Wofür du stirbst - Elizabeth Haynes - E-Book

Wofür du stirbst E-Book

Elizabeth Haynes

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Beschreibung

Er tötet nicht, er haucht deiner Seele das Leben aus

Annabel Hayer arbeitet als Fallanalytikerin bei der Polizei. Als sie zufällig die Leiche einer Nachbarin, die einsam in ihrer Wohnung verhungerte, entdeckt, forscht sie nach. Im Laufe des letzten Jahres starben über zwanzig Menschen allein in ihrem Zuhause – ohne jegliche Fremdeinwirkung. Schieden all diese Menschen wirklich freiwillig aus dem Leben, oder hat sie jemand dazu gezwungen? Ohne es zu ahnen, gerät Annabel in das Visier des Mannes, dessen stärkste Waffe seine süßen Worte sind …

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Seitenzahl: 634

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Das Buch

Eine ruhige Wohngegend, gute Nachbarschaft – und ein erschreckender Tod: Zufällig stößt Annabel Hayer auf die stark verweste Leiche einer Frau im Nachbarhaus. Die Fallanalytikerin ist alarmiert, doch die Polizei von Briarstone stellt keine Fremdeinwirkungen fest – die Frau scheint einfach verhungert zu sein. Annabel forscht auf eigene Faust nach und findet bald heraus, dass in der englischen Kleinstadt, in der sie lebt, im Laufe des vergangenen Jahres mehr als zwanzig solcher stark verwester Leichen gefunden wurden – in keinem Fall war es zu Gewalteinwirkungen gekommen. Alle diese Menschen hatten sich von ihrer Umwelt zurückgezogen und waren vollkommen vereinsamt. Bald stößt Annabel auf die Spur eines Mannes, der zu mehreren Opfern in deren letzten Lebensmonaten und Wochen täglich Kontakt hatte. Doch bevor sie mehr herausfinden kann, stürzt der plötzliche Tod ihrer Mutter Annabel selbst in ein tiefes Loch. Wochenlang will sie niemanden sehen, kann nicht arbeiten. Bis eines Tages ein freundlicher junger Mann vor ihrer Tür steht …

Die Autorin

Elizabeth Haynes wuchs in Seaford, Sussex, auf und studierte an der Leicester University Englisch, Deutsch und Kunstgeschichte. Sie arbeitet als Fallanalytikerin bei der Polizei und lebt mit ihrer Familie in Kent. Ihr Debüt Wohin du auch fliehst war ein internationaler Bestseller. Wofür du stirbst ist nach Wenn es Nacht wird ihr dritter Thriller im Diana Verlag.

Ein Interview mit der Autorin finden Sie hier.

ELIZABETH HAYNES

Wofür du stirbst

Psychothriller

Aus dem Englischen von Christiane Winkler

Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel

Human Remains bei Myriad Editions Ltd., Brighton

Deutsche Erstausgabe 02/2014

Copyright © 2013 by Elizabeth Haynes

First published in 2013 by The Text Publishing Company

Copyright © 2014 der deutschsprachigen Ausgabe

by Diana Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Redaktion | Kristof Kurz

Umschlaggestaltung | t.mutzenbach design, München

Umschlagmotiv | © StockFood Creative/Getty Images

Satz | Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

ePub-ISBN 978-3-641-11766-5

www.diana-verlag.de

In Liebe meinen besten Freundinnen

Angela Wiley, Karen Aslett

und Lindsay Brown

Annabel

Ich kam nach Hause und roch die Mülleimer, die in der kalten Luft einen schwachen Gestank verbreiteten, sodass ich die Nase rümpfte.

Ich ging ins Haus, öffnete die Hintertür, schüttelte die Schachtel mit Katzenfutter und hoffte, dass sie angerannt käme. Die Nacht war sternenklar, sie würde also vermutlich erst dann an der Hintertür maunzen und kratzen, wenn ich im Badezimmer war. Trotz meiner Bemühungen, sie an die Katzenklappe zu gewöhnen – indem ich sie vor ihren Augen aufklappte, ihr gut zuredete, sie sogar gewaltsam durchschob –, ignorierte sie die Klappe und betrat oder verließ das Haus nur, wenn ich ihr die Tür aufmachte. Ich hatte sogar versucht, das Katzenklo abzuschaffen, doch sie pinkelte einfach auf den Linoleumboden in der Küche und versuchte dann kratzend alles zu verscharren. Das war der Punkt, an dem ich aufgab.

Ich blieb einen Augenblick an der Tür stehen. »Lucy?«, rief ich versuchsweise. »Lucy!«

Nichts. Dann sollte die verdammte Katze doch die ganze Nacht da draußen bleiben, dachte ich, wusste aber, dass ich in ein paar Stunden tropfnass und frierend wieder hier unten im Bademantel stehen und das Katzenfutter schütteln würde, während sie draußen auf dem Rasen saß und mich anstarrte, wie um mich dafür zu bestrafen, dass ich so lange gebraucht hatte.

Ich machte mir eine Tasse Pfefferminztee und ein paar Käsetoasts, aß am Küchentisch und behielt dabei die offene Tür im Auge, falls die Katze doch reinkäme, sodass ich abschließen und sie einsperren konnte. Als ich fertig war, warf ich die Toastreste in den Mülleimer in der Küche und schnüffelte. Irgendwas stank hier zweifellos ganz furchtbar. Das letzte Mal war mir so ein schrecklicher Gestank in die Nase gestiegen, als meine Katze einen Frosch mitgebracht und ich es erst bemerkt hatte, als ich ihn halb schleimig, halb vertrocknet vor der Wand unter der Kommode im Esszimmer gefunden hatte. Ich musste ihn, mit einem Stück Küchenrolle und Gummihandschuhen bewaffnet, auf allen vieren vom Boden abkratzen.

