Wo ist McKee? Thriller - Thomas West - E-Book

Wo ist McKee? Thriller E-Book

Thomas West

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Beschreibung

Wo ist McKee? Thriller von Thomas West Der Umfang dieses Buchs entspricht 221 Taschenbuchseiten. Menschen, wie sie unterschiedlicher nicht sein können, deren Schicksale – Leben oder Tod – sich erfüllen sollen, treffen in dem undurchdringlichen Dschungel Ostafrikas aufeinander, wo die Hutu-Rebellen auf unvorstellbar grausame Weise wüten: der Aussteiger und Gorilla-Forscher Linus Vanderbilt, der den Lebensraum der Menschenaffen zu schützen versucht; Paul Saxon, den während einer zwanzigjährigen Haftstrafe nur seine Rache am Leben hielt; die Schriftstellerin Kate Roosdale, die ein Buch über Dian Fossey schreiben soll und von der Liebe ihres Lebens, dem FBI Special Agent Jonathan McKee begleitet wird; sowie die beiden Ermittler Milo Tucker und Jesse Trevellian, die ihren verschollenen Chef suchen – und der alte >Silberrücken< Samson …

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Wo ist McKee? Thriller

Thomas West

Published by BEKKERpublishing, 2017.

Inhaltsverzeichnis

Title Page

Wo ist McKee?

Copyright

Prolog

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

Epilog

About the Publisher

Wo ist McKee?

Thriller von Thomas West

Der Umfang dieses Buchs entspricht 221 Taschenbuchseiten.

––––––––

Menschen, wie sie unterschiedlicher nicht sein können, deren Schicksale – Leben oder Tod – sich erfüllen sollen, treffen in dem undurchdringlichen Dschungel Ostafrikas aufeinander, wo die Hutu-Rebellen auf unvorstellbar grausame Weise wüten: der Aussteiger und Gorilla-Forscher Linus Vanderbilt, der den Lebensraum der Menschenaffen zu schützen versucht; Paul Saxon, den während einer zwanzigjährigen Haftstrafe nur seine Rache am Leben hielt; die Schriftstellerin Kate Roosdale, die ein Buch über Dian Fossey schreiben soll und von der Liebe ihres Lebens, dem FBI Special Agent Jonathan McKee begleitet wird; sowie die beiden G-Men Milo Tucker und Jesse Trevellian, die ihren verschollenen Chef suchen – und der alte >Silberrücken< Samson ...

Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© by Author

© dieser Ausgabe 2017 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen.

Alle Rechte vorbehalten.

www.AlfredBekker.de

[email protected]

Prolog

Uganda, internationaler Flughafen in Entebbe

Warten. Die wenigsten Menschen können es. Und die es gelernt haben, wissen, wie nervenaufreibend es sein kann.

Warten - ich hatte es gelernt. Und die beiden Männer neben mir auch.

Warten - auf den günstigen Augenblick, auf die Schwäche des Gegners, auf das Puzzlestück in einer Beweiskette, das eine bloße Theorie zur heißen Spur macht, auf den einen Widerspruch aus dem Mund des Untersuchungshäftlings, der sein Lügengebäude zusammenbrechen lässt. Warten auf Laborergebnisse, warten auf Pathologieberichte, warten auf Protokolle der Spurensicherung.

Und so weiter, und so weiter.

Ich hatte es gelernt, verdammt noch mal! Ich konnte warten. Aber nie war es mir so schwer gefallen, wie an jenem Abend auf dem Flugfeld des internationalen Flughafens von Entebbe.

Mein Mund fühlte sich trocken an, ständig versuchte ich, den stachligen Kloß in meinem Hals herunterzuschlucken, ich wusste nicht wohin mit meinen feuchten Händen, und meine nassen Schuhspitzen verschwommen vor meinen Augen. Seit Minuten betrachtete ich sie konzentriert, um nicht versehentlich dem Blick des Mannes neben mir zu begegnen.

Es war ein Märzabend. Regenzeit in diesem Teil der Welt. Den ganzen Tag hatte es gegossen. Bis vor einer Stunde, als wir vor der Flughalle aus dem Taxi gestiegen waren. Und jetzt - ausgerechnet in diesem Augenblick - jetzt riss der dicht bewölkte Himmel auf. Das Abendlicht breitete sich auf dem grauen Flugfeld aus.

Die Sonne hinter uns, im Westen, musste bereits tief über dem Horizont stehen. Ich merkte es an dem langgezogenen Schatten, der von meinen Schuhspitzen aus schräg auf das Flugfeld fiel. Und dieser Schatten machte mir auch bewusst, wie nervös ich war: Er schaukelte hin und her, tänzelte von einem Bein auf das andere, zuckte mit den Armen und Schultern und schien verzweifelt nach einem Fluchtweg zu suchen.

Der Schatten des Mannes links neben mir war vollkommen reglos. Als hätte jemand mit grauer Farbe die Umrisse eines menschlichen Körpers auf die steinerne Fläche des Flugfeldes gesprayt.

Der Schatten war kleiner als meiner. Und schmaler. Eine dünne Linie zog sich von seiner Hüfte an seinem Bein entlang bis zu seinem Schuh. Eine Krücke. Eine von zweien. Die zweite war in dem Schattenbild nicht zu erkennen.

