Wo wir einst gingen - Kjell Westö - E-Book

Wo wir einst gingen E-Book

Kjell Westö

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Beschreibung

Ein lebenspraller Roman aus dem Helsinki des beginnenden 20. Jahrhunderts

Eine Stadt, in der es gärt, ist dieses Helsinki in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Auf das Trauma des finnischen Bürgerkriegs 1918, der einen Riss durch die Gesellschaft zieht, folgen die enthemmten zwanziger Jahre wie ein einziger langer Rausch. Nach den Kriegsgräueln prägen nun Jazz, Fußball, Schwindsucht, Hunger, Fotografie, Champagnerorgien, Prohibition, Tennis, Bubiköpfe und schimmelige Armeekasernen das Bild. Die unterschiedlichsten Menschen treffen sich in dieser Stadt, vereint in ihrer Sehnsucht nach Glück und Bedeutung in ihrem Leben.

Ausgezeichnet mit dem Finnischen Literaturpreis.

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Seitenzahl: 906

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Eine Stadt, in der es gärt, ist dieses Helsinki in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Die unterschiedlichsten Menschen treffen sich hier, vereint in ihrer Sehnsucht nach Glück und Bedeutung in ihrem Leben: zum Beispiel der radikale Allu Kajander, der seine Sportlerkarriere opfert, um zur See zu fahren. Der hasserfüllte Cedi Lilljehelm, der mit den Visionen der faschistischen Schwarzhemden sympathisiert; seine frivole Schwester Lucie mit ihrem unbändigen Freiheitswillen, die einen Hauch des dekadenten Paris in den Norden trägt und die Männer in Scharen anzieht. Und nicht zuletzt der idealistische, hoch sensible Fotograf Eccu, der am Ende an der harschen Wirklichkeit scheitert. Doch bei allem Kampf, bei allem Scheitern und bei aller Bitterkeit gibt es auch hier, in diesen unruhigen Zeiten, die großen menschlichen Gesten, getragen von Liebe und Verständnis und Mitmenschlichkeit, die letztlich triumphieren …

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Die Originalausgabe erschien 2006 unter dem Titel »Där vi en gång gått« bei Söderströms, Helsinki, und anschließend bei Nordstedts, Stockholm.

 

Anmerkung des Übersetzers

Finnland ist ein zweisprachiges Land, in dem neben Finnisch auch Schwedisch gesprochen wird. Da der vorliegende Roman in schwedischer Sprache verfasst wurde, sind in der Übersetzung die schwedischen Orts- und Straßenbezeichnungen beibehalten worden, zum Beispiel Helsingfors statt Helsinki, Tammerfors statt Tampere.

 

 

 

 

 

Copyright © der Originalausgabe 2006 by Kjell Westö Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2008 by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.Covergestaltung: semper smile, München Covermotiv: ullsteinbild / Alinari Satz: Uhl + Massopust, Aalen SL · Herstellung: SK

ISBN 978-3-641-16920-6V002

 

 

www.btb-verlag.de

www.penguinrandomhouse.de

KJELL WESTÖ ist einer der bekanntesten finnlandschwedischen Autoren der jüngeren Generation, geboren 1961 in Helsinki, wo er heute noch lebt. Seit seinem literarischen Debüt 1986 hat er drei Gedichtsammlungen, mehrere Bände mit Erzählungen und vier Romane veröffentlicht. Kjell Westö ist vielfach preisgekrönt, u. a. mit dem Finnischen Literaturpreis für »Wo wir einst gingen«.

Inhaltsverzeichnis

Über den AutorErstes Buch - Im ersten Kriegswinter konnte Jali Widing noch den Schnee fallen hören
1 - Der stille Allu2 - Eccu und Jali3 - I-r4 - Miss Lucy L
Zweites Buch - Die Ballade von der roten Laterne und dem schwarzen Schatten und allem, was dann passierte
Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14
Drittes Buch - Unter den Schmetterlingslampen (April – Juli 1922)
Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7
Viertes Buch - Die Briefe
1 - Allu2 - Lucie3 - Eccu4 - Ivar
Fünftes Buch - Die zwei Sommer (1926, 1928)
1 - Der Sommer, in dem die Musik eintraf2 - Der Sommer, in dem es nur regnete
Sechstes Buch - Und neue Schatten fielen auf eine Stadt, die zu Stein und Hetze und Hunger geworden war
Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5
Siebtes Buch - Wie viel es uns doch kostet, einfach in dieser Welt zu sein
1 - Allu und Mandi2 - Eccu3 - Ivar und Henriette4 - Lucie, Henning & Co
EpilogDankCopyright

Den Einwohnern von Helsingfors:den Toten, den Lebenden, den Kommenden.

 

Den Städtern:allen, die man in ein eiskaltes Grab senkte;allen, die noch auf diesen Straßen gehen;allen, die noch darauf warten, bis sie an der Reihe sind.

Erstes Buch

 

 

 

 

 

Im ersten Kriegswinter konnte Jali Widing noch den Schnee fallen hören

 

(1905–1917)

1

Der stille Allu

Der Zufall wollte es, dass der erste Tag von Vivan Fallenius als Hausmädchen bei den Herrschaften Gylfe in der Achtzimmerwohnung an der Boulevardsgatan auf den ersten Jahrestag der Ermordung des russischen Generalgouverneurs Bobrikoff durch den einsamen und halbtauben Beamten Eugen Schauman fiel. Der stellvertretende Amtsrichter und seine Frau, die Schauman flüchtig gekannt hatten, feierten dies mit einem stummen Champagnertoast zur Consommé. Vivan stand an der Tür zum Flur, mit Rüschen in den Haaren, sie trug einen schwarzen Rock und eine schwarze Bluse mit weißem Spitzenkragen und hatte sich darüber hinaus eine weiße Schürze umgebunden, sie wartete auf die nächste Anweisung und versuchte sich möglichst unsichtbar zu machen. Das mit Schauman und Bobrikoff interessierte sie nicht weiter, stattdessen dachte sie an den Familienbaum daheim in Degerby, an ihre Hofbirke, die während eines überraschenden Maisturms vor gut einem Monat in der Mitte umgeknickt war, und daran, wie seltsam es doch war, dass sie bereits im Januar geträumt hatte, der Baum werde sterben. Träume dieser Art hatte sie in regelmäßigen Abständen, und sie machten ihr Angst, aber inzwischen war schon zartgrün gefärbter Sommer, und sie fragte sich, warum Frau Beata Gylfe nicht die schweren Samtvorhänge aufziehen ließ. Vivan hatte es am Vormittag eigenmächtig getan; wenn die Vorhänge fort waren, sah man, wie schön das Licht auf die Boulevardsgatan fiel, und man konnte sich hinauslehnen und die jungen Linden anschauen und dem Klackern von Pferdehufen und Klappern von Wagen und Karren auf dem Kopfsteinpflaster lauschen. Vivan fand, dass die Gylfeschen Paradezimmer düster und brütend wurden, sobald die Vorhänge zugezogen waren. Sie wusste nicht, dass es dem Wunsch der reichen Stadtbewohner entsprach, wenn ihre Wohnungen so aussahen – dunkel getäfelte Möbel, Ebenholz und Mahagoni, schwarze, dekorativ bemalte Urnen und gipsweiße, auf kleinen Ziertischen ausgestellte Statuetten, üppige Topfpalmen in den Ecken, Seegemälde und glupschäugige Verwandte an den Wänden und dann die Stühle, diese quälende Vielzahl von Zierstühlen und Sesseln, die allerorten herumstanden und zur Folge hatten, dass man sich die Beine blau und wund schlug, wenn man zwischen den Möbelstücken kreuzte, um zu servieren oder abzudecken oder eine soeben abgegebene Visitenkarte zu überreichen oder was einem sonst gerade aufgetragen worden war. »Es ist gut«, sagte der stellvertretende Amtsrichter Gylfe mit Nachdruck und riss sie aus ihren Gedanken, »die gnädige Frau ruft Fräulein Vivan dann, wenn es Zeit für den Braten ist, wir haben ja die Klingel, Vivan kann zusammen mit Frau Holmström in der Küche warten.« Vivan knickste und öffnete die Tür zum Flur. Auf dem Weg zur Küche sah sie, dass der ältere der beiden Söhne des Hauses ihren Blick einzufangen suchte, aber sie gab vor, ihn nicht zu bemerken.

 

Es dauerte nicht lange, bis die beiden halbwüchsigen Jungen der Familie anfingen, sie nicht Vivan, sondern Gullvivan, Schlüsselblume, zu nennen. Anfangs sah sie darin nichts Unziemliches, denn schon daheim im Dorf hatten die jungen Männer ihr verschiedene Kosenamen gegeben und freundschaftlich benutzt. Doch wenn Magnus und Carl-Gustaf Gylfe den neuen Namen verwandten, huschte etwas über ihre glatten Gesichter, das Vivan als Geringschätzung und Hohn deutete, und manchmal schob sich Magnus, der ältere, plötzlich aus dem luxuriösen Badezimmer der Herrschaften mit Toilettenlüftung und einer Badewanne, die auf bronzenen Löwenpranken stand, und trällerte daraufhin mit leiser Stimme: Vivan, Vivan, Herz aus Gold, Vivan, Vivan, wann bist du mir hold, und seine Hose beulte sich aus, wenn sie mit pochendem Herzen und einem vollbeladenen Tablett in den Händen im dunklen Flur an ihm vorbeieilte. Die beiden Söhne des Hauses glichen in ihren Augen verhätschelten Hauskatzen, und sie spürte die Blicke der beiden auf ihrem Körper, sie spürte diese Blicke, wenn sie servierte, wenn sie die Palmen goss, wenn sie die Kleider und Bettbezüge einsammelte, um sie zur Wäscherin zu bringen, wenn sie mit klappernden Absätzen die Treppen hinabrannte, um zum Markt zu gehen und Waren einzukaufen, wenn sie von Wahlman oder Silfverberg & Wecksell wieder einmal einen teuren und voluminösen Neuzugang für Frau Gylfes Hutsammlung anschleppte. Sogar wenn sie auf dem Weg zum Abort des Dienstpersonals über den Hof schlich, spürte Vivan die Blicke der beiden Gylfe-Söhne, und es war ihr lieber, erst gar keinen Gedanken daran zu verschwenden, was die Brüder über sie sagten, sobald sie außer Hörweite war.