Ich stand erneut an der Tür und fragte mich, ob Lucy diesmal eine Taube gekillt und sie bei den Mülltonnen liegen gelassen hatte, weil sie mir nicht zutraute, sie ordnungsgemäß zu entsorgen. Ich zog meine Hausschuhe an, holte die Taschenlampe aus der Schublade, wagte mich die Treppe hinunter in dieDunkelheit und lauschte dem Verkehrslärm, der von der Hauptstraße hinter den Bäumen herüberdrang. Die Mülltonnen standen in dem schmalen Durchgang zwischen meinem und dem Nachbarhaus. Ich hob den Deckel der schwarzen und den der grünen Biotonne hoch. Beide rochen zwar unangenehm, waren aber nicht die Quelle des Gestanks. Ich beleuchtete mit der Taschenlampe den Boden um die Tonnen herum. Keine Taube, keine Ratte – nichts Totes.

Das Nachbarhaus stand schon seit einiger Zeit leer, doch als ich hinübersah bemerkte ich, dass Licht brannte. Ein gedämpfter goldener Schein drang herüber, als würde in einem Raum eine einzelne Glühbirne brennen.

Ich versuchte mich daran zu erinnern, wann ich das letzte Mal hier draußen gestanden hatte. Am Sonntagnachmittag? Doch das war am helllichten Tag gewesen, die Sonne hatte geschienen, und selbst wenn nebenan Licht gebrannt hätte, hätte ich es nicht bemerkt. Vielleicht war ein Immobilienmakler oder ein Bauträger da gewesen und hatte es angelassen?

Als ich hier einzog, wohnte nebenan ein Pärchen. Ich versuchte mich zu erinnern, wie die Frau hieß. Shelley, genau. Sie hatte sich bei mir vorgestellt. Das war an einem heißen Sommertag gewesen. Ich war gerade nach Hause gekommen, sie hatte im Vorgarten gearbeitet. Sie hielt mich zu einem Schwätzchen an, obwohl ich keinerlei Lust darauf hatte. Ich war müde, wie immer deprimiert und sehnte mich nur danach, ins Haus zu gehen, mir die Schuhe von den heißen, schmerzenden Füßen zu ziehen und etwas Kaltes zu trinken. Alles, was ich von diesem Gespräch noch in Erinnerung hatte, war ihr Name und dass ihr Partner – das Wort hört sich für mich immer komisch an; sie sagte nicht Freund oder Mann oder Verlobter – Graham hieß. Ich bin ihm nie begegnet. Ich glaube, er zog im Herbst aus. Im vergangenen Winter sah ich sie ein paarmal kommen und gehen, sie packte wahrscheinlich nach Ostern ihre Sachen. Jedenfalls hatte ich sie danach nicht wieder gesehen, und der zuvor gepflegte Garten verwilderte langsam.

Zuerst beschlich mich nur eine böse Vorahnung, dann hörte ich ein Geräusch aus der Richtung des leer stehenden Hauses. Irgendwas stimmte nicht. Ich spähte durch die Dunkelheit und sah die Katze, die sich durch die Gartentür zwängte, zu mir getrottet kam und sich an meine Beine schmiegte. Irgendwas Übelriechendes, Klebriges haftete an ihr, und sie strich mir immer wieder um den Rock. Ich legte mir blitzschnell die Hand über Mund und Nase.

In diesem Moment überlegte ich, in die Küche zurückzugehen und die Polizei zu verständigen. Im Nachhinein betrachtet hätte ich genau das tun sollen. Doch es war Freitagabend, und weil ich selbst auf dem Revier arbeitete, wusste ich, dass alle Streifen unterwegs waren. Wenn sie nicht gerade Blut und Kotze von den Straßen im Zentrum von Briarstone wischten, waren sie damit beschäftigt, Leute in die Arrestzelle zu stecken. Ich arbeitete seit Jahren für die Polizei, hatte sie aber noch nie selbst gerufen. Ich wusste nicht einmal, was ich hätte sagen sollen. Dass es nebenan schrecklich stank? Vermutlich hätte man mir nahegelegt, am nächsten Morgen die Müllabfuhr zu verständigen.

Die niedrige Tür zum Hintergarten hing schief in den Angeln. Dahinter lag ein einst gepflegter Pfad, der nun völlig überwuchert war. An manchen Stellen standen Gras und Unkraut hüfthoch, die Halme bogen sich wie müde Krieger. Ich lief über das Gras zum Ziegelpfad, der zur Hintertür führte. Auf dem Sims vor dem Küchenfenster lagen tote Fliegen. Ich leuchtete mit der Taschenlampe in den leeren Raum. Ein paar Fliegen krabbelten noch am Fensterglas, einige wenige schwirrten in der Raummitte im Kreis. Die Tür zum Esszimmer stand weit offen, von dort fiel ein trübes goldenes Licht in die Küche.

Ich sah zu Boden. Die unterste Glasscheibe der Hintertür fehlte. Dunkle Schmierspuren und verschiedenfarbige Haare klebten am Rahmen. Offenbar gingen hier die unterschiedlichsten Katzen ungehindert ein und aus. Ich rüttelte an der Tür, doch es wäre wohl zu viel verlangt gewesen, sie unverschlossen vorzufinden. Dann klopfte ich. Meine Fingerknöchel klapperten auf dem Glas, der Türrahmen erzitterte. Vorsichtig drückte ich gegen die Scheibe, dann ein wenig fester, und plötzlich fiel sie aus dem Rahmen, und das Glas zerbarst auf dem gekachelten Küchenboden.

»Mist!«, sagte ich laut. Jetzt saß ich wirklich in der Klemme.

Ich hätte von der Tür weggehen sollen. Ich hätte zurück in mein Haus gehen, hinter mir absperren und nicht mehr darüber nachdenken sollen. Das war doch nicht mein Problem, oder? Aber jetzt, da ich praktisch eingebrochen war, konnte ich genauso gut nachsehen, ob sich irgendwer im Haus befand.

Ich steckte meine Hand durch das Loch und tastete herum. Der Schlüssel steckte im Schloss. Ich versuchte ihn umzudrehen – er klemmte, war schon lange nicht mehr benutzt worden – und in meinem Hinterkopf tauchte der Gedanke auf, dass die Tür über mehrere Riegel verfügen könnte. Doch als ich den Schlüssel endlich gedreht hatte, ließ sich die Tür ziemlich leicht öffnen. Der Gestank schlug mir mit voller Wucht entgegen, verzog sich aber genauso schnell in die Nacht hinaus.

