolperte der kleine Frieder in seinen erbeuteten Siebenmeilengaloschen zum Unterricht, was danach passierte, verdeutlicht ein Blutfleck auf der Wange des Kurt-Waldheim-Portraits, das direkt unter dem Jesuskreuz prangt. Der Religionslehrerin fiel der Blutfleck, »Heiligemariamuttergottes, a Wunda!«, zuerst auf, woraufhin sie standesgemäß und ohne Verzögerung den Pfarrer Don Marco alarmierte, der mit einer vatikanischen Delegation ins Klassenzimmer prozessierte und das Waldheim-Mirakel fachgerecht prüfte.

Andreas’ Jeanshose auf dem Foto ist hellblau, wie das Flinserl, das er im rechten Ohr trägt, seine kurzen, aschblonden Haare waren immer zu einem Mittelscheitel gekämmt. Über Andreas erzählte man sich, er habe seinen Zwillingsbruder Kopernikus im Leib ihrer Mutter mit einem einzigen Happen verschluckt. Und dieser Zwillingsbruder lebe fortan in Andreas weiter, weswegen er auch die Stärke von zwei Buben hat. Sein Elternhaus steht drei Kilometer nördlich vom Gratschbacher Hof, in Dirnbach, und Dirnbach setzt sich aus einem verlassenen Bauernhof, drei Buschenschenken und sieben Einfamilienhäusern zusammen, wovon an vier Postkästen Andreas’ Nachname Kuchnig steht und an dreien der Name Wallach. Die Buschenschank-Besitzerin Marlene Wallach ist Andreas’ Tante, aber das tut hier nichts zur Sache.

Auf der Bank vor Andreas sitzt Karla in der ganz schön kurzen, aber maßgeschneiderten Bleiberger Festtracht mit der Halskrausenbluse, die sie absolut immer anhatte, im Wald, in der Schule, zum Kirchgang, beim Skifahren und bei achtundzwanzig Grad auch als Sonnenschutz am See. Unter dem Kleid trägt sie von ihrer Oma selbst gehäkelte weiße Strümpfe, die das Muster der Halskrausenbluse aufnehmen. Wenn man vom Gratschbacher Hof meiner Eltern in Richtung Dirnbach der Traktorspur folgt, kommt man nach zweieinhalb Kilometern zu einer Kapelle. Karlas Vater hatte diese Kapelle der Diözese abkaufen können, vielleicht auch, weil er sich mit dem verantwortlichen Geistlichen sehr innig verstand, und zum Wohnhaus umgebaut, nachdem sich seine Frau, Karlas Mama, eines Tages einfach in Luft aufgelöst hatte und nie wieder auf dieser Erde, weder von Menschen noch von Tieren, gesehen ward. Könnte man in das Foto hineinzoomen, würde man durch die Strumpfmaschen erkennen, dass Karla von ihrem Vater im Alter von drei Jahren, wie sich jedenfalls herumsprach, mit heißem Fett übergossen wurde, nachdem sie sich geweigert hatte, brav zu sein. Seit sie aus dem Krankenhaus gekommen war, wo sie sechsunddreißig Wochen in Lebensgefahr auf der Kinderintensivstation verbracht hatte, ging Karla zum Ballettunterricht, denn ihre verbrannte Haut musste ständig, ja ständig, gedehnt werden. Als dieses Foto entstand, neunzehnhundertneunundachtzig, im zarten Alter von sieben Jahren, hatte sie bereits das Potenzial zur Primaballerina, aber mit diesen ungustiösen Narben am Bein war da leider nichts zu machen.

Vor der Bank am Boden, zu Karlas bestrumpften Füßen, liegt Ludwig, den wegen seiner außergewöhnlichen Länge und nadelöhrgerechten Schlankheit viele als »He du Lindwurm!« verspotteten. Vor dem Fototermin hatte er seine schneeweißen Haare, wie jeden Monat, einen halben Zentimeter kurz abrasiert bekommen. Von seinem Offiziersvater. Von diesem stammte übrigens auch die von Ludwig übernommene Bezeichnung Hamgong für das Klingeln der letzten Schulglocke oder der Begriff Kasernierung für Ganztagsunterricht.

