Wofür wir uns schämen - Tomas Blum - E-Book

Wofür wir uns schämen E-Book

Tomas Blum

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Beschreibung

Noch drei Tage bis zur fristlosen Kündigung. Düstere Erinnerungen und grelle Zweifel – und ein Befreiungsschlag. Und wer ist Marie? Die rothaarige Kollegin sitzt, schon seit er dort arbeitet, auf dem Platz hinter ihm im Büro. Zu Beginn war er sich nicht sicher, ob sie es ist, das Mädchen von früher, das Mädchen aus dieser einen Nacht, von der sein Vater ihm verboten hat, jemals wieder zu sprechen. Doch als die Kollegin ihn anspricht, ob er sie ins “Bang Bang” begleiten will, weil da nur Paare rein dürfen, gerät seine ganze Welt aus den Fugen. „Wofür wir uns schämen“ ist eine Geschichte über Bleistifte, Beziehungen und die Befreiung. Die Befreiung von der Angst, die Befreiung von der Vergangenheit und die Befreiung von Geschlechterrollen, die die beiden schon längst nicht mehr spielen wollen. Blum schreibt mal nachdenklich, mal humorvoll, mal düster. Sein Roman erzählt, poetisch und lebendig zugleich, sehr ehrlich und schonungslos von der Bewältigung der Vergangenheit und der Suche nach der einen echten Verbindung, ohne dem Leser dabei endgültige Antworten aufzudrängen.

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Über das Buch

 

Die rothaarige Kollegin sitzt, schon seit du hier arbeitest, auf dem Platz hinter dir im Büro. Zu Beginn warst du dir nicht sicher, ob sie es ist, das Mädchen von früher, das Mädchen aus dieser einen Nacht, von der dein Vater dir verboten hat, jemals wieder zu sprechen. Doch als die Kollegin dich anspricht, ob du sie ins Bang Bang begleiten willst, weil da nur Paare reindürfen, gerät deine ganze Welt aus den Fugen. »Wofür wir uns schämen« ist eine Geschichte über Bleistifte, Beziehungen und die Befreiung. Die Befreiung von der Angst, die Befreiung von der Vergangenheit und die Befreiung von Geschlechterrollen, denn ihr beiden wollt keine Rolle mehr spielen.

 

Über den Autor

 

Tomas Blum, Jahrgang 1968, arbeitet lange in der Pflege und in Einrichtungen für Kinder mit geistigen und körperlichen Behinderungen. Nach dem Literaturstudium lebt er in Nordirland und beginnt dort mit der Arbeit an seinem ersten Roman, für den er ein Stipendium des Literarischen Colloquiums Berlin erhält. Ein Aufbaustudium in Medienwissenschaften finanziert er durch die Mitarbeit in einer Schauspielagentur. Nach Abschluss des Studiums arbeitet Blum zwanzig Jahre lang als Autor und Ghostwriter in Wirtschaft und Politik. Durch einen Unfall besinnt er sich wieder auf das literarische Schreiben. 2016 wird sein Stück »Der Kuss« in Berlin uraufgeführt. Mit »Wofür wir uns schämen« erscheint sein Romandebüt im Liesmich Verlag. Blum lebt und arbeitet in Berlin.

Weitere Infos auf seinem Blog

www.tomas-blum.com

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.

Alle Rechte der deutschen Ausgabe

© Liesmich Verlag UG (haftungsbeschränkt)

1. Auflage 2019

www.liesmich-verlag.de

Coverdesign & Umschlaggestaltung: Manja Schönerstedt // Alina Tillenburg

Illustrationen und Zeichnungen im Einband: Alina Tillenburg

Drucksatz: Karsten Möckel

Lektorat: Alina Tillenburg

Kolektorat: Jessica Adrian

Korrektorat: Sabrina Friedl

Vorlektorat: Torsten Paape

PR & Marketing: Christoph Awe // Jessica Adrian // Johannes Bär

Medienarbeit: Christoph Awe

Buchtrailer: Ben Pohlmann

Projektmanagement: Karsten Möckel

ISBN: 978-3-945491-09-6

Die in diesem Roman vorkommenden Personen und geschilderten Ereignisse sind frei erfunden. Ähnlichkeiten ... und so weiter und so weiter.

Für Dirk.

Erinnerst Du Dich an den Wind im Gesicht, wenn wir mit unseren Rädern auf der Uferstraße fuhren?

Der Ball, den ich beim Spielen warf im Park,

Hat noch nicht den Grund erreicht.

 

Dylan Thomas

Ich lächele mein halbes Leben lang. Ich lächele in den meisten Momenten, so fühlt es sich an. Ich lächele zum Beispiel, wenn der Chef blöde Witze macht, oder wenn man mich unnötig von der Arbeit ablenkt. Auch wenn mich jemand auf der Straße anrempelt, lächele ich erst mal. Ich habe das einem Freund erzählt, um herauszufinden, ob er versteht, was ich meine, und er sagt, es wäre vermutlich einfacher, wenn ich eine Frau wäre. Deshalb lächele ich die andere Hälfte der Zeit nicht. Ich gehe meinen Aufgaben nach, und manchmal sagt mir die Kollegin aus der Tischreihe vor mir, ich soll nicht so ernst gucken. Es ist wie mit dem Wasserglas, von dem man nicht weiß, ob es halb voll oder halb leer ist. Ich kann nicht sagen, ob der Vergleich mit meinem Leben zutrifft. Jedenfalls fühlt es sich so an, als wäre Glas drumherum.

