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Eine Liebe, so tief wie die Tunnel der Moskauer Metro Alexej, verlassen von seiner großen Liebe Anna, die nach Berlin aufgebrochen ist, stürzt in tiefe Trauer und wird von den übermächtigen Schatten seiner Vergangenheit eingeholt. Als er Hinweise darauf erhält, dass Anna nicht in Berlin angekommen ist, befürchtet er, dass ihr etwas Schlimmes zugestoßen ist. Getrieben von Liebe und Verzweiflung, begibt sich Alexej auf die Suche nach Anna, die ihn bis in die dunklen Tiefen der Moskauer Metro führt. Ein Wettlauf gegen die Zeit durch ein Labyrinth voller Hoffnung und Verzweiflung, die ihn an die Grenzen seiner Belastbarkeit führt. Wird er Anna finden, bevor es zu spät ist? Hat ihre Liebe noch eine Chance?
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Seitenzahl: 260
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.
“Unmöglich!” sagte die Tatsache.
“Versuche es!” flüsterte der Traum.
unbekannt
für Babuschka Sina
1 ALEXEJ
2 ANNA
3 ALEXEJ
4 ANNA
5 ALEXEJ
6 ALEXEJ
7 ALEXEJ
8 ALEXEJ
9 ALEXEJ
10 ALEXEJ
11 ALEXEJ
12 ALEXEJ
13 ANATOLI
14 ALEXEJ
15 ALEXEJ
16 NADJA
17 ALEXEJ
18 ALEXEJ
19 ALEXEJ
20 ALEXEJ
21 ALEXEJ
22 ALEXEJ
23 ANNA
24 ANATOLI
25 VITALI
26 ANNA
27 ALEXEJ
28 ALEXEJ
29 ALEXEJ
30 ALEXEJ
31 VITALI
32 ALEXEJ
33 VITALI
34 ALEXEJ
35 Alexej
36 ALEXEJ
37 ALEXEJ
38 ALEXEJ
39 ANATOLI
40 ALEXEJ
41 ALEXEJ
42 ALEXEJ
43 ALEXEJ
44 ALEXEJ
45 ALEXEJ
45 ANNA
Alexej nahm einen letzten tiefen Zug von seiner Chesterfield, dann warf er die angerauchte Kippe achtlos weg und betrat die Eingangshalle. Die lauten Geräusche überwältigten ihn: scharrende Rollkoffer, überlaute Lautsprecherdurchsagen, weinende Kinder.
Hastig zog er einen Flachmann aus seiner Manteltasche und nahm einen großen Schluck. Der Wodka brannte auf den Lippen. Die Luft war durchmischt mit den Gerüchen nach altem Schweiß, gebackenen Brezeln und frischem Kaffee. Alexej rieb sich die Augen, kniff sie zusammen und versuchte auf der Anzeigetafel Informationen zum Abflug der Aeroflot Maschine nach Berlin zu erkennen. Doch die weiße Schrift auf der LED Wand verschwamm immer wieder vor seinen Augen. Endlich konnte er die Daten entziffern: SU112 - 19:40 Uhr - Moskau - Berlin - Abfertigung.
Er kramte eine weitere Zigarette aus der Manteltasche hervor, zündete sie mit zitternden Händen an und sog den Rauch ein. Achtlos warf er die Zigarette auf den Fliesenboden und lief zur Treppe, die ins Obergeschoss führte. Dort drängte sich eine Menschenmenge zusammen. Sämtliche Rolltreppen waren ausgefallen und die Passagiere, die in die obere Abfertigungshalle gelangen wollten, mussten die Treppe nutzen.
Alexej kam nicht voran. Er schrie ein älteres Ehepaar an, das sich direkt vor ihm die Stufen hinauf mühte. Das Paar drehte sich erschrocken um, wich zur Seite und ließ ihn gewähren. Alexej kämpfte sich weiter, und zwängte sich vorbei an jungen Frauen in schicken Pelzmänteln, elegant gekleideten Männern und Jugendlichen in Sneakern.
Oben angekommen, atmete er schwer und ihm wurde übel. Mit der rechten Hand suchte er Halt an der Lehne einer Metallbank. Sein Blick irrte dabei über die Menschenmenge. Schweißperlen rannen an seinen Schläfen entlang, das graue Hemd, das er unter dem Mantel trug, klebte auf der Brust. Er drehte sich um und entdeckte zwei Sicherheitsbeamte auf der Treppe, die sich den Weg nach oben bahnten und ihn dabei mit ihren Blicken fixierten.
Alexej versuchte, seinen Atem zu kontrollieren. Dann ließ er den Blick erneut über die Menge schweifen. Ganz hinten rechts erkannte er eine junge Frau mit roten, lockigen Haaren. Sie trug einen gelben Seidenschal um den Hals. Oh, verdammt! Die Sicherheitsschleuse. Jetzt musste er sich beeilen. Die Innenflächen seiner Hände wurden feucht und sein Herz raste. Mit dem Handrücken wischte er sich den Schweiß aus dem Gesicht und drängte sich zwischen den Passagieren vorbei zu der Stelle, an der er sie gesehen hatte. Völlig außer Atem und mit hochrotem Kopf erreichte er sie. Anna war gerade dabei, ihren Mantel auszuziehen und in den grauen Plastikbehälter für die Sicherheitskontrolle zu legen.