Im Schneidersitz rechts außen sitzt Franzi. Er trägt eine zimtfarbene Flatterhose, ein pastelllila T-Shirt und die blauen Puma-Schuhe mit dem Klettverschluss-Geheimfach. Er grinst breit in die Kamera. Franzi war damals der Neue in der Klasse, er war von Tirol nach Kärnten emigriert, wegen einer wirklich äußerst delikaten und geheimnisvollen Geschichte, die nur dem Allerheiligsten vollständig bekannt war. Soweit ich aber einmal Franzis Mutter und meine Mutter belauschen konnte, war es so: Der Franzi sei in Innsbruck in einer katholischen Volksschule von äußerst gutem Ruf gewesen, von äußerst gutem Ruf, und durch diese Schule kam er zu der Ehre, als Messdiener arbeiten zu dürfen. Doch einmal tauchte der Franzi nach der heiligen Messe nicht und nicht aus der Sakristei auf, und da blieb seiner Mutter nur übrig, sich ohne Erlaubnis auf diese Hinterbühne des Gotteshauses zu schleichen. Und als sie ihren Jungen sah, stieß sie einen solchen Schrei aus, dass die Hostien im heiligen Gral zu Staub zerfielen. Der Franzi stand splitterfasernackt mit gespreizten Beinen da, unter seinem Schritt der Pfarrerskopf mit geöffnetem Mund, in den der Franzi hineinpinkelte. Neben den beiden lagen drei leere Flaschen Römerquelle. Der Geistliche rempelte Franzi zur Seite und fuhr seine Mama an, was sie eigentlich glaube, sich unbefugt in die Sakristei zu schmuggeln, als Frau noch dazu, dies sei ein Haus Gottes und als solches nur mit Befugnis des Gottesgesandten, nämlich seiner, zu betreten. Die Mutter packte unversehens ihren nackten Putto, schaffte ihn ins Auto und rauschte nach Hause in ihre Reihenhaushälfte. Gleich am nächsten Tag zogen sie um. So Franzis Mama zu meiner Mama, sich fortlaufend bekreuzigend, während ich unter der Ruck’schen Kücheneckbank halb mit einem Spielzeugauto beschäftigt lauschte.

In Frau Rucks Küche hing der Druck eines Ölgemäldes von Matthias Holländer, ein abgemaltes Schulfoto aus dem Jahr achtzehnhundertneunundachtzig. Exakt hundert Jahre bevor unser Schulfoto aufgenommen wurde. Nach hinten, zu den letzten Reihen hin, wurde das Bild dunkler, duster. Als gäbe es unendlich viele Reihen dieser Menschenkinder, immer weiter in die Dunkelheit hinein, in Richtung Jenseits gezählt. Ich habe, wenn Frau Ruck auf mich aufpasste, das eine oder andere Mal in die Augen dieser Gleichaltrigen geblickt, auf der Küchenbank stehend, eventuell mit einem Extrawurstbrot in der einen Hand und in der anderen eine Essiggurke, hörbar kauend oder schmatzend schaute ich mir die Gesichter immer wieder an. Im Grunde genommen gab es für alle Kinder, die ich kannte, ein Äquivalent auf diesem Bild, ein Double. Dadurch entwickelte das Bild einen bösen Sog. Quecksilber, das Quecksilber anzieht wie ein Magnet. Kinder, verbannt in eine zeitlose Vergangenheit. Der links unten, der Junge, wollte ich sein. Der Kittel über dem Bauch aufgebogen, der Kragen schief, ein Strumpf wirft Fältchen unterm Knie. Zuerst dachte ich, er linst in die Kamera, aber beim genaueren Hinsehen zeigte sich mir, das tut er nicht. Vor hundert Jahren brauchte man längere Belichtungszeiten als heute. Deswegen konnten die Kinder nicht lächeln. Ihr Gesichtsausdruck passte zu ihrer Vergänglichkeit.

Auf meinem Klassenfoto lachen alle. Achtzehn lachende Münder. Andreas lacht mit nach unten gezogenen Mundwinkeln. Adi lächelt mild wie der Schmerzensmann über dem Waldheim-Portrait, die Lippen geschlossen, den Kopf zur Seite geneigt. Karlas Lachen offenbart beide Zahnreihen inklusive Lücken, als wollte sie klarstellen, dass in ihrer Mundhöhle nichts verborgen liegt.

An jenem Klassenfototag nahmen wir Franzi erstmalig mit zum Waldhaus. Mein neun Jahre älterer Bruder Thomas hatte das Waldhaus gebaut. Zunächst sägte er eine Lichtung in den Lärchen-Jungwald, auf den Zehenspitzen sei er dabei gelaufen und habe jede einzelne Lärchennadel unter den Füßen brechen gehört, so hoch war seine Konzentration, wie er öfter vor mir angab. Die Tiere hätten eine Biege gemacht, so dass es in den Sträuchern nicht wie sonst gewuselt habe, und die Eichkätzchen hätten die Luft angehalten, die Ameisen ihr schweres Gerät niedergelegt und sich zu einer Leiter übereinandergestellt, um ihn bei der Arbeit zu bestaunen. Die Sonne brannte überdies gleißender als normalerweise, er aber blieb unbeirrt, baute die Waldhütte mit einer Toilette, auf der die Notdurft über eine Rinne aus Holz in eine eigens dafür ausgehobene Jauchegrube abgeleitet wurde, Wasser zum Spülen holte man aus dem Brunnen. Über eine Leiter kam man in die erste Etage. Hier lagen Matratzen zum Schlafen, leicht modrig riechendes Bettzeug, und Thomas hatte die Wände mit alten Sexheft-Postern austapeziert.