Der Grund für diese Gedanken ist die rothaarige Kollegin. Wir sind allein im Pausenraum und sie spricht mich an, sie sei mir vermutlich noch nicht aufgefallen, aber das stimmt nicht. Im Gegenteil ist sie mir schon die ganze Zeit über aufgefallen, schon seit ich hier arbeite, und das sind anderthalb Jahre. Sie erinnert mich an ein Mädchen von früher. Das dachte ich sofort, als ich sie zum ersten Mal sah, sie sitzt an einem der Tische ganz rechts hinten.

Damals hießen alle Mädchen Claudia. Das sage ich der Kollegin natürlich nicht, als sie mich anspricht. Der Administrator platzt herein und unterbricht unser Gespräch und hat wieder einen Spruch auf Lager und wir beide lächeln, meine Kollegin und ich. Auf der Arbeit laufen wir uns an diesem Tag nicht mehr über den Weg, aber ich kann sie sehen, rechts hinten an ihrem Tisch.

Damals heißen also fast alle Mädchen Claudia und du kannst von Glück reden, wenn du eine kennst. Du teilst dir mit ihr den Nachhauseweg von der Schule, und die Katzenaugen ihrer Schulranzen sind die einzige Farbe, die du an den Herbsttagen zu Gesicht bekommst. Zwei Unglücksfälle beschäftigen uns zu der Zeit, die noch zusätzlich zu dem Gewicht unserer Schulbücher die Schultern beschweren. Jedes Mal wird mein Vater hinzugerufen und das bringt ihm den Ruf einer Koryphäe ein. Ich glaube nicht, dass die Kinder damals wissen, was eine Koryphäe ist. Da ich jedoch der Sohn einer Koryphäe bin, lassen mich die anderen Jungs auf dem Schulhof in Ruhe. Und das, obwohl mein Vater überhaupt nichts mehr ausrichten kann. Der eine Unfall ist ein Schreibtischunfall. Auch heute noch frage ich mich, wenn ich das Wort Unfall höre, wer der Täter ist. Wobei es bei Unfällen ja eigentlich um die Opfer geht. Bei dem Schreibtischunfall ist Fred Reimann (Fred mit den flachsgelben Haaren und der schneeweißen Haut), er ist bei dem Schreibtischunfall das Opfer von einem nett gemeinten Klaps auf den Hinterkopf. Fred Reimann hat ein Problem mit Füllfederhaltern. Er schafft es einfach nicht, ein paar Zeilen damit zu schreiben, ohne sich und das Papier einzusauen. Die Lehrerin macht deshalb für ihn eine Ausnahme. Er darf mit dem Bleistift schreiben, jedoch nicht darauf herumkauen, wobei ihm das sehr schwerfällt. In einer Pause pult Fred mit der Bleistiftspitze im Ohr und einer der Jungen will ihm so zum Scherz einen Klaps auf den Hinterkopf geben. Aber Fred hört ihn kommen und dreht den Kopf und der Klaps trifft das andere Ende des Bleistiftes, der in Freds Kopf verschwindet. Mein Vater ist der Notarzt am Unfallort, aber er kann, wie gesagt, nicht mehr viel ausrichten. Fred Reimann lebt noch ein paar Tage, fast eine Woche sogar. Der Junge mit dem Klaps hat die Schule gewechselt. Nicht, dass ihm jemand einen Vorwurf gemacht hätte. Ich will seinen Namen hier lieber nicht nennen.

Der andere Unfall, der die Mädchen und die Jungs damals beschäftigt, ist der Verkehrsunfall von Reuters. Der Jens ist damals nicht gerade ein enger Freund von mir und schon die Vorstellung, Herr Reuter könnte mir die Haustür öffnen, ist mir unangenehm, wenn ich Jens mal besuchen will. Ich gestehe, dass auch diese Sache mich bis heute beschäftigt. Ich fahre beispielsweise ein viel zu schweres Auto, weil es besser auf der Straße liegt. Außerdem sitze ich lieber selbst am Steuer und fahre immer nüchtern. Nach dem Unfall damals gibt es jedenfalls Ermittlungen, allein der Versicherung wegen, und es stellt sich nach einiger Zeit heraus, dass es diesmal auch im Wortsinn einen Täter gibt. Das fällt aber zuerst keinem auf, und hier ist mein Vater total zufällig der Erste am Unfallort, weil er am Samstagnachmittag immer wandern geht, hinten auf den Feldern, die von der Schnellstraße geteilt werden. Er ist so zufällig dort, um zu helfen, wie Fred Reimann seinen Kopf dreht, um einen scherzhaften Klaps in einen Todesstoß zu verwandeln. Und diese Vorgeschichte erzähle ich, um zu verdeutlichen, warum mir die ganze Verabredung mit der Kollegin vom Tisch rechts hinten so an die Nieren geht. Auf eine Verabredung läuft es nämlich hinaus. Also zum einen will ich die Verabredung nicht versauen. Ich will mich auch nicht vordrängeln. Es ist ja ihre Einladung oder Idee, ich weiß nicht, wie man dazu sagen soll. Zum anderen will ich nicht, dass sie denkt, ich fahre ein uncooles Auto. Ich gebe einen großen Teil meines Einkommens für den Wagen aus. Ich will nicht, dass sie mich für jemanden hält, der so einen Wagen fährt. Sie fährt einen Gebrauchten mit einigen Dellen dran, und sie ist auch nicht in meiner Position, und sie könnte das falsch deuten, wenn sie meinen Wagen aus der Nähe sieht oder gar drinsitzt. Deshalb lasse ich mich überhaupt darauf ein, in ein fremdes Auto zu steigen. Außerdem ist es einem kleinen Teil von mir sogar recht. Denn wir haben ja wirklich ein ungewöhnliches Ziel und vielleicht will ich auch nicht, dass man mein Kennzeichen dort vor dem Haus identifizieren kann. Das spielt vielleicht eine Rolle. Ich gebe es zu. Um ehrlich zu sein, wühlt mich die Verabredung aus einem viel wichtigeren Grund so sehr auf. Es könnte nämlich sein, dass Fred Reimann und Jens Reuter und meine Kollegin eine Gemeinsamkeit haben. Sie alle blicken in dem Moment, von dem man sprichwörtlich sagt, man sehe dem Tod ins Auge, in die Augen einer Koryphäe. Das sind die Augen meines Vaters.

