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Nur kurz hat Sarah Peters sich erholen können nach der Höllenfahrt auf dem Kreuzfahrtschiff. Am liebsten würde sie sich verkriechen und im Kommissariat nur noch Bürodienst tun. Als jedoch die Psychologin des nahegelegenen Frauengefängnisses tot aufgefunden wird, meldet sich etwas verloren Geglaubtes wieder: ihr Ermittlerdrang. Der Fall ist eigenartig, denn alle Insassinnen waren zum Tatzeitpunkt eingeschlossen - oder etwa nicht? Widerwillig und gewohnt querköpfig folgt Sarah Peters ihrem Instinkt und lässt sich darauf ein, in der Haftanstalt zu ermitteln, nicht ahnend, dass sie sich selbst zur Zielscheibe gemacht hat. Denn nichts und niemand bleibt hinter diesen Mauern unbeobachtet.
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Seitenzahl: 372
Veröffentlichungsjahr: 2025
Christina Pertl
Ein Krimi für Sarah Peters
Für Birgit, die im Gefängnis sehr gut aufgehoben ist.
Sie weiß, dass es vorbei ist.
Sie hat es kommen sehen.
Was für eine absurde Hoffnung: dass sie tatsächlich in zwei Wochen hier raus gewesen wäre. Dass sie neu hätte anfangen können. Dass endlich alles gut gewesen wäre. Oder halbwegs okay – das hätte ihr schon gereicht.
So kommt es eben wieder einmal nicht.
Die Schönheit der Natur ist allgegenwärtig, selbst in der Dunkelheit. Sie blickt auf die frisch geschnittenen Buchsbäume vor dem Eingang. Die große Allee, Kieswege, Wiesen, der Duft der ersten blühenden Obstbäume, ganz zart nur in der Nacht – ein Ort voller Kraft und Geschichte.
Wie es wohl damals ausgesehen hat, ohne die Gitterstäbe und verschlossenen Türen? Wer wohnte hier? Waren es nette Menschen? Oder waren sie ebenso furchtbar wie diejenigen, denen man heute begegnet?
Sie hat das alles nicht gewollt.
Hatte sich so fest vorgenommen, sich nur um ihren eigenen Kram zu kümmern. Sogar ihren Schulabschluss hat sie nachgeholt. Da ist ihre Jenny richtig stolz auf sie gewesen. Hat sie angestrahlt, als sie ihr am Besuchstag das Zeugnis zeigte.
Das Mamaherz schmerzt vor Liebe, wenn sie an ihr Mädchen mit den goldblonden Haaren denkt, das bald zehn Jahre alt wird. Wie gut sie riecht, wie zerbrechlich sie wirkt, zugleich aber willensstark und ernst, viel zu erwachsen – das ist ihre Schuld. Sie weiß, dass sie ihr die Unbeschwertheit geraubt hat. Das bleibt für immer ihr schlimmstes Verbrechen. Viel schlimmer als die Diebstähle, Betrügereien und jener missglückte Raub vor bald zwei Jahren. Sie hat ihr Mädchen im Stich gelassen.
Eine Träne läuft über ihr Gesicht und hinterlässt eine kalte Spur. Zu wissen, dass jemand anderes ihre Jenny abends ins Bett kuschelt und sie tröstet, wenn sie Kummer hat, ist die schlimmste Strafe. Noch schlimmer ist nur die Vorstellung, dass sie gar nicht getröstet wird. Dass ihr etwas zustoßen oder sie jemand verletzen könnte. Sie kann sie von hier aus nicht beschützen, ihr nicht helfen. Sie hat versagt.
Die Hände krampfen sich zu Fäusten.
Dabei hat sie es versucht. Wollte alles wiedergutmachen. So, wie sie es Jenny versprochen hat: Kein Scheiß mehr!
Sie hat sich aus allem herausgehalten. Achtzehn Monate, drei Wochen und fünf Tage lang hat das gut funktioniert. Nur noch die paar Wochen, dann wäre sie frei gewesen, frühzeitig entlassen.
Doch dann begann eine neue Zeitrechnung.
Sie hätte es sich nicht erlauben dürfen, auf ein Happy End zu hoffen. Sie hätte wissen müssen, dass es so etwas nicht gibt. Nicht für sie.
Zuerst waren es nur die kleinen Ärgernisse. Eine Bemerkung da, eine Schikane dort, ein Ellbogenstoß im Spazierhof – das Übliche. Aber vor einigen Wochen kamen die Drohbriefe dazu. Und die toten Mäuse. Kopflose kleine Kreaturen, einmal sogar auf ihrem Kopfkissen. Als hätte sie da nicht schon längst verstanden, dass es ihnen ernst war.
Allein durch einen blöden Zufall war sie auf ihr Geheimnis gestoßen. Sie hatte gegen Ende ihrer Schicht nach einer kleinen Box gesucht, für die Schatzkiste, die sie für Jennys Geburtstag mit allerhand Geschenken befüllen wollte. Was man hier drinnen eben so bekommt, das meiste selbst gebastelt, ein paar Süßigkeiten aus dem überteuerten Laden dazu. Die Vorstellung ihres strahlenden Gesichts hatte sie fröhlich gestimmt und unaufmerksam gemacht. Sonst hätte sie vielleicht bemerkt, dass jemand sie beobachtete. Erst als sie schon fast wieder draußen war, entdeckte sie ihn in der hintersten Ecke, dort wo die fertigen Päckchen auf die Auslieferung warten: einen Stapel mit kleinen Boxen, die aus der Reihe tanzten, weil sie unverschlossen waren. Offene Boxen waren hier fehl am Platz. Und erst recht das Zeug, das sich darin befand. Das Zeug, das sie nie hätte sehen dürfen.
Klar hatte sie von den Geschäften gehört – gefährlich, aber lukrativ sollen sie sein. Jeder weiß davon, viele wollen mitmachen. Aber nicht sie, sie wollte nichts wissen und sich auch nichts dazuverdienen.
Kein Scheiß mehr! Sie hatte es versprochen.
Dass von ihr keine Gefahr ausging, hat sie bestimmt hundert Mal beteuert. Sie wollte nicht darüber sprechen. Eigentlich. Doch dann wurde ihre Angst zu groß, und sie erzählte es doch. Einer einzigen verdammten Person. Die hatte ihr immer wieder versichert, dass alles, was sie sagte, vertraulich war. Safe Space und so. Schweigepflicht, bla, bla, bla … Bullshit!
Eine Lüge mehr in ihrem Leben.
Und nach jenem Gespräch nahm ihr ganz persönliches Karussell des Grauens Fahrt auf.
Mit einem Schlag war sie zu einer Bedrohung geworden, und sie drängten sie mitzumachen. Wer selbst schuldig ist, der redet nicht.
Versonnen streicht sie mit dem Zeigefinger über einen faustgroßen dunklen Fleck auf ihrem Unterarm, der in allen Farbnuancen von Dunkellila bis Grün spielt. Immer noch zuckt sie zusammen, obwohl sie den Schmerz hat kommen sehen. Angeblich ist nichts gebrochen, auch wenn das beißende Pochen und Ziehen eine andere Geschichte erzählt.
»Stell dich nicht so an«, hat Schwester Adriana sie angeknurrt und für arbeitsfähig erklärt. Nicht einmal richtig untersucht hatte sie ihren Arm.