An dem Tag war auch Volker, die Schmeißfliege, dabei. Er taucht auf unserem Klassenfoto nicht auf, weil er der kleine Bruder von Ludwig, dem Lindwurm, und eine Stufe unter uns war. Die beiden Offizierssöhne Ludwig und Volker wohnten am Maltschacher See. Der Maltschacher See liegt vier Kilometer südwestlich vom Gratschbacher Hof, mit Privatstrand und Pferden und einem Obstgarten so groß wie ganz Unterkärnten. Die Birnbäume tragen Flaschen über der Frucht, was ich lange Zeit für eine Kunstinstallation hielt, in Wahrheit aber das Werk des Williams-Birnenschnaps-Geistes ist. Der Großvater der Hütterer Buben, wie Volker und Ludwig auch genannt werden, ist mit meiner Mutter im Jagdverein und die Stube im Hütterer Wirtschaftshaus so geräumig, dass alle dreißig Jäger aus dem Jagdverein, inklusive meiner Mutter, gut um den Tisch Platz haben und singen können. Hier lernte ich mein gesamtes Volksliedgut. »Wonns Dirndle a Hoslnussstandle war, mächat I gern des Achkatzle sein. Di Nussn de brockat I olle ob, die Blattln di lässat I bleim«, sang ich zum Beispiel, mit der stolz geblähten Brust eines Jägers mit Weidmannsglück, am Heimweg von der Volksschule. Ich musste in der Hüttererstube oft, und ganz besonders nach einer Treibjagd, die eine oder andere Runde Schnaps, meistens Slibowitz, der singenden Jäger und meiner Mutter, der Jägerin, abwarten, bevor wir nach Hause konnten. Währenddessen lag ich auf den Schaffellen, die wiederum um den Kachelofen lagen. Von hier aus zählte ich die Gamsbärte in den Jägerhüten, schaute mir die vergilbten Fotos in den sonderangefertigten Rahmen an, die alle den Opa von Ludwig und Volker zeigten, mit dem Lauf der Flinte über dem Unterarm geöffnet, neben einem immer anderen toten Tier posierend. Oder ich dachte mir Geschichten zu den Abzeichen aus, die in gläsernen Boxen auf dem Regalbrett über dem großen Stubentisch thronten. In der Regalmitte prangte das goldene Mutterkreuz und daneben ein poröser Zettel, dessen altdeutsche Aufschrift ich erst entziffern konnte, als mir das Lesen schon lange flüssig gelang: »Ahnentafel zum Nachweis arischer Abstammung für fünf Generationen« stand da. An einem Nagel darüber hingen ein gleichseitiges silbernes Kreuz und zwei münzgroße goldene Adler. Kriegsverdienstzeichen des Großvaters, wie man mir erklärte. Die Adler schauten finster drein, und fast immer, wenn meine Mutter unter diesen Orden saß, hatte ich Angst, einer der Raubvögel könnte sich automatisieren, auf die Mutter herabstürzen und sie davontragen. Sich im Flug hämisch nach mir umdrehen und mir ihren Jubelpsalm Beatus vir in mein rundes Halbwaisengesicht klatschen wie einen nassen Fetzen. Aber so weit war es glücklicherweise nie gekommen.

Ludwig und Volker hatten sich während dieser Treffen zumindest einmal, »Buaman ontonzn!«, der Gemeinschaft zu zeigen und die eine oder andere Frage zu beantworten, bevor sie spielen oder zu Bett gehen durften. Meistens waren es Fragen wie: »Eia Großvota hot heit an kapitaln Hirsch gschossn, an kapitaln! Ihr weats a amol Jäga werdn, ga?!« Mit einem eiligen »Jawohl« schälten sich die beiden aus dieser Situation, aber nicht bevor ihnen ordentlich fest die Wange gezwickt oder der Hinterkopf getätschelt wurde. Zu mir waren die Jäger anders: »Schau amol, olles Manda! Außa deina Muata. Du weast ka Jaga bittschän!« Lautes Lachen. Die Antwort meines Vaters darauf hätte gut sein können: »Woatats lei, mei Dirndle schiaßt eich jez schon die Erpelschnecken vom Huat oba!« Wieder hätten alle gelacht, und der Vater hätte nicht gewusst, wie recht er mit seinem Witz hatte, schließlich trainierte ich mit den anderen vor dem Waldhaus regelmäßig mit der Steinschleuder und seit kurzem auch mit einem sehr besonderen Messer.