Wir sehen uns also wieder nach Feierabend. In der Zwischenzeit muss ich dauernd an sie denken. Warum arbeite ich mit jemandem wie ihr auf einer Etage, wo wir doch fachfremde Aufgaben erledigen? Vielleicht habe ich deshalb nicht das Gespräch zu ihr gesucht. Sie hat es. Das reicht ja. Und nun stehen wir hier neben ihrem Wagen, es sieht wie ein Zufall aus, sie macht eine Einstiegsbemerkung über das Wetter und den Frühling, der schon wie ein Sommer ist. Ein Traumsommer. Sie will ins Bang Bang, sagt sie. Da wollte sie schon immer hin. Aber man kann nur paarweise hin und sie hat keinen Partner, ich auch nicht, aber mir würde sie vertrauen und sie kann es sich gut vorstellen, ob ich Lust hätte. Ich muss immerzu an diesen Song von Nancy Sinatra denken. Bang Bang. Ich sage, ich muss es mir überlegen, und mache auch eine Bemerkung über den traumhaften Frühling, und da bin ich nun und überlege. Sie ruft mich am Abend auf dem Handy an, meine Nummer hat sie also auch schon, und ihre Stimme klingt in meinem Ohr, als würde sie direkt hineinflüstern. Nancy Sinatra hat mit fünfzig noch Aufnahmen für den Playboy gemacht, ich verstehe nicht, was einen dazu bringt. Meine Kollegin ist jung. Ich sage ihr zu, bevor ich es mir noch einmal überlege, ihre Stimme schleicht sich leise in mein Ohr. Es ist aufregend. Sie spricht leise und zugleich aufgeregt. Sie sagt noch Sachen wie, ich bin ihr schon immer aufgefallen, da hinten an meinem Tisch. Dass es umgekehrt genauso ist, das sage ich ihr nicht. Wie ich vor mehr als einem Jahr zum ersten Mal an meinen neuen Arbeitsplatz geführt werde und sie in der Ecke am Fenster sitzen sehe, haut es mir fast die Beine weg. Und noch tagelang überlege ich mir, ob ich die Stelle wieder kündigen soll. Dann beschließe ich, mich an ihren Anblick zu gewöhnen. Ich entscheide mich für die Karriere. So geht das die ganze Zeit über. Die Gewohnheit und der tägliche Arbeitsrhythmus machen aus der Kollegin wieder eine Fremde. Jedenfalls, bis sie mich anspricht.

Ich habe Claudia damals nie von ihr erzählt. Von dem rothaarigen Mädchen.

Als ich die Kollegin in der Ecke zum ersten Mal sehe, löffelt sie eine Instant-Suppe mit Erbsen drin. Aus dem Plastikbecher steigt Dampf auf, und ich kann das Foto auf dem Becher von hier aus kaum erkennen, aber ich kenne das Fabrikat. Erbsen. Sie ist es. Jahrzehnte hat sie einfach weitergelebt. Warum auch nicht, sie hat die Sache damals überlebt und diesmal ist es kein Zufall, dass mein Vater einem Opfer das Leben rettet. Zu Claudia habe ich den Kontakt schon lange verloren. Sie ist damals mein bester Freund. Und warum erzähle ich ihr nie von der Sache mit dem anderen Mädchen? Weil mein Vater es mir verbietet? Weil ich streng genommen überhaupt nicht bei einem Patientenbesuch dabei sein darf? Weil ich nicht will, dass Claudia mich für den Sohn einer Koryphäe hält? Jedenfalls nimmt er mich damals mit auf dieser Tour.

Das verändert alles.

Natürlich kann ich mir erst sicher sein, wenn ich die Kollegin darauf anspreche. Wie soll man so etwas anfangen? Und erst recht weiß ich nicht, wie ich aus dieser Nummer hier wieder herauskommen soll. Ich frage mich, ob Nancy Sinatra noch lebt. Die muss doch bestimmt schon achtzig sein. Es ist auch egal, wie alt die ist. Bang Bang.

 

Bei Frühstück, Zeitungs-E-Paper und Inforadio denke ich über Freundschaften nach. Seit die rothaarige Kollegin mich angesprochen hat, umso mehr. Es kommt mir albern vor, dass die gemeinsame Zeit mit Claudia für mich heute noch Inbegriff der Freundschaft ist. Da gibt es keinen Thomas oder Peter oder sonst einen Haudrauf oder Blutsbruder. Nein, es gibt sie. In meiner Erinnerung sind wir beide so klug wie die Erwachsenen, doch geben wir uns ihnen nicht zu erkennen. Ich habe nach ihr keinen Menschen getroffen, mit dem man den Schmerz teilen kann. Einen Menschen, der überhaupt bereit dazu ist. Ich denke über Freundschaft nach, während mein E-Paper die Verrücktheiten eines Donald Trump auflistet, eines amerikanischen Präsidentschaftskandidaten, der sich damit brüstet, Frauen bei dieser und jener Gelegenheit zwischen die Beine zu fassen. Ich denke darüber nach, dass ich tausend Freunde habe, die keine Freunde sind. Was das bedeutet. Ich könnte beispielsweise jederzeit nach London oder L. A. oder Johannesburg reisen und müsste mir um die Unterbringung keine Gedanken machen, weil es so einen Freund dort gibt, der mir Unterschlupf gewährt. Nein. Eben das nicht. Er würde mich unterbringen, wir würden trinken und scherzen und lachen und reden über dies und das, aber eines würde ich nicht bekommen. Unterschlupf. Es ist ein so peinliches Wort. Wer würde das heute noch benutzen? Frauen wollen heute das, was Männer wollen, und Männer, die Präsident werden wollen, sind heute oberschlüpfrig. Als ich herausgefunden habe, was mit mir los ist, war ich zuerst befreit.

