Wo drei Flüsse sich kreuzen - Hannah Kent - E-Book + Hörbuch

Wo drei Flüsse sich kreuzen Hörbuch

Hannah Kent

0,0

Beschreibung

"Wo drei Flüsse sich kreuzen" von Bestseller-Autorin Hannah Kent ist ein mitreißendes Drama um die Macht von Angst und Aberglaube - basierend auf einer wahren Geschichte aus dem 19. Jahrhundert. Irland 1825: Die 14-jährige Mary soll der verwitweten Bäuerin Nora mit deren schwer behindertem Enkel Michael zur Hand gehen. Der kleine Junge, so munkelt man im Dorf, sei ein Wechselbalg, ein Feenkind, und mache die Kühe krank. Mary gibt nichts auf das Gerede, doch als Nora davon hört, reift in der einsamen, verzweifelten Frau eine ungeheuerliche Idee: Wenn es ihr gelingt, den Wechselbalg zu vertreiben, würde sie den gesunden Michael wiederbekommen und endlich wieder eine echte Familie haben. Getrieben von Angst und Aberglaube und unterstützt durch die geheimnisvolle Kräuterfrau Nance ist sie bald bereit, alles zu versuchen – und Mary fällt es immer schwerer, sich gegen die beiden Frauen durchzusetzen. Hannah Kent gelingt es durch ihre kristallklare Sprache erneut, eine grausame und wahre Geschichte eindringlich zu erzählen; die raue Schönheit Irlands verschmilzt mit dem Seelenleben ihrer Figuren, die dem Leser, wie schon in ihrem Debüt-Roman "Das Seelenhaus", ganz nahe kommen.

Das Hörbuch können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS

Zeit:7 Std. 17 min

Sprecher:Vera Teltz

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Hannah Kent

Wo drei Flüsse sich kreuzen

Roman

Aus dem australischen Englisch von Leonie von Reppert-Bismarck und Anja Kirchdörfer Lee

Knaur e-books

Über dieses Buch

Irland 1825: Die 14-jährige Mary soll der verwitweten Bäuerin Nóra mit deren schwer behindertem Enkel Micheál zur Hand gehen. Der kleine Junge, so munkelt man im Dorf, sei ein Wechselbalg, ein Feenkind, und mache die Kühe krank. Mary gibt nichts auf das Gerede, doch als Nóra davon hört, reift in der einsamen, verzweifelten Frau eine wahnsinnige Idee: Wenn es ihr gelingt, den Wechselbalg auszutreiben, wird sie wieder eine echte Familie haben. Getrieben von Angst und Aberglaube ist sie bald bereit, bis zum Äußersten zu gehen – und Mary fällt es immer schwerer, sich gegen die ältere Frau durchzusetzen …

Hannah Kent verschmilzt die rauhe Schönheit Irlands mit dem Seelenleben ihrer Figuren und entwickelt einen Sog, der uns noch lange gefangen nimmt, nachdem die letzte Seite gelesen ist.

Inhaltsübersicht

WidmungKarteGedichtMottoTeil I1 Huflattich2 Stechginster3 Kreuzkraut4 Esche5 ErleTeil II6 Nesseln7 Flussampfer8 Schafgarbe9 Kleine Brunelle10 Bärenklau11 Fingerhut12 Ehrenpreis13 Gewöhnlicher Teufelsabbiss14 Hirschzunge15 Eiche16 WasserschwertlilieTeil III17 Dornen18 Weißdorn19 Minze20 Holunder21 HeidekrautAnmerkung der VerfasserinDanksagung
[home]

Für meine Schwester Briony

[home]

Karte

[home]

Es war einmal eine Frau, die lebte im Wald

A weile weile waile

Es war einmal eine Frau, die lebte im Wald

Unten am Flusse Saile

Sie hatte ein Kind, drei Monate alt

A weile weile waile

Sie hatte ein Kind, drei Monate alt

Unten am Flusse Saile

Sie hatte ein Messer, lang und scharf

A weile weile waile

Sie hatte ein Messer, lang und scharf

Unten am Flusse Saile

Sie stieß das Messer in des Kindes Herz

A weile weile waile

Sie stieß das Messer in des Kindes Herz

Unten am Flusse Saile

 

Dreimal klopfte es an ihrer Tür

A weile weile waile

Dreimal klopfte es an ihrer Tür

Unten am Flusse Saile

»Bist du die Frau, die ihr Kind erstach?«

A weile weile waile

»Bist du die Frau, die ihr Kind erstach,

Unten am Flusse Saile?«

Der Strick ward geholt und sie erhängt

A weile weile waile

Der Strick ward geholt und sie erhängt

Unten am Flusse Saile

Das war das Ende der Frau aus dem Wald

A weile weile waile

Das war das Ende der Frau aus dem Wald

Unten am Flusse Saile

 

 

Traditionelle irische Ballade, circa 1600

[home]

Wenn alles gesagt und getan ist, wie können wir dann noch davon ausgehen, dass unsere eigene Torheit weniger wert sei als die Wahrheit eines anderen? Denn sie wurde auf unserem Herd und in unserer Seele gewärmt und ist bereit, den wilden Bienen der Wahrheit als Nest zu dienen, auf dass sie ihren süßen Honig erzeugen. Kommt zurück in die Welt, wilde Bienen, wilde Bienen!

 

 

W. B. Yeats, Irlands Königreich der Schatten

[home]

Teil I

Der Arzt der Armen ist der Tod.

Liagh gach boicht bas

 

 

1825

1

Huflattich

Als sie ihr die Leiche brachten, war Nóras erster Gedanke, dass dies unmöglich ihr Mann sein konnte.

Sie starrte die Männer ungläubig an, die Martins Last in der beißenden Kälte auf ihren schwitzenden Arbeiterschultern trugen, und dachte, dass diese Leiche eine grausame Unterschiebung sein musste: eine Missgeburt, ein Wechselbalg, dessen Ähnlichkeit mit Martin etwas Brutales an sich hatte. Martins Mund und Augen standen offen, sein Kopf war auf die Brust gesunken, aber da war kein Funken in ihm. Der Schmied und der Knecht hatten ihr lebloses Gut gebracht. Das konnte nicht ihr Mann sein. Das war er nicht.

Martin war am Schaufeln gewesen, sagte Peter O’Connor. Neben den Feldern, die sich ins Tal hinunterzogen, hatte er einen Graben ausgehoben. Er, Peter, hatte gesehen, wie Martin plötzlich innegehalten und sich mit der Hand an die Brust gefasst hatte, wie ein Mann, der einen Schwur leistet, und dann war er zu Boden gestürzt, auf die weiche Erde. Gestürzt war er, ohne einen Schmerzenslaut von sich zu geben. Gegangen war er, ohne sich zu verabschieden, ohne Angst.

Peters rissige Lippen zitterten, seine tiefliegenden Augen waren rot umrandet. »Mein aufrichtiges Beileid«, flüsterte er.

Da gaben Nóras Beine unter ihr nach, und während der Lehm und das Stroh im Hof auf sie zurasten, spürte sie, wie ihr Herz sich in grausamem Verstehen verkrampfte.

John O’Donoghue, dessen breite Unterarme von seiner Arbeit als Schmied mit Narben übersät waren, hievte Martin auf seine Schulter, damit Peter Nóra aus dem Schlamm aufhelfen konnte. Beide Männer blickten sie aus schmerzverdunkelten Augen an, und als Nóra ihren Mund zum Schrei öffnete und merkte, dass er ihr im Hals steckengeblieben war, senkten die Männer die Köpfe, als hätten sie ihn dennoch vernommen.

Peter löste Nóras verkrallte Finger vom Hühnerfuttersack und scheuchte die gackernden Tiere von der Türschwelle fort. Er legte Nóras Arm um seine Schultern und geleitete sie zurück in die Kate, zur Feuerstelle, wo ihr Enkel Micheál auf einer zusammengeschobenen Schlafbank schlief. Als sie den Raum betraten, regte sich der kleine Junge mit den schmalen, vom Torffeuer geröteten Wangen, und Nóra sah, wie Peters Blick ihn neugierig streifte.

John folgte ihnen ins Innere der kleinen Bauernkate, das Gesicht verzerrt unter der Last von Martins Körper. Schlammkrumen begleiteten seine Schritte auf dem gestampften Lehmboden. Er ächzte vor Anstrengung, als er Martin auf das Bett in dem kleinen Schlafraum legte, der vom Wohnraum abging. Von der Strohmatratze wirbelte eine Staubwolke auf. Der Schmied bekreuzigte sich bedächtig und gewissenhaft, und als er sich unter den steinernen Türrahmen zum Gehen duckte, brummte er, man habe den neuen Priester rufen lassen, und seine Frau, Áine, sei auch gleich da.

Nóra spürte, wie sich ihr die Kehle zuschnürte. Sie erhob sich und wollte zu Martins Leiche in den Schlafraum gehen, aber Peter hielt sie am Handgelenk zurück.

»Warte, bis er gewaschen ist«, sagte er sanft.

John warf dem Jungen einen beunruhigten Blick zu, bevor er die Kate ohne ein weiteres Wort verließ und nur den unteren Flügel der Klöntür hinter sich zuzog.

Das Dunkel dehnte sich aus.

»Und du hast ihn fallen sehen, ja? Mit eigenen Augen, ja?« Nóras Stimme klang fremd, zittrig und matt. Sie hielt Peters Hand so fest, dass ihre Finger schmerzten.