Damals, am Tag des Klassenfotos, führte ich den Franzi mit der größtmöglichen Gastfreundschaft durch unser Waldlager und erklärte ihm alles. Mein Bemühen war, mich derart offen zu zeigen, dass er sich, aus Angst, ich könne aus mir herausfließen und in ihn hineinkriechen, verschließen und verriegeln musste. Wenn Franzi seine staunende Anerkennung nicht für sich behalten konnte, grinste ich verstohlen und gab einen gekünstelt neutralen Laut von mir. Richtig Augen machte er aber erst, als ich ihm die Tapete der Schlafetage zeigte. »A gfolln da de Bülda von meine Freindinnen?«, fragte der Lindwurm, zu uns heraufkraxelnd, als sein siebenjähriger Kopf gerade so durch die Luke ragte. Der Lindwurm schob den aus Verlegenheit eingefrorenen Franzi beiseite und griff nach seinem sehr besonderen Messer mit der Gravur Meine Ehre heißt Treue, das er der großväterlichen Waffenkammer heimlich entnommen hatte, um eines der Poster von der Wand zu schneiden. Er erwischte jenes mit der Frau, die laut Bildunterschrift Christy Canyon hieß. In nichts als spitzen weißen Lederstiefeln lag sie auf einer Harley-Davidson-Maschine, eine Hand umklammerte fest den Lenker, die andere bohrte sich in den Rücken eines hosenlosen Mannes, die rot lackierten Fingernägel ragten zwei Zentimeter über ihre Fingerkuppen hinaus. Ludwig überreichte Franzi das Poster, lachte dazu lautstark über unseren gleichermaßen neuen wie unbedarften Mitschüler und bedeutete uns beiden streng, ihm nach unten zu folgen.

Dort nahm Andreas Franzi das geschenkte Poster ab und fragte: »Gfollt si da?« Franzi zuckte mit den Schultern. »Tirolaknedl, ziag amol die Hosn obe, damit da Ludwig und I schaun kennan, ob des übahaupt gäht mit da Kristi. Wenns passt, stöll ma si dir fur.« Der Franzi wollte sich seiner Hose aber nicht freiwillig entledigen, weswegen die Brüder Ludwig und Volker zu, wie Andreas beteuerte, Franzis Bestem nachhalfen. Volker setzte sich auf Franzis Brust und bohrte die Knie fest in seine Oberarme, woraufhin Ludwig dem so zur Kapitulation Gebrachten mühelos den Hosenbund unter das Gesäß fummeln konnte. Andreas inspizierte nun die vor ihm liegende Körpermitte Franzis aufs Genaueste mit dem Ast, mit dem er vorher einen Ameisenhaufen malträtiert hatte, und gestand fürsorglich, wie ein Arzt, dass er die Einwilligung Frau Canyons in eine Verehelichung unter diesen Umständen für unwahrscheinlich halte. Dann wandte er sich ab, um ein paar nachdenkliche Schritte zu tun. Zeichen für Ludwig und Volker, den Tirolerknödel von seiner Drangsal zu befreien. Der zog sich blitzschnell seine Hose hoch und erhob sich zitternd.