Das alles hätte sie ertragen. Bei der Arbeit in der Fertigung hat sie die Zähne zusammengebissen.
Die paar Wochen noch.
Doch dann kam das Foto.
Es war ein Schnappschuss, der ihr kleines Mädchen vor dem großen Haus der Pflegefamilie zeigt. Schön gerechter, heller Kies, frisch geschnittene immergrüne Hecke, davor Jenny, die gegen die Morgensonne blinzelt, die Haare zum Pferdeschwanz gebunden, auf dem Rücken ihren Schulranzen mit dem großen Glitzerstern. Es war ein perfektes Bild von einem perfekten Mädchen. Ihrem Mädchen!
Wäre da nicht die rote Farbe gewesen.
»Wir finden dich, auch draußen. Sie wird nie sicher sein!«, stand da in windschiefen, grausamen Buchstaben.
Sie erinnert sich an die Schockwelle, die sie überrollte, daran, wie das Bild aus ihren Fingern glitt und leise zu Boden segelte.Das Zittern, die Atemnot, die Panik, die Hilflosigkeit. Und dann die Erkenntnis, dass es nur einen Ausweg gab. Sie musste die Sache ein für alle Mal zu Ende bringen. Musste das einzig Richtige tun für die eine gute Sache, die sie in ihrem Leben erschaffen hat: für ihre Jennifer Patrizia. Damit sie sicher war und blieb. Es musste mit ihr enden.
Jenny hat ein schönes Zuhause, ein besseres, als sie es ihr jemals hätte bieten können. Dort ist sie in Sicherheit. Wenn ihre nutzlose Mutter erst weg ist, interessiert das perfekte Mädchen mit dem Pferdeschwanz hier drinnen niemanden mehr. Erst dann ist Jenny frei.
Sie krümmt sich vor Übelkeit, hyperventiliert, kämpft dagegen an. Die Hände zittern unkontrolliert, als sie das große runde Fenster öffnet. Ein lautes Knarren des alten Scharniers. Schon viel zu lange steht sie hier oben, wo sie eigentlich gar nicht sein dürfte. Aber die Regeln hier drinnen legen längst nicht mehr die Beamten fest. Es war einfach, den Mann zu bestechen, damit er ihr die Tür öffnete. Zu einfach.
Es sind die ersten milden Wochen. Der Wind trocknet ihre feuchten Wangen. Ein langer Atemzug, es gibt keine andere Lösung. Ihr Weinen flieht durch das Fenster hinaus in die Nacht, als sie den ersten Fuß auf den zu schmalen Fenstersims setzt. Der Wind trägt ihr Wimmern davon. Hinaus in eine Welt, die bald nicht mehr ihre sein wird.
»What was I made for?«, murmelt sie die Zeilen des Billie-Eilish-Songs, den sie nächtelang auf Dauerschleife gehört hat. Diese Frage wird unbeantwortet bleiben.
Sie schließt die Augen und macht den nächsten Schritt.
In Richtung Freiheit.
Ihren letzten.
Guten Morgen, Sonnenschein!
Der See liegt friedlich vor ihr. Es ist fast windstill. Nur ab und zu kräuselt ein Lufthauch die Oberfläche. Die Vormittagssonne spiegelt sich im Wasser. Vögel zwitschern. Ein wunderschöner Tag in Konstanz.
Sarah Peters‘ Daumen und Zeigefinger sind zu Kreisen geschlossen, die restlichen Finger geöffnet, sie sitzt im Lotussitz auf ihrer Yogamatte. Tief atmet sie ein und langsam wieder aus, konzentriert sich auf ihren Herzschlag. Ab und zu streift ein langer Grashalm ihren rechten Unterarm, es kitzelt. Und nervt.
»Hatschi«, niest Thorben neben ihr.
»Gesundheit«, murmeln einige Stimmen.
»Versucht, bei euch zu bleiben«, erinnert Gabi mit sanfter Stimme. Sie leitet den Anfängerkurs für Yoga und Meditation, der heute zum dritten Mal stattfindet. Finde dein inneres Gleichgewicht, stand auf dem Flyer. In acht Einheiten soll hier vermittelt werden, wie man trotz Alltagsstress und Erwartungsdruck zur Ruhe kommen kann.
»Spürt die Energie der Erde«, flüstert Gabi.
Sarah Peters versucht ihr Bestes. Aber das Einzige, was sie spürt, ist dieser unangenehme Stein unter ihrer Matte. Und das Kitzeln an ihrem Arm.
Sie hat sich fest vorgenommen, der Sache eine Chance zu geben – sogar den anderen Kursteilnehmern. Noch einmal reißt der schniefende Thorben sie aus der Konzentration. Aber mehr noch als seine Pollenallergie stehen wieder einmal ihre eigenen Gedanken der Entspannung im Weg. Auch heute kommt sie um eine Frage nicht herum, die sich während der Atemübungen und Asanas immer wieder in ihr Bewusstsein drängt: Wie bin ich eigentlich hier gelandet?
Auf dieser Matte.
An diesem Punkt im Leben.
Sarah Peters, einundvierzig Jahre, Kriminaloberkommissarin.
Sie weiß, wer sie ist – auch das war ja schon einmal anders –, aber über diese harten Fakten hinaus fällt es ihr schwer, etwas über sich zu sagen. Vor allem darüber, wie es ihr geht. Sie hasst diese Frage.
Mit jedem Atemzug wird sie nervöser, weil es ihr nicht gelingt, Ruhe in ihren Körper und ihre Gedanken zu bringen. Ein Teufelskreis.
Leise bläst sie die Luft durch den Mund hinaus, so lange, bis die Lunge vollkommen leer ist. Zieht neue Luft durch die Nase und spürt, wie sich ihr Puls beschleunigt.
Versucht, bei euch zu bleiben.
Was, wenn man aber eigentlich genau das Gegenteil will? Weg von sich selbst, der Vergangenheit und dem eigenen Schicksal? Was dann, Gabi?
Wann hat die Misere begonnen? Auf jeden Fall weit vor ihrem Gespräch mit Margit, der Polizeipsychologin, die ihr den Flyer für diesen Kurs in die Hand gedrückt hat: »Gabi ist eine Freundin von mir. Probier das doch mal aus!« Zu diesem Zeitpunkt war Sarah Peters schon verzweifelt genug, alles zu versuchen, nur um endlich abschalten zu können. Das nervöse Zucken hatte damals gerade erst angefangen. Mittlerweile hat es sich zu einem handfesten Tick entwickelt, dass sie nicht aufhören kann, mit Daumen und Zeigefinger aneinanderzutippen. Als hätte sich ihre innere Unruhe den Weg nach außen gefressen und das Chaos, das in ihr herrscht, für alle Welt sichtbar gemacht.
Eigentlich weiß sie genauso gut wie Margit, was die Ursache ihrer Nervosität ist. Oder wer.
Michael.
Ihr Freund und ehemaliger Kollege, der im vergangenen Sommer verstorben ist, während sie gemeinsam auf einem Kreuzfahrtschiff ermittelten. Ob sie sich jemals verzeihen kann? Sie hat die Abläufe in ihrem Kopf durchgespielt. Die Ereignisse Revue passieren lassen, immer und immer wieder. Doch Michael bleibt tot, und sie verzweifelt auf der Suche nach sich selbst und einem Weg, um mit ihren Schuldgefühlen weiterzuleben.