Alexej sprang vor, packte Anna am rechten Oberarm und riss sie mit sich. Ihre Handtasche rutschte dabei von der Schulter und fiel zu Boden. „Du bleibst hier! Du wirst nicht in diese Maschine steigen!“ Seine Stimme war laut und schrill. Anna versuchte, sich aus seinem Griff zu lösen, es gelang ihr nicht.
„Was soll das, Alexej?“, schrie sie angsterfüllt. „Lass mich los! Du tust mir weh!“ Neugierig beobachteten die Umstehenden die Szenerie. Aber niemand griff in das Geschehen ein. Alexej blickte sich um und erkannte die beiden Sicherheitsbeamten, die nun direkt auf ihn zukamen. Seine Hand umklammerte noch immer fest Annas rechten Oberarm.
„Du kommst jetzt mit mir, Anna!“, herrschte er sie erneut an, seine Stimme bebte. „Es ist noch nicht zu spät!“ In diesem Augenblick packten die Beamten Alexej grob an den Oberarmen. „Was tun Sie hier? Was wollen Sie von der Frau?“
“Lasst mich los, ihr Penner! Das ist eine Sache zwischen ihr und mir!” Alexej versuchte verzweifelt, sich aus dem Griff der Beamten zu befreien. Annas Augen waren weit aufgerissen. Tränen liefen über ihr Gesicht. Sie beugte sich hinunter und hob ihre Tasche auf. Dabei ließ sie Alexej und die Beamten nicht aus den Augen. Ungläubig schauten diese zunächst auf Anna, dann auf Alexej, der noch immer versuchte, sich loszureißen.
„Offenbar möchte die Dame nicht mit Ihnen sprechen. Kommen Sie mit!“
“Was soll das? Lasst mich los!”, brüllte Alexej.
“Mitkommen!” Widerwillig ließ er sich von den Beamten abführen. Kurz vor der Treppe wandte er sich noch einmal um und brüllte über die Köpfe der anderen Passagiere hinweg: „Anna! Lass uns reden!“ Ihr Blick war fest auf den grauen Fliesenboden gerichtet. Behutsam strich sie über ihren schmerzenden Arm und murmelte leise: „Es hat doch keinen Sinn mehr, Alexej!”
„Ist alles Ordnung?“
Eine sanfte Stimme drang an ihr Ohr. Überrascht drehte Anna sich um. Ein Mitarbeiter der Flughafensicherheit schaute sie besorgt an.
„Ja, es geht mir gut.“ Sie hielt noch immer ihren rechten Arm fest und wandte sich ab.
Doch der Mann in der dunkelblauen Uniform ließ nicht locker. „Was ist mit Ihrem Arm? Sind Sie verletzt?“
"Ach, es ist nichts. Sicherlich nur ein paar blaue Flecken.“
Anna zitterte und Schweiß trat ihr auf die Stirn. Sie ließ ihren Arm los und fasste sich mit der rechten Hand an die Schläfe.
„Kommen Sie!“
Behutsam hakte der junge Mann Anna unter und führte sie in einen Nebenraum, der sich direkt neben den Durchleuchtungsmaschinen der Sicherheitskontrolle befand. An einem langen Tisch standen zahlreiche Stühle, gleichmäßig verteilt auf beiden Seiten, am oberen Ende war die Tischplatte voll mit benutzten Kaffeetassen. Weiter hinten im Raum befand sich eine altmodische Küchenzeile.
Als sie den Raum betraten, blickte ein älterer Mann mit schütterem Haar und einer schmalen Messingbrille von seiner "Izvestia" Zeitung auf und musterte sie. Anna´s Begleiter warf dem Mann einen kalten, durchdringenden Blick zu. Der Mann verstand sofort, erhob sich und verließ lautlos den Raum.
“Bitte setzen Sie sich doch.” Der junge Mann lächelte und wies auf einen Stuhl. Anna nahm Platz, ihr Blick war starr auf die Tischplatte gerichtet.
„Warten Sie hier, ich bin gleich wieder da.“
Er öffnete leise die Tür und schlüpfte hinaus. Anna blieb allein zurück.
Kurze Zeit später kehrte er zurück. Anna saß jetzt vornübergebeugt am Tisch und hatte den Kopf auf die Hände gestützt. Ihr rotes, lockiges Haar fiel ihr ins Gesicht. Ihr Oberkörper bebte und sie konnte ein Schluchzen nicht unterdrücken.
Der Beamte stellte zwei Becher mit Kaffee auf den Tisch. Dann setzte er sich in gebührendem Abstand neben sie, nahm seine Mütze ab und legte sie neben sich auf die Tischplatte.