 

Vivans Mutter Magda war in der Stadt geboren worden und hatte in Tollander & Klärichs Tabakfabrik und als Aufwärterin im Hotel Kleineh gearbeitet, ehe sie heiratete und die Frau eines Kleinbauern in Ingå Degerby wurde. Magda wusste, dass bei weitem nicht jeder eine schwere und einförmige Arbeit ertrug, wenn es einen leichteren Weg gab. Hunderte junger Mädchen arbeiteten für einen kärglichen Lohn in den bürgerlichen Häusern und Fabriken von Helsingfors; die meisten von ihnen waren unerfahren und glaubten bereitwillig den Versprechungen in Restaurants und während anschließender nächtlicher Droschkenfahrten. Und nach Umarmungen und Enttäuschungen endete dies alles mit Nachtschichten in den berüchtigsten Straßen der Stadt und Herrenbesuchen in schneller Folge in einer gemieteten Dachkammer und den Gesundheitskontrollen der Polizei und dann, schließlich, mit der gefürchteten Seuche. Magda hatte ihrer Tochter deshalb eingeschärft, niemals vertraulichen Flüsterern mit wohlduftenden Hemdbrüsten oder verschmitzten Straßenjungen zu vertrauen, die in der Lage waren, Champagner aufzutreiben, wo es eigentlich gar keinen gab. Und am allermeisten, hatte sie erklärt, solle Vivan sich vor Männern in Acht nehmen, die ihr ewige Liebe schworen und sie zu abgelegenen Orten führen wollten.

Doch Vivan wurde von ihrer sieben Jahre älteren Kusine Sandra Söderberg zu einem Junitanz auf Byholmen gelockt, und dort begegnete sie dem Schwerarbeiter und angehenden städtischen Laternenanzünder Enok Kajander. Es war das erste Mal, dass Vivan ihren freien Abend darauf verwandte, tanzen zu gehen, und sie sah weg, als sie die Trauben von Männern sah, die entlang der Waldpfade standen und sich mit Branntwein und süßen Mischgetränken stärkten, ehe sie zum Tanzboden zurückkehrten, um jemanden aufzufordern. An ihrem nächsten freien Abend feierte sie auf Fårholmen, wo die Abstinenzlergesellschaft der Arbeiter eine musikalische Soiree veranstaltete. Einer der Programmpunkte war Enok, der mit seiner samtenen Tenorstimme schwedische und finnische Volkslieder sang. Den Juli und den halben August verbrachte Vivan mit Familie Gylfe in deren Sommervilla Miramar draußen in Kallvik, aber als sie zurückkam, dauerte es nicht lange, bis Enok wieder vor der Küchentür stand. Er habe Geld gespart, sagte er, und wolle sie ins Kinematographentheater einladen, um sich bewegte Bilder anzusehen, und er nannte sie helluni mun, meine Liebste, und Vivan errötete – das tat sie immer, wenn er Dinge auf Finnisch zu ihr sagte, ohne ihr zu erklären, was sie bedeuteten.

 

An einem Samstagabend spät im August war Tanz in der Sommerkolonie Mölylä der Sozialisten östlich der Gammelstadsfjärden. Enok und Vivan trafen sich am Broholmsufer und nahmen zusammen mit fast achtzig anderen Frauen und Männern Platz im riesigen Ruderboot »Zukunft« des Arbeitervereins. Enok war einer der Ruderer, und als das Boot unter der Långa-Brücke hindurchfuhr, sangen die Männer aus vollem Hals die Marseillaise, und die abendlichen Flaneure auf der Brücke lehnten sich neugierig über das Holzgeländer, um zu schauen, woher der Gesang kam. Vivan hatte das Gefühl, dass Enok jeden kannte und überall zu Hause war, und sie lächelte ihm von ihrem Platz auf der Achterducht aus zu, wo sie gemeinsam mit zehn anderen jungen Frauen saß, die alle ebenso festlich gekleidet waren wie sie selbst.

Draußen in Mölylä spielte die Blaskapelle des Vereins, und Vivan war in ihrer sahnefarbenen Bluse, ihrem kostbarsten Besitzstück, die Mutter Magda aus dem Seidenstoff genäht hatte, den ihr Onkel Heizer-August im Vorjahr aus Shanghai mitgebracht hatte, ehe er an Tropenfieber erkrankte und starb, das schönste Mädchen des Tanzes. Die Musik und Enok und der Mondschein ließen sie die einförmigen Arbeitsaufgaben und die enge Dienstmädchenkammer in der Boulevardsgatan vergessen. Sie bekam eine solche Lust, sich zu befreien und endlich richtig zu leben, sie spürte ihr Herz schnell und hart pochen, und als sie mit Enok tanzte, schloss sie die Augen und lag in seinen Armen und stellte sich vor, vom Scheitel bis zur Sohle in Crêpe de Chine gehüllt zu sein, obwohl der Stoff ihres Rocks schwarz und grob war. Nach Einbruch der Dunkelheit verließen sie den Tanz und das muntere Geplauder und gingen einen Waldweg hinab, auf dem ihre Bluse weiß zwischen den Schatten der Bäume schimmerte. Unten am Ufer zogen sie Schuhe und Strümpfe aus, liehen sich ein Boot und ruderten zu der kleinen Insel Lillkobben hinaus, die von den Finnen Kiimakari genannt wurde – der Name bedeutete Wollustschäre –, doch das wusste Vivan natürlich nicht. Draußen auf der Insel suchten sie ein kleines Wäldchen auf, und Enok breitete sein Jackett und seine Weste auf der Erde aus und griff ihr um die Taille und bat sie, sich zu setzen. Er trank an diesem Abend keine starken Sachen, er war die Zärtlichkeit und Höflichkeit selbst, und Vivan ließ sich auf dem angebotenen Platz nieder und dachte daran, was für eine klare Mondnacht es war und welch große und warme Hände Enok hatte und wie deutlich die Adern seiner Hände zu sehen waren, und sie zog ihre nackten Füße unter sich und löste ihr Haar, während sie gleichzeitig einem Windhauch lauschte, der durch die dünnen Wipfel der Birken strich.

Es war das erste Mal, dass sie sich einem Mann hingab, und hinterher bekam sie dann Angst, Angst davor, dass das Blut in diesem Monat ausbleiben und durch morgendliche Übelkeit und all das andere ersetzt werden würde, wovon Sandra und die anderen jungen Frauen erzählt hatten, und Angst davor, was Enok von ihr denken, aber auch davor, womit er sie angesteckt haben mochte – sie wusste doch, er hatte im Hafen gearbeitet, weshalb sie davon ausging, dass er früher viele Frauen gehabt hatte und es gefallene Mädchen gewesen waren.

Die Sache blieb dieses Mal ohne Folgen. Aber sie gingen das ganze Jahr miteinander, und während der Streikwoche im November, als Enok von sich behauptete, zu Hauptmann Kocks Arbeitergarde zu gehören, sich jedoch in erster Linie in der Stadt herumtrieb und in den Menschenmengen mitlief und Schlagworte grölte, ging Vivan an ihrem freien Abend mit ihm nach Hause, um Tee zu trinken. Enok wohnte im Stadtteil Hermanstad, er war Untermieter bei seinem Onkel Fredrik, der eine Frau und drei kleine Söhne hatte, aber Onkel Fredrik und seine Familie waren zu Beginn der Unruhen aus der Stadt nach Sibbo geflohen. Folglich war es ein leeres und momentan unbeheiztes Zimmer in einem ungestrichenen Holzhaus mit dem nebelverhüllten Byholmen und der herbstgrauen Gammelstadsfjärden tief unter ihnen, in dem Enok und Vivan das zweite Mal miteinander schliefen. Sie schloss die Arme um Enoks Rücken, während er sich auf ihr bewegte, und fror ein wenig, vor allem an Armen und Beinen, und war hinterher nach nur fünf Monaten in den Diensten von Familie Gylfe in anderen Umständen.