»Geh doch mal unter Leute«, hat Margit gesagt, deren Bemühungen weit über ein berufliches Interesse an der psychischen Stabilität der Kommissarin hinausgehen. Sie ist eine Vertraute geworden, eine mütterliche Freundin, die es ernst meint, wenn sie sagt: »Du kannst mich jederzeit anrufen.« Dennoch hat Sarah Peters Hemmungen, genau das zu tun.
Aber sie hat versucht, ihrem Rat zu folgen und sich nach der zweiten Yogaeinheit tatsächlich dazu überreden lassen, mit den anderen auf ein Getränk zu gehen. Schneller als befürchtet, hat sie es bereut – nicht allein wegen des Matcha Latte. Nur Alkohol hätte ihr dabei helfen können, dieses soziale Experiment zu ertragen, aber mit dem Trinken hat sie vor ein paar Wochen aufgehört. Der tägliche Rausch hat sie auch nicht weitergebracht. Morgen für Morgen ist sie vollkommen orientierungslos aufgewacht. Ohne Erinnerung an das Ende des Abends, ohne Ahnung, wie sie nach Hause gekommen war. Ohne zu wissen, wer den Hund gefüttert hatte. Einmal sogar ohne Hose.
Nun also Asanas und Askese statt Alkohol.
»Ohmmm«, stimmt die Yogalehrerin die Gruppe auf das Ende der Einheit ein.
Sarah Peters blinzelt durch die Augenlider, die eigentlich noch geschlossen sein sollten. Gabis sonnengegerbte Gesichtszüge sind vollkommen entspannt. Sie ist einer von jenen Menschen, die zum Aufstehen meditieren, nur selbst angebautes Gemüse essen und auch bei Schnee und Eis mit dem Rad fahren. Sie lebt im Einklang mit dem Universum, weil sie daraus ihre Kraft schöpft. Muss schön sein.
Schuldbewusst schließt Sarah noch einmal die Lider und versucht, ihre Augen daran zu hindern, wild hin und her zu zucken.
Einatmen, Energie spüren, Ausatmen. Namaste.
Gleich geschafft. Und dann: nichts wie weg.
Noch einmal kann sie die weinerlichen Beziehungsgeschichten von Sandy zwei Matten weiter nicht ertragen. Sorry, Margit! Unter Leute gehen, ja, okay – aber es müssen bitte andere Leute sein!
»Da sind wir.«
»Offensichtlich.«
Nicken.
Sarah Peters‘ Blick wandert an den Besucherinnen vor ihrer Tür vorbei in Richtung des Autos, das hinter den beiden parkt. Es ist ein türkiser runder Kleinwagen, der schon bessere Zeiten gesehen hat. Das Auffallendste an dem mitgenommenen Mädchenauto sind aber nicht die vielen Kratzer über die gesamte rechte Seite, sondern die unzähligen Dinge, die in das Fahrzeug gequetscht worden sind. Ohne jetzt die Streifenpolizistin heraushängen lassen zu wollen – aber das ist wohl sichtmäßig eine Fahrt jenseits der Straßenverkehrsordnung gewesen: Die Blätter eines mannshohen Gummibaums ragen aus dem Fenster auf der Fahrerseite, Yogamatte, Kissen und Sportschuhe pressen sich von innen gegen die Scheibe des überfüllten Kofferraums, diverse Taschen und Kleidungsstücke quellen aus der geöffneten Tür. Es sieht aus, als müsse sich das kleine Auto auf dem Parkplatz vor dem modernen Apartmenthaus im Stadtteil Petershausen übergeben.
Man könnte fast Mitleid bekommen.
Aber Mitleid ist nicht gerade Sarah Peters‘ Stärke. Sie beobachtet die ungewöhnliche Szene, wortlos und irgendwie fasziniert.
»Ähm … ja, ich hoffe, wir haben nichts vergessen.« Ein freches Grinsen wandert über Annemaries Gesicht, als sie sich am Hinterkopf kratzt. Die junge Frau im pinken Sweatshirt sieht gut aus, wie immer. Lässig und frisch, ein wandelnder Auslöser für Minderwertigkeitskomplexe.
»Ich wüsste nicht, was das sein sollte«, entgegnet Sarah gedehnt, während sie immer noch auf das Raumwunder starrt, das vor ihrem Haus parkt. Sie räuspert sich, mustert Annemarie und wird sich schlagartig bewusst, was für ein Bild sie selbst abgeben muss: ausgebeulte Jogginghose, die längst mal wieder gewaschen werden müsste, dazu ein ehemals schwarzes Shirt, auf dem Polite as Fuck steht. Styling-Typ: Assi. Nach der Yogastunde ist sie auf dem Sofa eingenickt, ein Abdruck des Kissens auf ihrer linken Wange erzählt noch davon.
Netterweise hat Annemarie noch kein Wort über Sarahs Erscheinungsbild verloren, ihr Blick spricht allerdings Bände: »Da muss jetzt aber das ganz große Umstyling her, Leute!« Sarah Peters würde alles darauf verwetten, dass diese Frau, mit der sie sich im vergangenen Jahr sieben Tage lang eine Kabine auf einem Kreuzfahrtschiff teilen musste, in ihrem Auto die gesamte Grundausstattung eines Schönheitssalons mit sich führt.
»Ähm …«, sagt nun auch der kleinste Mensch in der Runde.
Leni, acht Jahre alt, groß gewachsen und hübsch, wie ihre Mutter. Das Mädchen sieht peinlich berührt von einer zur anderen, schließlich bleibt sein Blick an Sarah hängen, die immer noch breitbeinig an der Türschwelle steht wie Ronaldo vor dem Elfmeter.
»Ich muss mal.«
Endlich stößt Sarah Peters die Tür auf und gibt den Weg in ihre Wohnung frei. Schwere klassische Musik dringt aus dem Wohnzimmer, Annemarie zieht die Augenbrauen hoch. Die Sarah Peters, die sie kennt, hatte einen Hang zu fragwürdigem 80er- und 90er-Pop. Schwer zu ertragen und doch irgendwie liebenswert. Aber diese Zeiten sind vorbei. Zu farbenfroh, zu beschwingt, zu fröhlich, zu viel Wohooo!
Andächtig überschreiten die Besucherinnen die Schwelle zu einer Welt, die so gar keine Verbindung zum verlotterten Look der Besitzerin zulässt. Es ist sauber, aufgeräumt und schnörkellos, wie eine Szene aus einem gehobenen Einrichtungskatalog. Themenwelt: im Einklang mit der Natur. Das einzige unruhige Element in der zenartigen Umgebung des offenen Wohnraums ist das Wogen des Bodensees vor der Panoramascheibe. Und natürlich der wedelnde Schwanz des schwarzen Hundes, der zu ihren Füßen tanzt und hartnäckig versucht, die Menschen auf sich aufmerksam zu machen. Streichle mich! Füttre mich! Huhu! Hallooohooo! Upsi, bin ich doch hochgesprungen? Macht nix! Schon wieder! Hallöchen!
»Du musst Snickers sein«, sagt Annemarie lachend und lässt sich auf die Knie sinken. Da nimmt die Wedelei noch ein wenig zu. Annemarie liebt Hunde. Und nun liebt Snickers sie auch – für immer.