Ein langes Schweigen entstand. Annas Schluchzen hallte durch den Raum. Die Geräusche von draußen aus der Abfertigungshalle waren nur gedämmt zu hören.
Der Mann rückte seinen Stuhl näher an Anna heran und reichte ihr ein Taschentuch. Dann spürte sie, wie er langsam und behutsam seine Hand auf Annas Schulter legte. Sie zuckte unmerklich zusammen, hob langsam den Kopf und sah ihn aus verweinten Augen an. Sie schämte sich für ihre Tränen und wischte mit dem Handrücken über ihre Wange. Dann atmete sie tief durch und hob den Kopf. Ihre Blicke trafen sich, er lächelte und Anna war überrascht, wie jung er ohne seine Mütze aussah. Er war höchstens Mitte Zwanzig, sein dunkelblondes kurzgeschorenes Haar hatte er in der Mitte nach oben gegelt. Seine blauen Augen strahlten Vertrauen und Autorität aus und er kam ihr irgendwie bekannt vor. Unter der dunkelblauen Uniformjacke des Sicherheitsdienstes trug er ein hellblaues Hemd mit passender dunkelblauer Krawatte, eine dunkelblaue Hose und schwarze Schuhe.
Sein Gesicht war schmal und hatte noch jungenhafte Züge. Die Nase passte nicht richtig in dieses filigrane Gesicht, sie war etwas zu breit und flach, wie die eines Boxers, seine Lippen waren zartrosa, schmal und gerade.
„Was war da gerade los? Kennen Sie den Mann?“, fragte er behutsam.
Anna senkte den Blick und schwieg. „Atmen Sie erst einmal tief durch und trinken Sie einen Schluck. Der Kaffee wird Ihnen guttun.“ Er deutete auf den Becher, der vor Anna auf dem Tisch stand. Zögernd griff sie danach und nahm einen kräftigen Schluck.
„Wer sind Sie?“, fragte sie unvermittelt.
„Oh, Entschuldigung, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Ich heiße Anatoli Bulajew und arbeite bei der Flughafensicherheit.” Der Mann lächelte und seine warmen, freundlichen Augen schauten Anna direkt an. “Erzählen Sie mir, was passiert ist?”
Anna wich seinem Blick aus und drehte nachdenklich den Kaffeebecher zwischen ihren Händen hin und her. Ihr Blick war wieder fest auf die Tischplatte gerichtet, der Kiefer angespannt. „Es ist alles in Ordnung“, sagte sie knapp.
„Mehr wollen Sie dazu nicht sagen?“
Anna schwieg beharrlich. Dann stand sie so abrupt auf, dass ihr Stuhl gegen die Wand hinter ihr kippte. „Ich muss jetzt gehen. Vielen Dank für den Kaffee.“ Sie wandte sich zur Tür. Ihre Hände zitterten, als sie nach der Türklinke griff.
„Sind Sie wirklich in Ordnung?“
„Ja, es geht mir gut. Ich muss jetzt wirklich gehen. Mein Flug …”
„Sie haben noch etwas Zeit, glauben Sie mir. Ich muss es ja schließlich wissen.“ Anatoli zwinkerte und lächelte verschmitzt. Dabei zeigte er auf seine dunkelblaue Uniform. Mit einem skeptischen Blick schaute Anna ihn an.
Als Anna die Tür öffnete, drang von draußen der Lärm der Menschenmenge herein, die sich vor der Sicherheitskontrolle drängten.
Sie blickte zu Boden und überlegte einen Moment. “Woher wissen Sie, welche Maschine ich nehme?”
Anatoli trat dicht an Anna heran und gab ihr zum Abschied die Hand.
„Es ist sehr schade, dass Sie gehen“, antwortete er, ohne auf ihre Frage einzugehen. „Ich hätte mich gern noch etwas mit Ihnen unterhalten. Ich weiß noch nicht einmal Ihren Namen. Wie heißen Sie?”
Anna zögerte. “Anna.”
“Anna. Ein schöner Name!” Seine Stimme war etwas zu freundlich, fast künstlich. Anna beschlich ein mulmiges Gefühl in der Magengegend.
“Es war sehr schön, Sie kennenzulernen, Anna. Vielleicht sehen wir uns später noch am Counter. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Flug.”
„Vielen Dank.“ Bloß schnell weg von hier, dachte Anna, als sie mit schnellen Schritten davonging. Irgendetwas stimmte nicht mit diesem Typen. Aber das war jetzt egal.
Die beiden Uniformierten hatten Alexej bis zum Ausgang aus dem Flughafengebäude geleitet, ihm dann die Handschellen abgenommen und ihn mit einem harten Stoß unsanft nach draußen befördert. Vorher hatten sie ihn noch ermahnt, das Flughafengebäude heute nicht mehr zu betreten. Falls er es doch wagen sollte, würden sie ihn unter Arrest stellen. Dann wandten sich die beiden Männer um und gingen in die Halle zurück.