Der dritte Schatten links daneben zappelte genauso unruhig hin und her wie meiner. Milos Schatten.

Ich hob den Kopf und blickte über das Flugfeld zu einem Hallenkomplex neben dem Tower. Zum hundertsten Mal in der letzten halben Stunde. Von dort musste das Fahrzeug kommen. Das Fahrzeug, auf das wir warteten.

Ein paar Schritte links von Milo stand eine sechsköpfige Gruppe. Zwei weiße Frauen, ein weißer Mann, drei dunkelhäutige Männer. Ich kannte sie nicht. Ich wusste nur, dass einige von ihnen Wissenschaftler waren. Und dass alle sechs das gleiche taten wie wir - warten.

Ich wandte mich nach rechts. Eine Rampe führte aus dem weit geöffneten Heck einer schmutzig-grünen Transall-Maschine auf das Flugfeld hinab. Zwei Gabelstapler standen vor der Rampe. Nur ein paar Schritte von mir entfernt.

Ein paar Uniformierte liefen neben der Rampe auf und ab. Soldaten der US-Airforce. Auch sie warteten.

Das Flugzeug mit seinem geöffneten Laderaum erinnerte mich an eine Geschichte aus meiner Kindheit. An diese Geschichte von dem riesigen Fisch, der aus den Fluten auftauchte, sein Maul aufriss und einen Mann verschluckte. Jona hieß er. Der Mann, nicht der Fisch.

Der Reverend der kleinen Freikirche von Harpersvillage, Connecticut, hatte uns die Geschichte in der Sonntagsschule erzählt. Angeblich hat der Fisch später sein Maul noch einmal aufgerissen und den Mann wieder ausgespuckt.

Die Transall würde in spätestens einer halben Stunde starten, über den Atlantik fliegen, in Washington landen, und die Luke ihres Laderaums würde sich noch viel weiter öffnen als das Maul eines Blauwals es kann. Und sie würde keine Lebenden ausspucken.

Der Schatten neben meinem Schatten wirkte noch immer wie in das Flugfeld hineingebrannt.

Mein Blick wanderte vom Kopf der starren Silhouette über ihren Oberkörper hinunter bis zu einem Paar schwarzer Wildlederschuhe. Sie waren genauso nass wie meine. Dann die Krücke neben grauen Hosenbeinen hinauf, über ein graues Jackett bis zu dem Gesicht des Mannes, dem der reglose Schatten gehörte. Zum Gesicht meines Chefs.

Jonathan McKees Gesicht hatte die Farbe schmutzigen Kerzenwachses. Seine Lippen waren weiter nichts als ein schmaler, blutleerer Strich. Ein netzartiger Verband bedeckte sein Ohr und fast die ganze rechte Hälfte seines Schädels. Seine grauen Augen fixierten eine Stelle im dunklen Himmel über dem Flughafentower, an der ich weiter nichts erkennen konnte als Regenwolken.

Der stachlige Kloß in meiner Kehle schwoll an. Ich ahnte, was er dort oben in dem trüben Himmel sah.

Keiner seiner Gesichtsmuskel bewegte sich, er zuckte nicht mit den Lidern. Nicht mal, als Milo sich räusperte und sagte: "Sie kommen."

Ich blickte zu dem Hallenkomplex neben dem Tower. Ein Konvoi aus drei Fahrzeugen näherte sich von dort.

Vorneweg ein Jeep. Dann ein Armeelaster. Hinter ihm noch einmal ein Jeep. Ich versuchte wieder den Stachelkloß in meinem Hals herunterzuschlucken und verschränkte die Arme auf dem Rücken. Mein Magen schien ein riesiges, pulsierendes Loch zu sein.

Der Konvoi stoppte wenige Meter vor uns. Zwei Uniformierte stiegen aus dem ersten Jeep. Angehörige der ugandischen Streitkräfte. Sie liefen zu dem Armeelaster, aus dem vier Soldaten kletterten, fuchtelten mit den Armen, brüllten Befehle.

Aus dem Jeep hinter dem Armeetransporter stiegen zwei Männer in dunklen Anzügen. Ein Weißer und ein Schwarzafrikaner. Der amerikanische Botschafter in Uganda und ein Vertreter der ugandischen Regierung. Beide Männer kamen auf uns zu und drückten uns schweigend die Hände. Zum ersten Mal seit fast einer halben Stunde bewegte sich der Schatten meines Chefs.

Die Heckklappe des Lastwagens wurde heruntergeklappt, die Plane beiseite geschoben. Die Männer der US-Air-Force fuhren ihre Gabelstapler vor.

Zwei der ugandischen Soldaten kletterten auf die Ladefläche des LKWs. Der erste Gabelstapler rollte vor das Heck. Die langen Stahlzinken seiner Hebebühne verschwanden im Laderaum.

Nacheinander wurden sieben Zinksärge abgeladen.

Sie transportierten die Särge nicht gleich in den Bauch des Flugzeuges, sondern reihten sie vor uns und den sechs Wissenschaftlern auf. Einen nach dem anderen. Danach stiegen die ugandischen Militärs wieder in ihre Fahrzeuge und fuhren zurück zu den Flughallen. Jedenfalls der erste Jeep und der LKW. Unser Botschafter und der ugandische Regierungsvertreter blieben stumm bei uns stehen.