»Aye, das hab ich«, murmelte er und sah dabei zu Micheál. »Ich habe ihn auf dem Feld gesehen und meine Hand zum Gruß erhoben, und dann ist er zu Boden gestürzt.«

»Diese Gräben, das musste sein. Er hat mir noch gestern gesagt, dass diese Gräben ausgehoben werden müssen, damit der Regen …« Nóra spürte, wie der Tod ihres Mannes sich schleichend in ihr ausbreitete, bis er sie zu schütteln begann. Peter legte ihr etwas Schweres über die Schultern, und sie erkannte am vertrauten Geruch nach verbranntem Huflattich, dass es Martins Mantel war. Sie mussten ihn mit seiner Leiche zurückgebracht haben.

»Jemand anderes muss jetzt diese Gräben zu Ende graben«, stieß sie keuchend hervor und rieb ihr Gesicht an dem rauhen Material des Mantels.

»Darum musst du dich jetzt nicht kümmern, Nóra.«

»Und dann ist da das Reetdach. Wir müssen das Dach neu decken …«

»Wir kümmern uns schon darum, mach dir da mal jetzt keine Sorgen.«

»Und Micheál. Der Junge …« Sorge durchzuckte sie, als sie auf den Jungen hinabschaute, dessen Haar kupfern im Feuerlicht glänzte. Sie war dankbar, dass er schlief. Seine Andersartigkeit war dann weniger offensichtlich. Seine verkrampften Gliedmaßen entspannten sich, und er konnte nichts Dummes von sich geben. Martin hatte immer gesagt, Micheál sehe ihrer Tochter am ähnlichsten, wenn er schlief. »Fast könnte man ihn für gesund halten«, hatte er einmal gesagt. »Man kann sehen, wie er sein wird, wenn die Krankheit überstanden ist. Wenn wir ihn davon befreit haben.«

»Soll ich jemanden herholen, Nóra?«, fragte Peter. Sein zerfurchtes Junggesellengesicht war voller Besorgnis.

»Micheál. Ich will ihn nicht hier haben.« Ihre Stimme klang heiser. »Bring Micheál zu Peg O’Shea.«

Peter wand sich sichtlich. »Aber … möchtest du ihn nicht lieber um dich haben?«

»Schaff ihn hier weg.«

»Ich möchte dich nicht allein lassen, Nóra. Nicht solange Áine noch nicht da ist.«

»Und ich werde nicht zulassen, dass Micheál angegafft wird.« Nóra bückte sich, packte das schlafende Kind unter den Achseln und zog es hoch, um es Peter hinzuhalten. Der Junge runzelte die Stirn, blinzelte, die Augen schlafverkrustet.

»Nimm ihn. Bring ihn zu Peg. Jetzt. Sofort. Solange noch niemand hier ist.«

Micheál begann, sich in Nóras Griff zu winden und zu kreischen. Seine Beinchen, voller Ausschlag und schuppig über den Knochen, zuckten.

Peter verzog das Gesicht. »Der Junge deiner Tochter, nicht wahr? Gott hab sie selig.«

»Bring ihn fort, Peter. Bitte.«

Er sah sie lange und traurig an. »Die Leute werden sich unter diesen Umständen nicht an ihm stören, Nóra. Ihre Gedanken werden dir gelten.«

»Sie werden ihn anstarren und sich das Maul über ihn zerreißen, und das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.«

Micheáls Kopf fiel nach hinten, und der Junge begann zu greinen, die Hände zu Fäusten geballt.

»Was fehlt ihm?«

»Um Himmels willen, Peter, nimm ihn einfach.« Ihre Stimme brach. »Schaff ihn fort!«

Peter nickte und hob Micheál auf seinen Schoß. Der Junge war in ein Wollkleid gehüllt, das ihm zu lang war, und Peter wickelte den abgewetzten Stoff unbeholfen um die Beine des Kindes, darauf bedacht, dass auch die Zehen eingeschlagen waren. »Draußen ist es kalt«, erklärte er. »Hast du keinen Schal für ihn?«

Mit zitternden Fingern nahm Nóra den eigenen ab und reichte ihn Peter.

Dieser erhob sich und drückte den jaulenden Jungen an seine Brust. »Es tut mir aufrichtig leid, Nóra, wirklich.«

Die Haustür schwang noch kräftig hin und her, als Peter schon verschwunden war.

Nóra wartete, bis das Geräusch von Micheáls Weinen verhallt war und sie wusste, dass Peter die Straße erreicht hatte. Dann erhob sie sich von ihrem Schemel und ging, Martins Mantel fest um sich gezogen, in den Schlafraum.

»Oh, süßer, leidtragender Herr Jesus.«

Ihr Mann lag auf ihrem Ehebett, die Arme eng an seinen Körper gelegt. Gras und Schlamm klebten an seinen schwieligen Händen. Seine Augen standen ein wenig offen, so dass das Weiße im Licht der geöffneten Tür leicht schimmerte.

Beim Anblick von Martins Reglosigkeit in dem stillen Raum begann der Schmerz, sie in Wellen zu überrollen. Sie ließ sich auf dem Bett nieder, legte ihre Stirn an seine Wange und fühlte die Kälte seiner stoppeligen Haut. Sie zog den Mantel über sie beide, schloss die Augen, und ihren Lungen entwich jede Luft. Schmerz, schwer wie Wasser, senkte sich auf sie herab, bis sie das Gefühl hatte zu ertrinken. Ihre Schultern bebten, und sie weinte an Martins Hals, tränkte mit ihren Tränen seine Kleidung, die nach Erde roch und nach Kuhmist und nach dem weichen, süßen Duft des Tals, torfrauchgeschwängert wie immer in den herbstlichen Abendstunden. Sie weinte wie ein verzweifelter Hund, mit dem angespannten, hohen Jaulen der Verlassenheit.

Noch vor wenigen Stunden hatten sie zusammen in diesem Bett gelegen, beide wach in der Dunkelheit der Morgendämmerung, die Wärme von Martins Hand auf ihrem Bauch.

»Ich glaube, es wird heute regnen«, hatte er gesagt, und Nóra hatte sich von ihm an das harte Rund seiner Rippen ziehen lassen, hatte ihre Atmung der seinen angepasst.

»Es hat heute gestürmt.«

»Und du bist davon aufgewacht?«

»Der Junge hat mich geweckt. Er hat vor Angst geweint.«

Martin hatte angespannt gelauscht. »Jetzt ist von ihm nichts zu hören.«

»Arbeitest du heute im Kartoffelfeld?«

»Nein. An den Entwässerungsgräben.«

»Und wirst du auf dem Heimweg beim neuen Priester vorbeischauen und mit ihm über Micheál reden?«

»Das werde ich.«

Nóra streckte sich neben ihrem toten Mann aus und dachte an all die Nächte, die sie einträchtig miteinander verbracht hatten, an die Wärme seines Fußes, der den ihren berührte, eine jener selbstverständlich gewordenen Gepflogenheiten ihrer Ehe, und sie begann zu schluchzen, bis sie das Gefühl hatte, sie müsse sich erbrechen.

Allein der Gedanke, dass ihr Weinen womöglich all die Teufel wecken könnte, die sich seiner Seele bemächtigen wollten, ließ sie innehalten. Sie stopfte sich den Ärmel von Martins Mantel in den Mund und bebte lautlos.

Wie kannst du es wagen, mich zurückzulassen, dachte sie.

 

»Nóra?«

Sie war eingeschlafen. Durch ihre verquollenen Augen sah sie die schmale Silhouette der Frau des Schmieds in der Tür stehen.

»Áine«, krächzte Nóra.

Die Frau trat herein und bekreuzigte sich, als ihr Blick auf die Leiche fiel. »Möge der Herr seiner Seele gnädig sein. Mein aufrichtiges Beileid. Dein Martin, er …« Sie verstummte und kniete sich neben Nóra. »Er war ein großartiger Mann. Ein außergewöhnlicher Mann.«

Nóra richtete sich auf und wischte sich verlegen mit der Schürze über die Augen.

»Dich hat Leid befallen, Nóra. Das sehe ich. Wir sollten eine anständige Totenwache für ihn halten. Wäre es dir recht, wenn ich ihn wasche und aufbahre? Father Healy ist auf dem Weg. Sie haben nach ihm geschickt.«

Áine legte Nóra die Hand aufs Knie und übte sanften Druck aus. In der Düsterheit hatte ihr Gesicht, das von ihren hohen Wangenknochen zu hängen schien, etwas Gespenstisches, wie Nóra voll Entsetzen sah.

»Es wird alles gut. Hier, dein Rosenkranz. Er ist jetzt bei Gott, Nóra. Vergiss das nicht.« Áine blickte sich im Raum um. »Bist du allein? War hier nicht noch ein Kind …«

Nóra griff nach dem Rosenkranz. »Hier ist niemand.«

 

Áine wusch Martin so zärtlich, als sei er ihr eigener Mann gewesen. Zunächst schaute Nóra nur zu, den Rosenkranz so fest in den Händen, dass die Holzperlen scharfe Abdrücke in ihrer Haut hinterließen. Sie konnte nicht glauben, dass es ihr Mann war, der da nackt vor ihnen lag, mit schauderhaft weißem Bauch. Es war nicht recht, dass eine andere Frau die blassen Geheimnisse seines Körpers entdeckte. Als sie sich erhob und die Hand nach dem Tuch ausstreckte, reichte Áine es ihr, ohne ein Wort zu sagen. Darauf wusch Nóra ihn, und jedes Streichen ihrer Hand war ein Abschied von der soliden Dünung seines Brustkorbs, dem Lauf seiner Glieder.