Die gläserne Schiebetür schloss sich mit einem leisen Surren hinter Alexej. Er schaute den Beamten grimmig durch die Scheibe hinterher und überlegte, ob er sofort zurück in die Halle gehen sollte. Es war ihm egal, dass die Beamten es ihm verboten hatten. Er war wütend und fühlte sich ungerecht behandelt. Was hatte er denn schon Schlimmes getan? Er wollte doch nur ein letztes Mal mit Anna reden. Aber diese Idioten hatten ihn davon abgehalten. Er hatte sich ihre Gesichter genau eingeprägt! Das würde Konsequenzen haben!
Seine Hand griff nach dem silbernen Flachmann in der Tasche seines grauen Wollmantels. Alexej hielt kurz inne, dann schraubte er den Deckel ab, setzte ihn hastig an die Lippen und trank einen großen Schluck. Anschließend wischte er sich mit dem Ärmel über den Mund.
Er konnte das alles nicht begreifen. Anna war dabei, einen großen Fehler zu begehen und er hatte es nicht geschafft, sie davon abzuhalten. Was war nur in sie gefahren? Warum verdammt nochmal, wollte sie weg?
Und warum unbedingt ins Ausland? Ungläubig schüttelte er den Kopf, nahm erneut einen Schluck Wodka und schaute in den rötlichen Abendhimmel.
Als er endlich die Wirkung des Alkohols spürte, schlich er wie in Trance hinüber zum Parkhaus, stieg langsam die Treppen zum obersten Parkdeck hinauf und steuerte auf seinen Wagen zu, einen alten dunkelgrünen Lada Niva.
Er holte den Autoschlüssel aus seiner Hosentasche und wollte die Fahrertür aufschließen, doch der Schlüssel klemmte im Schloss und ließ sich nicht drehen. Alexej konnte weder die Tür öffnen noch den Schlüssel wieder herausziehen. Was sollte der Mist? Hatte sich heute alles gegen ihn verschworen?
Nach einigen vergeblichen Versuchen, die Tür zu öffnen, gab er schließlich auf. Wütend und frustriert trat er mit dem rechten Fuß mehrmals gegen den vorderen Radkasten, rüttelte an den Türgriffen und hämmerte wild gegen die Seitenscheiben. Seine Verzweiflung wuchs und völlig außer sich schrie er: “Scheiße! Scheiße! Scheiße!”
Obwohl es ihm egal war, schaute er sich um, doch Alexej war allein auf dem Parkdeck und seine wütenden Schreie verhallten ungehört im dunkelroten Abendhimmel. Erneut griff er nach dem Flachmann. Doch dieser war leer. Auch das noch!
“So eine verdammte Scheiße!”
Alexej fühlte eine tiefe innere Leere, einen bohrenden Schmerz in seiner Brust, der ihn innerlich zerriss. Erschöpft sank er an der grauen Betonwand des Parkhausdecks zu Boden, lehnte sich mit dem Rücken an die Mauer und warf den Kopf nach hinten. In diesem Augenblick überwältigte ihn die Trauer über den Verlust seiner großen Liebe. Er war verzweifelt und seine Augen füllten sich mit Tränen. Er hatte Anna für immer verloren, und er wusste nicht, wie er damit fertig werden sollte. Sie war weg, hatte ihn allein gelassen und sich für ein neues Leben ohne ihn entschieden. Berlin, ausgerechnet Berlin! Anna, tu mir das nicht an! Ich brauche dich! Ich kann ohne dich nicht leben! Ein lautes Schluchzen drang aus seiner Kehle. Er zog die Knie an, ließ den Kopf hängen und weinte hemmungslos.
Es begann zu heftig zu regnen. Dicke, schwere Tropfen fielen vom Himmel und eine wahre Regenflut ergoss sich über Alexej auf dem Parkdeck. Er blieb mit dem Rücken an die Mauer gelehnt auf dem schmutzigen Betonboden sitzen und hatte nicht die Kraft aufzustehen.
Er hob den Kopf, schaute in den Himmel und ließ die Regentropfen auf sein Gesicht prallen. Es dauerte nicht lange, bis der Regen ihn völlig durchnässt hatte. Doch es kümmerte ihn nicht.
Ein Leben ohne Anna erschien ihm sinnlos und leer. Was sollte er nun anfangen? Sie hatten so viele Träume geträumt, so viele Pläne für ein gemeinsames Leben geschmiedet. Doch jetzt war alles vorbei. Er hatte sie und damit den Sinn für sein Leben verloren. Das alles wurde ihm schmerzhaft bewusst. All die Monate zuvor hatte er den Gedanken von sich weggeschoben, hatte verdrängt, dass Anna erst ihn und bald auch das Land verlassen würde. Doch jetzt stürzte eine wahre Flut an Emotionen auf ihn ein. Er wollte, er konnte nicht ohne sie sein. Er wollte nie jemanden so nah an sich heranlassen, nie so tief für jemanden empfinden. Denn genau das, diesen tiefen Schmerz, jemanden zu verlieren, den er liebte, wollte er nie wieder spüren. Doch seine Gefühle für Anna gingen tiefer, als er sich selbst noch vor wenigen Tagen eingestehen wollte.