Aus der Gruppe der Wissenschaftler löste sich eine der beiden Frauen. Sie beugte sich zu den Särgen hinunter. Nacheinander schritt sie von Sarg zu Sarg. Bei jedem hob sie das angeplombte Etikett mit dem Namen des Toten und las es. Am vierten Sarg richtete sie sich auf. Direkt vor mir.

Sie griff in ihre Handtasche und zog ein gerahmtes Foto heraus. Etwa so groß wie ein durchschnittliches Buch. Mit einem Stück Nylonschnur befestigte sie das Foto an dem Etikett. Sekundenlang blieb sie mit gesenktem Kopf vor dem Sarg stehen. Danach ging sie zurück zu ihrer Gruppe.

Jetzt hatte ich freien Blick auf das Foto. Es war das Porträt eines Affen. Eines Gorillas. >SAMSON< stand über dem Kopf des Tieres. Und der Schriftzug am unteren Bildrand lautete: >DANKE<.

Sekunden verstrichen. Sekunden, in denen man nur den Düsenlärm landender oder startender Maschinen hörte. Ich fühlte mich, als hätte ich mich in die Dreharbeiten zu einem Film verirrt.

Irgendwann trat der ugandische Regierungsvertreter aus unserer Reihe und sah uns nacheinander an. Jonathan McKee blickte immer noch auf das nur ihm bekannte Bild in den Regenwolken über dem Tower.

Da auch sonst niemand reagierte, machte der Schwarzafrikaner eine Handbewegung in Richtung unserer Soldaten. Die Gabelstapler setzten sich in Bewegung. Sie transportierten die Zinksärge in das Flugzeug. Keiner von uns rührte sich. Wir warteten, bis auch der letzte Sarg im Bauch der Transall verschwand.

Irgendwann hob sich die Rampe der Maschine und verschloss den gewaltigen Laderaum. Die Triebwerke brüllten auf.

"Wir müssen einsteigen." Die Gestalt unseres Chefs straffte sich. Er stemmte seine Krücken in den Asphalt und bewegte sich auf die Gangway zu. Milo und ich trotteten hinter ihm her.

Keiner von uns sprach ein Wort. Wir kletterten die Stufen zur Einstiegsluke hinauf. Keiner von uns drehte sich um. Keiner von uns legte Wert darauf, noch einen letzten Blick auf diesen Teil des Globus zu werfen.

Wir waren erleichtert, endlich hier wegzukommen. Keiner von uns hätte je hier herkommen dürfen.

In der Sitzreihe hinter unserem Chef ließen wir uns in die Polster sinken und schnallten uns an.

Die Maschine startete. Zentralafrika blieb hinter uns zurück.

Aber nicht der Alptraum, den wir hier erlebt hatten. Der hatte sich ein für alle Mal in unsere Hirnwindungen eingebrannt. Eine böse Geschichte. Ich wünschte, ich könnte sie aus meinem Gedächtnis löschen.

Jemand sagte mal, man müsse schlimme Erlebnisse erzählen, um sie vergessen zu können. Also gut. Die Geschichte begann etwa ein halbes Jahr vor diesem regnerischen Märzabend in Uganda ...

1

New York City, Bronx

Der Herbstwind pfiff durch die Hofeinfahrt. Laub und Papier wirbelte durch die Scheinwerferkegel der vor der Bogeneinfahrt vorbeirollenden Wagen.

Kate Roosdale zerrte den störrischen Reißverschluss ihrer alten Lederjacke bis dicht unter ihr Kinn. Sie zog die Beine an. Es war zu kalt für die Jahreszeit.

Eine Stufe unter ihr auf der schmalen Treppe zur Haustür hockten zwei schmale Gestalten. Gebogenen Rücken, hängende Schultern, Wollmützen auf den Köpfen.

Rhythmisches Scheppern drang zu Kate hinauf. Der Linke der beiden Jungen nickte mit dem Kopf, wie ein sprintendes Huhn. Er hörte Musik über seinen Walkman. Hip-Hop. Volle Lautstärke. Es musste Danny sein.

Kate hatte in der Dunkelheit nicht sehen können, wer sich mit ihr in den Treppenaufgang verzogen hatte. Aber Danny sah man so gut wie nie ohne Stöpsel in den Ohren. Er hörte sogar Musik, wenn die Gang in die Schlacht zog. Wie an diesem Abend.

Der Junge rechts unter Kate saugte an einer kleinen Metallpfeife. Crack. Alle zwei Minuten griff er unter seine Skaterjacke und zog eine kleinkalibrige Pistole heraus. Er ließ das Magazin herausspringen, hielt es dicht vor seine Augen und drückte es wieder in den Griff der Waffe. Und nach zwei Minuten das gleiche Spiel.

Wahrscheinlich Jacky. Vielleicht auch Bella, Jamie oder Tim. Wie gesagt - die Dunkelheit. Viele der Burschen pflegten mit ihren Schusswaffen herumzuspielen. Die meisten eigentlich. Und keiner von ihnen konnte drei Sätze sagen, ohne die Worte >umblasen<, >killen< oder >wegschießen< zu gebrauchen.