Wie gut ich dich kenne, dachte sie, und dann spürte sie, wie sich ihre Kehle zuschnürte. Sie schluckte fest und zwang ihre Augen zu dem ordentlichen Venennetz auf seinen Oberschenkeln, dem vertrauten Haarwirbel. Dass Martins Körper so klein wirkte, war ihr unbegreiflich. Im Leben war er ein Bär von einem Mann gewesen, hatte sie in ihrer Hochzeitsnacht über die Schwelle getragen, als wiege sie kaum mehr als das Sonnenlicht.

Das dunkle Fell auf seinem Brustkorb lag feucht an seiner Haut.

»Ich glaube, er ist jetzt wirklich sauber, Nóra«, sagte Áine.

»Noch ein bisschen.« Sie ließ ihre Hand sein Brustbein entlanggleiten, als warte sie auf das Heben und Senken seines Atems.

Sanft löste Áine ihre Finger von dem grauen Lappen.

 

Der Nachmittag verdunkelte sich, und ein scharfer Wind kam auf. Nóra saß neben Martins Leiche und überließ es Áine, das Feuer in Gang zu halten und die Talglichter anzuzünden. Beide zuckten zusammen, als es plötzlich an der Tür klopfte, und Nóras Herz machte einen keuchenden Satz, als ihr der Gedanke durch den Kopf schoss, Martin sei zurück, sei zur Abendstunde zu ihr zurückgekehrt.

»Gottes Segen über dieses Haus.«

Ein junger Mann in flatternder Soutane trat ein. Der neue Priester, erkannte Nóra. Er hatte dunkles Haar, rote Wangen und lange, schwere Glieder, was nicht ganz zu seinem weichen Kindergesicht mit dem Schmollmund und der deutlichen Lücke zwischen den Schneidezähnen passen wollte. Father Healys Gesicht glänzte regennass, und als Peter und John hinter ihm hereinkamen, sah sie, dass auch sie durchnässt waren. Sie selbst hatte den Wetterumschwung überhaupt nicht bemerkt.

»Einen guten Abend, Father.« Áine nahm den feuchten Mantel entgegen, den er ihr hinhielt, und hängte ihn zum Trocknen sorgfältig über den Sparren an der Feuerstelle.

Der Priester schaute sich in der einfachen Bauernkate um, ehe er Nóra im Schlafraum sitzen sah. Er ging zu ihr, wobei er sich unter dem niedrigen Türrahmen ducken musste. Sein Blick war ernst. »Gott sei mit Ihnen, Mrs. Leahy. Mein aufrichtiges Beileid.« Er nahm ihre Hand sanft in die seine und drückte ihre Handfläche. »Es muss ein schrecklicher Schock für Sie sein.«

Nóra nickte, ihr Mund war wie ausgetrocknet.

»Es trifft jeden von uns, und doch ist es immer erschütternd, wenn ein geliebter Mensch zu Gott gerufen wird.« Er ließ ihre Hand los und wandte sich zu Martin, legte ihm zwei schmale Finger an die Kehle. Der Priester nickte leicht. »Er ist von uns gegangen. Ich kann ihm die Sterbesakramente nicht geben.«

»Sein Tod kam ohne Vorwarnung, Father.« Es war Peter, der sprach. »Könnten Sie ihm nicht trotzdem die Letzte Ölung geben? Vielleicht ist seine Seele ja noch in seinem Körper.«

Father Healy wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn und verzog entschuldigend das Gesicht. »Die Sakramente sind für die Lebenden gedacht, den Toten sind sie nicht von Nutzen.«

Nóra packte ihren Rosenkranz so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. »Beten Sie einfach für ihn, Father. Bitte.«

Der Blick des Priesters glitt von den beiden Männern im Türrahmen zu Nóra.

Sie hob ihr Kinn. »Er war ein guter Mann, Father. Sprechen Sie die Gebete für ihn.«

Father Healy seufzte, nickte und griff in seine Tasche, um eine kleine, halb abgebrannte Kerze und ein Glasfläschchen mit Öl hervorzuholen. Er entzündete die Kerze am Feuer im Wohnraum und legte den Wachsstummel ungeschickt in Martins Hand, vertiefte sich sodann ins Gebet und salbte Martins Stirn mit dem festen Druck geübter Finger.

Nóra sank neben dem Bett zu Boden und ließ die Perlen in stumpfer Gewohnheit durch ihre Finger gleiten. Aber die Gebete lagen leer und kalt in ihrem Mund, und sie hörte alsbald auf, sie zu flüstern. Stumm blieb sie neben dem Bett sitzen.

Ich bin nicht bereit, allein zu sein, dachte sie.

Schließlich räusperte sich Father Healy, erhob sich, bürstete sich den Schmutz von den Knien und griff nach seinem Mantel und zugleich auch nach der Münze, die John ihm entgegenhielt.

»Möge Gott Ihnen Trost spenden«, sagte er zu Nóra, als er seinen nassen Hut ausschüttelte und aufsetzte. Wieder nahm er ihre Hand, und sie zuckte innerlich beim Druck seiner knochigen Finger zurück.

»Möge Gott Sie schützen. Suchen Sie die Liebe des Herrn und seine Vergebung, und halten Sie an Ihrem Glauben fest, Mrs. Leahy. Ich werde für Sie beten.«

»Danke, Father.«

Sie sahen zu, wie der Priester im Hof gegen den Regen anblinzelte und auf seinen Esel stieg. Er hob die Hand zum Abschied, bevor er mit einer Weidengerte auf die Flanke des Tiers einschlug, bis das Wetter sich um ihn herum senkte und das Tal seine schwarze, flüchtende Gestalt verschluckte.

 

Bis zum Einbruch der Dunkelheit hatten sich zahllose Nachbarn in der Kate der Leahys zusammengefunden, und alle wussten, dass Martin an der Kreuzung vor der Schmiede umgekommen, dass er zum Schlag von Hammer auf Amboss zu Boden gegangen war, wie gefällt vom Klang des Eisens. Sie alle hatten sich um die Feuerstelle versammelt und suchten Trost in ihren Pfeifen, während sie Nóra mit gedämpften Stimmen ihr Beileid aussprachen. Draußen blies der Regen gegen das Reet.

Angesichts der plötzlichen Menschenmenge musste sich Nóra mit Áine auf die Vorbereitungen für die Totenwache konzentrieren. Solange sie poitín, Tonpfeifen, Tabak und Stühle suchten, blieb keine Zeit zum Weinen. Nóra wusste, dass es die Menschen beim Anblick des Todes nach Rauchen, Trinken und Essen verlangte, als gäbe ihnen die Beschäftigung mit ihren Lungen und Mägen die Gewissheit, dass sie guter Gesundheit waren, dass sie weiterlebten.

Wann immer sie die Last ihres Schmerzes zu Boden zu werfen drohte, zog sich Nóra an die Wände ihrer Kate zurück und presste ihre Handflächen gegen den kühlen Kalkverputz, um sich Halt zu verschaffen. Sie atmete tief durch und starrte in die Runde. Die meisten Leute stammten aus dem Tal und waren einander durch Blut und Arbeit verbunden, geeint in dem Wissen um die Sitten und Gebräuche, die jene, die vor ihnen gekommen waren, fest in den Boden der Gegend gestampft hatten. Es waren ruhige, verschlossene Menschen, die hier im Schatten des Crohane lebten, im fruchtbaren Dreieck, das sich zwischen den Hügeln und den sich auftürmenden Felsen von Foiladuane, Derreenacullig und Cloonkeen erstreckte. Und sie waren an den Tod gewöhnt. In ihrer kleinen Kate konnte Nóra zusehen, wie ihre Nachbarn der Trauer auf jene Art und Weise Platz einräumten, die sie für die beste hielten: Sie fütterten das Feuer mit Torf, ließen die Flammen hochschlagen, füllten den Raum mit Rauch und erzählten einander Geschichten, bis die Zeit reif war für Tränen. Diese Zeit würde kommen, gewiss, aber jetzt war es noch nicht so weit.

Draußen grollte der Donner, und die Gäste erschauderten und rückten näher ans Feuer. Während Nóra durch den Raum ging und Wasser bereitstellte, hörte sie, wie die Leute sich gegenseitig Geschichten über Vorzeichen zuflüsterten, die Martins Tod vorangegangen waren. Die Männer wiesen auf das Wetter hin und erzählten raunend von Zwergschnepfen und Elstern, die sie als Vorboten für Martins Tod deuteten. Viel Aufhebens wurde um seinen Zusammenbruch ausgerechnet an jener Kreuzung gemacht, an der sonst Selbstmörder beerdigt wurden. Einige sprachen davon, wie sich an jenem Nachmittag der Himmel urplötzlich verdunkelt und sich die Wolkenbänke im Westen schwarz gefärbt hatten, ein sicheres Omen für Martins Ableben. Und sie sprachen von dem Sturm, der sich ihnen gerade näherte.

Peter O’Connor, der nicht bemerkte, dass Nóra zuhörte, erzählte den anderen Männern, dass er eine Gruppe von Elstern auf dem Feld gesehen hatte, unmittelbar bevor sich Martin ans Herz gefasst hatte.

»Ich bin gerade auf dem Weg nach Hause, und diese Vögel, meint ihr, die hätten sich auch nur gerührt? Nein. Kein bisschen. Ich bin auf Armeslänge an ihnen vorbeigegangen, und sie haben mit keiner Feder gezuckt. ›Wie überaus seltsam‹, dachte ich bei mir, und dabei – ich schwör’s, Männer – lief mir ein Schauder über den Rücken, weil es so aussah, wie wenn die Elstern sich beraten. ›Da wird wohl jemand gestorben sein‹, dachte ich. Und was ist? Kaum habe ich den Weg hinter mir gelassen, da seh ich an der Kreuzung unsern Martin Leahy, wie er da liegt, den Himmel im Blick, während sich jenseits der Berge die Wolken schwarz färben.«

Draußen krachte ein Donner, und alle zuckten zusammen.