Du bist befreit, und theoretisch bist du jetzt ein Odysseus auf See (so hast du es schon in der Schule gelernt), auf hoher See, wo du dein Leben in die Hand nimmst und gegen die Götter segelst. Die Familie ist bloß ein gedachter Punkt, hinter dem Horizont, und die Freunde? Kannst du dich je auf sie verlassen? Du hast noch deinen Mut, den du mühsam erarbeitet hast, und du hast die Erinnerung. Ja, ich vermisse Claudia. So wie man eine Illusion vermisst, wie man die Kindheit vermisst beim Biss in eine bestimmte Sorte Schokolade vielleicht. Die Schokolade hat es bis ins Heute geschafft, weil ein Unternehmer die Marke fortgeführt und die Rezeptur belassen hat. Was ist mit den Menschen von damals? Will man eine Claudia im Internet finden?

Das andere Mädchen tritt zurück in dein Leben. Aus dem rothaarigen Mädchen ist deine Kollegin geworden. Der sicher geglaubte Boden unter deinen Füßen wird dir heiß, weil sie es damals ist, die eine Claudia aus deinem Leben verweist. Und deshalb beginnt die Geschichte mit Claudia. Sie beginnt mit dem Laub der Bäume. Graues und nasses Laub. Es liegt wie aufgeweichter Schorf über allem. Und wo du es mit der Schuhsohle beiseite kehrst, kommt doch nur die graue und nasse Straße zum Vorschein. Du hast eine Erinnerung daran, dass diese Straße im Sommer unter der Hitze flimmerte und dein Spielplatz war. Doch der Sommer liegt weit zurück, und der nächste ist ungewiss.

»Am Wochenende wird es schneien.« Claudia bemerkt deinen ungläubigen Gesichtsausdruck. »Du wirst sehen«, beteuert sie. Sie ist eine Spezialistin für die Beteuerung, eine Agentin. Ihre Haare sind kraus und strähnig vom Nieselregen. Du antwortest, dass du es dir nicht vorstellen kannst. Den fallenden Schnee, auf der Nase kitzelnde Flocken, sie saugen die Dunkelheit aus dem Untergrund - so wie das Pulver, das die Feuerwehr nach Reuters Unfall auf der Straße verstreut hat, das Motoröl aufsaugt. Das kannst du dir auch nicht vorstellen. Nicht, bis du es mit eigenen Augen siehst.

Deine Schuhspitze pult das Laub beiseite, ein kleiner Ausschnitt des Gullydeckels kommt darunter zum Vorschein, Eigentum deiner Stadt, steht dort, in Eisen gegossen. Claudia bringt es endlich auf den Punkt:

»Heute werden sie dich sicher nicht mehr rauslassen«, sagt sie, und du weißt, sie hat recht.

Es ist die geringste Strafe. Gewohnheit hat ihr längst die Zähne abgestumpft. Versagt zu haben und folglich ein Versager zu sein, ist ein graues Paket, das sich abstreifen lässt, in unbestimmter Zukunft zwar, doch du ahnst, dass du besser sein kannst als diese Zensur in dem Paket auf deinem Rücken. Sicher darf ich nicht raus, bestätigst du ihre Worte. Aber es macht auch nichts. Und das sagst du, obwohl du genau weißt, man hat dich durchschaut. Sie wissen, wo sie dich treffen können. Sie stehlen dir die Zeit mit Claudia. Dem einzigen Menschen, der dir wirklich erklären könnte, wie man Tätigkeitswörter beugt.

 

Personen und Zeiten gehen

Durch deinen Kopf

Ich verstehe

Ich werde verstehen

Ich werde verstanden haben

Davon weißt du nichts:

Dass Kindergedanken schießen

Weit hinaus

Sie schießen vor in die Zeit der Erinnerung

Dort wo du dich als Erwachsener fragst

Was bloß aus dir geworden ist

Sie werden dich nicht mehr rauslassen.

 

»Dann bis morgen.«

Claudia sagt das an jedem Tag. An dieser Stelle trennt sich ihr Weg von deinem. Dann schlüpft sie durch die Hecke, hinter der das Hochhaus aufragt. Früher, als du dich, zögerlich zwar, ein wenig ängstlich (doch wer hat keine Angst?), vom Bann deiner neuen Freundin gefangen nehmen lässt, ist es für dich ein hohes Haus, ein Turm, ein Aussichtsposten, der dir Ausblick auf die Felder und den aufgehenden Mond gewährt, und du bist ein wenig neidisch, dass ein Mädchen hier oben wohnen darf und du nicht. Später lehrt man dich, dass ein Hochhaus ein Haus ist, in dem die Leute wohnen, die eben nicht in Häusern mit Garagen und einem Garten wohnen.

»Kopf hoch!« ruft sie dir zu.

Du kannst sie überhaupt nicht mehr sehen. Ja, antwortest du und winkst der Hecke zu. Deine Brust wird dir eng.