»Hallo?«, rief ich, erwartete aber keine Antwort und wusste auch nicht, was zum Teufel ich getan hätte, wenn ich eine bekommen hätte. »Ist da wer?«

Im Haus schien es wärmer als in meinem eigenen zu sein, aber vielleicht kam mir das auch nur so vor, weil ich im kalten Garten gewesen war. Meine Schritte knirschten auf den Glasscherben und hallten in der leeren Küche wider, und ich musste meine Hand über Mund und Nase legen, um den Gestank zu dämpfen, der hier jetzt wieder stärker wurde. Ich leuchtete mit der Taschenlampe im Raum umher, beleuchtete Geschirrschränke und Regale, einen schmutzigen Herd, auf dessen Oberfläche eine klebrig matte Staubschicht lag.

Vielleicht war es verdorbenes Essen, dachte ich. Vielleicht hatte es der letzte Bewohner ziemlich eilig gehabt, zu verschwinden, und die Reste des Abendessens stehen lassen. Doch die Tür des Kühlschranks stand offen, darin war nichts als schwarzer Schimmel. Er war ganz offensichtlich außer Betrieb.

Als ich vorsichtig die Küchentür aufstieß, wurde es hell genug, dass ich die Taschenlampe ausmachen konnte. Ich stand in einem Esszimmer, in dem sich Stühle und ein Tisch mit einer Tischdecke und zwei Sets darauf befanden. Auf der Anrichte stand eine moderne Tischlampe, doch auch auf ihr so wie auf fast jeder anderen Oberfläche lag eine dünne Staubschicht. Die Lampe war eingeschaltet.

Ich hörte ein Geräusch. Leise, ein wenig blecherne Stimmen – es klang wie Radio 4. War tatsächlich das Radio an? Dann musste doch auch jemand hier sein, oder nicht? Ich fühlte mich beobachtet, als lauerte irgendjemand gerade außerhalb meines Blickfelds.

Ich ermahnte mich, nicht paranoid zu werden, und ging in den Flur. Das Haus wirkte bewohnt – auf dem Boden lagen Teppiche, und an der Wand hingen Bilder. Doch das einzige Licht kam von der Tischlampe im Esszimmer.

»Hallo?« Hier wirkte meine Stimme leiser, meine Schritte auf dem Teppich klangen gedämpfter. Jetzt war der Gestank nicht mehr so schlimm, vielleicht hatte ich mich auch daran gewöhnt und atmete mehr durch den Mund als durch die Nase.

Das Radio war jetzt lauter, irgendein Interview zwischen einem Mann und einer Frau. Die Frau ereiferte sich wegen irgendetwas, der Mann versuchte sie zu beruhigen. Doch darüber hinaus war noch ein weiteres Geräusch zu hören, oder bildete ich mir das nur ein?

Ich spürte etwas an meinem Bein, zuckte zusammen und konnte ein panisches Quieken nicht unterdrücken. Doch es war nur die Katze, die um meine Beine strich und dann durch die Esszimmertür ins nächste Zimmer huschte. »Lucy!«, rief ich eindringlich, denn ich hatte keine Lust, sie hinter einem fremden Sofa hervorzulocken. Ich stieß die Tür zum Wohnzimmer auf, das an der Vorderseite des Hauses lag. Hier war es dunkel, denn das Licht aus dem Esszimmer reichte nicht bis hierher. Die Vorhänge waren bis auf einen Spalt geschlossen, durch den etwas Licht von der Straßenbeleuchtung hereinfiel. Ich knipste wieder die Taschenlampe an, und plötzlich bewegte sich etwas und blitzte weiß auf. Wieder war es Lucy, die sich mitten im Zimmer auf dem Teppich rollte. Obwohl mein Herz laut pochte, hörte ich sie schnurren.

Das Zimmer war nur dürftig eingerichtet: ein Sofa, davor ein niedriger Couchtisch mit einer Vase ohne Wasser, in der ein vertrockneter Nelkenstrauß steckte.

Der Lichtkegel der Taschenlampe glitt über einen Sessel. Obwohl ich darauf gefasst und halb davon ausgegangen war, hier jemanden vorzufinden, hielt ich entsetzt die Luft an, als ich die schrecklich entstellte, aufgedunsene Leiche entdeckte. Die Haut war schwarz statt weiß, spannte an manchen Stellen, war an anderen aufgeplatzt. Statt Augen starrten dunkle Löcher ins Leere. Der Bauch war wie ein Ballon aufgebläht, und der Stoff darüber spannte – es war eine Frau, sie trug einen Rock und hatte noch Haare am Schädel, die in langen, dünnen Strähnen herabhingen und einmal blond gewesen sein mussten, jetzt allerdings mit irgendeiner schmierigen Substanz bedeckt waren. Viel schlimmer jedoch war, dass sich irgendwas in ihrem Bauch bewegte, als würde sie atmen – was doch gar nicht möglich war, oder? Als ich näher hinsah, erkannte ich, dass ihre Bauchhöhle nur so von Maden wimmelte … Ich war entsetzt und musste würgen, und doch konnte ich meinen Blick nicht von ihr abwenden. Ein Arm der Leiche lag auf der Lehne des Stuhls, der andere Unterarm auf dem Boden neben dem Sessel, als hätte sie ihn versehentlich, wie eine Fernbedienung, von der Armlehne gestoßen.

Dann hörte ich wieder das Schnurren – verdammte Katze –, blickte auf den Boden und sah, wie sie sich neben der schwarzen Sauerei rollte, als sei es Katzenminze und nicht die faulende Körperflüssigkeit einer verwesenden Leiche.

Colin

Ich aß gerade Cornflakes und las laut die Witze im hinteren Teil der Beano-Jahresausgabe von 1982 vor, als mein Vater sich an die Brust griff und tot auf dem Küchenboden zusammensackte.

Wenn ich so zurückdenke, glaube ich, dass das der Moment war, in dem mein Leben eine völlig neue Richtung nahm. Mein Vater war einer der Menschen, denen man Witze vorlesen konnte. Er verbrachte die Sonntage damit, sein Auto zu reparieren, und ich half ihm dabei, lernte, wohin die Teile gehörten und wozu sie dienten. Er lachte viel, und gemeinsam lachten wir über meine klapperdürre, ernste und verbitterte Mutter.