Sie begriff sehr schnell, was los war, dennoch dauerte es fast zehn Wochen, bis sie es wagte, mit Beata Gylfe zu sprechen. Frau Beata lauschte, ohne eine Miene zu verziehen, und sagte anschließend mit strenger Stimme, Vivan müsse leider ihre Stelle verlassen, bekomme jedoch drei Monate Abschiedslohn und dürfe im Dienstmädchenzimmer wohnen bleiben, bis die Familie eine neue Dienstmagd gefunden habe. Vivan nahm all ihren Mut zusammen, blickte zu Boden und murmelte: »Ich bin keine Dienstmagd, die gnädige Frau kann mich Hausgehilfin oder Zofe oder was auch immer nennen, aber ich bin keine Magd.« Frau Beata verstand kein Wort und bat Vivan zu wiederholen, was sie gesagt hatte. Vivan tat, wie ihr geheißen, sie wiederholte die Worte laut und deutlich, und ihr Tonfall glich, fand sie, bis aufs Haar dem Frau Beatas – er war ebenso abgeklärt und präzise. Frau Beata warf ihr allerdings nur einen frostigen Blick zu und fragte: »Findet Vivan wirklich, dass dies eine Rolle spielt? Ich meine, angesichts der Umstände, in die Vivan sich versetzt hat?« Vivan antwortete nicht. Zurück in der Küche brach sie in Tränen aus, aber Frau Holmström verzog nur den Mund und wandte sich augenblicklich ab, stand da und zermahlte einen großen Hecht zu Fischhack, starrte in den Fleischwolf, sah schroffer aus als je zuvor und weigerte sich, auch nur ein einziges Wort zu sagen.

Am späten Nachmittag bestellte der stellvertretende Amtsrichter Gylfe Vivan in die Bibliothek. Er saß mit einem aufgeschlagenen Buch vor sich an seinem Schreibtisch, die Vorhänge zur Boulevardsgatan waren zugezogen, und er rauchte Pfeife und sagte mit leiser Stimme, es gebe zwei Alternativen, entweder müsse Fräulein Vivan rasch eine Engelmacherin finden oder aber das Kind zur Welt bringen und versuchen, es adoptieren zu lassen, denn sie sei viel zu jung und unerfahren, um als Mutter bestehen zu können, und zu allem Überfluss würde sie im unruhigen Helsingfors allein dastehen. Angesichts der Umstände, lächelte der stellvertretende Amtsrichter säuerlich, müsse er sich leider die Freiheit nehmen, die ernsthaften Absichten des Befruchters zu bezweifeln. Leider Gottes, fügte er anschließend hinzu, könne er ihr selbst jedoch mit keiner konkreten Hilfe beistehen, denn wie Fräulein Vivan sicher verstehe, gehörten weder Engelmacherinnen noch Kinderheimvorsteher zu seinem Bekanntenkreis, und außerdem habe Fräulein Vivan sein und seiner Frau Beatas Vertrauen enttäuscht und sei selber schuld.

An jenem Tag, an dem all diese Worte ausgesprochen wurden, während andere, beispielsweise »Wir wollen hoffen, dass sich die Dinge für Fräulein Vivan zum Besten wenden«, unausgesprochen blieben, war Vivan Fallenius siebzehn Jahre, sechs Monate und drei Tage alt.

 

Enok Kajander war der Sohn eines Fischers aus Sibbo, aber seine Eltern waren tot und er wohnte seit dem Sommer 1902 in Helsingfors. Er hatte pechschwarze, gewellte Haare und auch im Winter einen dunklen Teint und wurde der Schwarze Enok genannt. Der Schwarze Enok war kürzlich einundzwanzig geworden, stand jedoch bereits weithin in dem Ruf, ein Unruhestifter und Agitator zu sein. Unruhestifter oder nicht, als seine Liebe zum ersten Mal auf die Probe gestellt wurde, bestand er sie. Als er den kurzgefassten Brief erhielt, in dem Vivan von ihrer Not berichtete, suchte er sie auf, stand plötzlich vor der Küchentür in der Boulevardsgatan und fingerte an seiner speckigen Mütze herum, wich Frau Holmströms majestätisch wütendem Blick aus und lud Vivan in ungelenken Formulierungen zu einem Spaziergang am kommenden Wochenende ein.

Es war Februar und der Sonntag wolkenverhangen, aber eiskalt. Am Ende der Östra Henriksgatan verbreitete das alte Gaswerk wie üblich seinen Gestank, und überall in der Stadt spien die elektrischen Kraftwerke graue Asche und schwarzen Rauch, und der Steinkohlenstaub und die Abgase verliehen der Stadtluft eine schmutzig gelbe Note und inmitten der Kälte einen ganz eigenen, beißenden Geruch. Enok und Vivan trafen sich in der Mikaelsgatan, gingen schweigend in nördliche Richtung und kamen am neuen Theatergebäude vorbei, das in wuchtiger und einsamer Majestät am Järnvägstorget stand. Von dort aus spazierten sie in den Kajsaniemipark, und als sie am zugefrorenen Schwanenteich entlanggingen, warf Enok ihr vor, dass sie sich nicht dem Helsingforser Hausangestelltenverein angeschlossen hatte: dann hätte sich der Verein ihrer Sache annehmen können. Vivan sagte, wie es war, die Hausangestelltenvereine hätten gemeinsame Sache mit den Arbeitern gemacht, was man draußen in den Dörfern nicht gern sehe, wo die Großbauern und Gutsbesitzer ein Auge darauf hatten, wohin die armen Leute ihr Mäntelchen hängten. Enok nickte ernst und meinte, es sei gut, dass sie nach Helsingfors gekommen sei, wo es so viele Arme gebe und deren gebündelte Kraft immer weiterwachse. Vivan biss sich auf die Lippe, blickte auf ihre abgetragenen Stiefel und erwiderte schmollend, im Moment sei überhaupt nichts gut, sie habe Schande über ihren Vater und ihre Mutter gebracht, und mit ihrem Abschiedslohn werde sie nicht weit kommen, und ihre Kusine Sandra habe zwar gesagt, sie könne bei ihnen wohnen, solange sie wolle, bis das Kind geboren sei, aber Sandra und ihr Axel hätten bereits zwei Kinder und ein drittes sei unterwegs und Axel habe oft keine Arbeit und das Zimmer dort in der Andra linjen sei eng, und deshalb habe Vivan schon Alpträume, in denen sie vor der Armenverwaltung stehe und die Damen und Herren die Nase rümpfen und sie als eine Hure betrachten sehe.

Darüber hinaus quälten sie auch noch andere Visionen, sie wolle Enok keine Angst machen, aber sie habe von Kindesbeinen an Dinge geträumt, die anschließend in Erfüllung gegangen seien. Als sie sieben gewesen sei, habe sie von einem Nachbarjungen geträumt, ihn nachts vor sich gesehen, und sein Gesicht sei verfärbt und aufgedunsen gewesen und seine Augenhöhlen leer, und zwei Sommer später sei der Junge draußen in Porkala ertrunken, und seine Leiche habe man erst gefunden, als es längst Herbst gewesen sei, und da seien die Aale schon am Werk gewesen, wenn Enok verstehe, was sie meine. Und nun habe sie von einem der Söhne Gylfe geträumt, von Magnus, dem Mitglied der Familie, das sie am wenigsten mochte, in ihrem Alptraum sei der Kopf des älteren Sohns der Gylfes vom Körper abgetrennt gewesen, er habe frei vor ihren Augen geschwebt, er sei blutüberströmt und der Blick starr und grausig gewesen, während der Rest des Körpers ein Stück entfernt auf einer morastigen Straße gelegen habe.

Sie gingen am Kajsaniemiufer entlang und auf die Långa-Brücke hinauf, als Vivan all das sagte, und während sie sprach, betrachtete Enok Kajander sie verstohlen, er betrachtete ihre dünnen und blutleeren Lippen und die hellen Strähnen, die unter ihrem Kopftuch herauslugten, und die roten Flecken auf ihren Wangen, und als sie verstummte, nahm er ihre Hand und sagte, er fürchte sich nicht vor ihren Alpträumen, und er habe zwar kein Geld für einen Verlobungsring, aber wenn sie sich mit dem wenigen zufrieden geben könne, was er ihr zu bieten habe, wolle er sie gerne heiraten.

 

Enok hatte als Schauermann im Sörnäs-Hafen und als Ziegelträger auf den Hausbaustellen in den Stadtteilen Kronohagen und Hagnäs gearbeitet. Er war schlagfertig und ein heller Kopf, aber Vivan merkte schon bald, dass er nicht den Fleiß und Willen hatte, der so viele junge Männer aus dem Norden auszeichnete. Die ostbottnischen Männer beteten zu ihrem Gott und legten Geld auf die Seite, und dann beteten sie erneut zu ihrem Gott und bildeten sich in ihren wenigen freien Stunden zu Baumeistern weiter. Der Schwarze Enok mochte dagegen Menschen und Faxen und dramatische Ereignisse, und als Vivan ihm deshalb Vorwürfe machte, sagte er ihr, er wolle sein Leben in vollen Zügen auskosten, der Mensch solle an seinen Taten gemessen werden, und er habe nicht vor, sein Leben mit dem Lesen von Büchern zu verbringen und alles andere in Erwartung einer Zukunft aufzuschieben, die für Proletarier wie ihn ohnehin höchst ungewiss sei. Im vorigen Winter hatten die Soldaten des Zaren am Blutigen Sonntag in Sankt Petersburg Arbeiter und Frauen und Kinder erschossen, und wenige Monate später hatten die Japaner die russische Flotte bei Tsushima vernichtet. Das ganze Jahr war unruhig und voller Gewalt gewesen, es hatte einen Generalstreik und Meutereien und Aufstände gegeben; der Zar saß noch auf dem Thron, hatte aber Zugeständnisse machen müssen, das Großfürstentum Finnland und das gesamte russische Reich atmeten freier und mutiger als früher, und da Enok politikversessen war, trieb er sich gerne in diversen Versammlungslokalen herum, wo er dicke und starke Beirutski-Zigaretten rauchte und mit anderen Gleichgesinnten Pläne schmiedete.