Gegenüber der dunklen Durchfahrt, im Treppenaufgang zum Nachbarhaus, sah Kate drei kleine, rotglühende Punkte. Die Kids rauchten, die da drüben Stellung bezogen hatten.

Das fette, liebenswürdige Gesicht >Sitting Bulls< erschien auf Kates innerer Bühne. So hatte sie ihren Großvater genannt. "Wache schieben und rauchen ist schon ein halbes Loch zwischen den Augen", hatte er manchmal gesagt, wenn er vom Krieg erzählte. Er war Scharfschütze bei der Army. Der zweite Weltkrieg gehörte zu seinen Lieblingsthemen. Er war bei der Landung in der Normandie dabei gewesen.

>Sitting Bull< hatte sie groß gezogen. An ihren Vater konnte Kate sich kaum erinnern.

Wenigstens das hatte sie mit den meisten der Kids gemeinsam.

Kate zerrte ihre Zigaretten aus der Brusttasche ihrer Lederjacke. Filterloses, französisches Kraut. Schon ihr Großvater hatte es geraucht.

Schritte näherten sich von der Straße her. Drei Schatten bogen in die Durchfahrt ein. Einer von ihnen José. Der Anführer der Gang. Ein fünfzehn Jahre alter, hochgewachsener Puertoricaner. Drei Jahre älter, als der Durchschnitt der Gang. Und zwei Köpfe größer.

Die beiden Jungen unter ihr standen auf. Die rot leuchtenden Punkte gegenüber glitten nach oben, schwebten aus dem Treppenaufgang, Umrisse menschlicher Körper schälten sich aus der Dunkelheit. Auch aus dem Hof selbst huschten einige Kids. Bald war ein gutes Dutzend dunkler Gestalten in der Einfahrt versammelt. Kate blieb auf der kalten Steinstufe sitzen. Beobachtete und rauchte.

"Er kommt 'runter auf die Straße", sagte José.

"Und dann?", fragte eine piepsige Stimme aus der dunklen Menge.

"Hau' ich ihm aufs Maul."

"Der Motherfucker kommt doch nicht allein!", rief jemand.

"Na fett!" José lachte angestrengt. "Dann können wir allen aufs Maul hauen!" Er fummelte in seiner Jacke herum. Kate erkannte die Umrisse einer Waffe im Streulicht der Straßenbeleuchtung. Der lange Bursche fuchtelte damit über den Köpfen der anderen herum. "Hat jemand noch ein paar Kugeln für mich?"

Es ging wie meistens um Peanuts. Der Häuptling der gegnerischen Gang hatte Josés Mädchen angepöbelt. >Schlampe< hatte er sie genannt. Wenn sowieso ein Kriegsgrund gesucht wurde, reichte das allemal.

"Mach kein' Scheiß, José!" Kate erhob sich und stieg die Treppe hinab. "Hau ihn auf's Maul von mir aus, aber lass deine Pistole ..."

"Misch dich nicht ein!" Der schlaksige Bursche drückte drei Patronen in sein Magazin. Danny hatte sie ihm gereicht. "Es war ausgemacht, dass du dich nicht einmischst!"

Er schob das Magazin in den Griff der Waffe. Mit einer lässigen Bewegung. Als würde er das hundert Mal am Tag machen. Dann wandte er sich der Straße zu und marschierte aus der Hofeinfahrt. Die Meute hinterher.

"Bullshit!", zischte Kate. Sie beobachtete, wie die Kids auf beiden Straßenseiten hinter parkenden Autos und in Hauseingängen in Deckung gingen. Danny und zwei andere blieben in der Hofeinfahrt. Eng an die Hauswand gepresst.

Kate konnte die Waffen in ihren Händen nicht erkennen. Aber die Art, wie sie ihre Arme anwinkelten, verriet ihr, was sie in den Händen hielten. Sie zog sich in den Treppenaufgang zurück, holte ihr Handy aus der Innentasche ihrer Jacke und tippte die Neun-Elf in die Tastatur. Die Notrufnummer.

Als sie Sekunden später an Danny und den anderen beiden vorbei auf den Bürgersteig trat, verfluchte sie sich. Niemals hätte sie sich so weit auf diese Sache einlassen dürfen!

Hinter den parkenden Fahrzeugen auf der anderen Straßenseite erkannte sie die dürre Gestalt Josés. Vor ihm ein bulliger, weißer Junge von etwa siebzehn Jahren. Noch größer als der Latino und von zwei anderen Burschen flankiert. Das Licht der Straßenbeleuchtung fiel auf ihre grinsenden Gesichter.

Kate sah sich um. Mindestens zwanzig Mitglieder der gegnerischen Gang hatten sich links und rechts der Straße aufgepflanzt. Zwischen parkenden Wagen, vor Hauseingängen und in Hofeinfahrten. Die meisten hielten irgendwelche Gegenstände in den Händen. Baseballschläger, Fahrradketten, Stangen. Auch eine Pumpgun erkannte Kate.

>In der Scheiße sitzen ist wie Arbeit - man meint, es hört nie mehr auf. In die Scheiße hineinplumpsen geht so schnell, dass man's gar nicht merkt< - auch so ein Spruch ihres Großvaters.