»Also warst du es, der ihn dort gefunden hat, auf der Erde?«, fragte Nóras Neffe Daniel und sog an seiner Pfeife.

»Aye, ich war’s. Und so etwas möchte ich nicht noch mal erleben. Ich habe diesen Riesen von einem Mann fallen sehen wie einen Baum. Als ich bei ihm ankam, war er noch warm, Gott sei seiner Seele gnädig.« Peters Stimme wurde immer leiser, bis sie nur noch ein Flüstern war. »Aber das ist noch nicht alles. Als John und ich die Leiche hierherschleppten, uns mit ihm von der Kreuzung den Hang hinaufmühten – und ihr wisst, wie massig Martin war, so kamen wir nur sehr langsam voran –, da sind wir oben stehen geblieben, um Atem zu holen. Und als wir dann durchs Tal hinüber zu den Wäldern geschaut haben, haben wir sie gesehen: die Lichter.«

Tuschelnde Neugier erfüllte den Raum.

»Ja, genau, ihr habt richtig gehört. Lichter. Und zwar genau dort, wo das Feenvolk leben soll, unten beim Piper’s Grave«, fuhr Peter fort. »Nun sind meine Augen zwar nicht mehr das, was sie mal waren, aber ich schwöre, dass ich an diesem Weißdorn ein Leuchten gesehen habe. Ich sag’s euch, in dieser Familie wird es in Kürze noch einen Todesfall geben.« Seine Stimme wurde wieder zum Flüstern: »Erst stirbt die Tochter, dann der Mann. Und ich sag’s euch, erst im Dreier liegt für den Tod Grund zur Feier. Wenn das Feenvolk auch noch mitmischt, na ja, dann gute Nacht …«

Nóra wurde eng ums Herz, und sie wandte sich ab, um Áine zu suchen. Sie entdeckte sie, wie sie die Tonpfeifen und einen Klumpen rohen Tabak aus einem Strohkorb nahm.

»Hast du den Donner gehört?«, flüsterte Áine. Sie deutete auf den Korb. »Die Frau deines Neffen Daniel hat dir was mitgebracht.«

Nóra nahm ein kleines Bündel und knotete die Schnüre mit zitternden Fingern auf. Salz, feucht vom Regen. »Wo ist sie?«

»Sie betet bei Martin.«

Der Schlafraum war voller Menschen, die Luft blau vom Pfeifenrauch, den die älteren Männer und Frauen über den Körper ihres Mannes bliesen. Nóra sah, dass sie die Leiche umgebettet hatten, so dass Martins Kopf nun am Fußende des Bettes lag, um weiteres Unglück abzuwenden. Sein Mund war aufgeklappt, seine Haut hatte die Wächsernheit des Todes angenommen, und seine Stirn glänzte von den Ölen des Priesters. Der Kerzenstummel lag zwischen den Bettlaken. Eine junge Frau kniete neben dem Bett und betete das Ave-Maria mit geschlossenen Augen. Nóra berührte sie an der Schulter.

»Brigid.«

Die junge Frau schaute auf. »Ach, Nóra«, flüsterte sie und kam mühsam auf die Beine. Ihr schwangerer Bauch, prall gewölbt, hatte ihren Rock vorne so weit hochgeschoben, dass man ihre nackten Fesseln sehen konnte. »Mein aufrichtiges Beileid. Martin war ein wunderbarer Mann. Wie fühlst du dich?«

Nóra öffnete den Mund zur Erwiderung, überlegte es sich dann jedoch anders.

»Wir haben dir ein paar nützliche Dinge gebracht.« Sie nickte in die Richtung, in der Daniel rauchend bei Peter saß. »Auf dem Tisch steht ein Korb.«

»Ich weiß, Áine hat ihn mir gezeigt. Ihr seid beide gut zu mir. Ich werde es euch vergelten.«

»Ein schlimmes Jahr für dich.«

Nóra holte tief Luft. »Weißt du, ob jemand was zu trinken mitgebracht hat?«

»Seán hat poitín mitgebracht.« Brigid deutete durch die Türöffnung auf Seán Lynch, Daniels Onkel, der gerade zwei Tonkrüge mit Schnaps auf dem Boden abstellte. Seine Frau, Kate, stand bei ihm, die eng stehenden Zähne ebenso auffällig wie ihr geducktes und gehetztes Aussehen. Noch von der Türschwelle aus ließ sie ihren Blick hastig durch den Raum huschen. Man konnte deutlich erkennen, dass sie gerade erst angekommen waren: Ihre Kleider waren nass vom Regen, und sie umgab ein Hauch von Kälte.

»Nóra. Brigid.« Kate nickte ihnen zu, als sie den Wohnraum betraten. »Welch trauriger Anlass. War der Priester schon da? Müssen wir den Alkohol verstecken?«

»War da und ist auch schon wieder weg.«

Seáns Gesichtsausdruck war grimmig, seine Augen und Lippen schmal und wettergegerbt. Mit einem schwieligen Daumen stopfte er Tabak in den Kopf seiner Tonpfeife. »Mein aufrichtiges Beileid«, meinte er an Nóra gewandt.

»Gottes Dank, Seán.«

»Da draußen drückt sich Besuch für dich herum«, sagte er und deutete zur Tür. Er nahm dankend einen Span von einem der Männer am Feuer entgegen, entfachte seine Pfeife und brummte: »Möge Gott Gnade mit den Seelen der Toten haben.« Rauch quoll zwischen seinen Zähnen hervor. »Das Kräuterweib ist draußen. Sie steht beim Misthaufen und wartet.«

Nóra stutzte. »Nance Roche?«

»Aye, die immer dreinquatschende Alte höchstpersönlich.« Er spuckte auf den Boden.

»Woher wusste sie, dass etwas vorgefallen ist?«

Seán runzelte die Stirn. »Ich für meinen Teil würde nicht mit ihr reden, und wenn sie die letzte Frau auf Erden wäre.«

Kate beobachtete ihn nervös.

»Nance Roche? Wer ist das?«, fragte Brigid.

»Ich frage mich, was sie will«, murmelte Nóra. »Bei so einem abscheulichen Regen ist es ein weiter Weg für eine alte Frau. Ich würde nicht mal den Hund meines ärgsten Feindes in so einer Nacht raussetzen.«

»Na, was wohl? Sie will rauchen und trinken«, bemerkte Kate spitz. »Geh nicht zu ihr raus, Nóra, vergiss die alte Vettel, diese betrügerische cailleach.«

 

Die Nacht hatte sich herabgesenkt, und es regnete inzwischen noch heftiger. Nóra schob die Tür der Kate auf und blinzelte in den Hof, den Kopf unter dem tiefhängenden Vorsprung des Reetdachs, von dem das Wasser herabströmte. Zuerst konnte sie durch den Regenvorhang nichts erkennen, lediglich einen schmalen Streifen Eisengrau am Horizont, wo die Dunkelheit das Licht noch nicht vollkommen erstickt hatte. Doch dann sah sie aus dem Augenwinkel eine kleine Gestalt vom gegiebelten Teil der Kate, wo aller anfallende Mist des Gehöfts aufgeschichtet wurde, auf sich zukommen. Nóra trat in den Hof und schloss die Tür hinter sich, um die Kälte draußen zu halten. Sie sank bis über die Zehen in Matsch ein.

»Wer ist da?«, rief sie, wobei ihre Worte vom Donner überrollt wurden. »Bist du das, Nance Roche?«

Die Gestalt bewegte sich zur Tür, stellte sich unter den Vorsprung des Reetdachs und zog die Kapuze des Umhangs vom Kopf.

»Aye, ich bin’s, Nóra Leahy.«

Ein Blitz durchzuckte den Himmel, und Nóra erkannte die alte Frau vor sich, die bis auf die Knochen durchnässt schien und deren weißes Haar an ihrem Schädel klebte. Nance blinzelte gegen die Regentropfen an, die ihr die Stirn hinabliefen, und schniefte. Sie war klein und gebeugt und hatte ein Gesicht so runzelig wie ein alter Apfel. Sie schaute Nóra mit Augen an, die im Alter milchig geworden waren und unter schweren Lidern hervorlugten. »Mein aufrichtiges Beileid.«

»Danke, Nance.«

»Martins Sorgen in diesem Leben haben nun ein Ende.«

»So ist es.«

»Dein Mann ist jetzt auf dem Weg der Wahrheit.« Nances Lippen öffneten sich und entblößten die vereinzelten Zähne, die sich noch in ihrem Kiefer befanden. »Ich bin gekommen, weil ich fragen wollte, ob du mich für eine Totenklage brauchst. Dein Martin war ein guter Mann.«

Nóra betrachtete Nance, die tropfnass vor ihr stand. Ihre vielen regendurchtränkten Kleiderschichten aus Wolle hingen schwer von ihren schmalen Schultern herab, und dennoch war eine gewisse Präsenz nicht zu leugnen.

Ein scharfer, bitterer Geruch ging von ihr aus. Wie Brennnesselsud, dachte Nóra. Oder faulende Blätter. Der Geruch von jemandem, der in unmittelbarer Nähe zum Waldboden lebte.

»Woher wusstest du es?«, fragte Nóra.