Sarah Peters beobachtet die Szene nachdenklich und stellt dann die Frage, die ihr auf der Zunge brennt, seit sie ihre Haustür geöffnet hat: »Was soll das mit dem verdammten Gummibaum?«
Willkommen bei der Polizei
Es ist kühl heute Morgen.
Zu kühl für die dünne Jacke. Aber das ist nun mal ihre Frühlingsjacke. Das Oberbekleidungsstück, das Sarah aus dem Garderobenschrank zieht, sobald der Kalender April anzeigt. Annemarie wäre schockiert, aber kaum überrascht von der mangelnden modischen Auswahl. Ein Schmunzeln umspielt ihre Mundwinkel, als sie an ihre Freundin denkt. Sie ist ein Geschenk des Schicksals, und es fühlt sich an, als würden sie einander schon viel länger kennen als dieses halbe Jahr – das schlimmste ihres Lebens.
Niemals hätte sie ein Kreuzfahrtschiff wie das, auf dem sie im vergangenen Sommer ermitteln mussten, freiwillig betreten. Seitdem Sarahs Schwester mit dreizehn unerwartet beim gemeinsamen Rudertraining an einem Hirnaneurysma gestorben ist, hat sie offenes Wasser gemieden. Auch die Menschenmassen, die mit dieser Reise einhergingen, waren so gar nicht ihre Sache gewesen. Aber dieser verfluchte Fall, bei dem es um illegalen Organhandel ging, ließ sie all ihre Abneigungen und Ängste überwinden – es musste sein. Hätte sie auf ihr Bauchgefühl gehört, wäre es vielleicht anders gekommen und Michael noch am Leben. Aber Sarah Peters hat sich vorgenommen, diesen dunklen Überlegungen damit zu begegnen, dass sie sich auf die Kinder konzentriert, die sie gerettet hat. Für sie hat es sich gelohnt.
Und für Annemarie.
Immer noch kann Sarah Peters es sich nicht erklären, dass sie ihren Besuch vergessen hat. Sie hat versucht, es zu überspielen, aber Annemarie kennt sie zu gut.
»Komm, wir fahren was einkaufen«, hat sie zu Leni gesagt, nachdem sie einen Blick in den Kühlschrank geworfen hatte. Zwei Zitronen, ein Butterziegel und ein fragwürdiges Stück Käse konnten sie nicht davon abbringen, dass der Besuch im Tankstellenshop nötig war.
Es ist Sarah unangenehm. Ihre geistigen Aussetzer bereiten ihr Sorgen. Es ist zwei Monate her, dass sie sich morgens fertig machte, zur Arbeit ging und erst am Empfang des Polizeipräsidiums feststellte, dass eigentlich Sonntag war.
Sie fröstelt, zieht die abgetragene Jeansjacke noch ein wenig enger um ihren Körper. Mager ist sie geworden, spürt ihre Rippen durch die Kleidung. Von der durchtrainierten Kommissarin ist nicht mehr viel übrig. Für die Stunden in der Kraftkammer des Kommissariats fehlt ihr schlicht die Energie. Sie weiß, dass sie schlecht aussieht, auch ohne Spiegel – die Hosen, die ihr ohne Gürtel über die knochigen Hüften rutschen oder die mitleidigen Blicke der Kollegen, die Bände sprechen.
Sie hat einfach keinen Hunger. Auf nichts. Nie. Stattdessen sucht sie ihn mittlerweile regelrecht, diesen ziehenden Magenschmerz, der sich einstellt, wenn sie wieder einmal tagelang fast nichts zu sich genommen hat. Ironischerweise gibt genau dieses Brennen ihr das Gefühl, endlich wieder lebendig zu sein.
Wahrscheinlich ist ihr deshalb auch ständig kalt. »Der Mensch braucht Fett«, pflegte ihr Großvater zu sagen, während er sich sein geliebtes Schmalzbrot in den Mund schob. Sein liebevoller Blick, seine warmen Hände – sie vermisst ihn sehr, immer noch, obwohl mittlerweile fünfeinhalb Jahre vergangen sind, seit er gestorben ist. Sie wusste, dass es der Anfang vom Ende war, als das Glänzen in seinen Augen erlosch und er sie nicht mehr erkannte, wenn sie das Zimmer betrat.
»Wer sind Sie? Was machen Sie in meinem Haus?« Jedes Mal, wenn sie an diese Worte denkt, ist da wieder der Stich ins Herz. Opa Oskar war ihr Zuhause, ihre ganze Familie, alles, was ihr geblieben war nach dem Tod ihrer Eltern und ihrer Schwester. Die Leere, die er hinterlassen hat, wird für immer bleiben.
Wie jeden Tag macht Sarah Peters einen Abstecher, bevor sie in die Gassen der Altstadt abbiegt. Dieser Umweg ist ihr Ritual. Sie geht durch den Stadtgarten, wo die Frühlingsblumen in den gepflegten Beeten um die Wette zu wachsen scheinen. Entlang der alten Platanen, die die Wasserkante heute noch für sich allein haben. In einigen Wochen wird es schwer, hier eine freie Bank zu finden, aber noch ist nicht Hochsaison am Bodensee. Ein Glück, wie Sarah Peters findet, die sich jedes Jahr aufs Neue freut, wenn die kalten Temperaturen die Touristen aus ihrer Stadt vertreiben und Ruhe einkehrt.
Der Pier ist heute Morgen noch menschenleer. Niemand, der für ein Foto ein Duckface zieht oder originellerweise versucht, die Wasserträger-Position des Wahrzeichens hinter sich zu imitieren. Glatt und still liegt der See zu Füßen der Imperia, jener neun Meter hohen Statue einer Prostituierten, die eigentlich schon längst wieder hätte verschwunden sein sollen. Sarah kann sich noch an die Aufregung erinnern, als die übergroße, spärlich bekleidete Frau enthüllt wurde, die in einer Hand einen Zwergenpapst und in der anderen einen ebenso kleinen nackten Wicht mit einer Krone hält – ein temporäres Kunstwerk, wie es zunächst beschwichtigend hieß. Vor allem die konservativen Leute hatten sich für das neue Wahrzeichen geschämt: eine Hure am Pier, ein Skandal! Als wäre das die Einzige hier in Konstanz. Die stolzeste ist sie auf jeden Fall bis heute. Und nachdem die erste Aufregung abgeflaut war, durfte die Imperia bleiben. Die Werbung, die die Statue für die größte Stadt am Bodensee macht, wog dann doch schwerer als die Scham über die Brüste aus Beton.
Sarah Peters geht ein paar Schritte zurück, um der grauen Riesin ins Gesicht zu blicken. Ein süffisantes Grinsen umspielt die steinernen Mundwinkel. Sie kann sich noch gut an den Tag erinnern, als sie das Kunstwerk zum ersten Mal gesehen hat. Gemeinsam mit ihrer Schwester Sibylle, die damals gerade zehn geworden war und es sofort »voll cool« fand. Sie war immer schon die Künstlerin von ihnen gewesen. Stundenlang hat sie gebastelt und gemalt. Gab man ihr ein Blatt Papier und einen Stift, konnte sie sich ewig und drei Tage lang beschäftigen. Sie wäre bestimmt eine von denen geworden, die in Museen stumm und viel zu lange auf ein Kunstwerk starren können.