"O Mist ...!", stöhnte Kate.

Sie gab ihren Plan, über die Straße zu José zu gehen, auf und suchte Deckung hinter einem parkenden Fahrzeug. Von fern meinte sie die Sirene eines Polizeiwagens zu hören.

Der Bulle auf der anderen Straßenseite drückte José eine Pistole gegen das Brustbein. Er sprach so laut, dass Kate jedes Wort verstehen konnte.

"Man sagt, deine Braut sei 'ne Schlampe. Stimmt das?"

José starrte auf den Lauf der Waffe vor seiner Brust. "Kann schon sein ..." Seine Stimme klang brüchig.

"Sag's deutlich, Motherfucker!" Röhrte der Bulle. "Sag: >Meine Braut is' 'ne Schlampe<. Sag's!"

"Meine Braut ist 'ne Schlampe."

"Na super!" Der Bulle lachte und nahm die Waffe von Josés Brust. "Dann sind wir uns ja einig. Ist jetzt alles klar zwischen uns oder nicht?!"

"Alles klar", sagte José.

Der andere steckte seine Waffe weg und wandte sich ab. José zog seine Pistole heraus und drückte dreimal ab. Der Bulle und einer seiner Begleiter brachen schreiend zusammen. Der dritte warf sich zwischen zwei parkende Autos.

Im nächsten Moment war die Hölle los. Schüsse fielen, Scheiben klirrten, Baseballschläger und Eisenstangen krachten auf Karosserien und Knochen. Jemand brüllte, Fenster wurden aufgerissen, Polizeisirenen näherten sich, Bremsen quietschten.

Es ging alles so schnell, dass Kate noch tagelang daran zweifelte, das alles wirklich erlebt zu haben. Wie ein böser Traum kam es ihr vor.

Nur vier Minuten nach dem ersten Schuss waren auch einige Ambulanzfahrzeuge vor Ort. Sanitäter und Ärzte transportierten sieben Verletzte ab. Die Cops breiteten Leintücher über drei Tote. Die meisten Gangmitglieder hatten fliehen können. Fünf wurden verhaftet. Unter ihnen Kate Roosdale.

*

Der Mann hatte etwas Drolliges: Untersetzt, nicht viel größer, als Kate selbst, zerknitterter dunkelgrüner Anzug, den ihm wahrscheinlich sein Vater vererbt hatte, rotes, fleischiges Gesicht, Mitte fünfzig.

Er wartete im Verhörraum, als die Cops Kate zu ihm brachten. Vor ihm ein Stapel Papier. Wahrscheinlich ihre Akte. "Deputy Inspector Barry Koch." Einer der beiden Uniformierten stellte ihn vor. Kate hatte keine Ahnung von den Diensträngen bei der New York City Police. Aber >Deputy Inspector< klang nach einem höheren Tier.

Die respektvolle Art, mit der die Cops ihm begegneten und dessen durchdringender Blick machten Kate schnell deutlich, dass Koch alles andere als ein drolliger Bursche war.

"Nehmen Sie Platz, Mrs. Roosdale." Er wies auf den Stuhl ihm gegenüber auf der anderen Seite des quadratischen Tisches. Die Cops verließen den Raum und zogen die Tür zu. Kate wunderte sich - sie war vier Mal verhört worden in den letzten beiden Tagen. Aber noch nie von einem einzelnen Beamten.

"Gewaltiger Bullshit, in den Sie sich da geritten haben." Koch griff in sein Jackett und zog eine Schachtel Philip Morris heraus. "Zigarette?" Kate nickte dankbar und ließ sich Feuer geben.

Tief sog sie den Rauch in die Lungen. Koch beobachtete sie aufmerksam. Er hatte einen heruntergekommenen Freak erwartet. Die Frau aber, die ihm gegenübersaß und seine Zigarette rauchte, war alles andere als heruntergekommen.

Ihre Fingernägel waren dezent lackiert, die schmalen, langgliedrigen Hände gepflegt. Das lange schwarze Haar fiel glänzend auf ihre Schultern und rahmte ein schmales Gesicht ein, das von zwei hellwachen, dunkelblauen Augen beherrscht wurde. Ein eigenartiges Gesicht - einerseits das Gesicht einer reifen Frau, andererseits auch das Gesicht eines jungen Mädchens. Ein schönes Gesicht. Eine schöne Frau, ohne Zweifel.

Barry Kochs Nasenschleimhäute fingen einen milden Parfümduft auf. Unter seinem Zwerchfell begann es zu kribbeln. Er räusperte sich und schlug die Beine übereinander.

Silbrige Strähnen schimmerten in den dunklen Haar der Frau. Zwei tief eingekerbte Falten zogen von ihren Nasenflügeln zu den Mundwinkeln hinunter. Ihr Alter war schwer zu schätzen. Unwillkürlich äugte Koch auf das Deckblatt der Papiere, die vor ihm auf dem Tisch lagen. Ihr Geburtsdatum überraschte ihn. Kate Roosdale war neununddreißig Jahre alt. Koch hätte sie jünger geschätzt.

"Also ..." Er faltete die Hände über seinem Bauch. "Dann erzählen Sie mal."