Nach den Versammlungen besuchte er ein Lokal der Ausschankgesellschaft oder das Seemannscafé Tripoli, wo er manchmal mit den wenigen Geldscheinen, die er besaß, Lokalrunden schmiss. Enok konnte unberechenbar werden, wenn er trank, aber solange er nüchtern war, genoss er die Sympathien der Menschen, Frauen wie Männer waren gern in seiner Gesellschaft. Sein Finnisch war eigentümlich, aber markig, und er beherrschte zudem etwas Russisch und hatte ein paar Brocken Englisch aufgeschnappt, als er die Ladungen von Frachtern im Hafen löschte. Er war ein begabter Turner und Ringer und guter Freund des Schornsteinfegers und Athleten Janatuinen aus dem Stadtteil Tölö, der das Ringen bei dem berühmten Polen Pytlasinski gelernt hatte, und Janatuinen hatte sich nicht darauf beschränkt, Pytlasinskis Wissen an ihn weiterzugeben, sondern Enok zusätzlich gelehrt, wie man auf einem Seil ging.

 

An einem nasskalten Märznachmittag wollte einer der städtischen Laternenanzünder, ein gewisser Suoste, in der Unionsgatan unweit der Deutschen Kirche eine Gaslaterne säubern. Suoste rutschte auf der dritten Stufe von oben ab, fiel, schlug mit dem Hinterkopf auf den frisch verlegten Kalksteinbürgersteig und starb. Enok Kajander bewarb sich auf die ausgeschriebene Stelle, und da er gewandt und stark war und außerdem eine Bescheinigung des Schornsteinfegers Janatuinen vorweisen konnte, in der es hieß, er verfüge über Bärenkräfte und einen erstklassigen Gleichgewichtssinn, bekam er sie auch.

Ende April zog das Ehepaar Kajander in ein Zimmer mit fließend kaltem Wasser in einem Mietshaus in der Malmgatan. Jeden Abend im Mai und Juni marschierte die bereits vorderlastige Vivan von ihrem Zuhause bis zum Hügel von Eira, wo Enok nebenher auf einer Baustelle arbeitete, ehe er anschließend in der Dämmerung loszog, um die Gaslaternen in dem Distrikt anzuzünden, den Ingenieur von Kraemer von der Stadtverwaltung ihm anvertraut hatte. Vivan kam mit Broten und Saft, und Enok spuckte die Sonnenblumenkerne aus, auf denen er gekaut hatte, und umarmte sie und flüsterte ihr zärtliche Worte zu, und wenn Vivan anschließend über Rödbergen heimwärts schaukelte, schien die Abendsonne wie eine blutrote Lampe, und die letzten Strahlen trafen ihren runden Bauch und wärmten sowohl sie als auch das Kind darin. Gleichzeitig hatte sie jedoch auch Angst, fühlte sich einsam und bedauerte, dass Enok so oft fort war. Sie hatte Angst vor dem Stadtteil Rödbergen, Angst vor diesem Gomorrha, wo sich geschminkte Frauen mit bunten Tüchern und überladenen Hüten an jeder Straßenecke und in den roten Holzhäuschen und den spärlich gesäten Steinhäusern fanden, die wie scharfe Reißzähne zwischen allen Flachbauten und Katen standen, wo gelärmt und getrunken wurde. Aber noch mehr fürchtete sie sich trotz allem vor Kampmalmen, wo sie und Enok wohnten. Dass es solche Orte auf Erden geben konnte wie die Malmgatan und Lappviksgatan und die kleinen Gassen rundherum! Dort wohnten arme russische Pflasterer, die von Sauerteigbrot, Wodka und Bier zu leben schienen und sich den Alkohol und Schweiß jeden Samstag in Majakovskijs öffentlicher Sauna vom Leib spülten. Dort wohnte das fahrende Volk, die tatarischen Hausierer mit ihren kniehohen Stiefeln und den langen, tiefblauen Jacken, die sie bis zum Hals zuknöpften, obwohl es Sommer und schon heiß war. In den Häuserblocks rund um die kürzlich errichtete Synagoge wohnte der größte Teil aller Juden in der Stadt, sie, die oben auf dem kleinen Platz namens Narinken und unten an der Henriksgatan Kleider und Lumpen verkauften und von denen Enok behauptete, sie sprächen ein Kauderwelsch aus Jiddisch, Russisch und Schwedisch, das nur sie selber verstünden. Und dort wohnten Steinmetze und Schmiede, dort wohnten Lohnkutscher und Huren, deutsche Spielmänner und karelische Scherenschleifer, Leierkastenmänner mit ihren zahmen Meerkatzen, Hebammen, die Säuglingen auf die Welt halfen, und Engelmacherinnen, die von sich behaupteten, ungeborenen Kindern in den Himmel zu helfen. Dort wohnten Russen, die Speiseeis herstellten und verkauften, und die italienischen Konkurrenten der Eisrussen, die große Schnäuzer und ebenso pechschwarze Haare hatten wie Enok. Der ganze Stadtteil Kampen war ein wahrhaftiges Babylon! Die Wagen der roten Linie schepperten den Hang der Eriksgatan hinunter und stampften weiter die Lappviksgatan hinab, wo sie die besser gestellten Einwohner der näheren Umgebung ausspien, Geschäftsinhaber und Vorarbeiter, die das nötige Geld hatten, um sich eine Straßenbahnfahrt gönnen zu können, wenn sie von ihrer Arbeit im Stadtzentrum oder jenseits der Långa-Brücke heimkehrten. Die meisten waren jedoch zu Fuß unterwegs, und auf den Straßen herrschte ein pausenloses Rufen und Lärmen und Feilbieten und Feilschen in allen erdenklichen Sprachen, und nachts zischte und summte es in den Glühstrümpfen der Straßenlaternen, und das Odeur von den Jauchegruben der Höfe und den Schlachthäusern der näheren Umgebung und den Seifen- und Knochenmehlfabriken hing schwer über den Häuserdächern. Und inmitten von all dem lebten die Menschen, mitten in diesem Gewirr führten Ortsansässige und Untermieter ihr Leben auf engstem Raum, mitten in diesem Chaos sollte man schmusen und sich lieben und sich streiten und seine zartesten Geheimnisse bewahren. Auch das Ehepaar Kajander hatte einen Untermieter bei sich aufgenommen; es war Enoks älterer Bruder Lennart, der in die Stadt gekommen war, um Arbeit zu suchen, aber eher an Alkohol und geschminkten Frauen als an ehrlicher Arbeit interessiert zu sein schien. Es gab Tage, an denen sich Sommerhitze und Einsamkeit wie eine erstickende Decke über Vivan legten, und dann bekam sie Angst, in der Irrenanstalt unten am Lappviksufer zu landen; an solchen Tagen zog sie in Erwägung aufzugeben, nach Degerby zurückzukehren und ihr Kind dort zu bekommen. Aber sie besann sich immer wieder und murmelte ein ums andere Mal vor sich hin:

»Ich habe Enok, er ist ein feiner Kerl, es hätte mir schlimmer ergehen können, ich habe Enok, er ist ein feiner Kerl, es hätte mir schlimmer ergehen können.«

 

