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Wo gehöre ich hin? Die bewegende Lebensreise von Jeanne Baileys. Hast du dich jemals gefragt, wo du wirklich hingehörst? Mit unverwechselbarem jüdischem Humor erzählt sie von einem Leben voller Aufbrüche und Abschiede, geprägt von Migration, Liebe, Verrat und Verlust. Gefangen in den Geheimnissen und Konflikten ihrer Familie, verließ sie mit 17 Jahren ihr Zuhause und stellte sich den Herausforderungen eines Lebens inmitten unterschiedlicher Kulturen. Von Usbekistan über Wien und Tel Aviv bis nach Amerika – Jeanne Baileys Geschichte ist ein Zeugnis von Resilienz, Hoffnung und der Suche nach Identität. Eine inspirierende, mitreißende Erzählung über Selbstfindung, jüdische Geschichte und den Mut einen eigenen Weg zu gehen.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Woher kommst du
Memoiren einer jüdischen Wienerin,
die schnelle Autos mehr liebt als Sachertorte
Jeanne Baileys
Copyright © 2025 Jeanne Baileys.
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung in irgendeiner Form verwendet, veröffentlicht oder reproduziert werden.
Coverdesign: Lidia Matijevic
Impressum:
Jeanne Bailey
Für meine geliebten Eltern, die ihr Bestes gegeben haben – hätten sie es besser gemacht, wäre ich „ganz normal“ und hätte dieses Buch nicht geschrieben.
Für meine kleine Schwester – in ewiger Liebe.
Für meine Kinder, mein Lebenselixier und ganzer Stolz – auch ich habe mein Bestes gegeben (sagt das eurem Therapeuten!).
Für meinen Schatz, der nur „Seelenfrieden und Ruhe“ wollte – und mich bekam.
Für meine treuen Freunde – danke für eure Liebe und endlose Unterstützung, lacht weiterhin über meine Witze!
Zu guter Letzt – in Selbstliebe für mich selbst.
Eure Jeanne (ohne Schwert und Rüstung)
Wenn man mich fragt „Woher kommst du?“, wäre meine Antwort: „Hast du zwei bis drei Stunden Zeit?“
In diesem Buch möchte ich über mein Leben erzählen – mein Leben als moderne säkulare Jüdin, die in verschiedenen Ländern und Kulturen aufgewachsen ist, in der dritten Generation nach dem Holocaust. Über die Entwurzelung durch die vielen Aus- und Einwanderungen, über das Gefühl ständig auf der Durchreise zu sein und die Sehnsucht endlich anzukommen.
Ich möchte die Abenteuer, Erfolge und Niederlagen meines turbulenten Lebens mit euch teilen und ebenso die verstrickte Familiendynamik, deren Geheimnisse mich prägten.
Die einzigartigen Schicksale meiner Familienmitglieder, die nicht mehr am Leben sind, verdienen ebenfalls erzählt zu werden, denn jedes ist eine Geschichte für sich.
Eine starke Frau entwickelt sich aufgrund der Stürme, die sie überstanden hat, weil ihr das Leben keine andere Wahl ließ.
- Unbekannt -
TEIL 1
Man muss wissen, woher man kommt,
wenn man wissen will, wer man ist.
Wir sind nicht nur wir selber.
Wir sind auch unsere Herkunft.
In unsere Gegenwart sind die Wünsche,
die Lebensbilder, die Lebenserwartungen
der Menschen eingegangen,
die vor uns gelebt haben.
Sie aufzuspüren heißt, sich selber kennenlernen.
- Fulbert Steffensky (1933) -
Mein Traum als Mädchen war es, einen Vater zu haben, der – wenn er schon kein König ist – zumindest ein Held sein sollte. Diesen Wunsch hatte ich nicht zuletzt dank meiner Großeltern, die mich zumindest bis zu meinem vierten Lebensjahr überzeugten, etwas ganz Besonderes zu sein. Mindestens eine Prinzessin, so dachte ich.
Tatsächlich stellte sich heraus, dass mein Vater zwar kein König war – aber allemal ein Held!