Kurz darauf kehrte Andreas zur Gruppe zurück und legte seinen Arm um ihn. Der Franzi begann zu strahlen, weil ihm diese Geste zeigte, dass sich die Strapazen gelohnt hatten. Seine Entblößung hatte Freundschaft zur Folge. Er wischte seine Tränen in den Pulloverärmel und lachte Andreas erleichtert zu. Und Andreas erklärte seinem Franzi daraufhin, dass er die Eignung als Christys Ehemann auch mit Mut und Geschick unter Beweis stellen könne und aufgrund seiner physischen Untauglichkeit auch müsse. Dafür sollte er seine linke Hand auf dem Tisch spreizen und mit Ludwigs besonderem Messer in höchstmöglicher Geschwindigkeit zwischen seine Finger stechen. Die Wucht, mit der er dabei vorgehe, sei für die Bewertung seines Mutes nicht unerheblich. Franzi tat, wie ihm befohlen wurde. Er zeigte sich sogar so fähig, dass die Aufgabenstellung erschwert werden musste. Nun sollte ich meine Finger spreizen, und Franzi sollte bei mir wie bei seiner eigenen Hand zustechen. In jeder Runde von dreien müsse er sowohl Geschwindigkeit als auch Festigkeit des Stichs verdoppeln. Ich war einverstanden. Aber beim dritten Mal war Franzi unkonzentriert, ich sah schon das Entgleiten des Messers und das Durchtrennen meines Ringfingers voraus, bevor ich ihm mit der instinktiven Wucht einer Weltklasseboxerin die Waffe aus der Hand schlug. Jedes unserer sechs Augenpaare war auf das gestohlene Messer gerichtet, das in gefühlter Zeitlupe, einem Federball in zielsicherer Flugbahn nicht unähnlich, in den Brunnen segelte. Unsere Richtung Brunnen gereckten Hälse zogen wir erst wieder ein, als Ludwigs asthmatisches Röcheln uns aus der Erstarrung befreite. Er malte sich seinen Großvater aus, der über den Verlust seines Messers so wütend würde, dass er sein Enkelkind vor allen Jägerkollegen zum Abschuss freigäbe, und geriet in Panik. Das Messer musste zurückgeholt werden! Ich rekonstruierte den Flug der Waffe und durchsuchte die Brunnenöffnung, ob sie hier vielleicht hängen geblieben wäre oder doch danebengefallen war. Dabei erschien ein Rotkehlchen in meinem Blickfeld, das unentwegt den Warnruf »Ziiiiiib« von sich gab und, von Furcht geritten, in der Luft herumwirbelte. Vielleicht sah das Waldhaus im rötlichen Licht des vertrockneten Lärchennadelbodens wie ihr größter Feind, die Eule, aus, oder vielleicht kamen sogar generationenübergreifende Erinnerungen in ihm hoch. Denn als Jesus vor über zweitausend Jahren am Kreuz hing, zog der Vorfahre dieses Rotkehlchens, der damals noch aussah wie ein gemeiner Sperling, nämlich grau, genauso herzzerreißend ziiiibend dem Gottessohn einen Dorn aus der Stirn, woraufhin ein christlicher Blutstropfen dem Vogel Hals und Brust überhaupt erst rot färbte. Unser Rotkehlchen schaute nun auf Andreas hinunter und beobachtete, wie er ein Seil aus der Hütte holte und Franzi um die Hüfte band. Der begann Kopfsprung-Trockenübungen zu machen, indem er den Kopf fest zwischen die erhobenen Arme klemmte und mit den Fußgelenken den Absprung trainierte. Dann war es so weit. Franzi stellte sich todesmutig an die Brunnenöffnung, streckte die Arme gerade nach oben aus, wie er es geübt hatte, und ließ sich kopfüber in den Brunnen fallen. Wir Übrigen hielten das andere Ende des Seiles fest und ließen den Tirolerknödel Stück für Stück weiter hinunter in den Schacht, der gerade so schmal war, dass ein Kübel Toilettenspülwasser oder eben die schmächtigen Schultern vom Franzi durchpassten. Einen Meter nach dem anderen seilten wir ihn ab ins dunkle Loch, in Richtung Erdmittelpunkt hinunter. Das panische Rotkehlchen segelte ihm hinterher. Ich stellte mir vor, wie Franzi und der Vogel den Wind über das Brunnenloch pfeifen hörten und dass ihnen der Geruch der feuchten, Kälte abstrahlenden Erde und die dumpfen Geräusche im Schacht gefielen. Währenddessen lauschte ich mit der Aufmerksamkeit einer Bombenentschärferin in den Brunnen hinein: Plitsch, plitsch, plitsch. Und dann folgte nach einer Weile das Platsch, zu dem wir schlagartig nach hinten kippten, das nun lose Tau in unseren Volksschulhänden.

Ludwigs Pupillen wurden weit, als hätte er sich soeben eine gehörige Portion Hustensaft verabreicht, und so starrte er auch auf das schlaffe Seilende zwischen seinen ungläubigen Fingern. Karla, die gerade noch zum Ailes de Pigeon angesetzt hatte, stürzte zur Brunnenöffnung und rief zaghaft ein »Hallo?« in den dunkeln Schacht hinab, dessen Echo der Brunnenschlund, »Hall hall lo lo o o?«, zurückschwappen ließ. »Franzi? Kleines Rotkehlchen?«, rief Karla hinunter, und auf einmal schoss der Vogel heraus und Karla direkt ins Gesicht, glitt an ihrem Körper entlang auf den Boden und blieb reglos liegen. Der Vogel war tot. Blut tropfte aus Karlas Nase auf ihre Halskrausenbluse. Dann hörten wir es gurgeln und zuckeln aus dem Brunnen, bevor es still wurde im Wald. Oder weltweit, wer weiß?