Doch der Schwarze Enok veränderte sich in jenem Sommer. Die Zeiten waren nun einmal so, es gärte und rumorte und brodelte überall, und Vivan war schwer und plump geworden und hatte geschwollene Finger und Füße, sie fühlte sich so riesig und unbeweglich wie ein Elefant, und Enok hatte aufgehört, ihr etwas von Liebe ins Ohr zu flüstern, er begegnete nicht einmal mehr ihrem Blick. Er war fast vier Jahre älter als sie, aber sie ahnte natürlich, wie die Dinge lagen; im Grunde war er nur ein abenteuerlustiger, verwirrter Junge. Und als eines Nachmittags im August ihre Fruchtblase platzte, war dieser Junge nicht da. Vivan hatte Enok schon drei Tage nicht mehr gesehen, ebenso wenig wie Lennart, sie wusste nicht einmal, ob die beiden gemeinsam unterwegs waren und ob sie sich, wenn es denn so war, auf der Baustelle aufhielten, oder ob Lennart Enok womöglich zum Trinken verleitet hatte; vielleicht verbargen sich die Brüder in irgendeiner Absteige in Rödbergen oder in einer Waldhütte draußen in Mölylä oder zechten irgendwo im Stadtteil Hermanstad, wo sie Verwandte und Freunde hatten. Vivan wusste nicht, was sie tun sollte. In ihrem Häuserblock wohnten Tante Lindeman und Frau Lahtinen, beides Hebammen, und sie wollte das Kind doch daheim zur Welt bringen, nicht in der Gebäranstalt, wie die losen Mädchen es taten. Aber sie traute sich nicht. Im Frühling und Sommer hatte Enok in ihrem Häuserblock agitiert, auch vor Leuten, die ihm überhaupt nicht zuhören wollten, und eines Abends hatte er sich sogar mit einem schwermütigen und obrigkeitstreuen Eisenbahner aus dem Nachbarhaus geprügelt. Danach hatten Enok und Vivan sich zurückgezogen, und sie wusste, Tante Lindeman und Frau Lahtinen und die anderen Frauen fanden, dass sie kindisch und hochnäsig und ach so etepetete war, obwohl sie selber sich nur eingeschüchtert und verängstigt fühlte. Sie wusste sich keinen anderen Rat, als die Tür zur Speisekammer zu öffnen und im Zwielicht der fast leeren Regalbretter zu suchen, bis sie die kleine Holzschatulle fand, in der Enok ein paar ausgeblichene Geldscheine verwahrte. »Für Notzeiten und Katastrophen«, hatte er gesagt, nun aber nahm Vivan sich ohne zu zögern das Geld, und mit den Geldscheinen in ihrem eigenen Portemonnaie und das Portemonnaie fest gegen den Busen gepresst, begab sie sich zum Istwostschik Kameneff im Nachbarhaus und bat ihn, sie zur Gebäranstalt in Ulrikasborg zu fahren, es sei sehr eilig, sagte sie. Das Wasser lief ihr die Beine hinab, und sie wusste, dass der Kutscher nur wenig Schwedisch verstand, und sie selber sprach kein Wort Russisch und konnte nur ein paar Brocken Finnisch, weshalb sie fürchtete, er könnte sie nicht verstehen. Aber Kameneff verstand. Er brummte anfangs ein wenig missgelaunt, bot ihr aber trotzdem seinen Arm an, als sie über den Hof gingen, und als er das Pferd aus dem Stall geholt und vor den Karren gespannt hatte, murmelte er etwas, das wie popona popana klang, und kehrte in den Stall zurück. Er kam mit einem schmutzigen Flickenteppich zurück, schlug ihn doppelt, legte ihn auf den Sitz und forderte sie auf, Platz zu nehmen. Auf der holprigen Fahrt spürte sie, wie die Wehen allmählich einsetzten, und als sie die Fabriksgatan hinabfuhren und die Gebäranstalt auf ihrem Hügel bereits in Sichtweite war, öffnete sie ihr Portemonnaie und streckte es Kameneff schweigend entgegen, der jedoch nur den Kopf schüttelte und lächelte und »njet, njet« und danach etwas anderes sagte, das sie nicht verstand.

In der Gebäranstalt lag sie in einem hohen Zimmer mit Spitzengardinen vor den Fenstern und dunklen Stiefmütterchen auf den Fensterbänken, sie waren zu viert in einem Zimmer, aber Vivan sprach nicht mit den anderen, sie wartete auf die Wehen, die in immer kürzeren Abständen kamen, und dann hörte sie auf einmal Kriegsgeräusche. Dumpfen Kanonendonner und einmal, nach einer langen und unheilschwangeren Stille, ein viel wütenderes und mächtigeres Geräusch, als wäre etwas in die Luft geflogen. »Die Russen lärmen auf der Festung Sveaborg«, sagte die Hebamme barsch, als Vivan fragte, »man erzählt sich, dass die Soldaten mal wieder versuchen, Revolution zu machen. Aber sie braucht sich nicht sorgen. Hier schenken wir Leben, genommen wird es einem anderswo.«

 

Das Kind wurde kurz vor Morgengrauen geboren, und als Vivan sah, dass es ein Junge war, wusste sie sofort, wie er heißen sollte. Am Nachmittag bekam sie ein Bett in dem großen Saal, in dem alle Mütter lagen, sie fühlte sich zerschlagen, aber schläfrig, sie lag da und beobachtete einen Sonnenstrahl, der über die Wand wanderte, sie wartete, aber Enok ließ sich nicht blicken. Am zweiten Tag kam er dann, beschämt und wortkarg. Er stand vor dem Säuglingszimmer und hielt das herbeigetragene, fest eingewickelte Kind in seinen Armen, er wirkte abgezehrt und verlegen, aber Vivan sah, dass eine der jungen Krankenschwestern verstohlene Blicke auf sein scharfes Profil und seine schwarze Haarpracht warf. Sie selber sah nur den in die Höhe geschossenen Jungen, der sie unter all diesen Russen und Juden und Italienern in der Malmgatan allein gelassen hatte, und als er neben ihr stand, stieg ihr der Geruch eines ungewaschenen Männerkörpers und seines Atems in die Nase, der süßsauer von billigem Süßwein und abgestandenem Bier war, und unter all den anderen Gerüchen meinte sie zudem einen Hauch von Lavendel und Rosenwasser wahrzunehmen. »Da war Kanonendonner, als ich gebären sollte«, sagte sie, um überhaupt etwas zu sagen. »Die russischen Matrosen haben die Munitionslager gesprengt«, sagte Enok, »die Leute sagen, die haben auch Offiziere hingerichtet. Aber jetzt sind sie entwaffnet, also werden bald andre Köppe rollen.« Enok reichte ihr das Kind. Sie schwiegen beide. »Was meinst du, wie soll er heißen?«, fragte Enok dann. »Allan, er soll Allan heißen«, erwiderte Vivan bestimmt. Sie wusste nicht, warum sie sich für diesen Namen entschieden hatte, keiner in ihrer Familie hieß so, daheim in Degerby gab es überhaupt niemanden dieses Namens, sie wusste einfach, dass der Junge Allan und nicht anders heißen sollte. »Schon gut, das darfst du entscheiden«, sagte Enok schnell und schuldbewusst. »Ja, ich entscheide«, sagte Vivan, ohne ihn anzusehen. »Du hast dem Lennu ja wohl gesagt, dass er sich ne neue Bleibe suchen muss?«, fuhr sie fort, immer noch, ohne seinem reuevollen Blick zu begegnen. »Den hab ich versorgt«, sagte Enok, »er zieht zu den Jakobssons in Hermanstad.« »Wo is er denn jetzt?«, fragte Vivan. »Im Bau«, antwortete Enok widerwillig, »ist wütend geworden, und dann gab’s ne Keilerei.«

Noch am gleichen Abend wurde das Kind in eine grobe Decke gehüllt, so dass nur noch der Kopf herauslugte, und daraufhin trug Enok Kajander seinen erstgeborenen Sohn den ganzen Weg nach Hause in die Malmgatan. Sie nahmen den gleichen Weg wie Vivan damals im Mai und im Juni, als sie Enok seine Brote und etwas zu trinken gebracht hatte und ängstlich, aber glücklich gewesen war und die Abendsonne wie eine warme Lampe auf ihrem Bauch gespürt hatte. Auch jetzt senkte sich die Sonne, aber die Luft war kalt, und sie gingen langsam und schweigend, denn es schmerzte und brannte in Vivans Innerem.

 

Enok schulterte seine Verantwortung, er versuchte es wirklich. Sechs Jahre wohnten Vivan, Allan und er in dem Zimmer in der Malmgatan, sechs Jahre zündete er die sporadisch verteilten Gaslaternen in den Stadtteilen Brunnsparken und Ulrikasborg an, sechs Jahre besserte er sein Einkommen im Sommer auf einer der zahllosen Baustellen in der Stadt auf, und sechs Jahre blieben Vivan böse Visionen erspart, denn die langen Arbeitstage und das erbarmungslose Menschengewirr der Stadt machten ihren Schlaf schwer und traumlos. In den ersten beiden Sommern half Enok, das Haus des Arbeitervereins auf Broholmen zu bauen. Das neue Gewerkschaftshaus war ein massives, burgähnliches Gebäude aus grauem Granit. Überall in der Stadt gab es immer mehr von diesen hohen Steinkästen; sie lagen nicht länger wie einsame Reißzähne im Terrain verstreut, sondern standen in zahlreichen Häuserblocks bereits Rücken an Rücken an Rücken, in vielen Straßen kauerten die wettergegerbten Holzhäuser schon hilflos im Schatten der Jugendstilvillen. Bei Enok und Vivan löste ein Untermieter den nächsten ab, mal war es einer von Enoks vielen Brüdern und Cousins, mal eine von Vivans Schwestern oder ein Nachbarsjunge aus Degerby, und in einem Herbst, als die Polizei alle Bordelle der Stadt schließen ließ, war es ein obdachloses Freudenmädchen, das eine entfernte Verwandte Enoks war und so lange den Namen Jeannette benutzt hatte, dass Enok sich nicht mehr an ihren richtigen Namen erinnern konnte, zumindest sagte er das, als Vivan ihn danach fragte. Im Dezember brachen bei Jeannette zwei Wunden auf, die eiterten und nicht verheilen wollten, eine auf der linken Schulter und eine am Rückgrat; im Frühling begann sie ein Bein nachzuziehen, wie Syphilitiker es machten, sobald die Krankheit das Nervensystem befallen hatte, und daraufhin wurde sie ins kürzlich eröffnete Frauenkrankenhaus in Gumtäkt aufgenommen, und Vivan und Enok sahen sie nie wieder.

Ein langer Winter löste den anderen ab, und jeder Sommer erschien einem so hoffnungslos kurz wie die anderen. Vivan fand Arbeit in Fazers Süßwarenfabrik am Munkholmssund, und die Beziehung zwischen ihr und Enok kühlte immer mehr ab. Allan bekam keine Geschwister und gewöhnte sich schon bald daran, dass seine Mama nach ihrer Schicht in der Fabrik immer müde und sein Papa fast die ganze Zeit abwesend war. In der Malmgatan gab es viele Männer, die im Beisein ihrer Kinder tranken, aber so jemand war Enok nicht. Wenn sich Rastlosigkeit und Lebenshunger in Erinnerung riefen, war er eine Weile wie vom Erdboden verschluckt, und wenn er die Besäufnisse dann leid war, tauchte er wieder auf. Seiner Arbeit ging er auch dann nach, wenn er trank, zumindest glaubte Vivan das, denn von Seiten des Stadtingenieurs von Kraemer oder anderer Vorgesetzter kamen ihr niemals Klagen zu Ohren.