Im Idealfall hätte ich natürlich nicht erst im Alter von 40 Jahren von meines Vaters Heldentaten erfahren. Noch idealer wäre es gewesen, wenn diese Offenbarung nicht in der psychiatrischen Klinik stattgefunden hätte, in die er nach einem akuten psychotischen Anfall eingeliefert worden war. Details erfuhr ich erst nach seiner Entlassung, als er mir unter dem Einfluss starker Beruhigungsmittel zwei seiner Geheimnisse anvertraute, die mein Leben für immer verändern sollten.
Das erste Geheimnis betraf seine Militäreinsätze in einer israelischen Spezialeinheit. Das zweite, für mich verheerendere Geheimnis konnte ich bis zum heutigen Tag nicht komplett lüften.
***
Als ich noch ein Kind war und wir in Israel lebten, klingelte manchmal das Telefon. Papa ging ran, sprach kaum zwei Worte und legte auf. Dann ging er ins Schlafzimmer, holte eine kleine Tasche von ganz oben aus dem Schrank und machte sich fertig, gab meiner Schwester Julie und mir einen Kuss auf die Stirn und verschwand für ein paar Wochen. Wenn er dann zurückkam, begrüßte er uns nur flüchtig und auch mit Mama sprach er kaum. Er verschwand sofort im Schlafzimmer und schlief oft mehrere Tage durch. Mama sorgte dafür, dass wir ganz leise spielten, damit wir ihn nicht aufweckten. Ich weiß noch, dass ich oft meinen Ball holte und stundenlang vor dem Schlafzimmer saß, die geschlossene Tür anstarrte und auf ihn wartete. Daran kann ich mich genau erinnern – doch wir waren zu jung, um es wirklich zu verstehen. Wir wussten nur, dass Papa vom Krieg kam, wie so viele andere Väter in Israel auch.
Er hatte damals zu einer kleinen Spezialeinheit gehört, die Terroristen aufspürte und eliminierte. Diese zwölfköpfige Truppe bestand zum Großteil aus Immigranten aus der Sowjetunion und ein paar dunkelhäutigen Israelis, die fließend Arabisch sprachen. In Zivil und als Araber getarnt wurden sie mitten ins Feindgebiet gebracht. Wenn sie einen der gesuchten Terroristen aufspürten, wurde der Rest der Truppe dazugeholt.
In seiner Spezialeinheit trug er den Codenamen „Panther“. Auf seinem linken Oberschenkel hatte er das gefährliche schwarze Raubtier sogar als Tattoo verewigt, in lauernder Pose und bereit zur Attacke. Doch was dieses Bild bedeutete, das ich als Kind so oft spielerisch mit dem Zeigefinger auf seiner Haut nachgezeichnet hatte, konnte ich natürlich nicht ahnen.
Mein Papa – der „Panther“ – war besonders gut im Klettern. Er musste schnell, leise und furchtlos als Erster in das Haus der Terroristen eindringen und seiner Truppe von innen die Tür oder ein Fenster öffnen. In seinen Erzählungen betonte er immer wieder stolz, dass sie sauber gearbeitet hätten. Was er damit meinte, war, dass sie kein blutiges Schlachtfeld hinterlassen wollten und deshalb ihre Zielpersonen möglichst ohne Waffen, nur mit den Händen eliminierten.
Voller Verachtung erzählte er, dass sich die Terroristen feige hinter Zivilisten versteckten und daher immer Frauen und Kinder mit im Haus waren. Seine Gruppe dagegen habe diese Einsätze stets ehrenhaft durchgeführt und Unbeteiligten nie auch nur ein Haar gekrümmt – schon gar nicht Frauen und Kindern, die Soldaten hatten schließlich selbst Familien. Sie gingen nachts rein und beseitigten die Zielperson(en) im Schlaf, ohne die anderen im Haus aufzuwecken. Dann schlichen sie sich ebenso leise wieder fort und es gab einen oder mehrere Terroristen weniger auf der Welt: Mission erfüllt!