Die Zeitung habe ich schon lange abbestellt. Nicht, dass ich etwas gegen Papier habe. Ich finde das E-Paper einfach praktischer. Das Wort Heimat sticht dort heraus, es vibriert unter der Glasoberfläche. Manchmal sehne ich mich doch nach der alten Zeitung zurück. Dann komme ich mir vor wie einer, der aus der Vergangenheit geflohen ist und hier Zuflucht sucht. Die rothaarige Kollegin hat mich gefunden. Sie sagt, sie vertraut mir. Wie kann sie das meinen? Doch ihre Meinung schmeichelt mir. Und Schmeichelei ist eine Gabe, die einer, der geflohen ist, nicht erwartet. Unsere Fahrt wird uns übers Land führen. Ich werde neben ihr sitzen und nicht wissen, was ich sagen soll. Vielleicht kommt es auch anders an diesem Tag, und die Lust wird mir die Kehle zuschnüren, und wir können sowieso an nichts denken, und dann wird es egal sein, wenn wir schweigen. Ich schalte mein Tablet aus. Ich kippe den Kaffee herunter. Und einen Moment lang bastele ich mir die Ausflucht, dass ich bloß Angst vor der Landfahrt habe, weil ich auf Landfahrten gern selbst das Steuer in der Hand habe. Ich stelle das Geschirr in die Spüle und muss daran denken, wie es wäre, meine Kollegin in den Arm zu nehmen. Ich schließe sie so fest in meine Arme, dass mein Körper ihren Geruch annimmt und ich sie auch später noch riechen könnte, wenn sie schon wieder rechts hinten an ihrem Arbeitsplatz sitzt. Dabei weiß ich überhaupt nicht, wie die Kollegin riecht, jedenfalls rieche ich sie irgendwie in meinen Gedanken und stelle fest, dass meine Freunde niemals über den Geruch der Frauen sprechen. Sie sprechen allenfalls über den Geruch von Muschis. Stellen Vergleiche an und ziehen Gesichter und lachen. Ich lächele.

Ich lächele nicht, als ich die Wohnungstür verschließe, im stählernen Aufzug in die Tiefgarage hinabsinke und dort unten meinen zu schweren Wagen erblicke. Die Straßenbahn kommt ja für mich nicht in Frage. Das ist mir selber peinlich. Noch viel peinlicher ist, ich fahre das Nachfolgemodell jenes Fabrikats, das damals in der Einfahrt unseres Hauses mit qualmendem Auspuff auf mich wartet. Wie der Vater, so der Sohn. Jetzt wird es dir klar. Der Verkäufer im Autohaus bietet dir Kaffee an und Gebäck und gute Argumente, die du sowieso schon von der Website fast auswendig kennst. Doch es kann sowieso kein anderes Auto sein. Du hältst die Farbe für einen Kompromiss, weil sie in der Tabelle die billigste ist. Doch dein Vater hat sich schon vor Jahrzehnten für Schwarz entschieden, und so ist es eben Schwarz. Augen auf beim Autokauf. Das liest du irgendwo auf einer Website, auf der du dich umschaust, als du noch glaubst, es kommt doch ein Gebrauchter in Frage.

Eine schwarze Limousine steht mit laufendem Motor in der Einfahrt deines Elternhauses. Die Abgaswolke ist so dicht, dass du dich noch schnell darin verstecken könntest. Du wunderst dich, weshalb der Motor eines führerlosen Wagens läuft. Dir fällt jetzt auf, auch der Eisenzaun ist schwarz gestrichen und das schwere Tor. Du wunderst dich über die offene Kofferraumklappe, und auch die Fahrertür steht offen. Dann steht der Vater plötzlich in Hut und Mantel vor dir. Er hat die Arzttasche dabei.

»Steig in den Wagen«, heißt es.

Sofort. Und nichts könnte ungewöhnlicher sein. Wenn er die Arzttasche mitnimmt, dann fährt er allein. Das gilt bis heute. Bis jetzt.

»Wir müssen zu einer Patientin.«

Es ist das Wort wir das zwischen deinen Ohren hin- und herfedert, so dass du das Fahrtziel, eine Frau, ein Mädchen gar, zunächst überhörst. Wir fahren jetzt. Wir werden in der Fahrgastzelle sitzen, auf unbestimmte Zeit. Dort wirst du zuhören. Hinter dem Küchenfenster schnärbelt die Stimme der Mutter. Dein Vater geht zurück, um mit ihr zu verhandeln. Er spricht ein Machtwort.

»Nun ist er endlich da! Er kommt mit mir! Da haben wir Zeit, um die Dinge zu klären. Von Mann zu Mann.«

Du kannst von hier aus nicht verstehen, was die Mutter antwortet. Dann beobachtest du, dass der Vater noch in Hausschuhen ist. Er ist ein seltsamer Mann. Zwei Seelen bewohnen seinen Körper. Eine davon ist vergesslich. Sie setzt sich in den Wagen und startet schon den Motor und dann fällt ihr auf, dass sie die Arzttasche vergessen hat, und sie geht wieder rein und wieder raus, und dann stehst du da und machst sie auf die Hausschuhe an den Füßen aufmerksam. Das versteht sie. Na sowas, antwortet der Vater.