Allan war ein stiller Junge, denn um ihn herum wimmelte es von verschiedenen Sprachen, und so dauerte es eine ganze Weile, bis er lernte, sie auseinanderzuhalten. Allein war er jedoch nie; er stand inmitten der Jungen, die einen der vielen Trauerzüge begafften, die auf dem Weg zum Friedhof die Lappviksgatan hinabzogen, und wenn es Sommer wurde, bettelte und bat er so lange, bis er die älteren Jungs begleiten durfte, wenn sie an der Edesviken die Pferde der Kosaken wuschen. Und früh, sehr früh nahm er an den Wettläufen zum Roten Tod teil, einem verlassenen Haus, das man bei mehreren Choleraepidemien als Leichenhalle genutzt hatte. Die Väter in der näheren Umgebung waren stets beschäftigt, aber wenn einer von ihnen zufällig Zeuge dieser Wettläufe geworden wäre, hätte er mit Sicherheit die gleiche Beobachtung gemacht wie viele ältere Jungen; dass der Stille Allu, Laternenanzünder Kajanders Junge, für sein geringes Alter und seine kurzen Beine verblüffend schnell lief.

 

Eines Sommers parkte vor einem neuerbauten fünfstöckigen Haus bei Malmbrinken plötzlich ein Automobil. Es war ein hoch gebauter und dunkel glänzender Adler, eine richtige Millionärskarosse mit Dach und Fenstern an allen Seiten, es war das erste Automobil, das Allu und die anderen Jungen von der Malmgatan aus der Nähe sahen, und sie fanden, dass es wie ein Ungeheuer wirkte, wie ein gewaltiges, schwarzes Raubtier, das zusammengekauert in der heißen Sommersonne hockte und nur darauf wartete, dass seine Zeit kam, das nur auf den richtigen Moment wartete, um zum Sprung anzusetzen und sich mit Gebrüll auf sie alle zu stürzen und zwischen seinen Metallkiefern zu einem Brei aus Fleisch und Blut zu zermalmen. Während sie dort standen und gafften, trat der Chauffeur aus dem Haupteingang des mehrstöckigen Gebäudes. Er trug eine Schirmmütze und lange Handschuhe und eine rote Livree mit einem knöchellangen Mantel, er kurbelte das Monstrum an, und der Motor hackte anfangs ein bisschen, wummerte dann jedoch schnell und dumpf. Der Chauffeur warf einen Blick auf die ehrfurchtsvolle Jungenschar, die zehn Meter Abstand hielt. Er lächelte ihnen von oben herab zu und drückte auf das Messinghorn, das an der schwarz glänzenden Seite des Gefährts befestigt war – ein heiseres Grölen ertönte, ein Urzeitlaut, und anschließend stieg der Chauffeur auf den Fahrersitz, und das Wunderwerk ratterte auf der staubigen Schotterstraße davon.

Einige Wochen später bekam das Haus, in dem sie wohnten, elektrisches Licht, und es wurde nicht nur in den Wohnungen und im Treppenhaus installiert, sondern sogar in den Plumpsklos auf dem Hof. Es war ein Jahr, in dem sich Enok Kajander Besserung gelobt hatte. Er ließ die Finger von der Flasche und ging pünktlich zur Arbeit. Er ging auf Versammlungen und zu Soirees und zu Jyrys Ringertraining im Gewerkschaftshaus, aber er war gefügig und agitierte nicht gegen den Kapitalismus. Und er stand seinem Sohn näher als jemals zuvor; im Spätherbst saß Allu auf seinen Schultern, als sie über den Hammarberget zum Ufer der Tölöviken hinabstiegen. Während sie so gingen, erzählte Enok von den Riesendampfern Lusitania und Mauretania der Cunard Line und vom Wettstreit Cunards und der White Star Line darum, wer am schnellsten den Atlantik überquerte, und er sagte Allu, dass sich White Star sicher einen Gegenzug einfallen lassen werde, noch sei das letzte Wort im Kampf um das Blaue Band des Atlantiks nicht gesprochen. Allu lauschte seinem Vater mit großen Augen und offenem Mund, der so viel konnte und wusste, und als sie die schlammige Bucht erreichten, war dort im Novemberregen alles schwarz vor Menschen, und Enok kaufte Eintrittskarten, und Allu blieb auf seinen Schultern sitzen, und dann sahen sie und Tausende andere den todesverachtenden Utozinskij am nördlichen Ufer starten und in seinem brüllenden und hustenden Aeroplan tief, ganz tief über das Wasser fliegen.

Allu und seine Freunde spielten daraufhin den ganzen Winter über Flieger Utozinskij. Papa Enok hingegen spielte nicht Utozinskij, er spielte mit der Liebe und dem Feuer. Er hielt seine guten Vorsätze nicht und begann wieder zu verschwinden, er verschwand einmal, dann verschwand er noch einmal und ein drittes Mal. Zwar kehrte er immer wieder zurück, aber als er zum dritten Mal heimkam – es war zur Zeit der Schneeschmelze und Märznebel, und er sah abgezehrt und versoffen aus und hatte eine hässliche Schnittwunde auf dem Unterarm –, hatte Kusine Sandra Nachforschungen angestellt und Vivan erzählt, dass die Gaslaternen in Brunnsparken und Ulrikasborg in diesem Winter viele Nächte unangezündet geblieben waren und Enok vor Kurzem die schriftliche Kündigung erhalten hatte. Aber das war noch nicht alles. Enok hatte darüber hinaus zwei Sommer zuvor ein Fabrikmädchen in Mölylä geschwängert und hatte mittlerweile eine uneheliche Tochter draußen in Malm und war zudem erst vor ein paar Nächten in eine wüste Messerstecherei in Hermanstad verwickelt gewesen.

Vivan brüllte keine Schimpfwörter und vergoss keine Tränen. Sie sah Enok nur schweigend an, und anschließend nahm sie Allu mit und zog bei Sandra und Axel ein, die noch immer in der Andra linjen wohnten. Den ganzen Sommer über schliefen sie und der Junge in dem engen Zimmer auf dem Fußboden, und Vivan ging die drei Kilometer zur Süßwarenfabrik zu Fuß. Im Oktober bekam sie eine Stelle in der Bäckerei des genossenschaftlichen Betriebs Elanto, und daraufhin besorgte ihr die Genossenschaft ein Zimmer in dem neuen Hochhaus, dessen rauer Backsteingiebel sich über dem Hof auftürmte, an dem Sandra und Axel wohnten. Zu der Zeit hatte Enok wegen der Messerstecherei bereits eine kürzere Zuchthausstrafe abgesessen und war nach Sibbo zurückgekehrt.

 

Noch im gleichen Winter fand Vivan einen neuen Mann, einen ruhigen und gepflegten Postsortierer, der Santeri Rajala hieß und vierzehn Jahre älter war als sie. Rajala war ein Mann des Geistes in Arbeitergestalt, er trank niemals Alkohol, sondern las stattdessen Bücher und hatte sich selber Schwedisch und Deutsch beigebracht, um Meister Eckhart und Thomas von Aquin und andere schwerverständliche, aber inspirierende Bücher lesen zu können, die nicht ins Finnische übersetzt worden waren. Rajalas Sanftmut war wie ein Glas klares und kühles Wasser für Vivans enokgeschundene Seele; sie heirateten unmittelbar, nachdem ihre Scheidung rechtskräftig geworden war, woraufhin Allu im Laufe eines Jahres zwei Halbschwestern bekam.

Familie Rajala zog in ein Mietshaus in der Kristinegatan, wo sie lebten, wie es die meisten Leute taten – schnarchende und schniefende Untermieter, Holzbockbetten, die nach der Nacht zusammengerollt und ins Treppenhaus gestellt wurden, dünne Matratzen auf zugigen Holzböden, Hering in verschiedenen Varianten, Korngrütze und dünner Kaffee am Morgen, bestenfalls frische Eier von Ojanens Hühnerhof und am Wochenende vereinzelt sogar Fleischbällchen und Pflaumenkompott. Vor ihrem Fenster wuchs ein üppiger Ahornbaum, und hinter dem Ahorn konnte Allu die Josafatfelsen sehen und schräg hinter den Felsen Berghälls neuerbaute Kirche, die dort wie eine stattliche und strenge Erinnerung daran stand, dass die Begüterten ihren Gott so unendlich viel größer fanden als die Kampflieder der Arbeiterbewegung, die Papa Enok mit seiner im Laufe der Jahre immer heiserer werdenden Tenorstimme zu singen pflegte. Zwischen seinem Zuhause und der Kirche lag ein Niemandsland, ein Teil der Stadt, der zwar geplant, aber noch nicht erbaut war – halb gezogene Straßen, eiligst gezimmerte Straßenarbeiterbaracken, Sprenggestein, Lattenstücke, morastige Pfützen und Gräben.