Andreas, Karla, Ludwig, Volker und ich standen bewegungslos an der Brunnenöffnung. Ich weiß noch, dass es sich anfühlte, als würde sich die Zeit schuppen, irgendwie so fühlte es sich an. Als stünde ich in einer Kulisse aus hohlen Pappmaschee-Lärchen. Alles war hohl, schuppte sich, und die Akustik passte plötzlich überhaupt nicht mehr zur Optik. Bis mich eine Fliege irritierte, sie krabbelte durch den Riss in der Lärchenwald-Fototapete, rieb ihre Vorderpfoten aneinander und hob zum Flug an. »Bitte sei vom Rotkehlchen-Kadaver angelockt und nicht vom Franzi«, war alles, was ich denken konnte. Die Goldfliege setzte zum Flug an, als wäre sie zu dick, um überhaupt abheben zu können. Sie brummte schwerfällig auf Andreas zu und landete auf seiner schweißigen Wange. Damit kam wieder Bewegung in uns fünf. Andreas fuchtelte vor seinem Gesicht herum, das weckte Karla auf, die geistesgegenwärtig und wie der Teufel in den Gratschbacher Hof rannte, wir anderen blieben am Brunnen, um Franzi nicht allein zu lassen. Karla alarmierte dort die Erwachsenen, eine Kellnerin nahm ihre Bestellung der Polizei auf und verständigte Franzis Mutter.

Fliegenweibchen riechen totes Fleisch über Hunderte von Kilometern. Unsere Fliege damals schaute, nachdem Andreas sie vertrieben hatte, von einem Lärchenast aus auf das Rotkehlchen, auf den Kadaver. Jedes ihrer Einzelaugen, die man auch Ommatidien nennt, stellte ein geringfügig anderes Bild her. Dreitausend Bilder pro Sekunde auf dreitausend Einzelaugen machte sich die Goldfliege von uns und dem toten Rotkehlchen. Dreitausend unterschiedliche Bilder pro Sekunde ergeben hundertachtzigtausend Bilder pro Minute. Dann ließ sie sich auf dem Rotkehlchen-Kadaver nieder und wartete geduldig auf alles Weitere.

Ich hörte Sirenen heulen. Die Freiwillige Feuerwehr St. Martin Lafnit heulte ihre Männer zusammen. Dann kamen die Erwachsenen, zuerst kam Franzis Mama, dann die Rettung mit einem Hubschrauber, die Feuerwehr mit zwei Autos, und bald trafen auch Schaulustige ein. Der Propeller des Hubschraubers bewegte die Wipfel der Lärchenbäume, den Weizen und die Wiese. Wie Haare im Föhnwind bogen sich die Grashalme am Boden.

Schockstarr habe ich Franzis Mama angeschaut, die sich so lange neben dem Brunnenloch auf den Boden geworfen und vielleicht auch geschrien hat, bis der Rettungshubschrauber gelandet war. Der Arzt lief gebückt im Propellerwind zu uns, er hatte im Laufen schon die Spritze mit dem Beruhigungsmittel vorbereitet, das er unverzüglich Franzis Mama injizierte. Danach leuchtete er uns Kindern in die Augen, hämmerte auf uns herum und wickelte uns in Aluminiumdecken, die sehr schön schimmerten und raschelten, bis die freiwillige Feuerwehr samt Ehefrau des Obmanns aus dem Nachbarort kam. Sie fragte uns, wie es in der Schule sei und eine Menge originelles Zeug. Unter den Schaulustigen war auch die Buschenschank-Besitzerin Marlene Wallach, Andreas’ Tante, die an die Feuerwehrmänner Liptauer, Salzstangen und Apfelmost verteilte. Dem adretten Feuerwehrmann mit dem Schmiss im Gesicht, Gernot Pfandl, war sie besonders zugetan, ihn fütterte sie sogar, während er die Geräte aus dem Feuerwehrauto räumte. Dann kamen unsere Eltern. Mein Vater trug mich auf seinen Schultern nach Hause, wo ich einen Apfel und ein Kressebrot bekam, bevor meine Mutter mich schlafen legte. Die Kinderzimmertür blieb offen, und ich schaute durch den Spalt auf das Dirndlkleid, das im Flur hing.

Währenddessen, erzählte mir mein Bruder Thomas, passierte im Wald Folgendes: Die Feuerwehr verbreiterte den Brunnen, um Franzis Körper zu bergen. Eine Aufgabe, die gut eine Stunde in Anspruch nahm und die der im Leichenwagen angereiste Pfarrer Don Marco mit Gebeten und Gesängen begleitete. Dazu schwenkte er üppig den Weihrauch. Als sie Franzi fanden, kopfüber im Wasser, und der akkurate Feuerwehrmann mit dem Schmiss im Gesicht ihn herauszog, war Franzis Kopf schon ein wenig aufgedunsen. Aber das Überraschende war, dass in seinem Bauch das Meine-Ehre-heißt-Treue-Messer steckte. Es war so dank Franzi wieder aus der Versenkung herauf an die Oberfläche geholt worden. Die Mutter kniete sich vor ihren toten Jungen hin und riss mit kraftloser Hand das Messer aus dem Kinderbauch heraus. Daraufhin hörte man sie jaulen. Durch ganz Kärnten tönte es. Ein entsetzliches Jaulen, bis hinunter in jenes Tal, das wir von nun an Schakaltal nannten und das davor ganz anders geheißen hatte, ganz anders.