Es dauerte, bis Alexej sich beruhigt hatte. Als es dämmerte, saß er noch immer auf dem Boden des Parkdecks. Hinter ihm erhob sich die Silhouette des Stadtteils Chimki mit tausenden Lichtern aus den umliegenden Hochhäusern, während über ihm die Flugzeuge beschleunigten und im dunklen Nachthimmel verschwanden.
Den Blick zum Himmel gerichtet, stellte er sich vor, wie Anna in einem der Flugzeuge über ihm saß, voller Vorfreude auf ihr neues Leben. Und er kauerte allein hier unten und vermisste sie schon jetzt mit jeder Faser seines Körpers. Er reckte seinen linken Arm nach oben, so als wollte er nach den Flugzeugen greifen.
“Anna!“, schrie er aus vollem Hals und in tiefer Verzweiflung in die anbrechende Nacht. „Komm zurück! Ich liebe dich so sehr!” Der Schmerz in seiner Brust schwoll dabei so stark an, dass Alexej erneut von einem heftigen Weinkrampf geschüttelt wurde.
Er ließ den Arm sinken, richtete sich mühsam auf und trat an die Mauer, die das Parkdeck begrenzte. Langsam beugte er sich hinüber und schaute hinab. Wie hoch mochte es wohl sein? Unter ihm floss der Verkehr zäh und lärmend zum Flughafengebäude, ein nie endender Strom unzähliger Busse, Taxen und Pkws. Sie brachten Tag und Nacht neue Passagiere zum Eingang des Flughafengebäudes oder holten Zurückgekehrte ab. Wenn er sich jetzt hier hinunterstürzte, würde er ziemlich viel Aufsehen erregen, doch das konnte ihm egal sein. Es würde sowieso alles vorbei sein. All seine Probleme wären gelöst und der Schmerz würde ihn nicht mehr quälen. Und Anna? Sie würde ihn sowieso bald vergessen haben.
Anna atmete tief durch und fühlte sich erschöpft. Endlich hatte sie den Sicherheitscheck hinter sich gelassen. Doch sie ärgerte sich immer noch. Was sollte diese Aktion von Alexej? Er hatte eindeutig überreagiert! Dabei war doch schon alles gesagt. Es würde keine gemeinsame Zukunft für sie beide geben und er musste es endlich akzeptieren! Anna seufzte und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr mit dem rosafarbenen Zifferblatt. Bis zum Abflug blieb noch etwas Zeit. Sie würde sich die Zeit bis zum Boarding noch im Duty Free Shop vertreiben, vielleicht ein paar neue Düfte ausprobieren.
Plötzlich hallte eine Durchsage durch die Lautsprecher: “Achtung, Achtung! An alle Passagiere für Flug SU112 - 19:40 Uhr - Moskau - Berlin: Aufgrund einer technischen Störung bei Aeroflot verspätet sich der Abflug nach Berlin um drei Stunden. Vielen Dank für Ihr Verständnis!”
„Na großartig“, seufzte Anna und fand einen Fensterplatz in einem Café. Sie bestellte bei der hübschen blonden Kellnerin einen schwarzen Tee mit Zitrone. Dann lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück und sah sich um. Im Café selbst herrschte eine aufgeregte, fröhliche Stimmung. Alle Plätze um sie herum waren besetzt. Junge Leute, Familien mit kleinen Kindern und einige Ältere saßen an den kleinen weißen runden Tischen, unterhielten sich angeregt und lachten.
Anna ́s Blick blieb bei einem älteren Ehepaar am Nebentisch hängen. Sie tranken schwarzen Tee und aßen Pelmeni. Die beiden ließen sich Zeit mit ihrer Mahlzeit und unterhielten sich angeregt. Was Anna sofort auffiel, war, dass die beiden von Zeit zu Zeit ihr Gespräch unterbrachen und sich einfach nur liebevoll anschauten, wobei der Mann immer wieder die Hand der Frau in seine nahm und ihr dabei verliebt in die Augen sah.
Anna wurde warm ums Herz. Es war sichtbare Liebe. Vermutlich hatten die beiden ihr ganzes Leben miteinander geteilt, hatten viele Kinder und Enkelkinder. Und vielleicht wohnte ein Teil der Kinder im Ausland und sie würden sie jetzt besuchen.
Anna´s Herz wurde schwer. War das nicht der Sinn des Lebens? Ein Ziel, für das es sich lohnte, zu leben? Seite an Seite mit dem Menschen, der einen um seiner selbst willen liebte, auch wenn man mit den Jahren alt, grau und schrumpelig geworden war? Ein sicherer Hafen in dieser unruhigen Welt, jemanden, für den man da sein konnte, um den man sich sorgte, bei dem man sich aber auch anlehnen und fallen lassen konnte, was immer passierte? Dazu ein gemütliches Heim mit vielen Kindern, die das Glück noch vergrößerten?
Anna´s Augen füllten sich mit Tränen. Ich bin noch nicht in dem Leben angekommen, das ich mir wünsche, dachte sie und wischte sich verstohlen die Tränen aus den Augen.