»Dann nimm mir die Tasche ab und stell sie in den Kofferraum. Setz dich in den Wagen. Du darfst vorn sitzen.«

So ist das. Diesmal hättest du lieber hinten Platz genommen. Vorn ist eigentlich nicht der Platz für Kinder. Der Jens Reuter sitzt bei dem Unfall ebenfalls auf dem Beifahrersitz. Allerdings muss man abwägen, hinten auf der Rückbank gibt es keine Gurte. Und schließlich hat Jens überlebt. Der Gurt hat gehalten. Trotzdem verliert Jens ein Auge, und sein Gesicht sieht niemandem mehr ähnlich, nicht einmal sich selbst. Er geht sogar auf eine andere Schule. Die Arzttasche ist so schwer, dass du Schwung holen musst, um sie in den Kofferraum zu hieven. Du stellst deinen Schulranzen daneben, und neben Vaters Tasche sieht er kindisch aus. Manchmal, wenn Vaters Freunde dich erblicken, dann sagen sie, du siehst aus wie er. Damit weißt du nichts anzufangen. Du verstehst diese Ähnlichkeit nicht. Dein Vater ist ein Arzt, der in einem weiten Mantel und mit einem breitkrempigen Hut zu seinen Patienten in fremde Häuser fährt. Du denkst nicht darüber nach, Arzt zu werden. Du denkst daran, dass der Vater vom Jens nicht angeschnallt war.

Die Schranke in der Tiefgarage gibt die Ausfahrt frei und ich wundere mich plötzlich über die Warnmeldungen auf den Armaturen und über das akustische Signal. Ich habe nicht nur vergessen, mich anzuschnallen, auch die Fahrertür ist nicht richtig zu. Die Kollegin geht mir nicht aus dem Kopf. Ich stoppe kurz auf dem Gehsteig hinter der Ausfahrt, um die Tür richtig zu schließen und ziehe an dem Gurt, schon beschweren sich die Passanten. Fahr deine Protzkarre vom Gehweg. Frechheit. Der Schweiß sticht mir in den Poren, ich gebe Gas und stoße fast mit einem Mofa zusammen. Hey Arschloch, pass doch auf. Dann bin ich Teil des Stadtverkehrs. Tempomat an. Radio an. Dieser Trump poltert gegen Frauen und der Kommentator sagt voraus, dass so einer das Rennen nicht macht. Ich schaffe es nicht, mir die Kollegin nackt vorzustellen. Ich muss immerzu an ihr Lächeln denken. Ausgerechnet das Lächeln. Und es gefällt mir auch noch. Aber sie will ja gar nichts von mir. Ich bin nur ihre Eintrittskarte. Was kann ich dann dort wollen? Soll ich ihr etwa zusehen? Und wie werde ich sie danach ansehen, wenn sie da hinten sitzt, rechts in ihrer Ecke? Ich fahre gern Auto. Ich fahre wirklich gern. Es ist wie im Film. Eine schier endlose Kamerafahrt zwischen den Fassaden. Aufgeräumte Fassaden, schmutzige Fassaden, eingerüstete Fassaden, das Alte und das Junge, sie verschmelzen zu einer Stadt. Ich kullere durch die Kreisel, ich gleite entlang der Parks, ich fliege übers Wasser und rolle an Geschäften vorbei, dann rase ich über die Stadtautobahn und flutsche in eine neue Welt, ein Viertel mit Cafés und Radfahrern lässt mich durch, hier wartet ein Parkplatz auf dem Firmengelände. Das ist mein Parkplatz. Natürlich weiß die Kollegin, welchen Wagen ich fahre. Es scheint ihr nichts auszumachen. Aus irgendeinem Grund finde ich es jetzt auch unpassend, mit meinem Auto dorthin zu fahren. Soll sie fahren. Ich kann sie mir einfach nicht nackt vorstellen. Sie trägt immer so Pullis und Blusen und Kleider und so.

Vor dem Eingang steht schon das erste Rauchergrüppchen. Sind die früh, oder bin ich spät dran? Ich stelle mich zu ihnen auf einen Plausch und lobe die Grafiker für ihren tollen Einsatz am Wochenende.

»Was würdest du tun, wenn du eine Straftat beobachtest?« drängt sich einer der Texter nach vorn zu mir. »Ich glaube, wir sollten mit der direkten Anrede arbeiten.«

So erklärt er die mir gegenüber unangemessene Ansprache als Teil seines Entwurfs für die Kampagne. Alle finden es gut.

Du findest es gut.

»Nur, erkennt man eine Straftat auch immer sofort?«, sticht die kleine, gewitzte Grafikerin dazwischen, die immer Selbstgedrehte raucht.

Du weißt, dass sie den Nagel auf den Kopf trifft. Das muss viel direkter, beschwerst du dich jetzt. Was tust du, wenn du eine Straftat siehst. Und noch direkter. Du weißt jetzt auch nicht, wie. Aber das geht schon. Strengen wir uns alle nochmal ein bisschen an. Direkter.

Was tust du, wenn du als Kind eine Straftat siehst? Was tust du, wenn du Teil einer Straftat bist? Das sage ich natürlich nicht. Ich bin nur froh, dass die rothaarige Kollegin jetzt nicht unter den Rauchern ist. Was die Anderen über mich denken, darf mir egal sein. Ohnehin denken sie über mich, ich würde denken, sie wären mir egal. Dann ist es eben egal. Nur dieser Gedanke macht mich plötzlich eifersüchtig, dass ich die rothaarige Kollegin mit den anderen Kollegen teilen muss, wenigstens für den Geschäftsalltag.

 

Sondra im Empfang ist eine Naschkatze. Dass sie nicht dick ist, ist mindestens ebenso verwunderlich wie ihre weißen Zähne. Sie hat immer Gummibären oder Bonbons neben ihrem Telefon, und manchmal, wenn wir Kunden erwarten, dann stellt sie so einen Teller mit Süßigkeiten hin, und wenn die Kunden im Empfang warten, bedienen sie sich und gucken Sondra, gesprochen wie Sandra, nur mit scharfem S, auf den Arsch. Sondra könnte auch anders heißen, mit weichem S oder total anders, aber sie heißt für uns alle. Ah, ein scharfes S, ich verstehe, genauso wie, aber eben anders. Ein klein wenig anders. Darf ich mir noch ein Bonbon nehmen, im Flieger gab‘s kein Essen ... Klar. Greifen Sie zu.