Aber das ist lange her. Jetzt ist Juni neunzehnhundertvierundneunzig, der Sommer unseres Umzugs fünf Jahre nach Franz Rucks Tod. Ich spiele mit Luca Verstecken. Vorhin, als ich sah, wie mein Bruder Thomas meinen Alf-Handarbeitskoffer nach draußen zu den Umzugskartons trug, wie die Kofferschnalle aufsprang und mein Klassenfoto herausfiel, rannte ich wie der Blitz an meinem Bruder vorbei und schnappte mir das Foto, ehe ich mich wieder unter einem der Lastwagen verschanzt habe. Jetzt liege ich im kühlen Gras, die Rohre und Kabel über mir sehen aus wie Würmer. Der Lkw, dessen Motor eben noch ratterte, strahlt Wärme ab. Seine Scharniere, Gelenke und Bleche knistern. Rundherum gedämpfte Stimmen von Erwachsenen, die nach und nach auf unserem Hof eintrudeln. Ich sehe eine Welt knieabwärts. Es riecht nach Diesel, und um den gerade noch in Betrieb gewesenen Auspuff scheint das Licht zu schwitzen. Ein Erwachsener streift an einem Löwenzahn vorbei, Sporen wirbeln in die Luft. Ich presse meine Füße gegen die Lastwagenunterseite, als wollte ich den Sattelschlepper auf den Sohlen meiner hellblauen Puma-Schuhe balancieren. Ich bin Atlas.

Meine Eltern haben unseren gesamten Grund, das mittlerweile verfallene Waldhaus mit dem zugeschaufelten Brunnen, den Gasthof, Teich, Schwimmbad, Tennisplätze, Discoschuppen, Pavillon, Spielplatz, Wälder, Wiesen, Pfettendachgarage, Obstbäume und Wohnhaus, an einen Deutschen aus Berlin verkauft, der die Nähe des Anwesens zum privaten Sportflugzeug-Landeplatz »dufte« findet, wie er bei der Unterzeichnung des Kaufvertrags zu meiner Mama, der bisherigen Eigentümerin, gesagt haben soll. »Dufte« und »knorke« soll er gesagt haben.

Luca lehnt an einer Mauer unseres Wohnhauses und zählt von hundert herunter. Sie ist ein Jahr älter als ich und wohnt in der zweiten Etage unseres nunmehr ehemaligen Gasthauses. Ihre Familie wird auch umziehen müssen, jetzt. Luca mag skurrile Witze, wie jenen über strickende Wurstsemmeln oder den Witz mit dem schnorchelnden Hasen. Wenn Luca betet, freitags, hockt sie auf ihren Schienbeinen, und ihr Lieblingsessen ist wie meines neben Kletznudeln Ćevapčići. Sie mag Whitney Houston, aber das steht unserer Beziehung nicht im Wege. Ich höre sie leise durch das Menschengemenge: »einundneunzig, neunzig, neunundachtzig …«, in die Mauer unseres nunmehr ehemaligen Wohnhauses zählen. »Kukurikanje!«, ruft sie zu meiner Erheiterung zwischen zwei Zahlen. Wir hatten am Vortag nämlich festgestellt, dass bosnische Hähne und österreichische Hähne in unterschiedlichen Sprachen kuckern. Beziehungsweise sind wir vielmehr dazu übergegangen, anzunehmen, dass es in bosnischen und österreichischen Menschenköpfen unterschiedlich kuckert, wenn ein Hahn kräht. Die Vorstellung vom Hahn in Lucas Kopf, der einen Kuckuck imitiert, einen ganz kleinen, aus Flandern stammenden »Kukurikanje«, mochte ich.

Ich lege mein Klassenfoto ins Gras neben mir und schaue auf die Beine der Nachbarsleute und Umzugshelfenden aus den angrenzenden Dörfern, die im Garten ankommen. Ich sehe, wie die Erwachsenenfüße Gras platttreten. Weidelgräser, auch Ausdauernder Lolch genannt, Rispen, Honiggras. Ich sehe Kisten über Kisten, Kartons über Kartons, Möbel und Säcke und meine Mutter, die von einem Berg aus Dingen zum nächsten hastet. Sie schreibt letzte Markierungen auf die Kartons und Säcke: »Halt! Diese Kiste muss ich erst noch beschriften!«, bevor sie im dunklen Schlund eines Anhängers verschwinden.