Alexej tauchte plötzlich vor ihrem inneren Auge auf. Sie wollte nicht mehr an ihn denken, wollte alles hinter sich lassen. Ihre Beziehung war endgültig vorbei, es war zu viel passiert. Sie hatte Alexej verlassen und jetzt würde sie ein neues Leben in Deutschland beginnen.
Anna fühlte sich auf einmal verloren zwischen all den fröhlichen, aufgeregten und gelösten Menschen um sie herum und sie begann zu zweifeln. Sie liebte ihre Heimat. Sollte sie wirklich weggehen? War es richtig? Oder doch in Moskau bleiben, sich aufrappeln, die Scherben ihres Lebens aufsammeln, einen Neuanfang mit Alexej wagen und dem Schicksal die Stirn bieten? Nein, sie wollte weg und alles war organisiert. Sie wollte und konnte jetzt keinen Rückzieher machen. Kurz ärgerte sie sich über ihre Zweifel, dabei stand sie doch kurz vor dem Abflug in ihr neues Leben.
Anna´s Blick schweifte durch die großen Fenster hinaus zum Rollfeld. Die grellen Scheinwerfer des Towers spiegelten sich in den großen dunklen Regenpfützen auf dem Asphalt. Etwas entfernt beschleunigten die Flugzeuge und starteten im Minutentakt in den Nachthimmel und flogen wie an einer Perlenkette aufgefädelt, zu fernen Zielen davon. Flughäfen waren wie das Leben, dachte Anna, ein ständiges Kommen und Gehen, Willkommen und Verabschieden, alles war ständig in Bewegung.
Anna hob langsam die rechte Hand und berührte sanft mit den Fingerspitzen das kalte Fensterglas. Ja, es war schwer, dieses Land, ihre Heimat, die vertraute Umgebung und vor allem die Menschen, die sie liebte, zu verlassen.
Das letzte Gespräch mit ihrer Mutter kam Anna in den Sinn. Sie hatte so lange wie möglich gezögert, sie in ihre Pläne einzuweihen. Doch vier Wochen vor der geplanten Abreise fasste Anna sich beim Abendessen endlich ein Herz, nahm allen Mut zusammen und begann mit zitternder Stimme: „Mama, ich werde nach Deutschland auswandern und in Berlin eine Stelle bei einem deutschen Verlag antreten.“
Endlich war es heraus, dieser bedeutungsvolle Satz, der alles verändern würde. Hatte sie ihn wirklich ausgesprochen? Von einem Moment auf den anderen fühlte Anna sich kraftlos und erschöpft. Ihr Herz schmerzte. Wie würde ihre Mutter auf diese Neuigkeit reagieren?
Diese saß ihr kerzengerade am Küchentisch gegenüber, hielt beim Umrühren ihres Tees inne und erstarrte. Über ihre Augen legte sich ein dunkler Schatten und ein kaum merkliches Zittern erfasste ihre rechte Hand, mit der sie die Teetasse hielt. Langsam und sichtlich darum bemüht, die Fassung zu bewahren, stellte sie die Tasse vor sich auf der grauen Tischplatte ab.
Sina-Ida Kasarina, Veteranin des Zweiten Weltkrieges und leitende Oberschwester auf der psychiatrischen Station des Krankenhauses Nr. 5, hatte sich immer im Griff. Tamara kannte es nicht anders. Keine Gefühle zeigen, nur so kam man durch. Das hatte ihre Mutter im Krieg gelernt und danach lebte sie bis heute.
Ihre Gesichtszüge waren wie erstarrt. Nur ein paar kaum sichtbare Zuckungen um ihren Mund verrieten ihre innere Anspannung. In ihren Augen, zweifarbig, eines braun, das andere grün, lag so viel Schmerz, dass es Anna das Herz brach.
Langsam und majestätisch erhob sich Sina-Ida vom Küchenhocker und trat an das kleine Fenster. Ihr Blick wanderte hinaus auf ein Birkenwäldchen und eine vielbefahrene Straße. Und obwohl sie einige Augenblicke regungslos am Fenster verharrte, konnte Anna spüren, wie sehr ihre Mutter nach Worten suchte und um ihre Fassung rang.
Anna´s Blick ruhte auf dem Rücken ihrer Mutter. Die Spannung, die den gesamten Raum erfüllte, war kaum zu ertragen. Innerlich versuchte Anna, sich gegen die folgende Reaktion zu wappnen. Egal, wie ihre Mutter auf ihre Ankündigung reagieren würde, ihr Entschluss stand fest. Sie würde nicht nachgeben. Es ging um ihr Glück und um ihre Zukunft. Anna´s Herz zog sich zusammen. Sie musste endlich anfangen, ihr eigenes Leben zu leben, frei und ohne jegliche Einmischung ihrer Mutter.