Kate warf eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht. Eine steile Falte erschien zwischen ihren Brauen. "Was soll das?! Ich hab' meine Story zigmal erzählt!" Mit einer Kopfbewegung deutete sie auf die Unterlagen vor Koch. "Ihre Männer haben fast zwei Pfund Papier damit vollgeschrieben."

"Erzählen Sie noch mal."

"Warum?"

Koch drückte seine Zigarette aus und stützte seine wurstförmigen Arme auf den Tisch. "Sie haben eine Menge Freunde, Mrs. Roosdale. Und einer davon hat mich angerufen und gefragt, ob ich etwas für Sie tun könnte. Ich hab' gesagt, ich rede erst mal mit Ihnen."

"Mein Verleger?" Koch nickte. "Also gut", seufzte Kate. "Ich schreibe einen Jugendroman. Der spielt im Milieu der Straßenkids, da kommen Kindergangs und Crackmütter vor. Deswegen habe ich zwei Wochen lang jeden Tag und jede Nacht mit diesen jämmerlichen Kids verbracht."

Koch nickte und blätterte in seinen Unterlagen. ">Sarah Blue<", murmelte er. "Warum veröffentlichen Sie nicht unter ihrem richtigen Namen, Mrs. Roosdale?"

"Haben Sie meine Adresse gesehen? Ich wohne in Queens. In einer Straße mit lauter hübschen Einfamilienhäusern. Dort ist alles so sauber, dass ich jedes Mal eine Gänsehaut bekomme, wenn ich mit meinem Hund spazieren gehe. Jeder Vorgarten ein Stück Disneyland, und jeden Samstag werden die Mittelklasse-Limousinen gewienert!"

"Na und?" Koch machte ein begriffsstutziges Gesicht.

"Haben Sie Kinder im Teenageralter, die meine Romane lesen?"

"Da müsst ich mal die Bücherregale meiner Töchter durchforsten."

"Lassen Sie's bleiben. Der Punkt ist: In meinen Geschichten wimmelt's von Kids, die sich einen runterholen, ihren ersten Fick erleben, mit sexuellem Missbrauch klarkommen müssen, oder damit, dass sie schwul sind."

Der Deputy Inspector lehnte sich zurück und faltete die Hände vor seinem üppigen Bauch. "Wie niedlich", knurrte er.

"Meine Nachbarn würden mich nicht mehr angucken, wenn sie rauskriegen, dass ich Sarah Blue bin."

"Schon klar", brummte Koch. "Nichts dagegen einzuwenden. Aber um solche Schmöker zu schreiben, muss man sich nicht gleich in jeden Sumpf begeben."

"Das seh' ich anders."

"Es hat drei Tote gegeben."

"Das tut mir leid." Kate wich dem Blick des Polizisten aus. "Ich hab' versucht, die Kids von der Schießerei abzuhalten."

"Gut und schön." Koch fummelte wieder seine Zigaretten aus dem Jackett. "Die Sache ist nur die: Der Staatsanwalt hat Anklage gegen Sie erhoben. Deckung von Straftaten, Behinderung der Ermittlungsbehörden, und so weiter ..."

"O Mist ...!" Kate biss sich auf die Unterlippe.

"... es ist nicht ganz auszuschließen, dass Sie Ihr Büro für ein par Monate in eine Gefängniszelle verlegen müssen, Mrs. Roosdale. Vielleicht sogar für ein paar Jahre. Das ist Ihre Situation. Alles klar?"

Kate wurde blass. Sie nahm die Zigarette, die der Deputy Inspector ihr anbot. "Glauben Sie mir, ich hab' versucht, die Schießerei zu verhindern - aber ich hatte keine Chance."

Eine Zeit lang rauchten sie schweigend. "Okay Sarah Blue. Ich werd' sehen, was ich für Sie tun kann", sagte Koch irgendwann. "Morgen sprech' ich mit dem Haftrichter. Wenn wir Glück haben, setzt er sie gegen Kaution auf freien Fuß. Den Prozess allerdings kann Ihnen niemand ersparen. Ich weiß noch nicht, welcher Richter zuständig sein wird. Sobald ich es erfahre, ruf' ich ihn an und erzähl ihm von unserem Gespräch."

"Und was werden Sie ihm erzählen?"

"Dass Sie eine patente Frau sind, die ihren Job etwas zu ernst nimmt."

"Danke."

"Kann ich noch was für Sie tun?" Koch drückte seine halb gerauchte Zigarette aus und stand auf.

"Ihre Kollegen haben mir nicht gestattet, mir mein Notebook in die Zelle bringen zu lassen. Wenn Sie vielleicht ...?"

"Ich kümmere mich darum."

*

New York City - Lower Manhattan

Vier Tage später wurde Kate Roosdale gegen eine Kaution von fünfzigtausend Dollar aus der Untersuchungshaft entlassen. Ihr Verleger, Marc Pelham, brachte die Summe auf. Als Gegenleistung verlangte er von Kate, endlich ihren Widerstand gegen ein Buchprojekt aufzugeben, für das er sie schon seit Monaten als Autorin gewinnen wollte.