 

Fürs Erste verschwand Enok aus Allus Leben, aber als zwei Jahre vergangen waren, zog er nach Helsingfors zurück und wurde probehalber als Monteur in den Straßenbahndepots in Vallgård angestellt. An einem Julisonntag stand er dann plötzlich, groß und dunkel, auf ihrem Hof und sagte: »Na, Jungchen, du erinnerst dich ja wohl noch an deinen Vatter?« Vivan hatte zufällig aus dem Fenster geschaut und Enok die verschlafene Kristinegatan heranschlendern gesehen, und nun eilten sie und Santeri Rajala auf den Hof hinaus, wo Allu spielte, und in Santeris Augen war deutlich zu sehen, dass er auf Ärger eingestellt war und Angst hatte. Doch Enok war nüchtern und mit einem zwar abgetragenen, aber sauberen Anzug und einem Hemd mit frisch gestärktem Kragen bekleidet und trug einen Hut statt der ewigen Mütze, einen zwar etwas fleckigen Schlapphut, aber immerhin. Er grüßte Santeri höflich, warf anschließend Vivan einen langen und ungenierten Blick zu und erklärte, sie sehe großartig aus, könne es möglicherweise sein, dass …? »Wir haben im Mai ein Mädchen bekommen«, unterbrach Vivan ihn und bedeckte reflexartig ihren Busen mit dem fadenscheinigen Tuch, das sie um die Schultern trug. »Was willst du, Enok?«, fuhr sie anschließend fort. »Du bist ja wohl hoffentlich nicht gekommen, um Streit anzufangen?« Enok lächelte Vivan so freundlich an, wie er nur konnte, mit einem richtig breiten Grinsen, und fragte: »Darf ich den Allu in den Zirkus mitnehmen? Da is ne Gesellschaft, die hat ihr Zelt beim Hippodrom aufgeschlagen, in einer Stunde is ne Vorstellung.« Vivan schien zu zögern und sah Santeri an, als suchte sie seine Unterstützung. Aber Santeri blieb stumm, und Enok fuhr fort: »Als Geschenk zum achten Geburtstag. Sind ja noch ein paar Wochen bis zum Fest, aber nun bin ich grade stabil bei Kasse, und man weiß ja nie …« Er nahm Allus Hand und ließ das Ende des Satzes über den Innenhof schweben und sich zwischen Jungbirken und verblühtem Flieder auflösen. Vivan begegnete seinem Blick und sagte: »Jetzt wart mal kurz, da gibt’s ja wohl hoffentlich nicht nur Ringer, oder?« »Auf dem Plakat steht jedenfalls nix von Ringkämpfen«, entgegnete Enok. »Gut«, sagte Vivan, »du weißt ja, dass ich vom Ringen nichts halte, und ich will auch nicht, dass Allu …« »Das ist ne fahrende Gesellschaft«, unterbrach Enok sie, »ne kleine, und die sind nicht wie Nord oder Ducander, die kleinen haben keine Ringer. Und außerdem sagen sie in der Stadt, dass in Berlin kürzlich ne Epidemie war und Stankowitsch und Ladbach und ein paar andere fast hopps gegangen sind.« Jetzt erwachte Santeri zum Leben. »Epidemie?«, fragte er, »Ist es Cholera?« »Mehr wurde nicht erzählt«, antwortete Enok munter. »Es war Cholera in Wien ein paar Jahre vorher«, sagte Santeri in seinem etwas plumpen Schwedisch und fuhr fort: »Du meinst also, Ladbach und Stankowitsch sind tot? Ladbach, der Sachse? Und Stankowitsch, das war doch der Serbe mit dem großen Schnäuzer, nicht?« »Nee, nee, tot sind die nicht, sie sind krank gewesen, aber sie kommen durch, he on hengessä kyllä, sie sind schon noch am Leben«, erklärte Enok und ergänzte eifrig: »Aber der Anderson, der Amerikaner, der soll sich das Bein und den Arm gebrochen haben, als er in London gegen Hagendorfer angetreten is! Die neuen, die ham einfach nicht genug Mumm, denk nur mal an Cyklop und Lurich, das waren noch Ringer!« »Ja, Lurich«, sagte Santeri mit verträumter Stimme, »das war ein sehr feiner Ringer!« Vivan war auf einmal müde, sie spürte, dass aus ihrer rechten Brust Milch schoss, und warf Santeri einen scharfen Blick zu und war kurz davor, ihn zu fragen, warum Männer immer über Ringkämpfe und andere Wettbewerbe reden mussten, schluckte die Worte jedoch wieder hinunter. Stattdessen sah sie zunächst Enok an und ließ anschließend den Blick zu Allu schweifen, der die Hand seines Vaters fest gepackt hielt und voller Erwartung zu sein schien, und daraufhin sah sie Enok wieder in die Augen und sagte: »Dann nimm ihn mit. Aber um sieben seid ihr wieder zurück. Und eins sag ich dir, Enok Kajander, wenn du auch nur einen Tropfen trinkst, siehst du deinen Sohn nie wieder!«

Kurz darauf spazierten Vater und Sohn Richtung Tölö. Als Allu das runde Zelt mit der spitz zulaufenden Kuppel sah, drehte sich ihm vor lauter Vorfreude der Magen um; er war noch nie im Zirkus gewesen. Sie kauften Eintrittskarten, gingen hinein und sahen den Cirque Nouveau International unter der Regie Signor Corradinis. Es gab die Trapezkünstler Adelaide Sisters, es gab den Entfesselungskünstler Monsieur Brasso, der von sich behauptete, geschickter als Houdini und Kleppini zu sein, da waren die Kunstreiterin Solange du Plessis und ihr reitender Seidenpudel La Flor, und da waren die Velozipedartisten Los Edwardos und der dumme August Jacomino. Und dann gab es noch einen Seiltänzer, und über den sagte Enok: »Der da nennt sich Mister Dare, aber ich erkenn ihn, das is der Janatuinen, der war früher Schornsteinfeger in Tölö.« Im Gegensatz dazu, was Enok versprochen hatte, trat auch ein berühmter Ringer auf, der untersetzte und schon etwas in die Jahre gekommene Pole Zbyszko, der das Publikum herausforderte und einen grob gebauten Helsingforser Hafenschauermann nach dem anderen per Schultersieg bezwang. Allu wollte, dass auch Enok Zbyszko herausforderte, aber Enok lächelte nur, schüttelte den Kopf und sagte: »Ich ring nicht mehr mit andern, Jungchen, heut ring ich nur noch mit meiner Wenigkeit höchstpersönlich.«

Als die Vorstellung vorbei war, gingen sie über den Tallbacken und suchten sich dann über raue Felsen und auf gewundenen Pfaden einen Weg zur Kristinegatan hinauf. Während sie so gingen, wollte Allu wissen, warum seine Mutter nichts vom Ringen hielt, woraufhin Enok den Mund verzog, denn er erinnerte sich an die Replik – »Ich bitte dich, Enok, die Trikots, das ist ja, als würd man sie ganz nackt sehen, und dann furzen sie auch noch« –, die Vivan fallen gelassen hatte, als er sie zum Meisterturnier in der Broholmsmanege mitgenommen hatte. Aber zu Allu sagte er nichts. Stattdessen erzählte er ihm von dem verhängnisvollen grünen Edelstein, der für den Untergang der Titanic verantwortlich war, und Allu sah einmal mehr mit großen Augen seinen Vater an, der so viel wusste und konnte. Dann aber wurde es August, und die Zeitungen schrieben von dem großen Krieg, der ausgebrochen war, und kurz darauf kam der Herbst, und der Ahornbaum vor Familie Rajalas Fenster wurde leuchtend gelb und rot, und Enok ließ sich nicht mehr blicken. Als Allu es nicht länger aushielt, zu schweigen und zu warten, sondern nach seinem Vater fragte, sagte Vivan ganz kurz, Enok sei gezwungen gewesen, seine Arbeit aufzugeben, und wieder nach Sibbo zurückgezogen.

 

Allu besuchte die Volksschule in der Porthansgatan, und manchmal sagte seine Lehrerin zu ihm, er sei ein guter Schüler und solle eine Höhere Schule besuchen dürfen. Das letzte Jahr in Helsingfors trug er fast immer die lange Hose, die Vivan ihm aus einem Stück schwarzen Hosenstoffs genäht hatte, an den sie billig herangekommen war, und er besaß eine kleine Briefmarkensammlung, die er bei spärlich gesäten Gelegenheiten beim alten Geitel in der Stadt erweiterte. Er war zwar erst zehn Jahre alt, wirkte jedoch älter und warf bereits verstohlene Blicke auf ein dreizehnjähriges Mädchen, das Mandi Salin hieß und in einem der Steinhäuser an der Kirche von Berghäll wohnte. Familie Salin stand sozial ein paar Stufen höher als Leute wie Vivan und Santeri, denn Mandis Vater war vom einfachen Verkäufer zum Inhaber eines Kolonialwarenladens in der Wallinsgatan aufgestiegen, und Mandis Mutter hatte ein gebrauchtes Tafelklavier gekauft und ein ganzes Regal mit teuren Büchern gefüllt, damit Mandi und ihr Bruder das nötige Wissen vorfanden, um sich aus dem ärmlichen Arbeitermilieu herauszulesen. Doch in diesem letzten Jahr, ehe der Aufstand begann und alles zunichte machte, saßen auch Vivan und Santeri oft auf der Hofschaukel und schmiedeten Zukunftspläne; sie sprachen über den Krieg und die Inflation, sie sprachen über die zahlreichen Streiks und über die Jungenbanden, die sich auf den Straßen von Sörnäs und Berghäll herumtrieben, aber am Ende kamen sie immer wieder darauf zu sprechen, was Lehrerin Ahlman über Allus Begabung gesagt hatte, und daraufhin schauten sie sich ernst an und versicherten einander, dass Allu und nach ihm, wenn es so weit war, natürlich auch die Mädchen, die Höhere Schule besuchen dürfen sollten, genau wie die Geschwister Salin und die Söhne von Automobilchauffeur Kanervo es taten. Dann aber schüttelte Vivan unweigerlich den Kopf, lehnte sich in der Schaukel an Santeris Schulter und murmelte: »Wenn nur die Zeiten nicht so hart wären. Wenn nur Brot und Butter und Brennholz nicht so unchristlich teuer wären.«