Es waren Geschichten wie aus einem Hollywoodfilm, denen ich fassungslos und voller Spannung lauschte und mit jedem Wort mitfieberte, obwohl ich vorerst unfähig war, das alles zu verarbeiten. Ich verstand, dass mein Vater mit seinen Händen getötet hatte, doch es waren ja Terroristen gewesen und somit war es für mich in Ordnung. Sie waren Terroristen – Märtyrer, weil sie zu den 72 Jungfrauen im Himmel wollten, also hatte mein Vater sie schneller dorthin befördert, und ich war unsagbar stolz auf ihn.
Das ist leider bis heute unsere traurige Realität in Israel. Ein winziges Land, das den Juden gegeben wurde und das wir seither in immer neuen Kämpfen verteidigen müssen, um dort leben zu können. Deshalb sind Soldaten bei uns so hoch angesehen und der Stolz der Nation: Ohne sie gäbe es kein Israel und ohne Israel gäbe es kein Heimatland für die Juden. Doch der Preis ist schon verdammt hoch für alle Beteiligten!
***
Als Papa in die Psychiatrie kam, lebte er schon mehrere Jahre in Kalifornien. Meine Eltern hatten nach 25 Jahren Ehe schließlich das Handtuch geworfen. Mein Vater hatte sich nach der Scheidung großzügig gezeigt und meiner Mama sein gesamtes Vermögen, nämlich einen unbezahlten Kredit, hinterlassen. Er selbst war, vollkommen mittellos und nur mit einem kleinen Koffer ausgestattet, als „Scheidungsopfer“ zu seiner Mutter nach Kalifornien gezogen.
Dort in Amerika habe ich Papa und meine Oma Rosa dann jedes Jahr besucht. Das waren tolle Zeiten, eigentlich unsere besten, an die ich mich voller Liebe erinnere. Wir kamen erstaunlich gut miteinander aus und in diesen paar Wochen Urlaub unternahm er mehr mit mir als in all den Jahren davor. Er war immer sehr großzügig, wenn er mal Geld hatte. Wir reisten herum, spielten Squash und Tischtennis, durchstöberten Galerien und Vintage-Läden, aßen in guten Restaurants und machten Probefahrten mit schnellen Autos, die wir uns nie hätten leisten können. Aber träumen darf man, sagte Papa.
In dieser Zeit waren wir beste Freunde. Wahrscheinlich war es ein Überspielen der verletzten Gefühle, ein aktives Ablenken von unserer komplexen Vater-Tochter-Beziehung. Eine unsichtbare Mauer trennte Gegenwart und Vergangenheit, und aus Angst unsere gute Beziehung aufs Spiel zu setzen, wagte ich es nicht, die Dinge anzusprechen, die mir seinetwegen widerfahren waren. Ich kehrte sie lieber unter den Teppich – eine altbewährte Methode, die in vielen Familien üblich ist. Den Kopf einfach in den Sand zu stecken, bis eines Tages ein Wüstensturm heranbraust, und alles auf den Kopf stellt.
Die ersten, die 2008 bemerkten, dass Papa immer aggressiver wurde, waren seine drei Brüder, die ebenfalls in Kalifornien lebten. Sein sonst so liebevoller und sehr geduldiger Umgang mit seiner Mutter, meiner Oma Rosa, hatte sich drastisch verändert – er schrie sie an und tobte wie ein Tyrann. Er war auch immer für seinen einzigartigen Humor bekannt gewesen, doch nun führte er Selbstgespräche und reagierte selbst bei Kleinigkeiten mit unvorstellbaren Wutausbrüchen. Vom alten weisen Papa Schlumpf wurde er zum Gargamel.
Schließlich hatte Oma Rosa so viel Angst vor ihm, dass sie ihre Tochter Riva, die Zwillingsschwester meines Vaters, anrief und bat, aus Wien nach Amerika zu kommen. Riva erklärte sich einverstanden und wenige Tage nach ihrer Ankunft rief sie dann mich an.
„Du, Jeanne, etwas stimmt mit deinem Papa nicht. Er ist so aggressiv, schimpft und flucht. Er hat mich am Flughafen über eine Stunde warten lassen. Als er dann endlich in die Empfangshalle kam, hat er mich vor allen Leuten angeschrien und eine Szene gemacht. Nu, sag du mir, was soll das?“
Das war Rivas typischer Satz, den sie immer sagte, wenn sie sich über etwas aufregte, und so musste ich unwillkürlich schmunzeln. Sie war offensichtlich bestürzt und ihre sonst so fröhliche Stimme klang besorgt, sogar verängstigt. Doch noch verstand ich den Ernst der Lage nicht.