Nach seinem Tod konnte ich mich nie wieder durchringen, die Beano zu lesen.

Und ich lachte nicht mehr.

Es ist trostlos, wenn man sich an einem Montagmorgen so fühlt. Andere Leute in meinem Alter haben einen Kater, oder das Wochenende beim Campen verbracht oder mit ihren Freundinnen gevögelt. Oder die Freundin eines anderen gevögelt. Ich habe mein Wochenende damit verbracht, einen Aufsatz zu schreiben und mir die Nächte mit Whisky und Pornofilmen um die Ohren zu schlagen. Ich kann mich also nur schwer auf die Budgetzahlen konzentrieren.

Das Problem ist, dass ich nicht einmal genau weiß, ob ich überhaupt eine Freundin möchte. Ich mag mein Leben so, wie es ist, sorgfältig geordnet. Ich mag mein Haus, wie es ist. Ich habe keinen Ordnungsfimmel – kein Psychologe hätte sich je um meinen Geisteszustand Sorgen gemacht –, aber vermutlich empfände ich es als mühsam, mich an die Sachen eines anderen zu gewöhnen. An neue Klamotten in meinem Schrank. Neue Bücher in meinem Regal. Fremdes Essen in meinem Kühlschrank. Nein, das will ich nicht. Ich habe bei mir zu Hause keinen Platz. Und in meinem Kopf vermutlich auch nicht.

Sex wäre trotzdem nicht schlecht.

Garth hat es wieder einmal nicht geschafft, am Wochenende zu baden. Obwohl er am anderen Ende des Büros sitzt, rieche ich ihn ab und zu. Sosehr ich auch versuche, mich auf wichtigere Dinge zu konzentrieren, muss ich immer wieder in seine Richtung schnüffeln und darüber staunen, dass ein normaler erwachsener Erwerbstätiger so einen Gestank verbreiten kann. Er pult sich das Essen aus den Zähnen und macht dabei saugende Geräusche, und obwohl ich das ekelhaft finde, ertappe ich mich dabei, dass ich immer wieder zu ihm hinübersehe und ihn dabei beobachte, wie er mit einem Finger zwischen den Backenzähnen bohrt. Ich frage mich, was er wohl gegessen hat, das dermaßen in seinen Zähnen festklebt. Er hat wie ein Schuljunge Tinte an den Fingern, und obwohl ich den Mann hasse und jede Sekunde seiner Gegenwart eine Art Folter für meine Sinne ist, fasziniert er mich auch irgendwie – er weckt eine unstillbare Neugier in mir. Wie kann jemand, der so abstoßend ist, in unserer zivilisierten Welt überleben?

Martha trudelt spät ein. Sie trägt neue Schuhe, wie ich bemerke – wenn ich mich nicht irre, das dritte Paar in diesem Monat.

»Morgen, Colin – schönes Wochenende gehabt?«

Natürlich will sie das nicht wirklich wissen. Ich habe eine Weile gebraucht, um herauszufinden, dass dies nur eine rhetorische Frage ist, ein Ritual am Montagmorgen. Als sie mich die ersten paar Male danach fragte, erzählte ich ihr lang und breit, was ich am Wochenende gemacht hatte, breitete sorgfältig alle Details vor ihr aus, obwohl selbst ich wusste, dass man einige davon keinesfalls vor einer Kollegin zum Besten geben sollte. Nach ein paar Minuten hatte sie nur noch ausdruckslos vor sich hingestarrt. Danach fragte sie mich nie wieder. Erst kürzlich fing sie wieder mit dem Montagsritual an, weil sie mitgehört hatte, als ein anderer mir dieselbe Frage gestellt und lediglich eine kurze Antwort darauf erhalten hatte.

»Ja, danke. Und du?« Natürlich war es ein ereignisreiches Wochenende gewesen, vor allem der Freitagabend, aber ich hatte nicht vor, ihr Einzelheiten zu schildern.

Gelegentlich hörte ich, wie sie jemandem erzählte, was sie am Wochenende gemacht hatte – Drachen steigen lassen, backen oder wandern, auf eine Party gehen oder Fußball schauen, ihren Cousin besuchen oder ihren Garten pflegen –, doch mir antwortete sie immer auf die gleiche Art und Weise.

»Ich auch, danke.«

Vaughn schickt mir eine Mail und fragt, ob ich mittags mit ihm ins Red Lion gehen will. Ich bin versucht ihn zu fragen, ob wir uns nicht sofort treffen sollen; ich glaube kaum, dass hier in den nächsten drei Stunden etwas Aufregendes geschehen wird. Es ist traurig, dass der Gedanke an eine halbe Stunde in einem dunklen, muffigen Pub neben dem Gaswerk in Begleitung von Vaughn Bradstock so viel verlockender ist.

Ich komme zwanzig Minuten zu früh zum Red Lion, es ist noch nicht einmal Mittag, aber Vaughn sitzt schon mit einem Pint John Smith’s vor sich an unserem Stammplatz in der Ecke und wartet. Vaughn und ich haben vor vielen Jahren zusammengearbeitet. Er war damals als Selbstständiger für die IT-Abteilung der Gemeindeverwaltung tätig, und aus irgendeinem Grund hatten wir uns angefreundet und weiter engen Kontakt gehalten, selbst als er längst andere Projekte betreute. Inzwischen ist er in Festanstellung bei einem Softwareentwickler in der Innenstadt beschäftigt. Der Red Lion liegt da sehr günstig.

»Colin«, sagt er tonlos und nimmt so meine Ankunft zur Kenntnis.

»Vaughn«, antworte ich.

Er möchte bestimmt wieder über seine Freundin reden. Oder über Philatelie.

Ich wappne mich mit ein paar Schlucken Bier und frage mich, ob es für einen kleinen Whisky noch zu früh ist. Unterdessen murmelt Vaughn irgendwas davon, dass seine Freundin eine Affäre haben könnte. Ich überlege, ob ich ihn darauf hinweisen soll, dass sie wohl beide keine Teenager mehr sind und es daher eher unwahrscheinlich sei.