Drei

Ich höre die Stubenhofoma Lone Bressler mit viel Schimpf im Gepäck in den Garten laufen: »Ihr bringts den toten Louis a zweites Mol um! Mörder seids! Mörder, Carl!«, und strecke meinen Kopf reflexhaft unter dem Auto hervor, anstatt Reißaus zu nehmen oder mich tiefer unter dem Lkw zu verschanzen.

Jetzt hat sie mich gesehen! Ich kann nichts machen. Sie kommt auf mich zu, und ihr Tonfall ändert sich: »Jo Servus, wos mochst du denn unter dem Lkw, du weast jo gonz dreckig, Mädale!«

»Hallo Oma!«, ruft mein vier Jahre älterer Bruder Johan, den wir auch Hani nennen und der in meinem Ministerium für Erwachsenenangelegenheiten die Position des Prellbocks innehat. Er grinst verdächtig. »Oma, scheen dass du do bist! Wir brauchn jede Hülfe! Du kummst jo zum Kistn trogn, oda?« Hani lacht. Die Oma tschopfazt sein Haar etwas fester als gewöhnlich und lacht mit.

Die Stubenhofoma heißt so nach dem Sankt Fratener Gasthaus, das mittlerweile meine Tante Brunhild betreibt. Im Stubenhof, der ursprünglich meinen Großeltern mütterlicherseits, Lone und Louis Bressler, gehörte, riecht es nach Sauerkraut und abgestandenem Hauswein, oder die Oma riecht so. Schon im kalten Steingewölbe des Flurs riecht es nach Sauerkraut und abgestandenem Hauswein und manchmal auch nach Tschik, wenn der alte, ledige Hausmeister, den alle »Inschpektor« nennen, dort an etwas werkelt. Der Inspektor, dessen richtigen Namen ich nie erfuhr und der sein »R« immer auf der Zungenspitze rollt, flucht, so viel er repariert, und wird nicht nur von mir als die stets zur Explosion bereite Hausseele des Stubenhofs wahrgenommen. Seine Arbeit sei wertvoll wie ein Ölfass, sagt sogar unser Vater. Während man die Stubenhof-Stube durch das dunkle, weil völlig fensterlose, kalte und basilikaartige Steingewölbe betritt, öffnete sich unser Gratschbacher Hof seinen Gästen mit einer sonnigen Rezeption, an der immer eine fast schon an Irrsinn oder Idiotie grenzende Freundlichkeit von den dort ausharrenden Praktikanten und Praktikantinnen ausging. Während im Stubenhof oft niemand hinter der Theke steht, weil alle Arbeitsberechtigten selbst am Stammtisch sitzen, befand sich im Gratschbacher Hof immer jemand hinter dem Tresen und putzte zum Beispiel jeden Tresenmillimeter, wenn die Wünsche der Gäste sie unzureichend beschäftigten. Der Gratschbacher Hof war in allen Belangen gut, während der großelterliche Stubenhof in fast allen Belangen nicht gut ist. Nur mit einem Stammgast kann der Stubenhof auftrumpfen, nämlich mit Herrn Kaldera, von dem ich meine erste Angel, eine blaue, geschenkt bekam. Herr Kaldera brachte mir außerdem unzählige Kartentricks und weitere Magie bei, die mir oft zu Beachtung und einer kleinen Aufbesserung meines Taschengelds verhalfen, aber das ist eine andere Geschichte.

Jetzt händigt die Stubenhofoma Johan zwei Packungen Schokobananen vom Hofer aus. Eine ist für Thomas und eine für mich. Hani geht bei der Stubenhofoma immer leer aus. Weil das mittlere Kind in der Omawelt nur ein Reservekind ist. Falls das älteste stirbt. Thomas ist aber in Bestform.

Jetzt kommt auch die Mutter im Laufschritt auf uns zu. Kaum ist sie neben meinem Lkw, zwischen Zwetschgenbaum und Marillenbaum, angelangt, beginnt die Großmutter sie zum wiederholten Mal über den Umgang mit Besitz zu belehren. »Besitz vamindert man nit! Der Opa hot sich die Händ wund gschäpft für enk! Und ihr schmeißts olles weck! Olle Oarbeit umsunst!«, sempert die Oma, der Mutter die Liste ihrer Schandpunkte in Bezug auf den Verkauf des Gratschbacher Hofs aufzählend.

Der Stubenhofopa Louis war zunächst, nach einem einschneidenden Erlebnis, »A Förstererscheinung hot a ghobt!«, in die Höhere Forstlehranstalt für die österreichischen Alpenländer in Bruck an der Mur eingetreten. Nach der Wirtschaftsführerprüfung wurden den besten Schülern vakante Stellen in den umliegenden Dörfern, und dem Großvater »sogoar in Deitschlond draußen