„Er ist wie ausgewechselt und redet wirres Zeug. So kenne ich ihn gar nicht.“ Ihre Stimme wurde mit jedem Wort leiser und trauriger.
Ich versuchte mir ein Bild zu machen, doch ich konnte es mir kaum vorstellen. Aggressiv? Nein, das war mein Papa nicht. Wenn ihn jemand blöd anmachte, versuchte er immer die Situation zu beruhigen, und selbst im Streit hob er niemals die Stimme. Wenn sein Gegenüber nicht zu beruhigen war oder gar zu einem Schlag ausholte, dann kam Papa ihm blitzschnell zuvor und schlug ihn zu Boden. Es ging immer alles sehr schnell, er konnte sich halt gut wehren – war ja schließlich in seiner Jugend Boxer und im Krieg Soldat gewesen, dachte ich. Doch aggressiv hatte ich ihn nie erlebt.
Als ich im Sommer bei ihm gewesen war, wenige Monate vor dem Gespräch mit Riva, war mir nichts Ungewöhnliches an seinem Verhalten aufgefallen. Er war exzentrisch, aber nicht „verrückter“ als er schon immer gewesen war.
Ich musste selbst mit ihm sprechen. Er würde mir sicher sagen, was los war – schließlich waren wir in den letzten Jahren ja so gute Freunde gewesen. Also rief ich ihn am nächsten Tag an, um herauszufinden, was da am Flughafen vorgefallen war. Ich wusste, dass er nach wie vor Joints rauchte, doch das stimmte ihn eigentlich immer lustig und eher lethargisch. Was hatte ihn so verändert?
„Hallo Papa, wie geht’s?“ Ich versuchte, ganz normal zu klingen, und wollte ihn nicht merken lassen, dass Riva ihn verpetzt hatte.
„Wie soll es mir gehen, wenn ich nur Spione und Feinde um mich habe?“ Er flüsterte, als wollte er vermeiden, dass ihn jemand hörte.
„Was meinst du, Papa?“ Ich wollte zuerst sogar lachen, weil ich es für einen Scherz hielt.
„Bist du dumm? Verstehst du nicht? Das kann ich dir am Telefon doch nicht sagen. Sie hören alles mit. Wir müssen uns treffen, im Park, dort in Stanford, du weißt schon wo.“ Er flüsterte immer noch.
Oh Gott, dachte ich nur, was ist mit ihm passiert? Sogar seine Stimme klang fremd.
„Papa, du weißt doch, ich bin in Wien. Ich kann nicht so schnell kommen.“ Ich versuchte es zunächst mit Logik, doch mir war klar, dass ich auf ihn eingehen musste, um ihn nicht zu verärgern. Ich wollte ihn doch besänftigen!
„Hm, naja, selbst schuld, dann wird es zu spät sein.“ Er legte auf, ohne sich zu verabschieden.
Auch das war untypisch für ihn, denn sonst dauerte unsere Verabschiedung oft länger als das Gespräch selbst, weil wir uns dauernd an irgendetwas erinnerten, was wir noch sagen wollten. Ich stand da, mit weit aufgerissenen Augen, und verstand nicht was da gerade geschehen war und was er gemeint hatte, als er sagte, es könne zu spät sein. Diese Worte gingen mir nicht aus dem Kopf.
Was macht man in so einer Situation? Ich telefonierte mit Riva und bat sie, ihn zu einem Arztbesuch zu überreden und es als „Routineuntersuchung“ zu tarnen. Doch das machte die Sache nur noch schlimmer, denn nun wurde er misstrauisch ihr gegenüber. Überfordert und in Sorge um meine verängstigte Oma beschloss Riva schließlich, sich mit ihren Brüdern zu beraten. Allerdings waren die drei schon seit Jahren zerstritten und das machte die Sache nicht einfacher. Währenddessen verschlechterte sich Papas Zustand immer weiter.