Sarah Peters fehlt die Geduld für verträumtes Verweilen, vor allem aber der Wille, sich darauf einzulassen, was irgendein Künstler in seiner Scheune auf ein ehemals weißes Tuch gekleckst hat. Sorry, aber mal doch einfach den verdammten Apfel und lass mich da nicht rumraten!
Nein, ein Feingeist ist Sarah Peters nicht.
Auch die Imperia hat ihr von Anfang an so gar nicht gefallen. Die Statue war ihrer Meinung nach zu klein für das alte Pegelhäuschen, das ihren Sockel bildet – für das Aufhebens, das man um sie machte, sowieso. Aber weil Sibylle die neue Attraktion »sooo tohooll« fand, machten die Schwestern jedes Mal, wenn sie in dieser Ecke der Stadt waren, einen Stopp und sagten der steinernen Frau »Hallöööchen!«.
Sarah hat versucht, diese Tradition beizubehalten, und zwingt sich, für einen Moment an Billi zu denken. Die Bilder des leblosen Körpers in ihren Armen wird sie niemals vergessen. Dieser verdammte See! An manchen Tagen tröstet sie die Gewissheit, dass zumindest der Schmerz ihr bleiben wird.
Sarahs Blick wandert über die Wasseroberfläche Richtung Ufer. Wie immer meidet sie es, in die Tiefe zu sehen und versucht, ruhig weiterzuatmen, als sie spürt, wie die Angst sich heranschleicht. Das Gefühl entsteht in der Magengegend, breitet sich aus und lähmt ihren Körper. An den meisten Tagen hilft es, wenn sie sich bewusst auf einen Fixpunkt konzentriert: das Ufer, die Imperia, der Tourist mit der roten Kappe. Das ist ein großer Fortschritt.
Ein lautes Tuten lässt sie zusammenzucken, sie hat die Fähre, die sich dem Hafen nähert, nicht bemerkt.
Sarah Peters zieht die Jacke noch einmal enger und geht auf die Rückseite des Steinhäuschens, auf dem sich die Imperia langsam und stetig im Kreis dreht. Vier Minuten für eine Runde, so lang hat sie noch Zeit. Sie legt die Arme auf die Brüstung und mustert das Gitter, das unter einem Meer an bunten Schlössern fast verschwunden ist. Kein Fleckchen ist frei geblieben, kein Platz mehr für neue Liebe. Eine eigenartige Tradition. Benni liebt Britt! steht auf einem roten Schloss, in das ein Herz eingraviert ist. Na, hoffentlich kommen Britt oder Benni auch mit einem Bolzenschneider vorbei, falls sich daran jemals etwas ändert.
Ihr Blick wandert zu dem alten Leuchtturmhäuschen. Mit der verspielten Klinkerfassade und seinem spitzen Turm sieht es aus wie ein Miniaturschlösschen, das am Ende des Piers aufs Wasser hinausragt. Es ist Sarahs Lieblingsgebäude. Als Kind hat sie sich oft vorgestellt, wie es wäre, dort zu wohnen. Gerade schiebt sich ein Boot vorbei und nimmt ihr die Sicht. Eine einsame Möwe blickt von einem der Poller auf den See hinaus, als würde auch sie über den Sinn des Lebens nachdenken.
Was war der noch gleich?
Es ist Sarah Peters nicht leichtgefallen, den Polizeidienst ohne Michael weiterzumachen. Immer noch hadert sie mit dieser Entscheidung.
Ob sie ihre Lebenszeit nicht doch irgendwie besser nutzen könnte, als sich Beschwerden über laute »Assi-Nachbarn« anzuhören? Oder über die »hirnverbrannten« Baustellen auf der B33 bei Allensbach? Oder die Anzeige eines Diebstahls von drei Kisten Bio-Bananen vor dem Supermarkt? Sie hat ihre Zweifel. Auch wenn sie selbst darum gebeten hat, vorerst Dinge zu erledigen, für die sie als Kriminaloberkommissarin eigentlich überqualifiziert und überbezahlt ist. Sie braucht noch Zeit. Die Angst, schwierigeren Fällen nicht mehr gewachsen zu sein, ist zu groß. Die Panik vor falschen Entscheidungen lähmt sie. Für das Verständnis vonseiten der Kollegen ist sie dankbarer, als sie es zeigen kann.
Sarah Peters könnte ewig hier stehen, an den kühlen Stein des Pegelhäuschens der Imperia gelehnt, und dem schmatzenden Geräusch des Wassers lauschen, das gegen die Holzpfähle schlägt. Viele Jahre war es nur Unbehagen gewesen, eine starke Abneigung, die sie dem See entgegenbrachte. Doch seit dem Einsatz auf dem Kreuzfahrtschiff hat sich das beklemmende Gefühl, das in ihr schlummert, verstärkt. Solange sie festen Boden unter den Füßen hat, lässt es sich im Zaum halten. Die Zeit der Panikattacken, die sie in die Knie zwangen und nach Luft ringen ließen, sind vorbei, aber noch hat sie keine Lösung für das gefunden, was Margit als Thalassophobie diagnostiziert hat, als Angst vor tiefen Gewässern. »Es ist eine der am meisten verbreiteten Phobien. Entspannungsübungen können ein Weg der Bewältigung sein, manchmal hilft auch die reale Konfrontation.« Doch für ein Bad im See ist Sarah noch nicht bereit.
Gerade wird wieder ein Schiffsmotor angeworfen. Wer hier im Hafen ins Wasser fällt, schwebt in Lebensgefahr. Vorsichtig lehnt sie sich über die Brüstung, wagt doch den Blick Richtung Grund, die Hände krampfen sich um das Geländer. Wer würde sie vermissen?
Das Handy brummt in ihrer Jackentasche und rettet sie vor den dunkelsten Gedanken.
WO BIST DU???
Drei Fragezeichen.
Großbuchstaben.
Eigentlich zwei Gründe für Sarah Peters, nicht zu antworten. Da die Nachricht aber von Stefan kommt, ihrem technikfeindlichen älteren Kollegen, will sie es ihm nachsehen. Sie weiß, dass ihm jegliches Gespür dafür fehlt, wie man eine geschriebene Nachricht so formuliert, dass sich der Empfänger nicht angeschrien fühlt. Ein letzter Blick auf das glitzernde Wasser des Bodensees, den sie gleichermaßen hasst wie liebt, dann macht sie kehrt.
FÜNF MINUTEN!!!, schrei(b)t sie zurück und beschleunigt den Schritt.
Das Stimmengewirr und die Emsigkeit zu dieser vormittäglichen Stunde hätten ihr schon ein paar Straßen zuvor ein Hinweis sein können. Spätestens der aufblasbare Aufsteller in Form einer Stopp-Kelle, die Menschenmenge, Absperrungen, Polizeiautos und -hunde sowie die beiden Pferde Speedy und Action vor dem Eingang des Kommissariats helfen ihrer Erinnerung auf die Sprünge.
Da hört sie auch bereits die Stimme von Polizeioberrat Gregor Marshall, ihrem Chef: »Willkommen zum Tag der offenen Tür«, ruft er in ein Mikrofon. Es quietscht furchtbar aus den Lautsprechern. »Wir alle freuen uns sehr, Sie heute bei uns begrüßen zu dürfen!«
Scheiße.
Jetzt fällt es Sarah wieder ein: Die Mails, die Aushänge, die Erinnerungen – für sie sind es wohl nicht genügend gewesen. Oder zu viele?