Es ging um die Lebensgeschichte einer Gorilla-Forscherin. Auf dem Buchmarkt gab es noch keine Biographie dieser Frau, die für Jugendliche geschrieben worden war. Die Teenager-Romane von Sarah Blue verkauften sich gut. Mit diesem zugkräftigen Namen würde auch die Biographie der Zoologin ein Kassenschlager werden. Pelham versprach sich einen Bestseller. Außerdem wollte er Kate auf diese Weise zwingen ihren Horizont zu erweitern. Nach seinem Geschmack hatte sie sich ein wenig zu sehr in der gesellschaftskritischen Ecke verrannt.

Kate sagte zähneknirschend zu.

Sechs Wochen nach ihrer Entlassung aus der Untersuchungshaft fand ihre Verhandlung dem Manhattaner Bezirksgericht statt. Ihr Anwalt und Marc Pelham begleiteten sie. Ihr Herz klopfte gewaltig, als sie zwischen den beiden Männern die bombastisch Freitreppe zum Portal des New York County Courthouse hinaufstieg. Zwischen den haushohen, korinthischen Säulen kam sie sich vor wie ein mickriger Zwerg.

"Ich pack's nicht", stöhnte sie, während ihr Anwalt das torartige Portal aufzog. "Gott im Himmel, ich pack's nicht ..."

"Reiß dich zusammen, Kate." Ihr Verleger legte seinen Arm um ihre Schulter. "Wenn du mit Jugendgangs zu nächtlichen Straßenschlachten in der Bronx herumschleichst, packst du auch so was hier." Pelham, über zwanzig Jahre älter als Kate, war von der rabiaten Sorte. Er schmierte seiner Autorin Honig ums Maul, er trat sie in den Hintern - je nach dem, was sie gerade brauchte, um auf einen grünen Zweig zu kommen. Wenn sie zusammen die eine oder andere Flasche leerten, nannte sie ihn schon mal >Daddy<.

Die Verhandlung dauerte nicht einmal eine Stunde. Selbst Kates Anwalt konnte es kaum glauben. Der Richter, ein fast siebzigjähriger Afroamerikaner mit dem bezeichnenden Namen Salomon Hayes, gebärdete sich wortkarg und streng. Mit knappen Worten geißelte er Kates Verantwortungslosigkeit. Sie, als Erwachsene, hätte seiner Meinung nach die Schießerei zwischen den Straßenkids in der Bronx verhindern müssen. Dass sie die Polizei alarmiert hatte, hielt er ihr zugute. Er verdonnerte sie zu einem Jahr auf Bewährung.

Kates Anwalt empfahl ihr dringend, das Urteil zu akzeptieren. Sie wüsste nicht, was sie lieber getan hätte. Kate war gottfroh nicht wieder in den Knast zu müssen.

"Gratuliere, Mädchen, gratuliere!" Pelham drückte sie an sich, nachdem die Verhandlung vorüber war. "Obwohl du im Gefängnis viel Zeit gehabt hättest mir ein paar schöne Bücher zu schreiben!"

"Mistkerl!" Sie biss ihn ins Ohr.

Pelham hatte einen dringenden Termin und eilte zum Ausgang. Kates Anwalt musste zur nächsten Verhandlung. Und so war Kate plötzlich ganz allein, als eine Horde von Presseleuten sie umzingelten.

Irgendwie war durchgesickert, dass sie als Schriftstellerin im Jugendgangmilieu recherchiert hatte. Einige Zeitungen versprachen sich eine verkaufsträchtige Story und hatten ihre Reporter in zu der öffentlichen Verhandlung geschickt.

Blitzlichter zuckten, und Kate blickte verwirrt um sich. Mikrophone und Mini-Kassettenrekorder wurden ihr entgegengestreckt. "Wir haben Ihren Namen in keinem Verlagsprogramm gefunden ..., ... schreiben Sie unter Pseudonym ..., Mr. Pelham hat sie heute begleitet, schreiben Sie für seinen Verlag ...?" Die Fragen prasselten auf sie herab.

"Lassen Sie mich in Ruhe!" Sie drängte sich durch die Menge der Reporter. "Bitte lassen Sie mich in Ruhe!" Die Traube der Journalisten hängte sich an sie und folgte ihr durchs Portal, die Freitreppe hinab.

"Wieso hat Mr. Pelham die Kaution für Sie bezahlt?" Kate nahm zwei Stufen auf einmal. "Schreiben Sie für ihn?" Sie wandte sich nach rechts und lief die Cardinal Hayes Street Richtung Park Row. Auf dem Parkplatz vor dem Polizeipräsidium stand ihr Wagen.

"Ich gebe keine Interviews." Kate war noch nie mit der Presse konfrontiert worden. Sie hatte null Erfahrung mit solchen Situationen. Sie sehnte ihren Verleger herbei. Marc hätte sich irgendeine Lüge einfallen lassen. Kate konnte keinen klaren Gedanken fassen. "Hau ab", raunte ihre innere Stimme, "mach, dass du wegkommst." Sie beschleunigte ihren Schritt. Die Reporter blieben ihr auf den Fersen.

Und dann kam die entscheidende Frage. "Sie sind nicht zufällig die Jugendbuchautorin Sarah Blue?"