»Ich hab gerade noch das Hinterteil dieses neuen Priesters gesehen und wie er seinem Tier mit der Gerte auch das letzte bisschen Staub ausgetrieben hat. Nur der Teufel oder ein Toter bringen einen Priester dazu, in einer so nassen und schmutzigen Nacht das Haus zu verlassen.«

»Father Healy.«

»Ich hatte schon fast so eine Ahnung, dass es deinen Mann, deinen Martin, getroffen hat. Gott sei seiner Seele gnädig«, fuhr Nance fort.

Ein eisiger Finger strich Nóras Wirbelsäule entlang. Es donnerte. »Eine Ahnung?«

Nance nickte und streckte ihre Hand aus, um Nóras zu berühren. Ihre Haut war kalt und überraschend glatt. Die Hände einer Heilerin, dachte Nóra. »Und deshalb bist du den ganzen Weg durch Wind und Wetter hierhergelaufen?«

»Hat noch niemandem geschadet, das bisschen Regen. Und für deinen Mann hätte ich noch eine ganze Menge mehr getan.«

Nóra öffnete die Tür und stampfte den Schlamm von ihren Füßen. »Na, dann. Komm rein. Wo du jetzt schon mal da bist.«

»Danke. Das will ich gern.«

Die Unterhaltung in der engen Kate verstummte, als Nóra Nance in den Raum führte. Alle Augen waren auf die alte Frau gerichtet, die auf der Türschwelle innehielt und sich mit gerecktem Kinn umschaute.

»Gott segne euch alle«, sagte sie. Ihre Stimme klang dünn, durch Alter und Rauch wie ausgehöhlt.

Die Männer nickten ihr respektvoll zu. Einige der Frauen begutachteten Nance von oben bis unten und bemerkten den breiten Schlammstreifen an ihrem Kleidsaum, ihr wettergegerbtes Gesicht, ihren durchweichten Schal. Seán Lynch starrte sie durchdringend an, ehe er sein Gesicht dem Feuer zuwandte.

John O’Donoghue erhob sich, die Massigkeit des Schmieds füllte plötzlich den Raum. »Das wünschen wir dir auch, Nance Roche. Gott sei mit dir.« Er trat vor, um sie zum Feuer zu geleiten, und die anderen Männer rückten sofort ein wenig zur Seite. Peter, die Pfeife im Mund, holte ihr einen Schemel und stellte ihn entschlossen dicht am Feuer ab. Áine holte Wasser für ihre dreckigen Füße. Daniel bot Nance einen Schluck poitín an, und als sie den Kopf schüttelte, brummte der junge Mann: »Von diesem Tropfen wird noch nicht mal ein Spatz nass«, und drückte ihr den Becher in die Hand.

Als die Leute sahen, dass Nance willkommen war, nahmen sie allmählich ihre unterbrochenen Gespräche wieder auf. Nur Seán und Kate Lynch zogen sich in den Schatten zurück, aus dem sie alles unwillig beobachteten.

Nance reckte ihre bloßen Zehen dem Feuer entgegen, während sie ihren Schnaps trank. Nóra saß neben ihr, und in ihrem Magen lief Angst wie ein Faden von einer Spule, während sie dem Dampf nachschaute, der von den Schultern der alten Frau aufstieg. Woher hatte sie gewusst, dass Martin gestorben war?

Nance holte tief Luft und deutete mit der Hand auf den Schlafraum. »Ist er dort?«

»Ja, das ist er«, antwortete Nóra mit flatterndem Herzen.

Nance hielt den Becher mit beiden Händen umfasst. »Wann kam seine Todesstunde?«

»Als John und Peter ihn mir gebracht haben, war es noch hell. Es war noch nicht Abend.« Nóra schaute zu Boden. Nach der sauberen Nachtluft draußen verursachte ihr die abgestandene Luft im Haus Übelkeit. In der Luft hing zu viel Tabakrauch. Es war zu laut. Sie wünschte, sie könnte rausgehen und sich in den weichen, morastigen Matsch legen, den Geruch des Regens einatmen und für sich sein. Sich vom Blitz treffen lassen.

Nóra spürte, wie sich Nances Hände um ihre Finger schlossen. Die Zartheit ihrer Berührung war alarmierend, und Nóra musste sich beherrschen, um die alte Frau nicht von sich zu stoßen.

»Nóra Leahy. Hör mir gut zu«, flüsterte Nance. »Es mag noch so viele Tote auf der Welt geben, die Trauer einer jeden Frau gehört nur ihr. Sie ist anders bei jeder von uns. Aber die traurige Tatsache ist, dass die Menschen spätestens ein Jahr, nachdem du deinen Mann begraben hast, von deiner Trauer nichts mehr wissen wollen. So ist es nun mal. Sie werden wieder anfangen, an sich zu denken. Sie werden zu ihren eigenen Leben zurückkehren. Darum lass uns Martin heute beweinen, während die Menschen noch zuhören wollen. Derweil sie noch die Geduld dafür haben.«

Nóra nickte. Ihr war speiübel.

»Aber, Nóra, sag mir eines: Was hat es mit dem Getuschel, er sei an einer Kreuzung gestorben, auf sich? Stimmt das?«

»Es stimmt.« Die Antwort kam von Brigid, die gerade Tabak an einem der hinteren Tische schnitt. »Peter O’Connor hat ihn dort gefunden. Ein grauenhafter Anblick.«

Nance wandte sich ihr zu und blinzelte. »Und wer bist du?«

»Brigid Lynch.«

»Die Frau meines Neffen Daniel«, erklärte Nóra.

Nance runzelte die Stirn. »Du bist guter Hoffnung, mein Kind. Da solltest du nicht mit einem Leichnam unter einem Dach sein.«

Brigid hörte auf, den Tabak zu schneiden, und starrte sie an.

»Du solltest gehen. Ehe du den Tod einatmest und dein Kind damit ansteckst.«

»Ach Gott, wirklich?« Brigid ließ das Messer auf den Tisch fallen. »Ich wusste, dass ich den Friedhof meiden soll, aber …«

»Friedhof, Aufbahrungsstätten, Beerdigungshügel, ist alles dasselbe.« Nance spuckte ins Feuer.

Brigid wandte sich an Nóra. »Ich will nicht ohne Daniel sein«, wisperte sie. »Ich gehe so ungern raus, wenn es dunkel ist. Und es stürmt gerade so. Ich will nicht allein gehen.«

»Nein«, Nance schüttelte den Kopf. »Das solltest du auch nicht. Die Nacht ist zu unruhig.«

Brigid drückte beide Hände fest gegen die Wölbung ihres Bauches.

Nance winkte Áine heran, die gerade die Männer mit gestopften Pfeifen versorgte. »Áine O’Donoghue, könntest du diese junge Frau zu einer Nachbarin bringen? Nimm auch ihren Mann mit, damit er dich zurückbegleitet. In so einer Nacht sollte niemand allein auf den Straßen sein.«

»Bring sie zu Peg O’Shea«, meinte Nóra. »Sie wohnt am nächsten.«

Áine blickte die Frauen der Reihe nach fragend an. »Warum? Was ist los?«

»Es ist zum Wohl des Kindes dieser jungen Frau.« Nance streckte den Arm aus und legte ihre Hand auf Brigids Bauch. »Spute dich, Mädchen. Füll deine Taschen mit etwas Salz und mach dich davon. Der Sturm ist im Anmarsch.«

 

Irgendwann war die Luft in Nóras Kate drückend vom Geruch nasser Wolle und zu vieler auf engem Raum zusammengepferchter, säuerlich riechender Körper. Martin Leahys Augenlider glänzten dank der zwei Pennys, die ein Nachbar daraufgelegt hatte; auf seiner Brust hielt sich ein salzbestreuter, krustiger Teller im Gleichgewicht, und auch auf seinem Bauch stand ein Teller, auf den jemand Tabak und Huflattich gelegt hatte. Die Luft war unerträglich stickig und verraucht. Die Männer sogen an ihren Tonpfeifen, liehen sich Nóras Stricknadeln aus, um damit die Asche aus dem Pfeifenkopf zu kratzen und sie an ihrer Hose abzuwischen.

Gegen Mitternacht betete John O’Donoghue einen Rosenkranz für den Toten, auf den die knienden Anwesenden die Erwiderungen murmelten. Dann zogen sich die Männer an die Hauswände zurück und schauten den Frauen dabei zu, wie diese im schwachen Licht der nach Fett stinkenden und nur allzu bald herabbrennenden Talglichter den Toten beklagten.

Nance Roche führte das Wehklagen an, das den krachenden Donner zu dämpfen schien. Ihre Stirn war grau, von Asche gezeichnet, ihre Finger geschwärzt, nachdem sie den anderen Frauen ebenfalls kalte Asche auf die Stirn gerieben hatte. Nóra spürte, wie sich heiße Tränen einen Weg durch den trockenen Puder auf ihren Wangen bahnten. Sie kniete auf dem Boden und schaute in den Kreis vertrauter Gesichter, die ernst dreinblickten.

Das ist ein Alptraum, dachte sie.

Nance schloss die Augen, öffnete den Mund und stimmte einen tiefen Klageton an, der die vereinzelten Gespräche der Männer so plötzlich zum Erliegen brachte, wie ein luftleerer Raum eine brennende Kerze auslöscht. Sie hockte auf dem Lehmboden und wiegte sich vor und zurück, ihr dünnes Haar hing offen über den Schultern. Sie klagte, ohne innezuhalten, ohne Worte. Ihre Totenklage klang hohl und angstvoll. Sie erinnerten Nóra an die bean sidhe und an das geräuschlose und tastende Todesgähnen ertrinkender Männer.