Doch er ist davon überzeugt, dass sie ihn anlügt. Er sitzt mit hängendem Kopf vor seinem Bier und denkt laut darüber nach, ob es eine gute Idee ist, mit ihr im Wohnwagen nach Weston-super-Mare zu fahren.

Meine Mutter hat mit mir im Sommer nach dem Tod meines Vaters in Weston-super-Mare Urlaub gemacht. Wir wohnten in einem Gasthof, drei Straßen hinter der Strandpromenade; dicht genug, um die Möwen zu hören, nicht nah genug, um das Meer zu hören. Ich war fast dreizehn und kam mit meinen Gedanken nicht klar. Ich las Eliot und Kafka und sah mir Dokumentarfilme auf BBC2 an. Ich blieb bis spät in die Nacht wach und stand früh auf, um das Schulfernsehen zu gucken. Damals trugen die Dozenten noch Bärte und Schlaghosen. Meine Mutter wollte hingegen, dass ich Sandburgen baute, im Meer badete und lachte. Ich glaube, ich habe dort die ganze Zeit über kein einziges Mal auch nur gelächelt. Ich saß im Schatten und las, bis sie mir die Bücher wegnahm. Danach saß ich im Schatten und versuchte, die Mädchen am Strand zu ignorieren.

»Weston-super-Mare ist wahrscheinlich keine so gute Idee«, sage ich zu Vaughn.

Schließlich habe ich Mitleid mit ihm und erzähle ihm von kortikaler limbischer Resonanz und nonverbalen Verhaltensmustern.

»Was zum Teufel ist limbische Resonanz?«, fragt er, fügt aber, bevor ich antworten kann, hinzu: »Nein, sag nichts. Das hast du aus dem verdammten Kurs, den du besucht hast, oder?«

Armer Vaughn, er hält sich für intellektuell, weil er den Guardian liest und am Wochenende Java Blend Mokka trinkt.

»Mit dieser Technik kann man herausfinden, ob jemand lügt«, erkläre ich. »Man beobachtet die Körpersprache, unwillkürliche Reaktionen, solche Sachen. Du findest das vielleicht lächerlich, aber der Kurs war wirklich faszinierend.«

Er starrt ausdruckslos vor sich hin.

»Na gut«, sage ich, »lass uns ein kleines Experiment machen. Ich stelle dir drei Fragen und möchte, dass du eine ganz bewusst mit einer Lüge beantwortest. Ich versuche herauszufinden, bei welcher du mich belogen hast. Habe ich recht, gibst du mir noch ein Pint aus. Irre ich mich, werde ich dir den ganzen nächsten Monat die Drinks bezahlen. Willst du’s probieren?«

»Oh, na klar, also gut«, sagt er. Ich habe den Eindruck, dass sich seine Laune etwas gebessert hat. Er lächelt, aber was Vaughn betrifft, traue ich meinem Instinkt nicht immer. Er könnte sogar selbstmordgefährdet sein. Es wäre nicht das erste Mal, dass ich mich irre. An jenem Abend hatte Eleanor mich doch angelächelt, oder nicht? Und dann ist alles ganz anders gekommen.

»Na schön«, sage ich, »lass mal überlegen. Stell dir dein Zimmer vor. Dein Zimmer, als du ein Teenager warst. Beschreib es mir, als würdest du in der Tür stehen und hineinsehen. Was siehst du?«

»Du meine Güte. Das war der Schlafsaal, den ich mir mit Roger Hotchkiss in St. Stephens geteilt hab. Zwei Betten, auf jeder Seite eines – mein Bett ist ordentlich gemacht, das von Hotchkiss natürlich nicht –, an jedem Fußende steht ein Schrank in der Nähe der Tür … Direkt vor mir liegt das Fenster mit Blick hinaus auf das Küchengebäude. Unter dem Fenster steht ein breiter Schreibtisch. Über dem Bett hängen Bücherregale. Poster waren nicht erlaubt.«

Er schwieg einen Augenblick, tippte nachdenklich mit dem Finger an sein Kinn, sah nach oben und dann nach links. Das wird kinderleicht.

»War’s das?«

»Sonst fällt mir nichts ein.«

»Okay, dann die nächste Frage. Was hast du für einen Handyklingelton?«

»Es ist einfach der Standardklingelton. Ich hab keine Lust auf diesen neumodischen Schnickschnack.«

Die Antwort kommt schon etwas schneller, aber ich erkenne trotzdem, dass er die Wahrheit sagt. Zugegeben, ich wusste schon vorher, dass er die Wahrheit sagt, denn ich habe sein Handy zuvor schon im Pub klingeln gehört. Versuche ich etwa, unbewusst zu schummeln? Jedenfalls wird die nächste Frage die entscheidende sein.

»Gut, letzte Frage. Erzähl mir von deinem Heimweg gestern Abend. Bist du sofort von der Arbeit nach Hause gefahren? Und um wie viel Uhr warst du daheim?«

Er zögert kurz, sieht schnell nach oben, dann nach rechts, aber das genügt mir. Als er zu reden anfängt, klingt seine Stimme zu hoch – das ist zu leicht, viel zu leicht.

»Ich bin nicht gleich nach Hause gefahren. Ich habe vorher noch im Co-op Wurst und Kartoffeln für das Abendessen gekauft. Ich war wahrscheinlich so gegen, äh, Viertel nach sechs zu Hause.«

Ich lehne mich zurück und trinke mein Pint aus. Dann drücke ich meine Fingerspitzen an die Schläfen, schließe die Augen und atme tief und hörbar durch die Nase ein, als wollte ich einen übersinnlichen Prozess in Gang setzen.

»Bei deiner letzten Antwort hast du nicht ganz die Wahrheit gesagt«, sage ich schließlich. »Auch wenn die Lüge ziemlich gut verpackt war. Du warst tatsächlich um Viertel nach sechs zu Hause, also warst du vermutlich vorher noch irgendwo anders. Nämlich beim Co-op, wo du eingekauft hast, aber keine Wurst und Kartoffeln. Habe ich recht?«

Er schüttelt den Kopf, sodass ich mich einen Augenblick frage, ob ich unrecht habe oder ob er versucht, sich rauszureden.

»Eine Flasche Zinfandel und Sahnejoghurtbonbons«, sagt er leise.