Sie hat es vergessen, ebenso die »dem Anlass entsprechende Uniform«. Zum Glück hängt die im Spind in ihrem Büro – so nah und doch so fern. Denn leider stehen ihr dicht gedrängt mindestens zwei Schulklassen, Mütter mit Kinderwagen und ältere Herrschaften mit Hunden im Weg. Vorsichtig bahnt Sarah sich den Weg durch die wartenden Menschen.
Die Schulkinder lachen und stupsen sich an. Allgemeine Unruhe, während man auf der kleinen Bühne eifrig versucht, der Störgeräusche des Mikrofons Herr zu werden.
»He, Justus, hast du gepupst? Oder war es das Pferd?«
Ein aggressiver Junge, vielleicht fünfzehn Jahre alt, mit einem Fischerhut im Batik-Style auf dem Kopf, rüttelt den Kleineren vor sich an den Schultern. Die Kollegen lachen, die Lehrerin hebt Zeigefinger und Augenbraue. Justus, mit Sommersprossen und Brille auf der Nase, presst die Lippen zusammen. Die Schultern hängen nach vorne, als wolle er sich so klein wie möglich machen und am liebsten im Kopfsteinpflaster vor dem Backsteinbau des Kommissariats versinken.
Sarah Peters ist stehen geblieben und beobachtet die Szene.
»Was gibt’s zu glotzen?«, motzt der Größere, der gerade den blöden Hut abgenommen hat und damit etwas offenbart, das die Kommissarin nur als einen schrecklichen Unfall einstufen kann: Seitlich sind seine Haare sehr kurz rasiert, oben herum alle gleich lang, inklusive Stirnfransen. Es sieht aus wie ein haariges Schwammerl.
»Hab nur deinen Hut bewundert. So was hat mein Opa früher auch zum Angeln getragen. Supercool!« Sie streckt beide Daumen hoch und bemerkt, dass Justus grinst.
Leider hat Sarah Peters, die dienstälteste Polizeioberkommissarin in Konstanz, nun auch die Aufmerksamkeit all ihrer Kollegen auf sich gezogen. Schön, wie sie alle dastehen: Seite an Seite in ihren dunkelblauen Uniformen, mit Hemd und Krawatte, Schirmmützen, blank geputzten Schuhen und allem Pipapo.
»Und da bin ich auch schon«, sagt sie halblaut in die peinliche Stille hinein. Einige Kollegen grinsen, der pflichtbewusste Stefan sieht angespannt aus, und Sarah stellt sich vor, dass Margit, die Psychologin, sich gerade eine gedankliche Notiz macht.
Gregor Marshall räuspert sich und wendet sich wieder seinem Problemmikrofon zu.
»Äh … also … Schön, dass nun tatsächlich alle da sind … Herzlich willkommen bei der Polizei! Ein buntes Programm erwartet Sie heute bei uns …«
Endlich hat es Sarah Peters in den Innenhof des Kommissariats geschafft, eines der schönsten Gebäude der allgemein sehr schönen Altstadt. Die Klinkerfassade ist vor einigen Jahren aufwendig restauriert worden. Wer den Torbogen durchschreitet, lässt den Trubel der Fußgängerzone hinter sich und betritt eine ruhige Oase.
Normalerweise.
Denn heute sind Justus, der Unsympathler mit dem Hut, und alle anderen Einwohner von Konstanz zu Gast.
Herzlich willkommen!
»Sarah?«
Wenn es im großen Lexikon der Berufe eine Blaupause für eine Psychologin gäbe, dann müsste sie aussehen wie die Frau, die Sarah Peters gegenübersitzt: ernster Blick, Kopf leicht geneigt, die Lesebrille in der Hand, ein Bein über das andere geschlagen. In geduldiger Erwartung sitzt Margit da, als könne keine Offenbarung dieser Welt sie überraschen, als wäre kein Problem unlösbar, als hätte sie alles schon einmal gehört. Sie bewertet nicht, hört einfach zu und beobachtet. In diesem Moment zum Beispiel, wie Sarah unentwegt an dem Hemdknopf an ihrer Brusttasche herumzupft, um den der babyblaue Stoff eine nervige Falte schlägt. Hätte man mal schöner bügeln können, wenn man gewollt hätte. Aber das Bügeleisen und Sarah Peters pflegen keine innige Freundschaft. Es ist eher so etwas wie ein erzwungenes Verwandtschaftsverhältnis – wenn es sich nicht vermeiden lässt, verbringt man Zeit miteinander und ist froh, wenn man es hinter sich gebracht hat.
Sarah Peters‘ Gedanken sind wieder unterwegs, galoppieren ohne Fokus und Ziel mal in die eine, dann in die andere Richtung. Der Kopfschmerz nimmt zu, ein ständiger Begleiter, der sie an manchen Tagen nahe an den Wahnsinn treibt. Reflexartig fährt ihre Hand Richtung Hosentasche, um zu überprüfen, ob ein leises Knistern ihr verrät, dass sie eine Kopfschmerztablette dabeihat. Hat sie natürlich nicht, ist schließlich die blöde Uniform, die sie trägt.
Ein Handy brummt aus einer frühlingsgrünen Filztasche, die am Stuhl hinter dem Schreibtisch hängt. Sorgenfalten legen sich auf die Stirn von Dr. Margit Marlene Martin, die sich hoffentlich bei ihren Eltern ausgiebig für die gelungene Namenskomposition bedankt hat. Die Brille wandert auf die Psychologinnennase zurück. Sie steht auf, um nachzusehen, wer sie stört. Normalerweise würde sie das niemals tun, solange jemand bei ihr im Erzählsessel sitzt. Aber bei Sarah ist es anders, sie beide verbindet ein freundschaftliches Verhältnis. Und heute sowieso.
Ein kurzer Blick, dann schiebt sie das Handy zurück in die Tasche. Die Energiesteine im Wasserkrug klirren, als Margit an den Tisch stößt und sich ein Glas einschenkt. Ärgerlich starrt sie auf die zwei Tropfen, die daneben gegangen sind und nun auf der hellen Tischplatte stehen. Auch die Psychologin wirkt nun, als ob sie Mühe hätte, sich zu konzentrieren. Abwesend streicht sie mit den Fingerspitzen über den akkurat geschnittenen Bonsai, der vor ihr auf dem Schreibtisch seinen Ehrenplatz hat. Ihr Mann hat ihn selbst gezüchtet. Langsam lässt sie sich auf den Stuhl sinken und starrt ins Leere.
»Gitti?«
Die Psychologin sieht verwundert auf, als hätte sie vergessen, dass Sarah in ihrem Büro sitzt. Sie befeuchtet die Lippen, antwortet aber nicht. Sie sucht nach den richtigen Worten.
»Was wolltest du eigentlich mit mir besprechen, Margit?«
Sarahs Stimme klingt weicher als sonst, besorgt. Sie lehnt sich vor, um Margits Blick einzufangen. Als sie fragt: »Alles okay bei dir?«, fühlt es sich an, als hätten sie die Rollen getauscht. Es ist ihr bisher nicht aufgefallen, wie müde die Polizeipsychologin aussieht. Diese Augenringe passen nicht zum Mandala-Wandteppich hinter ihr. Sie ist heute nicht mit sich im Reinen. Vielleicht liegt es aber auch einfach an der spack sitzenden Uniform, die den Ballonhosen und weiten Shirts, die sie normalerweise trägt, nicht fremder sein könnte. Ihr krauses, grau meliertes Haar hat sie vergeblich versucht, in einen strengen Knoten zu zwängen. Widerspenstig steht an der linken Seite eine kleine Strähne ab.