Während Nance wehklagte, murmelten die anderen Frauen Gebete für den Toten und baten Gott, Martin Leahys dahingeschiedene Seele aufzunehmen. Nóra erblickte Kate Lynch, deren braunes Haar in der Dunkelheit stumpf wirkte, neben ihrer Tochter Sorcha, die flüsternd betete, und sie sah Éilís O’Hare, die Frau des Schulmeisters, die betend ein Gitterwerk von Bekreuzigungen vollführte, dabei jedoch Nance im Blick behielt, die nach dem Feuerschein krallte. Es waren ihre Nachbarn, mit ihren Töchtern. Es war die Gemeinschaft der Talbewohnerinnen, die da ihre Hände wrang. Nóra schloss die Augen. Und nicht eine von ihnen hatte die geringste Ahnung, wie sie sich fühlte. Nicht eine.

Es war beängstigend, von der bean feasa in das Jenseits von Sprache und in den Schmerz geführt zu werden. Nóra öffnete ihren Mund und erkannte ihre eigene Stimme nicht. Sie stöhnte, und der Klang ihres ureigenen Schmerzes erschreckte sie.

Viele im Raum waren vom caoineadh der Frauen zu Tränen gerührt. Sie neigten ihre Häupter und priesen Martin Leahy mit Zungen, die vom poitín gelöst waren. Sie priesen das, was ihn vor Gott und den Menschen ausgezeichnet hatte. Der wunderbare Vater einer Tochter, die erst wenige Monate zuvor zu Gott gegangen war. Ein anständiger Ehemann. Ein Mann, der die Gabe des Knochenrichtens beherrschte und der mit seinen breiten Händen jedes in Panik geratene Pferd zu beruhigen wusste.

Nances Wehklagen ebbte zu einem Keuchen ab. Plötzlich griff sie sich eine Handvoll Asche, warf sich in Richtung Katentür und schleuderte das ganze Pulver dagegen. Asche, um jene zu vertreiben, die einer Seele den Weg in die andere Welt verstellen könnten. Asche, um die Trauer von Freunden und Verwandten zu segnen und sie als göttlich zu kennzeichnen.

Unter den Gebeten der anderen ließ Nance ihren Kopf langsam auf die Knie sinken, wischte sich mit einem Rockzipfel die Asche aus dem Gesicht und erhob sich vom Boden. Die Totenklage war vorbei. Sie wartete, bis Worte und Weinen der Anwesenden respektvoller Stille gewichen waren, dann nickte sie Nóra zu und zog sich in eine dunkle Ecke zurück. Sie fasste ihr weißes Haar im Nacken zu einem Knoten zusammen, nahm dankend eine Tonpfeife entgegen und verbrachte den Rest der Nacht damit, nachdenklich zu rauchen und das Frauenvolk und die Trauergäste zu beobachten, die um Nóra kreisten wie Vögel über ein frisch gemähtes Feld.

 

Die Nacht zerrieb die Stunden. Viele der Anwesenden, von den berauschenden Dämpfen des brennenden Huflattichs benebelt und getröstet, legten sich zum Schlafen auf den Boden, nachdem sie sich aus Heidekraut und Binsen ein Bett gefertigt und ihre Gebete gelallt hatten. Regen verirrte sich in den Kamin und fiel zischend aufs Feuer. Einige Besucher hielten sich mit Klatsch und Geschichten wach, segneten abwechselnd den Toten und suchten nach Vorzeichen in dem Gewitter, das draußen durch das Tal fegte. Doch nur Nóra sah, wie sich die alte Frau aus ihrer Ecke erhob, sich die Kapuze wieder über den Kopf zog und in die Dunkelheit und die heulende Welt verschwand.

2

Stechginster

Nance Roche erwachte früh am Morgen, noch ehe der Nebel die Berge freigegeben hatte. Sie hatte in denselben Kleidern geschlafen, in denen sie nach Hause zurückgekehrt war, und deren Feuchtigkeit war ihr inzwischen bis in die Knochen gedrungen. Sie richtete sich von ihrem Bett aus Heidekraut auf, wartete, bis sich ihre Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, und rieb sich die kalten Glieder. Ihr Feuer war erloschen – ihren ausgestreckten Händen begegnete nur ein leiser Hauch von Wärme. Sie musste in der Nacht vor dem Feuer eingeschlafen sein, ehe sie die Glut hatte abdecken können.

Sie nahm ihren Schal vom Wandhaken, wickelte sich in den rauhen Stoff und den vertrauten Duft nach Feuer, der an ihm hing, und trat vor die Hütte, wobei sie im Hinausgehen einen Wassereimer mitnahm.

Der Sturm hatte das Tal die ganze Nacht über mit heftigem Regen heimgesucht, und der Wald hinter ihrer gedrungenen Hütte war tropfnass. Noch hing dichter Nebel überall, und auch wenn sie ihn nicht sah, so konnte sie hier, am äußersten Ende des Tals, wo die Felder und felsigen Hänge auf ungezähmten Wald trafen, das angeschwollene Brausen des Flusses Flesk hören. Kurz hinter ihrer Hütte befand sich Piper’s Grave, wo das Feenvolk lebte. Sie nickte dem schief gewachsenen Weißdorn respektvoll zu, der geisterhaft inmitten eines Ringes aus Felsen, Dornenranken und wucherndem Gras stand.

Nance zog den Schal enger und ging mit knackenden Gelenken zu dem durchweichten Graben, der aus einem verlassenen Dachsbau entstanden war. An dessen Rand hockte sie sich schwerfällig hin, hielt sich an Farnbüscheln fest und erleichterte sich geräuschvoll und mit geschlossenen Augen. Ihr ganzer Körper schmerzte, wie so oft nach einer Totenklage. Wann immer sie das Haus, in dem der Tote aufgebahrt war, verließ, breiteten sich pochende Schmerzen in ihrem Kopf aus.

Das kommt davon, wenn man den Schmerz der anderen trägt, dachte Nance. Auf der Schwelle zwischen Leben und Tod zu stehen ist eine Schinderei für Körper und Geist.

Der matschige Hang hinunter zum Fluss war rutschig, und Nance achtete auf ihre Schritte, während sie durchs Unterholz ging und nasse Herbstblätter an ihren bloßen Füßen kleben blieben. Sie durfte nicht hinfallen. Erst letzten Winter war sie ausgerutscht und hatte sich am Rücken verletzt. Darauf war eine schmerzvolle Woche vor dem heimischen Feuer gefolgt, deren schlimmste Erfahrung war, dass sie sich, verletzt, wie sie war, von der Einsamkeit wie erdrückt gefühlt hatte. Sie hatte geglaubt, sich an ein einsames Leben gewöhnt zu haben und dass ihr die Gesellschaft der herumstiebenden Vögel genüge. Doch ohne Besuch und ohne die Möglichkeit, irgendetwas zu tun, außer in ihrer dunklen Hütte zu ruhen, hatte sie sich so allein gefühlt, dass ihr die Tränen gekommen waren.

»Wenn es etwas gibt, das Krankheit in einem Körper besonders begünstigt, dann ist es Einsamkeit.«

Mad Maggie hatte ihr das gesagt. Damals, als Nance noch jung war. Als ihr Vater noch lebte.

»Glaub mir, Nance, so ist es. Denk an den Mann, der gerade vorbeigekommen ist. Hat keine Frau. Hat kaum Freunde. Keine Geschwister. Das Einzige, was ihm Gesellschaft leistet, ist seine Gicht, und die wird ihm erhalten bleiben, solange er einsam ist.«

Maggie in ihrer Kate, Pfeife im Mund und ein Hühnchen rupfend. Die Luft voller Federn. Draußen strömender Regen, drinnen Federn, die in Maggies wildem Haar landen.

Der Sturz war eine Warnung, dachte Nance. Du bist alt. Und du bist auf dich allein gestellt. Seitdem hatte sie fast zärtlich auf ihren Körper geachtet: War vorsichtig über wetterrutschiges Gras gegangen, hatte sich nicht mehr zu gefährlichen Ausflügen in die Berge hinreißen lassen, wenn sie Heide schneiden wollte, der Wind aber bereits grollte. Achtete auf Feuer und Glut, war vorsichtig im Umgang mit dem Messer.

Das Getöse des Flesk schwoll an, als Nance sich ihm näherte, bis sie den weißen Schaum der Strömung über dem Flussufer durch die Stämme der Eichen, Eschen und Erlen erspähen konnte. Der Sturm hatte den Bäumen ihre letzten Blätter geraubt, und das Holz war schwarz und wie gegerbt durch die Nässe. Nur die Birken schimmerten bleich wie der Mond in der Feuchtigkeit.

Nance suchte sich ihren Weg durch das Gewirr von abgerissenen Ästen, die den Boden übersäten, von Efeuranken und verkrüppelten Farnbüschen, die das Ufer säumten. Nur selten verirrten sich andere Menschen in diesen Abschnitt des Tals. Wegen des Piper’s Grave, des bedrohlichen Feenhügels, kamen die Talbewohnerinnen weder zum Wasserholen noch zum Wäschewaschen hierher, und ihre Abwesenheit hinterließ Spuren der Vernachlässigung und Verwilderung. Das Moos auf den Steinen war nicht entfernt, die Dornenranken, die sich in der Wäsche hätten verheddern können, waren nicht zurückgeschnitten worden. Nance war die Einzige, die diesen Flussabschnitt aufsuchte. Nance war auch die Einzige, der es nichts ausmachte, in solcher Nähe zu den Wäldern zu leben, die den Flusslauf hier beherrschten.