»Noch ein Pint John Smith’s«, antworte ich.

Ich gehe nach Hause, bleibe mal wieder viel zu lange auf: trinke wieder zu viel Whisky, schaue wieder sinnlose Pornofilme und versuche erfolglos, mir einen runterzuholen. Zu viel Whisky, wie gesagt. Als ich vorhin von meinem Besuch zurückkam, machte ich mich zunächst an gehobenere Lektüre – in diesem Fall forensische Biologie, ein unendlich faszinierendes Thema –, wechselte dann zu anderer anregender Lektüre, wobei meine Anregung möglicherweise nicht der ursprünglichen Absicht der Autoren entsprach, und dann zu einem Medium, das lediglich die Konten irgendeines zwielichtigen osteuropäischen Pornoproduzenten aufbessern wird. Dafür zahle ich natürlich nicht.

Ich bin noch immer ziemlich zufrieden mit mir. Vaughn war so beeindruckt von meiner brillanten Vorstellung, dass er unbedingt wissen wollte, wie ich das angestellt hatte. Ich erklärte ihm die Sache mit der Körpersprache und der Intonation und wie man der betreffenden Person in die Augen schauen müsse, um den Unterschied zwischen visuellen Konstrukten und Erinnerungen herauszufinden, wie man Anzeichen von Unbehagen entdeckt und jeder noch so kleine Hinweis zu einem eindeutigen Bild beiträgt. Ich wies ihn darauf hin, dass er bei meiner letzten Frage die Augen nach oben rechts verdreht hat, was für mich ein unmissverständliches Indiz für eine visuelle Konstruktion gewesen sei, gefolgt von einem Blick nach links, der bewies, dass er auch ein paar tatsächliche Erinnerungen an das hatte, was er mir erzählte. Das verriet mir, dass er vorhatte, seine Lüge in ein paar wahre Elemente einzubetten. Dazu kam das Unbehagen, das er empfunden habe, als ich kurz davorgestanden hatte, ihm meine letzte Frage zu stellen: die Anspannung in seinen Schultern, dass er auf seinem Stuhl etwas von mir weggerutscht war und seine veränderte Art zu atmen hatten mir gesagt, dass er ganz offensichtlich die ersten beiden Fragen wahrheitsgemäß beantwortet hatte und jetzt eine Lüge bringen musste. Als er mir von seinem Einkauf erzählt hatte, der Wurst und den – was war es noch? – Kartoffeln, genau, war er mit seiner Zunge rasch über die Lippen gefahren und hatte sich dann mit den Fingern an den Mund gefasst. Bei jeder anderen Gelegenheit wäre das eine durchaus natürliche Geste gewesen, etwa weil etwas juckte, man schniefte oder Krümel beseitigen wollte. In diesem Fall bestätigte es seine Lüge.

Das alles sagte ich ihm und gab ihm natürlich ein paar Tipps, worauf er das nächste Mal achten sollte, wenn er mit Audrey unangenehme Dinge besprach. Ich bemühe mich sehr, nicht an Audrey zu denken, denn sobald ich das tue, stelle ich sie mir nackt vor, und dann dauert es nicht mehr lange, und ich stelle mir auch Vaughn nackt vor und wie die beiden in der Missionarsstellung wild miteinander vögeln. Und dann sehe ich unwillkürlich Vaughn vor mir, der sich anspannt und auf eine Art und Weise aufschreit, wie ich ihn noch nie im Büro oder im Pub habe schreien hören.

Nach so einer geistigen Entgleisung fühle ich mich meistens schuldig, muss um Viertel vor drei Uhr morgens aufstehen und noch einmal duschen.

Einmal hat Martha mich nach meinen Eltern gefragt. Ich muss damals in Gesprächslaune gewesen sein, oder vielleicht war es auch eine Situation, in der es unhöflich gewirkt hätte, keine Antwort zu geben. Also erzählte ich ihr, dass mein Vater gestorben sei, als ich elf war.

»Armer Junge«, sagte sie. Zunächst wollte ich ihr das ein wenig übel nehmen, doch dann wurde mir klar, dass sie den kleinen Jungen meinte, der ich damals gewesen war. »Das muss eine traumatische Erfahrung gewesen sein, den Vater in einem so schwierigen Alter zu verlieren.«

Ich verstand weder, was sie mit schwierigem Alter meinte, noch mit traumatisch. »Das Leben geht weiter«, hatte ich gesagt und mit den Achseln gezuckt.

»Ja, aber trotzdem – das ist schon sehr traurig.«

»Das Leben ist nur eine Art des Toten, und eine sehr seltene Art.«

»Colin, das klingt ja wie ein Zitat. Wer hat das gesagt?«

»Ich. Na ja, eigentlich Nietzsche.«

Sie findet mich seltsam, das tun sie alle. Am Anfang, als ich gerade bei der Gemeinde anfing, waren alle noch ziemlich gesprächig. Jetzt habe ich das Gefühl, dass sie mir eher aus dem Weg gehen, es vermeiden, sich mit mir zu unterhalten – außer, die Umstände zwingen sie dazu. Doch selbst dann begegnen sie mir mit Misstrauen. Ich denke, Martha betrachtet mich als eine Art persönliche Herausforderung.

Das Begräbnis meines Vaters hatte an einem Samstag stattgefunden, damit auch seine Arbeitskollegen daran teilnehmen konnten. Es gab eine ziemlich heftige Auseinandersetzung darüber, ob ich auch dabei sein sollte oder nicht. Ich erinnere michan eine Unterhaltung zwischen meiner Mutter und einer Freundin ein paar Tage vor der Trauerfeier.

»Du weißt, wie er ist«, sagte meine Mutter. »Er macht sich immer so viele Gedanken.«

»Aber er ist doch fast erwachsen, Delia. Vielleicht verarbeitet er es dann besser.«

Am Ende gab meine Mutter nach – möglicherweise einfach deshalb, weil sie keinen Babysitter für mich auftreiben konnte. Am Ende wurde es zu einem dramatischen Ereignis, und ich war richtig froh, dass ich die Gelegenheit bekommen hatte, daran teilzunehmen.