Fast automatisch bewegten sich ihre Beine weiter. Ihr Hirn arbeitete fieberhaft. Wie würde sich Marc in so einer Situation verhalten? Keine Ahnung. Das Bild ihres Großvaters tauchte vor ihrem inneren Auge auf. "Das neunte Gebot ist Scheiße", hatte >Sitting Bull< manchmal gesagt. "Glaub' mir, Mädchen - manchmal ist es sogar eine Sünde nicht zu lügen."

Kate blieb stehen und drehte sich um. "Hören Sie - ich bitte Sie, nicht über mich zu schreiben. Ich arbeite für einen Porno-Verlag in San Francisco und schreibe Dialoge für Fotoromane. Mein Vermieter ist Pastor, der schmeißt mich raus, wenn er davon hört ..."

Sie ließ die verdutzten Journalisten stehen und eilte auf den Parkplatz. Sie stieg in ihren alten Volvo, Baujahr 1966, und fuhr ein paar Umwege, um Reporter abzuhängen, die sich vielleicht doch noch an ihre Stoßstange gehängt hatten.

Über die Park Row und die Pearl Street fuhr sie Richtung Süden. Dann nahm sie die Fulton Street Richtung World Trade Center, bog links in die William Street ein, und schließlich nach rechts in die Pine Street Richtung Broadway. Im Rückspiegel war kein Verfolger mehr zu erkennen.

Kate lachte laut und schlug auf das Lenkrad ein. Ihre Hupe ertönte. Die Erleichterung über ihr glimpfliches Urteil konnte sich endlich Luft machen. Sie gab Gas.

Sie musste nach Norden fahren. Raus aus Manhattan ins Hudsontal hinein. In Tarrytown bewohnte sie tageweise und an den meisten Wochenenden eine baufällige Villa. Zusammen mit einem Husky, drei Katzen, zwei Ponys und einer Ziege.

An der Kreuzung zur Broad Street rollte ein silbergrauer Plymouth in ihr Blickfeld. Sie war viel zu schnell, um noch bremsen zu können. Sie rammte den Wagen am hinteren Kotflügel.

"Nein!", schrie sie. "Nein! Was für ein verdammter Mist!"

Sie presste die Stirn gegen das Lenkrad. Tränen stürzten ihr aus den Augen. Tränen der Wut. Jemand klopfte gegen das Seitenfenster. Sie atmete tief durch, fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen und kurbelte das Fenster hinunter.

"Haben Sie sich verletzt, Madam?" Das besorgte Gesicht eines Mannes vor dem Fenster. Ein schmales, markantes Gesicht. Kate registrierte scharf geschnittene Züge, wache graublaue Augen und sorgfältig frisierte, silbergraue Haare. Etwas rieselte warm über die Innenseite ihres Brustbeins.

"Nein ..." Sie schüttelte heftig den Kopf. "Nein ... ich glaub', ich bin okay." Sie öffnete die Tür und stieg aus. Sie stelzte zu dem Heck des Plymouth. Ihre Kniegelenke schienen sich in Schlagsahne verwandelt zu haben. Sie torkelte. Der Mann packte ihren Ellenbogen und umfasste ihre Hüfte. Sie spürte die Wärme seiner Hände durch ihre Bluse.

"Ist Ihnen nicht gut, Madam? Sie machen einen angeschlagenen Eindruck." Seine Stimme klang sanft und kam tief aus seinem Brustkorb. Einer der Männer, denen man jedes Wort glaubte.

"Es geht schon. Danke, Sir." Er ließ sie los, und Kate betrachtete das demolierte Heck des Plymouths. "O Gott! Das sieht übel aus!"

"Blech, Madam. Dafür gibt es Werkstätten." Immer noch schaute er sie mit diesem besorgten Blick an. Keine Spur von Vorwurf in seiner Miene, kein ärgerlicher Unterton in seiner schönen Stimme. "Kann es sein, dass sie ziemlich schnell waren?"

"Ich war zu schnell", seufzte Kate. "Und außerdem hatten Sie Vorfahrt." Kate riss sich von dem Anblick des Mannes los. Er rührte eine Saite in ihr an, die sie sonst nur schwingen spürte, wenn sie schrieb. Es war, als würde er in sie hineinschauen können. "Ich hab' gerade eine Gerichtsverhandlung hinter mir. Und dann war die Presse hinter mir her. Es tut mir so leid ..."

"Schon gut. Es ist ja noch mal leidlich gut gegangen. Ich denke, wir können auf die Polizei verzichten." Er beugte sich zum Kühlergrill ihres Volvos herunter. Er war eingedrückt, aber lange nicht so demoliert wie der Kotflügel des Plymouth. "Stabile Gefährte, diese skandinavischen Oldtimer." Er spähte unter das Auto. "Er verliert kein Kühlwasser. Ich glaube damit kommen Sie gut nach Hause."

Danach untersuchte er seinen eigenen Wagen. Er bog das Blech ein wenig vom Reifen weg. "Ich hab's nicht weit bis zu meiner Dienststelle. Bis dahin schaffe ich's." Er richtete sich auf und zog ein Taschentuch aus seiner Hosentasche, um sich die Hände abzuwischen. Kate fiel auf, dass er einen modischen Anzug trug, der nicht ganz billig gewesen konnte.

"Haben das Formular Ihrer Versicherung dabei?", wollte der Mann wissen.