Ich denke immer, ich habe auf dieser Etage eigentlich nichts zu suchen, noch nichts zu suchen. Das soll sich bald ändern, denn das hier ist die Führungsetage mit den Konferenzräumen. Sondra winkt mich durch zum Chef, ich werde erwartet. Als ich die Tür öffne, sitzt der Chef schon da mit seiner Chefin, und beide blicken mich erwartungsfroh an. Ihn muss man sich vorstellen wie eine Billardkugel mit zwei Augen, seine Glatze glänzt wie ein Motorradhelm. Sie ist eine Barbiepuppe auf Speed. Sie hat so einen Sitzball, weil es gesünder ist. Den rollt sie den ganzen Tag vor sich her, wenn sie das Zimmer wechselt, oder sie blockiert damit den Aufzug, wenn sie runter kommt, aufs Sklavendeck, um sich dort irgendwelche Arbeitsergebnisse vor dem Bildschirm präsentieren zu lassen. Nun hüpft sie lächelnd auf ihrem Ball, während der Chef mich zum laufenden Projekt befragt. Auch ich begegne ihnen beiden mit einem Lächeln. Alles gut, referiere ich. Der Projektleiter bei der Polizei ist hochzufrieden. Der Präsident des Bundeskriminalamtes höchstselbst will sich demnächst einen Überblick von unserer Arbeit verschaffen. Chef macht ein beeindrucktes Gesicht. Chefin sagt etwas Anerkennendes und hüpft auf ihrem Ball. Ich lächele. Drei Türen weiter wird bald ein Büro frei, scherzt der Chef. Richte dich mal da unten nicht zu bequem ein. Vielleicht scherzt er auch nicht. Ich hoffe es natürlich. Warum auch immer, ich verstehe es selbst nicht, auf einmal bin ich schweißgebadet. Chef wird plötzlich ernst. Da ist noch was Anderes, sagt er. Chefin hört auf zu hüpfen. Plötzlich siehst du die Personalakte auf seinem Schreibtisch. Es ist die Akte deiner Kollegin. Ihr Bild steckt obenauf. Chef deutet mit dem Zeigefinger darauf.

»Kannst du mal ein Auge auf sie haben? Sie sitzt bei dir unten.«

»Ich weiß. Rechts hinten«, rutscht es dir heraus. »Was ist mit ihr?«

»Nichts. Ich würde sie gern deinem Projekt zuteilen. Guck mal, ob sie was kann. Und gib mir dann Bescheid.«

»Hat sie darum gebeten?«

»Nein. Ich bitte dich darum.«

Und dann rückt er raus mit der Sprache. Ihr Vater ist im Vorstand von Sowieso. Sie hat ihm von uns erzählt und vielleicht wird ein Auftrag draus. Deshalb geht‘s für sie die kreative Leiter rauf, aber erstmal gucken, ob sie was kann. Chef versteht natürlich, dass du schon viel um die Ohren hast. Dass du eine Anfängerin in deinem Team eigentlich nicht gebrauchen kannst.

Nein, nein, sagst du, schon okay, kein Problem. Völlig okay.

Ja, gern, meinst du damit. Dieses Wochenende steht bevor. Landfahrt.

»Kann ich eins von deinen Bonbons haben?«, fragst du Sondra, bevor du zum Aufzug gehst. Klar, warum nicht gleich drei, und die goldenen Dinger knistern in deiner Hand. Sie funkeln wie Tieraugen im Licht der Autoscheinwerfer. Du nimmst nicht den Aufzug, sondern rettest dich ins kühle Treppenhaus, ganz nach oben, und du setzt dich auf die oberste Stufe und siehst auf die goldpapiereingewickelten Bonbons. Stanniol kann hypnotisieren.

 

Die Tüte mit den Bonbons liegt immer im Handschuhfach. Es ist diese Sorte, die im Mund nach einer Weile weich wird. Dann kann man sie kauen und bis dahin wirst du sie erwartungsvoll lutschen. Doch dich erwartet Anderes. Süßes hast du nicht verdient. Man wird dich befragen, warum du so spät kommst. Du wirst erklären, dass du nachsitzen musstest. Du wirst befragt werden, warum du nachsitzen musstest und schlimmer noch, ob Claudia auch dabei war. Die Wahrheit, also die wirkliche Wahrheit, wird nicht interessieren. Nur du weißt, was Claudia heute in der Schule für dich gemacht hat. Das hat noch nie ein Mensch für irgendjemanden gemacht. Du wunderst dich, wie eine Maschine es schafft, jeden einzelnen Bonbon so in Goldpapier einzuwickeln, dass es liebevoll aussieht, du hast keine Ahnung, und im Supermarkt liegen bestimmt hundert Tüten in einem Karton. Du willst kein Arzt werden, denkst du. Die Fernsehwerbung gefällt dir, in der eine große Kuh stolz auf einer Alpenwiese steht und ein großer Holzlöffel in der Schokolade rührt. Du hast diesen Bonbon nicht verdient. Du öffnest also das Handschuhfach und nimmst dir trotzdem einen und lässt ihn schnell im Mund verschwinden, so wie du auch das Goldpapier in der Hosentasche verschwinden lässt. Schon wieder hast du den Vater nicht kommen sehen. Plötzlich steht er in der offenen Fahrertür, wirft den Hut auf den Rücksitz und steigt ein. Seine glänzenden Schuhe bemerkst du. Sie sehen feierlich aus. Eigentlich zieht er für Hausbesuche die normalen Schuhe an.