Ich hatte keine angemessene Kleidung, also zog ich meine Schuluniform an, sogar das Jackett und die Kappe. Es war glühend heiß, die Sonne knallte unerbittlich herunter, und natürlich trug die versammelte Trauergemeinde Schwarz. Meine Mutter trug sogar ihren schwarzen Mantel mit dem Nerzkragen, den mein Vater ihr in New York gekauft hatte. Auf dem Weg zur Kirche kamen alle fast um vor Hitze, erfuhren während der Messe ein wenig Erleichterung und kamen dann bei der Beerdigung erneut vor Hitze fast um. Ich schmorte und schwitzte ausgiebig – mein Hemd war unter meinem Jackett völlig durchnässt. Ich stand neben meiner Mutter und dachte an etwas, das ich gelesen hatte: dass der Leichnam von König Henry VIII., als man ihn von Whitehall nach Windsor transportiert hatte, von Verwesungsgasen so aufgebläht worden war, dass nachts der Sargdeckel aufsprang. Am nächsten Morgen stellte sich heraus, dass Hunde sich am Aas des Königs gütlich taten. Und das im Winter! Wie sah wohl der Leichnam meines Vaters jetzt im Hochsommer aus? Dann überlegte ich aber, dass sein Körper vielleicht noch gefroren war, weil er wegen der ausstehenden Obduktion drei Wochen in einem Kühlfach in der Leichenhalle gelegen hatte und erst jetzt langsam im Sarg auftaute wie Schokoladeneis. Daraufhin hatte ich den unwiderstehlichen Drang, das Holz des Sarges zu berühren und zu fühlen, ob es kalt war. Während der Pfarrer also weiterbrabbelte, machte ich einen Schritt vor zum Sarg, der auf einem grünen Plastikrasen stand, wie man ihn auch auf den Ständen der Gemüsehändler sieht. Meine Mutter war wegen meiner plötzlichen Bewegung in Panik geraten, war nach vorne getaumelt und hatte ihre Hand nach mir ausgestreckt, um mich bei den Schultern zu packen. Doch dabei stolperte sie über den unebenen Boden und schubste mich, sodass wir beide nur ein paar Zentimeter vor dem offenen Grab auf der Erde landeten. Der Schock, vielleicht die übermäßige Hitze und ihr lächerlicher Mantel, vielleicht aber auch der Gin, den sie vor dem Martyrium zur Stärkung getrunken hatte, brachten sie zum Kotzen, als die Trauergemeinde herbeieilte, um ihr wieder auf die Füße zu helfen. Ich musste unwillkürlich über die mit Kotze besprühten Leute lachen, während meine Mutter sich immer weiter erbrach. Ein paar Trauergäste mussten selbst würgen. Und das Gesicht des Pfarrers …

Beim folgenden Leichenschmaus war es das Thema Nummer eins. Alle nur erdenklichen Gründe wurden in Erwägung gezogen: dass meine Mutter ohnmächtig geworden sei, und ich versucht hatte, sie aufzufangen; dass ihr plötzlich schlecht geworden sei, und sie mich angerempelt habe; dass einer oder sogar alle beide versucht hatten, sich vor Gram ins Grab zu stürzen. Meine Mutter war blass und weinte, füllte ihren Blutkreislauf mit noch mehr Gin, fächelte sich mit der Agende Luft zu und ließ mich beim Leichenschmaus nicht aus den Augen. Danach verloren wir nie wieder ein Wort darüber.

Briarstone Chronicle

März

Tote Frau laut Behörden ›mindestens ein Jahr‹ unentdeckt.

Gestern wurde in einem Haus in Laurel Crescent (Briarstone) ein weiblicher Leichnam entdeckt. Laut Polizeisprecher habe die Leiche im Schlafzimmer im hinteren Teil des Einfamilienhauses gelegen und sich bereits in einem fortgeschrittenen Verwesungszustand befunden.

Bei dem Gebäude handelt es sich um eines von mehreren Bauten in Laurel Crescent, deren Abriss geplant ist. Bauarbeiter hatten die Polizei verständigt, nachdem sie bemerkt hatten, dass eines der Gebäude offenbar noch bewohnt war.

Im Haus wurde Post gefunden, die darauf hindeutete, dass die Tote möglicherweise ein Jahr unentdeckt dort gelegen hat. Der Name der Verstorbenen wurde bisher nicht bekannt gegeben, da die Behörden noch versuchen, Verwandte oder Bekannte ausfindig zu machen.

Judith

Ich heiße Judith May Bingham. Als ich starb, war ich einundneunzig Jahre alt.

Ich habe mich bis zum Schluss vor vielem gefürchtet. Das klingt jetzt ziemlich verrückt, weil am Ende natürlich nichts, rein gar nichts mehr eine Rolle spielt. Ich fürchtete mich vor den Leuten, die nebenan wohnten, den halbwüchsigen Jungs, die kamen und gingen, wie sie gerade Lust hatten, an meine Tür schlugen, sich vor meinem Haus niederließen oder einmal sogar auf meinen Zaun setzten, bis er zusammenbrach. Die mit den Motorrädern die Straße rauf und runter fuhren, mit ihren Zigaretten und Getränkedosen herumsaßen, schrien und sich gegenseitig mit irgendwas bewarfen.

Ich hatte Angst, ohne Geld dazustehen und mir kein Essen mehr kaufen oder das Haus nicht mehr heizen zu können.

Und ich fürchtete mich immer mehr davor, das Haus zu verlassen.

Ich fürchtete mich vor der Frau vom Sozialdienst, die eines Tages zu mir kam, um nach mir zu sehen. Sie sagte, sie habe gehört, dass ich vielleicht Hilfe bräuchte. Ich entgegnete, dass das nicht nötig sei, aber sie redete immer weiter und weiter auf mich ein, bis ich sie bat zu gehen. Genau genommen habe ich zu ihr gesagt, sie solle sich verpissen. Das hatte sie nicht erwartet und versucht, mich zurechtzuweisen. Sie sagte, dass auch sie wie jeder andere ein Recht auf eine angenehme Arbeitsatmosphäre habe und ich keinen Grund hätte, so unhöflich zu sein. Ich sagte ihr, dass sie keinen Grund hätte, in meinen eigenen vier Wänden mit mir zu sprechen, als sei ich eine Vollidiotin, und dass ich sie zuerst freundlich gebeten hatte zu gehen, sie mich aber ignoriert habe.