Der Sturm hatte die Strömung bösartig gemacht, und Nance sah, dass die Steine, denen sie normalerweise ihr Gewicht anvertraute, vom Hochwasser unterspült worden waren. Das Ufer schien unter ihren Füßen wegzubrechen. Zwar war der Fluss an dieser Stelle weder besonders tief noch besonders breit, doch bei Hochwasser war die Strömung stark und tückisch, und Nance hatte schon viele, aus ihren Bauten herausgespülte Füchse mit aufgeblähtem Bauch den Fluss hinabtreiben sehen. Sie wollte nicht ertrinken.

Sie nahm ihren Schal ab, legte ihn über einen tiefhängenden Ast und ließ sich zu Boden sinken, um sich dem Fluss auf allen vieren möglichst weit zu nähern. Schließlich ließ sie ihren Eimer herab, Wasser schoss herein und zerrte an ihrem Arm.

Sie erhob sich, klopfte sich Laubstreu und Erde vom Rock und humpelte zurück zu ihrer Hütte, während sie versuchte, das Wattegefühl in ihrem Kopf abzuschütteln. Winzige Zaunkönige flogen zwischen Gras und Dornengestrüpp hin und her, tauchten abwechselnd ein in den mal dichteren, mal lichteren Nebel. Pilze lugten wie Regenschirme unter den verrottenden Zweigen im Unterholz hervor. Über allem lag der Duft nasser Erde. Nance liebte es, im Freien zu sein, den hohen, weiten Himmel über sich, die Erde mit ihren vielen Lebewesen unter ihren Füßen. Ihre gedrungene Hütte, die zur Hälfte in die Erde gegraben war und sich vor den Wäldern schief zu räkeln schien, kam ihr mit ihren Außenwänden aus Flechtwerk und Schlamm und ihrem Dach aus Kartoffelstengeln und Heidekraut im Vergleich zum tropfenden Blätterdach der Bäume hässlich und heruntergekommen vor. Sie hielt inne und schaute hinunter ins Tal, fort vom Wald. Die weißgetünchten Katen der Bauern lagen entlang des Halbrunds der Anbauflächen, die eingefasst waren von Kartoffeläckern und locker geschichteten Steinmauern. Durch den sich lichtenden Nebel konnte sie sehen, wie aus den Schornsteinen Rauch aufstieg. Je weiter ihr Blick den nackten Hang hinaufglitt, desto kleiner wurden die Bauernkaten, desto tiefer waren sie, als Schutz gegen den Wind, in die Erde gebaut. Ihre verputzten Wände schimmerten blau in der Morgendämmerung. Nance blickte zur Kate der Leahys hinüber. Sie lag der ihren am nächsten, und doch schien auch diese sehr weit entfernt zu sein.

Niemand lebte in Rufweite von Nance. Ihre eigene fensterlose Hütte, die früher einmal genauso weiß getüncht gewesen war wie die Häuser der anderen, hatte ihren Putz abgestreift und stattdessen über die Jahre ein grünes Kleid aus Moos und Schimmel angezogen, bis es so aussah, als habe der Wald sich ihrer Behausung bemächtigt.

Wenigstens das Innere ihres kleinen Zuhauses war so sauber und ordentlich, wie es ihr möglich war, trotz der rußgeschwärzten Decke und der Feuchtigkeit in der Ecke. Doch der Lehmboden war gefegt und eben, und Heidekraut und Binsen überlagerten den strengen Geruch des Heus, das in dem Teil der Hütte lag, in dem die Ziege lebte.

Nance erweckte das Feuer zu neuem Leben und stellte den Eimer ab, damit sich die Schwebstoffe im Wasser absetzen konnten. Der Sturm hatte den Fluss heftig durchgewirbelt, und sie musste darauf achten, das Wasser nicht sofort zu trinken.

Noch nie hatte sie sich nach einer Totenklage derartig erschöpft gefühlt. Ihre Knochen waren wie Blei. Sie musste etwas essen, nur einen Bissen, dann würde es ihr schon bessergehen.

Der Ruf des Todes war gestern sehr stark gewesen. Mit der Asche im Gesicht hatte Nance gespürt, wie sich die Welt schaudernd auftat, und sich ganz der Klage hingegeben, die aus ihrem Innersten aufstieg. Schwindel hatte sie gepackt, und der Raum mit seinen dunkel gekleideten Männern und Frauen war um sie gekreist, bis sie nur noch das Feuer und Bilder in seinem Rauch wahrnahm. Eine brennende Eiche im Wald. Einen Fluss, gesäumt mit wilden, gelb gedotterten Schwertlilien. Und dann hatte sie irgendwann ihre Mutter gesehen, der das Haar über die wilden Augen fiel und die sie heranwinkte, zu sich in die Dunkelheit. Sie hatte das Gefühl gehabt, sie müsse die ganze Welt beweinen.

Manchmal konnte Nance in Gegenwart leidender Menschen gewisse Dinge spüren. Sehen mit dem inneren Auge, hatte Maggie es genannt. Ihre Gabe. Manchmal, wenn Nance Babys auf deren Weg aus den Leibern ihrer Mütter in die Welt half, bekam sie eine Ahnung von der Zukunft dieser Kinder, und manchmal machten ihr diese Vorahnungen Angst. Sie erinnerte sich, wie sie einmal bei einer Geburt geholfen und die Mutter das Kind in ihrem Schmerz und in ihrer Angst verflucht hatte, und Nance hatte gespürt, wie sich Dunkelheit über den Neugeborenen gesenkt hatte. Sie hatte das Baby gesäubert und in Decken geschlagen und später, als seine Mutter schlief, als Schutzmaßnahme einen Wurm in seiner Handfläche zerdrückt.

Es gab Arten und Weisen, wie man solchen Visionen entgegenwirken konnte, das wusste Nance.

Der Sturm der vergangenen Nacht hatte ihr Sorgen bereitet. Als sie unter dem blitzvernarbten Himmel von der Kate der Leahys den Hang hinuntergegangen war, hatte sie etwas gespürt, das sich bewegte. Eine Veränderung in der Dunkelheit. Ein Ruf. Eine Warnung. Sie war an der Ringfestung des Feenvolks stehen geblieben und hatte im Regen gewartet, erwartungsvoll und mit einem Ziehen böser Vorahnungen im Herzen. Und während der Wind den Weißdorn gepeitscht hatte, war das Kalkgestein des ráth, der Burg des Feenvolks, lilafarben aufgeblitzt. Fast hatte Nance erwartet, den Teufel persönlich aus den Wäldern jenseits ihrer Hütte treten zu sehen. Normalerweise hatte sie keine Angst, ein Haus mit einer aufgebahrten Leiche allein zu verlassen, da sie wusste, wie sie ihren Körper und ihre Seele mit Salz und Asche schützen konnte. Doch vergangene Nacht, als sie am Piper’s Grave gestanden und der Dinge geharrt hatte, hatte sie sich wehrlos und ausgesetzt gefühlt gegenüber jener unsichtbaren Präsenz, die in der Schwärze der Nacht angespannt zitterte. Erst als sie den Blitz hoch oben hinter ihrer Hütte einschlagen und das Heidekraut in Brand stecken sah, hatte sie begriffen, dass tatsächlich etwas im Busch war, und war nach Hause zu ihrer Feuerstelle und ihren Tieren geeilt.

Nance schaute hinüber zu ihrer Ziege, die ungeduldig zwischen den brütenden Hennen in ihrer Ecke stand. Auf dem Lehmboden war eine Rinne ausgehoben, die das Tier und seine Ausscheidungen von Nances Teil der Hütte trennte und zugleich ermöglichte, dass seine Wärme die Kate wärmte. Nance trat über das Rinnsal an Absonderungen und Wasser und legte ihre Hand sanft auf den Kopf der Ziege, strich ihr übers Fell und kämmte ihr das Stroh aus dem Bart.

»Du bist ein gutes Mädchen, Mora. Wirklich, was für ein großartiges Mädchen du bist.« Nance zog einen Schemel von der Wand bis zur Ziege heran und legte ihr einen Armvoll geschlagenen Stechginster vor.

»Du musst ja völlig am Verhungern sein, nicht wahr? Gestern hat ein furchtbarer Wind getobt. Hast du davon nichts gehört? Hattest du keine Angst?« Nance sprach schmeichelnd zur Ziege, während sie zugleich langsam einen Blecheimer herbeiangelte. Sie lehnte sich mit der Stirn gegen das rauhe Fell des Tieres und atmete seinen warmen Duft nach getrocknetem Ginster und Mist ein. Mora war unruhig und stampfte auf, der Klang ihrer Hufe gedämpft vom Lehmboden und dem Stroh, aber Nance summte ihr etwas vor, bis sich das Tier beruhigt hatte und am getrockneten Stechginster zu knabbern begann. Sie umfasste Moras Zitzen und molk sie, während sie leise vor sich hinsang, ihre Stimme noch ganz heiser von der Totenklage der Nacht.

Als der Strahl aus dem Euter versiegt war, wischte sich Nance die Hände am Rock ab und nahm den Blecheimer mit zur Tür. Auf der Schwelle vergoss sie ein paar Tropfen für das Feenvolk und trank dann selbst direkt aus dem Eimer von der Milch, die süß und warm war und ein wenig dreckig von ihren eigenen Händen.

Heute würde keiner zu ihr kommen, das wusste Nance. Die Talbewohner würden das Haus der Leahys umschwärmen, um dem Toten die letzte Ehre zu erweisen. Ohnehin kamen an solchen Tagen selten Leute zu ihr. Durch Nance fühlten sie sich zu sehr an ihre eigene Sterblichkeit erinnert.