Sina-Ida strich mit der rechten Hand langsam über ihren Kopf, überprüfte, ob sich auch keine Haarsträhne aus ihrem Dutt gelöst hatte. Dann zog sie eine Haarnadel aus ihrem perfekten Dutt am Hinterkopf und setzte sie an fast der gleichen Stelle wieder neu ein, obwohl es gar nicht nötig gewesen wäre. Der Dutt saß wie immer tadellos in ihrem Nacken.
„Wann?“ Die Stimme ihrer Mutter durchschnitt leise und kraftlos die drückende Stille. Sina-Ida hatte sich bei dieser Frage nicht zu Anna umgedreht, sie starrte noch immer nach draußen auf das Birkenwäldchen.
„Am 1. September.“
„Und Alexej?“
„Ach Mama! Wir sind nicht mehr zusammen! Ich habe mit ihm Schluss gemacht!”
“Warum?”
„Es ist kompliziert! Ich will nicht darüber reden!”
„Achso, es ist kompliziert! Deswegen willst du weg? So löst man keine Probleme, mein Kind! Was auch immer zwischen euch vorgefallen ist, ihr müsst es klären!”
Anna schüttelte den Kopf. Sie wollte und konnte ihrer Mutter nicht die wahren Gründe der Trennung von Alexej offenbaren. Denn das, was sie vor zwei Monaten zufällig über Alexej´s Leben herausgefunden hatte, hatte sie zutiefst erschüttert. Die neue Arbeitsstelle in Berlin war die perfekte Gelegenheit, alles hinter sich zu lassen und in der Fremde ein neues Leben zu beginnen. Anna schluckte.
„Du willst nicht darüber reden. Na gut! Aber warum ausgerechnet Berlin?” Sina-Ida wartete die Antwort ihrer Tochter nicht ab. Plötzlich und unvermittelt wandte sie sich um und fixierte Anna mit einem zornigen Blick. Dann atmete sie tief ein und begann mit bebender Stimme: „Ach, die Deutschen! Diese miesen Verräter! Sie haben uns und die ganze Welt ins Unglück gestürzt! Sie konnten den Hals nicht voll kriegen, waren völlig besessen von ihrer Ideologie und von der irrsinnigen Idee, den gesamten Erdball zu beherrschen. Millionen Tote, so viel Schmerz, Zerstörung und Elend. Gekämpft haben sie, die jungen Soldaten, sie standen sich an der Front gegenüber und mussten sich gegenseitig erschießen. Sie hätten die besten Freunde werden können, wenn der Krieg nicht gewesen wäre. Dieser Wahnsinn! Dieses Leid ist nie wieder gutzumachen. Aber das könnt ihr jungen Leute nicht verstehen. Und jetzt willst du in diesem Land leben! Mein einziges Kind geht in das Land der Feinde und lässt mich hier allein zurück! Ich fasse es nicht, Anna! “
Ihre Stimme war jetzt laut und schrill. Eine tiefe Bitterkeit und eine maßlose Enttäuschung klangen durch und schnitten Anna wie ein Messer ins Herz. Sina-Ida atmete schnell und ihre Hände erfasste ein unkontrolliertes Zittern. Sie senkte den Blick und Anna glaubte, ein leises Schluchzen zu hören.
„Ach Mama …!“
Anna erhob sich und machte einen Schritt auf Sina-Ida zu. Sie wollte ihre Mutter in die Arme nehmen, sie halten und trösten und ihr sagen, dass sie sie liebte. Doch Sina-Ida wich der Tochter aus und verließ, erhobenen Hauptes und ohne ein weiteres Wort zu verlieren, den Raum. Anna blieb allein in der Küche zurück und sank auf einen Hocker. Sie konnte ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Nur mit Mühe unterdrückte sie ein Schluchzen und schob sich schnell eine Scheibe Brot in den Mund. Doch die Tränen liefen und ihr Brustkorb bebte. Nebenan hörte sie, wie ihre Mutter das Bettzeug auf schüttelte und mahnend nach ihr rief:
„Kommst du Anna? Es ist schon spät!“
Obwohl Anna schon 28 Jahre alt war, achtete ihre Mutter weiterhin peinlich genau auf die Einhaltung der Schlafenszeit. Ein Streitthema seit jeher, denn beide mussten aus Platzmangel im Wohnzimmer schlafen.
„Ja, gleich Mama …!"
Wie ein trotziges Kind wischte sie sich mit dem Ärmel ihres Wollpullovers die Tränen aus dem Gesicht. In ihrer Hosentasche fand sie ein zerknülltes Taschentuch und schnaubte hinein.
Dann erhob sie sich, räumte den Tisch ab und machte sich daran, das Geschirr zu spülen. Sie brauchte jetzt unbedingt eine Beschäftigung, das Gespräch hatte sie zu sehr aufgewühlt, um sich schlafen zu legen. Die Vorwürfe ihrer Mutter hatten sie tief verletzt. War sie zu egoistisch? War es falsch, dass sie ihr eigenes Leben leben wollte, fernab der Heimat? War es doch nur eine Flucht? Lief sie vor ihren Problemen davon und ließ sie dabei alle Menschen, die sie liebten, im Stich - ihre Mutter, Alexej, ihre beste Freundin Nadja?