Damals war ich noch mutig. Als sie gegangen war, hatte ich die Tür hinter ihr geschlossen und eine Weile gelacht. Es war schon eine ganze Weile her, seit ich das letzte Mal geflucht hatte, und es hatte sich gut angefühlt. Als wäre ich wieder jung.

Vor vierzig Jahren besaß ich einen Pub am Hafen. Ein raues Plätzchen. An manchen Abenden war kaum jemand im Lokal, an anderen, wenn ein oder zwei Schiffe angelegt hatten, war es so voll, dass die Leute bis auf die Straße standen. Es gab auch leichte Mädchen bei uns. Als mein Mann Stan noch lebte, versuchte er, sie hinauszuwerfen, doch was mich betraf, so war mir ihr Geld ebenso willkommen wie das aller anderen. Was sie taten, um sich ihre Brötchen zu verdienen, war mir völlig egal.

Es gab oft Schlägereien. Das gehörte einfach dazu, wenn sie von Bord kamen – sie betranken sich, suchten sich ein Mädchen, prügelten sich, wurden wieder nüchtern und kehrten rechtzeitig zum Einsatz der Flut aufs Schiff zurück. Wenn wir Glück hatten, trugen sie ihre Meinungsverschiedenheiten vor der Tür aus; hatten wir Pech, gingen schon mal Stühle und Gläser zu Bruch. Einmal wurde ein junger Kerl niedergestochen. Das war schrecklich; aber er hat überlebt. Er musste nur ein paarmal genäht werden, mehr nicht.

Damals fürchtete ich mich vor nichts und niemandem. Ich nahm jeden Tag, so wie er kam, und wusste, dass auch schlechte Zeiten kommen würden. Ich wusste aber auch, dass ich diese genauso wie die guten überdauern würde. Das Einzige, was man nicht aufhalten kann, ist die Zeit.

Damals fluchte ich ständig, hatte aber keinen Anlass mehr dazu, seit ich im Ruhestand war. Bis Miss Prim mit ihren Formularen auftauchte und mir sagen wollte, was ich zu tun hatte.

Ein paar Stunden nach ihrem Besuch bekam ich jedoch Angst. Angst davor, sie würde mit irgendeinem offiziellen Schreiben zurückkommen und mir mitteilen, dass ich mein Haus verlassen und ins Altersheim gehen müsse. Ich wäre lieber gestorben, als in ein Heim zu gehen. Da überlegte ich mir, allem ein Ende zu setzen und so zu verhindern, dass man mich eines Tages wegbringen würde. Aber dafür braucht man Mut, und den hatte ich nicht mehr.

Ich kaufte zweimal pro Woche beim Co-op am Ende der Straße ein und ging zum Arzt, um meine Rezepte zu holen, doch abgesehen davon verließ ich das Haus nicht mehr. Ich hatte mir immer wieder verschiedene Möglichkeiten überlegt, mir das Leben zu nehmen, fand es aber irgendwie nicht richtig, einfach so aufzugeben. Außerdem hatte ich Angst, es zu vermasseln, es nicht richtig zu machen. Obwohl ich in meinem Leben alle Entscheidungen stets selbst gefällt hatte, entschieden nun zunehmend andere Menschen für mich. Das war es, wogegen ich mich wehrte. Ich war eine erwachsene Frau, eine alte Frau, und solange ich noch alle Tassen im Schrank hatte, wollte ich in der Lage sein, dieses Leben aus freien Stücken zu beenden, das so anstrengend und leer geworden war. Aber das gehörte sich natürlich nicht, oder? Wenn ich mein Leben beenden wollte, dann musste ich wohl krank oder depressiv oder sonst was sein und brauchte Hilfe, um die Welt wieder mit anderen Augen zu sehen und das Leben genießen zu können. So sieht es jedenfalls die Jugend von ihrem völlig unwissenden Standpunkt aus.

Ich wünschte mir jemanden, der mir helfen würde. Ich wünschte mir jemanden, dem ich vertrauen konnte und der dafür sorgte, dass alles richtiglief und ich nicht halb tot daliegen würde – und der dafür sorgte, dass ich meine Meinung nicht mehr änderte.

Annabel

Es gibt nichts Elenderes, als einen Montag im Dunkeln und mit kalten, nassen Füßen zu beginnen.

Als ich bei der Arbeit ankam, waren mein Rock und meine Wildlederschuhe völlig durchnässt. An solchen Tagen war die Park&Ride-Lösung kein Spaß. Ich kam früh zum Parkplatz, noch bevor es richtig hell war, saß im beschlagenen Wagen und wartete auf den Bus, mit dem ich dann schlaftrunken in die Stadt schaukelte. Ich wusste immer noch nicht, welche Bushaltestelle dem Polizeirevier am nächsten lag. Heute entschied ich mich für die Haltestelle am Kriegerdenkmal, hatte aber den verstopften Kanal in der Unity Street vergessen. An ihm führte kein Weg vorbei, außer man überquerte die Straße, doch auch das war nicht leicht. Also wartete ich auf eine Lücke im Verkehr und überquerte dann das Stück Asphalt neben der riesigen Pfütze, als wieder ein Wagen durchfuhr und mich nass spritzte.

Ich war eben nie schnell genug. Ich bin einfach nicht zum Rennen geboren.

Ich ging durch das Tor auf der Rückseite und ließ es mit einem heftigen Knall hinter mir zuschwingen. Inzwischen hatte es natürlich aufgehört zu regnen– typisch. Meine Magnetkarte piepste, als ich sie durch fünf verschiedene Sicherheitsschleusen zog: das Eingangstor, die Tür zum Parkplatz, die Hintertür zum Polizeirevier, die Tür zur Intel-Einheit, der »Intelligence Unit«, die für Informationsanalyse und Verbrechensprävenöffentliche Sicherheit. Ich hängte meinen durchnässten Mantel und den langen Schal auf, legte eine Hand auf die Heizung– die Wasser aus einer Zwei-Liter-Flasche, die wir in der eine halbe Meile entfernten Küche auffüllen mussten.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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