Die Totenklägerin. Die Frau mit den weisen Händen. Wenn Nance ihren Mund öffnete, dachten die Leute an all die Dinge, die schieflaufen konnten, an die Art und Weise, wie sich das eine in das andere verwandelte. Sie sahen ihr weißes Haar und dachten an Morgen- und Abenddämmerung. Sie war sowohl die Frau, die Babys in den sicheren Hafen dieser Welt brachte, als auch die Sirene, die die Verankerung der Boote löste und sie in die Dunkelheit schickte.

Nance wusste, dass ihr diese feuchte Hütte zwischen Berg, Wald und Fluss nur aus einem einzigen Grund seit über zwanzig Jahren zugestanden wurde: Sie verkörperte all das, was es nicht gab und was nicht zu verstehen war. Sie war die Hüterin des Tores am Rande der Welt. Die letzte menschliche Hymne, ehe alles dem Wind, dem Schatten und dem seltsamen Rauschen der Sterne anheimfiel. Sie stand für den Chor der Heiden. Jenen uralten Gesang.

Menschen haben eben immer Angst vor dem, was sie nicht kennen, dachte Nance.

Gewärmt und getröstet durch die Ziegenmilch, wischte sich Nance den Mund am Ärmel ab, lehnte sich gegen den Türrahmen und schaute hinunter ins Tal. Über ihr hatte sich der Himmel in schmutzigem Grau entfaltet, doch Nance wusste, dass der Tag klar werden würde. Heute würde sie erst schlafen und ausruhen und später vielleicht, in der Ruhe des Nachmittags, die Straßen und Gräben auf der Suche nach Kreuzkraut und blühender Schafgarbe und den letzten Brombeeren und Schlehen entlanggehen, ehe der Winter die Welt vereiste. Der letzte in den Wolken verbliebene Regen würde sich jenseits der Berge entladen.

Wie immer wollte sich Nance auch heute nach dem Himmel richten. Sie kannte seine vielen Gesichter.

* * *

Die Totenwache dauerte zwei Tage, und in dieser Zeit machten sich die Leute aus dem Tal auf den schlammigen Weg hinauf zu Nóras Kate, einige mit Whiskeyflaschen fest in der Hand, Rosenkränzen in der Tasche, andere mit ihren eigenen Schemeln und groben súgan-Stühlen unter dem Arm. Am zweiten Tag kehrte der Regen ins Tal zurück. Wasser troff von den Kappen und Filzhüten der Männer. Sie hatten kalte Asche und Haselnusszweige in ihren Taschen und saßen auf gebündelten Farnballen zwischen den ausgestreuten Binsen. Die Luft im Haus mit der aufgebahrten Leiche war grau, und die Menschen husteten inmitten der flammenden Lichter von Feuer und Pfeife. Die Besucher knieten nieder und beteten für Martin, berührten seinen mit einem Leichentuch bedeckten Körper. Die Frauen und Kinder, die die Pfeife nicht gewohnt waren, husteten am meisten, während sie den Rauch, der den aufsteigenden Todesgeruch überlagerte, über den Leichnam bliesen.

Nóra hatte das Gefühl, die Leute würden niemals gehen. Sie hatte ihre Gesellschaft satt und empfand tiefen Widerwillen gegen die Leute, die auf ihren Binsen herumstapften und sie zertrampelten und über Martin sprachen, als hätten sie ihn am besten vor allen anderen gekannt.

Ich bin seine Frau, wollte sie die Leute anfauchen. Ihr habt ihn nicht so gekannt, wie ich ihn kannte.

Sie ertrug die Frauen nicht mehr, die sich wie Schatten an den Wänden entlangdrückten, sich zu engen Klatschgrüppchen zusammenfanden, um dann wieder auseinanderzustieben und mit ihr über Zeit und Glaube und Gott zu sprechen. Sie hasste die Ausdrucksweise der Männer, die über den Hurenbock von einem Oktoberregen sprachen und dann unbeirrbar auf das Wohl von Martin tranken und lallten, »Möge Gott sich deiner Seele erbarmen, Leahy, und auch der Seelen all jener, die bereits im Glauben von uns gegangen sind«, um dann sofort wieder ihre feixende Unterhaltung fortzusetzen.

Erst als der Regen aufgehört hatte, konnte Nóra der Kate entkommen. Draußen sog sie die frische Luft in tiefen Zügen ein und lief hinter das Gebäude, um Wasser zu lassen. Am nassen Gras neben dem Dunghaufen säuberte sie ihre Hände, wischte sich übers Gesicht und schaute hinüber zu den Kindern, die auf dem Hof spielten. Mit matschbefleckten Gesichtern und den bei solchen Ereignissen immer glänzenden Augen türmten sie Steine zu Steinmännchen auf, um sie dann abwechselnd wieder umzuwerfen. Selbst die schüchternen Mädchen hockten paarweise auf der Erde und spielten Poor Snipeen. Die eine hielt dabei ihre Handflächen wie im Gebet aneinandergelegt, während die andere ihre Finger sanft streichelte und dabei schnurrte: »Armes Kätzchen«, um dann urplötzlich fest zuzuschlagen, während das erste Mädchen seine Hände blitzschnell fortzuziehen versuchte. Wenn die Schläge nicht ins Leere gingen, hallten das Klatschen und die mit Gelächter durchmischten Schmerzenslaute durch das Tal.

Während Nóra ihnen bei ihrem Treiben zuschaute, formte sich ein Kloß in ihrem Hals. Wäre Micheál nicht krank, würde er da mitspielen, dachte sie, und der Schmerz, der sie wie eine Welle durchflutete, kam so plötzlich, dass sie nach Luft schnappte.

Wenn er doch nur gesund wäre, dachte sie. Dann wäre er mir ein Trost.

Sie spürte ein Zupfen an ihrem Rock und sah nach unten. Ein kleiner Junge, nicht älter als vier Jahre, schaute zu ihr auf und hielt ihr ein Ei hin.

»Das habe ich gefunden«, sagte er und legte es ihr in die Hand, ehe er wieder davonrannte, barfüßig und Matsch aufwirbelnd. Nóra starrte ihm hinterher.

So sollten Kinder sein, dachte sie und erinnerte sich daran, wie Martin Micheál vor dem Feuer im Arm gehalten und versucht hatte, seinen Beinen neues Leben einzureiben, während dem Jungen unter den Berührungen seines Großvaters die Augen zugefallen waren.

Nóra kniff sich in den Arm, um den Tränen Einhalt zu gebieten, und blickte zum Horizont.

Ein Regenvorhang zog langsam über die Berge auf der anderen Seite des Tals, jenseits der Ebene, die vom Fluss durchzogen und von den geduckten Wäldern im Westen begrenzt wurde. Abgesehen von einigen Eschen, die hier und da zwischen den Katen auf unbestelltem Boden standen, und dem Erlen- und Eichendickicht hinter Nance Roches grüner Hütte erstreckte sich das Tal wie ein breites Tuch aus Feldern vor ihr, mit Bändern aus niedrigen Steinmauern und Gräben, flankiert von moorigen Stellen und rauhen Berghängen, auf denen neben Stechginster und Heidekraut nur wenig zwischen den massiven Steinplatten wuchs.

Selbst bei tiefhängenden Regenwolken erfüllte der Anblick Nóra mit dem Gefühl innerer Ruhe. Das Tal war wunderschön. Der allmählich nahende Winter hatte die Felder stoppelig und das Gras braun werden lassen. Die Wolkengrüppchen warfen brütende, huschende Schatten über das Land. Es war eine Welt für sich, dieses Tal. Eine einzelne schmale Straße, die sich durch die Ebene schlängelte, führte in die Welt jenseits der Berge: im Osten zu den fernen Märkten von Cork, im Westen zu den großen Häusern, Kupferminen und engen Straßen von Killarney, in denen sich die schiefergedeckten Häuser ebenso drängten wie die Bettler. Nur dann und wann erinnerte ein Händler, der seine mit Butterfässern beladenen Pferde Richtung Macroom lenkte, daran, dass es auch noch weitere Täler, weitere Orte gab, an denen andere Menschen andere Leben führten.

Das plötzlich aufbrandende Gelächter der Kinder riss Nóra aus ihren Gedanken. Sie wandte sich um und entdeckte eine alte Frau, die sich gerade, schwer gestützt auf einen Spazierstock, von der nächstgelegenen Kate auf dem unebenen Weg zu ihr befand.

Es war Peg O’Shea.

Ihre Nachbarin lächelte den Kindern zu, als sie den Hof betrat, ehe sie Nóra bemerkte und zu ihr schlurfte.

»Nóra, mein aufrichtiges Beileid.« Peg hatte die eingefallenen Wangen greiser Menschen und Lippen, die sich über zahnlosen Kiefern nach innen stülpten. Aber ihre Augen waren so schwarz und flink wie die eines Zaunkönigs. Nóra spürte, wie sie über sie glitten und sie abschätzten.

»Gott und die Jungfrau Maria seien mit dir, Peg. Danke, dass du Micheál zu dir genommen hast.«

»Keine Ursache, Nóra.«

»Ich wollte ihn nicht hier haben. Das Haus ist voller Leute. Ich dachte … Ich dachte, es würde ihm Angst machen.«

Peg schwieg und schürzte die Lippen.

»Martin und ich, wir dachten, es ist das Beste, wenn wir ihn von Menschenmengen fernhalten. Ihn in aller Stille bei uns haben.«