»Wir fahren zu einem Patienten. Du kannst mitkommen.«

Wenn du als Erwachsener Werbung machen würdest, fürs Fernsehen, dann würde man Frauen sehen, die liebevoll die Bonbons in Goldpapier einwickeln. Schon kommt dir dein eigener Gedanke merkwürdig vor. Auch der Mann, der tatsächlich in der Fernsehwerbung die Schokolade rührt, kommt dir jetzt merkwürdig vor.

Der Vater will den Motor starten, der aber bereits läuft, und so dreht er am Zündschlüssel und schaltet den Motor aus. In die plötzliche Stille hinein verflucht der Vater den Tag und startet den Motor erneut. Der anspringende Motor knurrt wie ein erwachender Hund. Ein großer Hund, der sonst heimlich unter der Motorhaube schläft. Aus dem runden Lüftungsgitter bei der Tür strömt wieder Luft und das könnte ebenso der Atem dieses Hundes sein. Doch die Luft ist zu kalt für den Schlund eines großen Tieres. Dennoch schließt du die Lüftungsdüse. Du weißt, es gibt hier im Auto keine Hunde. Auch vorne nicht. Dort läuft ein kräftiger und präziser deutscher Motor.

»Wie ich dich kenne, hast du dich bereits im Handschuhfach bedient«, murrt der Vater. »Gib mir auch einen.«

Man hat dich ertappt, und du gehorchst. Du befindest dich nun hier in diesem Raum. Wer weiß schon, wie lange das dauern wird. Der Bonbon ist süß und klebrig, aber immer noch zu hart zum Kauen. Eigentlich hast du nichts zu befürchten. Er muss sich auf die Fahrbahn konzentrieren und eine Standpauke wird überwiegend die Windschutzscheibe treffen. Später muss er sich auf diesen Patienten konzentrieren und vielleicht wird es ein schwerer Fall. Dann ist er ohnehin mit den Gedanken ganz woanders. Da ist diese vergessliche Seele in ihm, die ihn auch ganz untauglich macht für die Werbung. Warum gibt es eigentlich keine Werbung für Ärzte? Jedenfalls würde dein Vater sowieso nicht dafür taugen. Wie er im Eilschritt geht, mit offenem Mantel, und der Mantel bauscht sich dann so auf - das schon. Auch der Hut passt gut dazu. Der Arzt in Aktion. Wenn er dein Vater ist, dann setzt er seine Unterschrift mit so großer Sorgfalt unter deine Fünf, dass es schön aussieht. Wie gezeichnet. Wie ein Stempel. Obwohl das natürlich nicht in einen Werbefilm gehört.

»Bist du angeschnallt?«, ermahnt er dich. »Du weißt ja. Der kleine Reuter.«

So macht er das. Er lässt dich einen Bonbon essen, den du nicht verdient hast. Und schon vorher weiß er, du denkst, du würdest es heimlich tun. Du versuchst, dich zu konzentrieren. Dich besser in deinen Gedanken zu verstecken. Du achtest jetzt auf die Fahrgeräusche. Auf das Ticken des Blinkers. Du fragst dich, ob man die einzelnen Bewegungen der Kolben im Motor hören kann, aber die bewegen sich wohl zu schnell. Ja, du bist angeschnallt. Das bestätigst du ihm. Die Straßenlaternen werden eingeschaltet. Die ganze Reihe entlang der Straße. Als du noch klein warst, hast du einmal auf genau diesen Moment gewartet, wenn die Laternen angehen. Du warst viel zu früh draußen, es war noch hell. Und als es dann soweit war, hast du nicht aufgepasst. Weil ein blinkender Flieger fast mit der Mondsichel zusammengestoßen wäre, und plötzlich störte dich das Laternenlicht. Auf der Straße ist niemand zu sehen. Sie ist menschenleer. Es ist wie an einem Sonntag. Der Himmel ist grau und der Asphalt bewegt sich unter dem rollenden Auto hinweg. Der Lichtschein der Straßenlaternen streicht durch das Seitenfenster über deine Beine. Der Blinker tickt wieder und jetzt geht die Fahrt in Richtung stadtauswärts. Es ist also kein Patient aus der Stadt. Wohin die Fahrt dich führen wird, willst du wissen. Du vereinfachst diese Frage, bevor du sie stellst, denn du willst von dir ablenken. Wohin fahren wir. Etwas in dieser Art sagst du.

»Wir fahren zur Familie Mischer.«

Und den Namen kennst du. Er versetzt dir sogar einen Schreck. Man hat dir erklärt, dass diese Leute verpönt sind. Die Polizei musste die Kinder abholen, damit sie zur Schule kommen. Das muss man sich mal vorstellen. Man spricht darüber. Und trotzdem stand einer von ihnen, es war der stoppelgesichtige Sohn, der mit deinem großen Bruder früher in dieselbe Klasse ging, er stand plötzlich zuhause vor eurer Haustür, mit einem Umschlag in der Hand. Sag deinem Vater Danke von mir. Mehr hat er nicht gesagt. Dir den Umschlag überreicht und das war‘s schon. Natürlich hast du nicht hineingesehen in den Umschlag. Er war zugeklebt und so etwas macht man nicht. Du wirst erst viele Jahre später begreifen, wofür dieses Bestechungsgeld durch deine Hände ging.

»Wer von ihnen ist denn krank?«

»Mischers Tochter. Frau Mischer hat mir am Telefon erzählt, die Kleine wird nicht richtig wach.«

»Wie meint die das?«