 

Es waren die langen Abende des Freiheitsfrühlings 1917, an denen Allu und einige seiner Freunde, unter anderem Mandi Salins kleiner Bruder Kai, auf dem holprigen Aspnäsplatz unterhalb von Elantos Bäckerei zu kicken begannen. Im Mai sahen sie die erste Mannschaft des Arbeitervereins Vallilan Woima gegen die bürgerliche Mannschaft KIF mit 0:10 verlieren. Woimas Spieler sahen mager und eingeschüchtert aus, sie verloren jeden Zweikampf und trauten sich nicht einmal, den schwarzbehemdeten und wohlgenährten Bürgersöhnen als Rache für die Demütigung gegen das Schienbein zu treten, und Allu und Kai und die anderen Jungen rund um den Aspnäsplatz ballten die Fäuste in den Taschen und dachten, so würde es ganz sicher nicht zugehen, wenn sie älter wurden. Sie fabrizierten ihren ersten Ball aus Zeitungspapier, das sie Schicht auf Schicht um einen kleinen Stein kleisterten und anschließend Runde um Runde um Runde mit Schnüren umwickelten. Der Ball wurde höckrig und bucklig und war viel zu leicht, und weder seine Flugbahn, noch wie er sprang, ließ sich berechnen; dennoch spielten sie wochenlang mit ihm, bis sich schließlich Kolonialwarenhändler Salin ihrer erbarmte und einen Stammkunden kontaktierte, der zufällig Kassenwart bei einem der bürgerlichen Sportvereine war. Wenige Tage später bekamen Kai, Allu und die anderen einen ausgemusterten Ball aus richtigem Leder, einen dunkelbraunen und übel riechenden Ball, den sowohl Unitas als auch der Akademische Sportverein Hektor benutzt hatten, ehe er als allzu bucklig und wasserdurchtränkt einkassiert worden war, nachdem er den Regen mehrerer Spielzeiten aufgesogen hatte.

Auf dem Aspnäsplatz fiel auch Allus Kameraden schon bald auf, was die Jungen in der Malmgatan schon während der Wettläufe zum Roten Tod gesehen hatten. Allu hatte eine ganz besondere Art, sich zu bewegen; er war schneller und wendiger als die anderen, was sich auch bemerkbar machte, wenn er kickte. Sogar die deutlich älteren Jungen, die bereits einen Bartflaum bekamen und ihre Fühler nach einem Platz in einem der Fabrikteams oder Woimas dritter Mannschaft ausstreckten, ließen sich widerwillig anerkennend über ihn aus: kajanderi luudaa lujaa vaik’ onkin snadi, der Kajander ist schnell, obwohl er klein ist.

Während des ganzen Frühlings und des gesamten Sommers, der auf ihn folgte, lief Allu erst vom Aspnäsplatz nach Hause, wenn die Sonne schon tief stand. Er kickte und trieb sich den ganzen Tag in den Straßen herum, er schlürfte literweise Wasser aus einem Hydranten in Surutoin, und manchmal, wenn sie sich müde gespielt hatten, schlenderten er und Kaitsu Salin und die anderen zum Esplanadenpark im Stadtzentrum; dort standen sie dann und begafften die vornehmen Damen und Herren, die aus ihren Pferdedroschken und Automobilen stiegen und in den Foyers des Kämp und Kapellet und der anderen erstklassigen Restaurants verschwanden. Allu verschlang das Brot, das Vivan ihm mitgegeben hatte, und merkte sehr wohl, dass es streng nach Leinsamen und Spreu schmeckte, aber manchmal aß er duftende Piroggen, die der herzensgute Mustoskan im Nachbarhaus aus Weizen und Butter und Eiern buk, die man in der ganzen Kristinegatan und der halben Borgågatan eingesammelt hatte. Dann saßen seine Spielkameraden in einem Halbkreis um ihn herum, und der Speichel lief ihnen aus den Mundwinkeln, bis Allu schließlich grinste und einen Pirogenbissen abbrach und ihn mit weltmännischer Geste dem Nächstsitzenden reichte.

Um sie herum wurde gestreikt, und es herrschte Chaos und Rationierung, und die Arbeiter hatten immer einen Bärenhunger, viele hungerten fast, aber Allu interessierte das alles nicht, denn er war zehn Jahre alt, fast elf, und er liebte es, zu laufen und zu schwimmen und zu kicken und triefende Piroggen zu essen, die einen Kranz aus Fett um seinen Mund zurückließen, und es ist sicher nicht gelogen, wenn man sagt, dass er glücklich war. Der Sommer war trocken, aber windig und kühl, und Vivan und viele andere, die glaubten, die Gabe des zweiten Gesichts zu haben, fanden ihn trostlos und unheilverkündend, aber wenn Allu über die schnurgeraden Straßen, die Linien genannt wurden, nach Hause spazierte, schien ihm die rote und sterbende Sonne ins Gesicht und auf Arme und Bauch und ließ ihn den Hunger vergessen, der in seinem Inneren nagte. Und jedes Mal überkam ihn das gleiche eigentümliche und intensive Gefühl – es war ihm, als durchlebte er etwas Schönes, das er schon einmal erlebt hatte, er fühlte sich innerlich so warm und erwartungsvoll, als wäre er von der Gewissheit erfüllt, dass sein jetziges Leben schon bald in ein anderes münden würde, ein noch besseres, in eine große Befreiung.

 

Zu Beginn des Winterhalbjahres rief Allus Turnlehrer, Magister Wichmann, ihn zu sich und meinte, Kajander solle sich schnellstmöglichst einem Sportverein anschließen, denn Kajanders Veranlagung für Laufen und Ballspiele seien »eine verdammte Gabe Gottes«. Allu blickte unter seiner Tolle den strengen Magister Wichmann an, dessen kurzgeschorene Haare vom Schädel abstanden wie das Fell eines ängstlichen Igels. Das freie Leben auf dem Aspnäsplatz und in den Linien hatte Allu rastloser und aufmüpfiger gemacht, und in diesen Herbstwochen begann Vivan schließlich, sich Sorgen um ihn zu machen. Sie hatte nach einer Pause von vielen Jahren wieder einen ihrer Träume gehabt – sie hatte Allu leblos auf einem Bett aus gefrorenem Gras liegen gesehen, sein Blick war gebrochen und tot gewesen, und ein braunes Birkenblatt hatte auf seiner bleichen Wange geklebt. Sie hatte Santeri nichts davon gesagt, sie vertraute sich ihm niemals so an, wie sie sich früher Enok anvertraut hatte, und vielleicht war gerade ihr Schweigen der Grund dafür, dass der Traum sie weiter verfolgte; Nacht für Nacht kehrte er wieder, es half nicht einmal, dass sie sich vor dem Schlafengehen ans Fenster kniete und auf die Josafatfelsen hinausblickte und Gott bat, der Traum möge sie in Frieden lassen.

Der Sommer hatte Vivan gründlich in Angst und Schrecken versetzt. Die Miliz und die Typographen hatten gestreikt, es waren keine Zeitungen erschienen, und im Stadtzentrum hatten Unholde die Schaufenster der bürgerlichen Zeitungen mit zähem, stinkendem Teer übermalt, so dass der Öffentlichkeit der Zugang zu den Nachrichtentelegrammen verwehrt gewesen war, die in den Fenstern zur Lektüre auslagen. Als die Zeitungen dann im August wieder erschienen, waren sie voller Meldungen über Diebstähle und Totschläge und Frauenschändungen, die sich im Laufe des Sommers ereignet hatten, und als es Herbst wurde, exerzierten bereits die rote und die weiße Garde in den Parks der Innenstadt und den Wäldern vor den Toren der Stadt. »Ich mach mir solche Sorgen wegen Allu«, sagte Vivan eines Abends spät im September zu Santeri, »ich hab doch alle Hände voll zu tun mit den Mädchen, und er muss die meiste Zeit allein klarkommen. Aber wenn ich ihn frage, wo er gewesen ist, antwortet er nicht. Ich hab Angst, dass er mehr auf der Straße ist als in der Schule oder auf dem Arbeitshof. « »Leider ist es wohl auch so«, meinte Santeri und wedelte mit dem Brief, den er gelesen hatte, nachdem er zunächst den Umschlag mit dem Tischmesser geöffnet hatte, »der Brief ist von Fräulein Ahlman, und sie sagt das Gleiche.« »Ich will nicht, dass er bei so einer shaki, so einer Bande mitmacht«, sagte Vivan unglücklich und mit bebender Betonung auf dem Wort shaki