Ein Räuspern, noch ein Schluck Wasser.
»Ich will dich eigentlich nicht mit meinen Problemen … aber ich weiß nicht …«, setzt Margit gerade an, als ein lauter Pfiff von draußen sie hochschrecken lässt. Fast hätte sie das Edelsteinwasser von der Tischkante geschubst. Margits Hände zittern, als sie das Glas zurechtrückt.
Und dann beginnt sie zu erzählen.
Von Karin, ihrer besten Freundin aus Studienzeiten, die als Gefängnispsychologin im vierzig Kilometer entfernten Wackingen-Schwanweiler arbeitet, in einer Anstalt für Frauen. Karin liebt die Arbeit hinter Gittern, mit all den menschlichen Abgründen. »Sie ist wie eine Schwester für mich, weißt du?« Sarah nickt, sie erinnert sich an das Gefühl. Das Lächeln bei der Erinnerung an unbeschwerte Zeiten währt nur einen Moment. Auch Margits Gesichtszüge sind plötzlich weicher, als sie an ihre Freundin denkt, an alles, was sie gemeinsam erlebt haben, auch an den ein oder anderen Unsinn an der Uni. Dann ruft sie ihre Mimik zur Ordnung, seufzt und fährt fort.
»Für diese Arbeit im geschlossenen Bereich muss man geboren sein, sonst hältst du nicht lange durch. Für mich wäre das nichts, aber Karin war immer schon die größere Idealistin.« Und offenbar macht sie ihren Job gut, denn sonst wäre sie nicht an den Posten im einzigen Frauenknast des Landes gekommen, der mit Prestige und Aufmerksamkeit verbunden ist. »Vor drei Jahren hat sie dort angefangen, obwohl sie ihre Praxis in der Nähe von Stuttgart hat. Und die macht sie auch weiter. Die Fahrerei war ihr egal, sie wollte die Stelle unbedingt.«
Jeder, der etwas mit Justiz oder Exekutive zu tun hat, kennt die Anstalt, die sich hinter den Mauern einer ehemaligen Kaiserresidenz befindet. Unlängst hat ein Fernsehteam eine Dokumentation über das besondere Anwesen gemacht, das bereits mehrmals zum »schönsten Gefängnis Europas« gekürt wurde. Ob sich die Insassinnen darüber freuen? Ob es einen Galaabend gibt, wenn der Preis verliehen wird?
»Und die goldenen Gitterstäbe gehen an …«
Es ist wohl nicht der richtige Moment, um Margit nach solchen Details zu fragen, denn die ist gerade beim Ursprung der Sorgenfalten auf ihrer Stirn angekommen.
»Vor einigen Wochen hat sie plötzlich von Jobwechsel gesprochen.« Sie lässt den Blick in Richtung des offenen Fensters schweifen. Von draußen hört man den Geräuschteppich von vielen Menschen, das Brummen eines undisziplinierten Bienenstocks. Laut Zeitplan müsste gleich die Vorführung der Hundestaffel beginnen – immer sehr beliebt.
»Ich habe die Panik in ihren Augen gesehen«, murmelt Margit quer über ihren Schreibtisch durch den Bonsai hindurch.
»Wie bitte?«
Sarah Peters, immer noch im gemütlichen Sessel gegenüber, reckt den Hals, um an dem Tischbäumchen vorbeisehen zu können. Schließlich greift sie den Blumentopf und rückt ihn ein Stück beiseite. Das hält ja keiner aus!
Margit stockt, als wäre sie plötzlich nicht mehr sicher, ob sie wirklich weitererzählen soll.
Dann spricht sie mit leiser Stimme: über Drohbriefe, Unfälle und den Selbstmord einer Insassin, der ihre Freundin an den Rand eines Nervenzusammenbruchs getrieben hat. »Sie sagt, die Frau wäre nicht freiwillig gesprungen, und sie würde es beweisen.« Nun ist Sarah Peters‘ Neugier geweckt wie lange nicht mehr. »Offiziell gibt es für alles, was geschehen ist, plausible Begründungen, aber Karin ist sich sicher, dass es nicht mit rechten Dingen zugeht.«
Margit hält inne und sieht Sarah nun direkt an. »Ich mache mir Sorgen um sie, so habe ich sie noch nie erlebt.«
»Fass!«
Der scharfe Befehl des Hundeführers vor dem Fenster lässt beide Frauen zusammenzucken. Gerade will Sarah zu der Frage ansetzen, was sie für Margit tun kann, da fährt ihr der Schreck noch einmal durch den Körper: Es klopft forsch an der Tür. Margits »Herein« kommt ein bisschen schrill daher. Umso eindringlicher folgt die Ansage, die vom Chef in Uniform missbilligend durch den Türspalt gemacht wird.
»Es wäre schön, wenn sich ein Viertel der weiblichen Belegschaft heute nicht in einem Büro verschanzen würde.« Gregor Marshall blickt von einer zur anderen und deutet dann mit dem Zeigefinger hin und her: »Vielleicht kann das hier bis morgen warten? Ja? Danke!«
Margit läuft rot an und erhebt sich von ihrem Stuhl. Sarah bleibt sitzen und murmelt: »Nicht, dass jemand denkt, dass das hier eine Männerdomäne wäre …« Ihren süffisanten Kommentar hört der Polizeioberrat schon nicht mehr, denn er ist wieder unterwegs, um ein perfekter Gastgeber zu sein. Sarah Peters ist sich noch nicht sicher, was sie vom neuen Leiter des Kommissariats halten soll. Allerdings hat sie bisher auch sehr wenig Zeit darauf verschwendet, das herauszufinden.
»Danke fürs Zuhören.« Margit wirkt erschöpft, als hätte sie das Formulieren ihrer Sorgen die letzte Energie gekostet. Während Sarah sich langsam aus dem Sessel erhebt, wartet sie bereits pflichtbewusst an der Tür. Gedankenverloren folgt ihr Blick den Gruppen von Menschen, die durch den Flur an ihnen vorbeigelotst werden.
»Das wird so nicht ewig weitergehen können«, murmelt sie plötzlich, während eine Gruppe enthusiastischer Kindergartenkinder auf Kniehöhe an ihnen vorbeiwuselt. »Leeviii, du darfst hier nicht laufeheen!«, kreischt ein Mädchen und prescht durch den Flur, als gäbe es da hinten irgendwo ein Buffet zu eröffnen. Die Frauen suchen in der Türöffnung Schutz. Sarah sieht sie fragend an. Spricht sie noch von Karin oder schon von den Bälgern, die hier durch die Flure flitzen?
»Irgendwann werden sie Michaels Platz neu vergeben müssen.« Margit sucht ihren Blick, ihre Worte sind nun eindringlich: »Auch gegen deinen Willen.«
Wow, das hat Sarah jetzt nicht kommen sehen.
Der dumpfe Schmerz in ihrem Inneren, den sie so krampfhaft zu unterdrücken versucht, meldet sich. Nicht jetzt! Bitte nicht heute! Sie spürt, wie sich die Unruhe in ihren Fingern ausbreitet, die wieder zu zucken beginnen.