Doch so sehr sie sich auch bemühte, sie konnte sich nicht beruhigen. Immer wieder füllten warme, salzige Tränen Anna´s Augen und verschleierten den Blick. Sie warf die Spülbürste ins Abwaschwasser, trocknete sich die Hände ab und ließ sich erneut auf dem Hocker am Küchentisch nieder. Schmerz und Trauer überwältigten Anna. Sie stützte den Kopf in die Hände und begann hemmungslos zu weinen.
„Anna, wo bleibst du denn?“
„Ich bin gleich da! Ich räume nur noch etwas auf.“
Schnell erhob sie sich vom Hocker, spülte weiter das Geschirr, räumte auf und bereitete alles für das Frühstück am nächsten Morgen vor.
Als sie fertig war, ging sie hinüber ins Bad, wusch sich und putzte sich die Zähne. Dann öffnete sie leise die Tür zum Wohnzimmer, lauschte in das halbdunkle Zimmer und hörte das gleichmäßige schwere Atmen ihrer Mutter. Auf Zehenspitzen schlich sie zu ihrem Schlafplatz, einem alten, durchgesessenen Sofa in der hinteren Zimmerecke. Sie legte sie sich hin und deckte sich mit dem frischen, herrlich duftenden Baumwolllaken zu. Ein Oberlicht war geöffnet und die zarte, durchsichtige Gardine flatterte sanft in der schwülen Nachtluft. Von draußen drang gedämpft Verkehrslärm von hupenden Autos und ratternden Straßenbahnen ins Zimmer. Diese Stadt schlief nie. Müde und erschöpft schloss Anna die Augen und sank kurz darauf in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Mitten in der Nacht wurde sie durch ein Geräusch geweckt. Sie setzte sich auf und lauschte. Weinte ihre Mutter?
„Was hast du Mutter?“, fragte sie leise in die Dunkelheit des Zimmers hinein.
Keine Antwort, nur ein leises unterdrücktes Schluchzen. Sie versuchte es noch einmal.
„Was ist los, Mama? Hast du Schmerzen?“
„Es ist nichts, schlaf weiter!“
Anna sank in die Kissen zurück und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Es dauerte lange, bis sie wieder einschlafen konnte.
Und jetzt war sie hier, am Flughafen und bereit für den Aufbruch in ihr neues Leben. Sie hatte sich am Morgen, vor wenigen Stunden, in der Wohnung von ihrer Mutter verabschiedet. Der Abschied war kurz. Sina-Ida mochte keine langen, herzzerreißenden Abschiede. Sie nahm ihre einzige Tochter fest in die Arme und schaute ihr dann tief in die Augen. Der Schmerz der ganzen Welt war in diesen Augen zu sehen. Dann sagte sie mit fester Stimme: „Pass auf dich auf meine Kleine!“
Anna zog ihren roten Mantel enger um ihren Oberkörper und wischte sich die Tränen weg. Dann erhob sie sich, nahm ihren Rollkoffer und schlug den Weg zum Gate ein.
Seit Stunden kauerte Alexej zitternd vor Kälte und zusammengesunken an der Mauer auf dem oberen Parkdeck. Aus dem dunkelblauen Nachthimmel über ihm fielen noch immer große, träge Regentropfen. Er hatte es nicht fertiggebracht, über die Mauer zu klettern, sich in die Tiefe zu stürzen und sein Leben auf diese Weise zu beenden.
Langsam richtete er sich auf und erschrak, als sein Blick auf seine Finger fiel. Die Fingerkuppen waren aufgerissen und blutig. Das musste passiert sein, als er sich Stunden zuvor beim Hinabbeugen am rauen Beton der Mauer festgeklammert hatte. Unschlüssig und unfähig eine Entscheidung zu treffen, ob er weiterleben oder sterben wollte. Doch letztlich hatte sein Lebenswille gesiegt. Jetzt stand er aufrecht, zitterte am ganzen Körper vor Kälte, fühlte sich schwach und hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten.
Der weiße Hoodie und die Bluejeans klebten an seinem Körper. Der graue Wollmantel war mit zahlreichen Dreckspritzern übersät.
Plötzlich hörte er Schritte. Er hob den Blick und entdeckte am anderen Ende des Parkdecks zwei Personen, einen Mann und eine Frau, die abfällig zu ihm hinüberschauten und eilig zu ihrem Wagen gingen.
Auch er musste weg von hier. Hastig durchsuchte er seine Taschen und fand den Autoschlüssel.
Jetzt musste er sich konzentrieren. Wo hatte er den Wagen abgestellt? Richtig, ein paar Meter entfernt entdeckte er den dunkelgrünen Lada Niva. Mit wackeligen Beinen steuerte er darauf zu.
Der Wagen war schon etwas in die Jahre gekommen, aber immer noch fahrtüchtig. Sicher, er hatte einige Roststellen, der Sicherheitsgurt an der Fahrerseite schloss nicht mehr und die Innenbeleuchtung war kaputt.