Margits Kommentar lässt Sarah nicht mehr los.
Sie werden seinen Platz neu vergeben müssen.
Das Leben danach hat unweigerlich begonnen.
Die folgenden Stunden verschwimmen zu einem Teppich aus Geräuschen, Gedränge und vielen fragenden Kinderaugen – Reizüberflutung und Kopfschmerz reichen sich die Hand.
»Hat man als Polizistin auch mal Angst?«, fragt ein kleines Mädchen mit blauen Puppenaugen und goldenen Löckchen in ihre Gedanken hinein, sie spricht leise und zögerlich. In einem Kreis sitzen gerade die Kinder der Spatzengruppe auf dem Boden des Trainingsraums im Keller des Kommissariats. Jeder kleine Vogel mit einer Polizeimütze auf dem Kopf. Alle Blicke ruhen auf der Kommissarin, die in der Mitte steht. Dieses unschuldige Staunen in den Kindergesichtern ist etwas, dem sich Sarah Peters nicht entziehen kann. Es berührt sie eigentümlich und füllt ihre Brust mit Wärme und Furcht zugleich. Sie will die Kleinen nicht enttäuschen.
Die Kommissarin hockt sich vor den blonden Engel, der die Frage gestellt hat. »Ich verrate dir mal ein Geheimnis: Jeder hat manchmal Angst, und das ist gar nicht schlimm.« Das Mädchen nickt, scheint mit der Antwort aber nicht zufrieden und das Interesse an diesem Gespräch zu verlieren. Sarah sieht sich hilflos nach einer Aufsichtsperson um, dann blickt sie wieder das Mädchen mit dem blassen Gesicht an.
»Wie heißt du?«
»Annalina.«
»Wovor hast du denn Angst?«
Nun macht die Fünfjährige sich ganz klein und weicht ihrem Blick aus. Sie will nicht mehr weitersprechen, vielleicht auch nur, weil nun so viele zuhören. Sarah hofft inständig, dass allein das der Grund ist.
»Weißt du was?« Sarah sieht sich suchend im Fitnessraum um und entdeckt eine Broschüre über Selbstverteidigungskurse auf der Kommode neben dem Eingang, dort, wo normalerweise die Handtücher liegen. Sie reißt eine Ecke ab und kritzelt etwas darauf.
»Mein Name ist Sarah Peters. Und wenn dir das nächste Mal jemand Angst macht, dann rufst du hier an, wir helfen dir!« Sie unterstreicht die Telefonnummer zweimal und streckt der Kleinen das Stück Papier hin.
»Kannst du schon die Zahlen lesen?«
Eifriges Nicken. Dann macht sich ein zartes Lächeln auf dem runden Gesicht breit. »Abgemacht«, flüstert das Mädchen und streicht mit seinem kleinen Zeigefinger über das halbe Polizeilogo, das an der ausgefransten Ecke zu sehen ist. Dann verschwindet das Papier schnell in ihrer herzförmigen Glitzerbrusttasche.
Es dauert lange, bis endlich wieder Ruhe eingekehrt ist.
Im Kommissariat legt sich der Lärm gegen 18 Uhr. In Sarah Peters‘ Kopf erst einige Stunden später, ziemlich genau um zehn Minuten nach dem ersten Schluck – dem ersten Bier seit sechs Wochen.
Das ging heute echt nicht ohne.
Zu laut, zu unruhig, zu hohe soziale Erwartungen und viel zu viele verzichtbare Fragen sind es gewesen:
»Nein, dieses Polizeiauto ist noch nie auf der Autobahn explodiert.«
»Ja, unsere Waffen sind echt.«
»Nein, du darfst sie nicht anfassen.«
»Nein, meine Mama hat meine Uniform nicht für mich gebügelt.« Sieht man doch.
Dieser Tag hat ihr alles abverlangt. Nun wird es endgültig Zeit, nach Hause zu gehen, wo heute eigentlich auch noch soziale Verpflichtungen gewartet hätten. Dafür ist es jetzt wohl zu spät – hofft Sarah Peters. Sie ist froh zu wissen, dass Annemarie sie gut genug kennt, um es ihr nicht übel zu nehmen.
Sie hebt gerade die Hand, um zu zahlen, da bemerkt sie im Augenwinkel eine Person, die sich ihr nähert. Keine Chance, noch zu fliehen.
»Können wir kurz reden?«
Als ließe einem diese Frage wirklich eine Wahl.
Ein großer, schlaksiger Mann lässt sich auf den Hocker neben ihr fallen. Er ist von den Handgelenken bis zum Hals tätowiert und trägt wie immer eine dunkle Schirmkappe. Es ist Uli, ihr ältester Schulfreund. Sarah kann sich nicht erinnern, dass sie ihn jemals aufgebracht oder laut erlebt hätte, nichts bringt den Mann aus der Fassung, der auf seine eigene Art und Weise gut aussieht: verwegen und cool, aber mit etwas sehr Sanftem in seinem Blick. Er mustert sie besorgt. Da bekommt Sarah gleich schlechte Laune. Die steigert sich noch, als er zu sprechen beginnt.
»Hast du nicht gesagt, du hörst damit auf?« Er ringt um jedes Wort, klingt traurig.
»Bitte geh mir nicht auf die Nerven«, knurrt sie und schiebt das leere Bierglas von sich, kramt in ihrer Jackentasche nach einem Geldschein, bevor sie etwas sagt, das sie später bereuen könnte. Sie weiß, dass er es gut meint, aber »gut gemeint« hat ihrer Erfahrung nach mit »gut« in den seltensten Fällen viel zu tun.
»Ich will dich nicht noch einmal nach Hause tragen müssen.« Uli versucht, seine Hand auf ihren Arm zu legen, um sie an der Flucht zu hindern, aber Sarah hat es kommen sehen und springt auf. Wortlos lässt sie ihn sitzen. Dabei hätte er noch mehr zu sagen gehabt.
Die Kühle des Abends trifft sie mit einem Schlag.
Das hat sie gerade noch gebraucht: Jemanden, der ihr nach einem nervigen Arbeitstag mitteilt, dass er sich Sorgen um sie macht – völlig ohne Grund, wohlgemerkt! Denn immerhin hat sie wochenlang nichts getrunken. Vielleicht hätte sie ihm davon mal erzählen sollen, dann wäre ihnen beiden dieser unangenehme Abgang erspart geblieben. Aber Sarah Peters spricht nicht gerne über sich, schon gar nicht über Dinge, die ihr wichtig sind. Niemals über ihre Gefühle. Und es geht ihn ja eigentlich nichts an.
Sie verzieht das Gesicht und äfft ihren alten Freund nach. »Können wir kurz reden … Mimimi …« Beinahe wäre sie dabei in eine Straßenlaterne gelaufen. Sie flucht und bleibt stehen, ärgert sich, weil die Laterne nicht antwortet – wie so oft aber am allermeisten über sich selbst. Denn wenn sie ehrlich wäre, müsste sie sich eingestehen, dass es ihr wieder einmal zu gut geschmeckt hat. Zu verlockend ist dieses warme, weiche Gefühl, das sich ab einem gewissen Alkoholpegel in ihrem Kopf einstellt und sich schützend zwischen sie und die Welt legt.