Ich rief jeden Tag an, um auf dem Laufenden zu bleiben und Papa ein bisschen Halt zu geben. In meiner Naivität dachte ich, ich könnte ihn irgendwie in die Realität zurückbringen. Vor allem versuchte ich zu verstehen, was ihn in einen solchen Zustand versetzt haben könnte.
An manchen Tagen schien er zu sich zu kommen, doch an anderen konnte er sich nicht mehr erinnern, worüber wir am Vortag gesprochen hatten. An solchen Tagen klang er verängstigt, verwirrt und irgendwie kindlich.
Eines Abends wollte er nicht mit mir sprechen. Riva musste ihn lange überreden, und als er dann endlich ans Telefon kam, hielt er seine Hand über den Hörer und schrie Riva an, sie solle aus dem Zimmer gehen. Erst dann flüsterte er ins Telefon:
„Verstehst du nicht, dass ich keine Zeit habe, mit dir zu quatschen? Ich bin auf Tatzpit.“ Auf Hebräisch bedeutet das, auf seinem Beobachtungsposten zu sein. „Ruf morgen um dieselbe Zeit an und ich werde Bericht erstatten.“ Damit legte er auf.
Diese militärische Fachsprache kannte ich sonst nur aus Filmen. Doch selbst nach diesem Gespräch hoffte ich noch immer, dass er irgendwann ans Telefon kommen und wieder ganz normal mit mir sprechen und mir Witze erzählen würde, wie er es immer getan hatte. Ich hoffte, dass er überhaupt wieder „ganz normal“ werden würde.
Am nächsten Tag rief ich wieder an.
„Na, Papa, wie war dein Tag?“ Wie immer begann ich das Gespräch mit ruhiger freundlicher Stimme, um ihn nicht zu triggern.
„Ich beobachte zwei Frauen“, flüsterte er kaum hörbar.
„Was? Welche zwei Frauen, Papa? Meinst du Riva und Oma?“ Instinktiv spürte ich Gefahr. Mein Herz pochte wie wild, als hätte ich einen halben Marathon hinter mir, doch ich versuchte ruhig zu bleiben.
Er flüsterte weiter: „Sie sehen aus wie Riva und Oma, sind es aber nicht.“
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
„Ha!“, schrie er plötzlich ganz laut und ich erschrak so sehr, dass mir fast der Hörer aus der Hand fiel. „Sie glauben, sie könnten mir was vormachen. Aber ich bin dafür ausgebildet, einen Terroristen auf 100 Meter Entfernung zu riechen.“ Wieder legte er eine kurze Pause ein.
Mir hatte es mittlerweile komplett die Sprache verschlagen.
„Wenn sie schlafen gehen, drehe ich ihnen den Hals um. Sie werden nichts merken.“ Klack!
„Papa! Papa!“, schrie ich ins Telefon, obwohl ich wusste, dass er aufgelegt hatte. Verdammt! Ausgebildet? Terroristen? Wovon redete er da? Was für ein Alptraum!
Ich versuchte gleich zurückzurufen, doch es war besetzt. Ich wählte nochmals – wieder besetzt. Hatte er den Hörer absichtlich danebengelegt? Oh Gott! Wie spät war es überhaupt? Ich sah auf die Uhr, in Amerika war es schon Abend. Meine Gedanken rasten: Hoffentlich gehen sie nicht schlafen, bevor ich jemanden erreiche, der zu ihnen ins Haus fahren kann, um nach dem Rechten zu sehen. Am besten einer der Brüder, der könnte bei ihnen übernachten …
Ich war in Wien, mein Papa war in Amerika mit Oma und Riva allein im Haus, und ich konnte nichts tun. Das war genau das Gefühl, das ich am meisten hasste und fürchtete: Kontrollverlust versetzte mich oft in Panik, und dafür hatte ich jetzt keine Zeit. Was sollte ich tun? In meiner Verzweiflung beschloss ich, Onkel Ed anzurufen. Einerseits wollte ich Papa nicht verraten, anderseits wurde ich die Panik nicht los, dass etwas Schlimmes passieren würde, wenn ich es nicht tat. Ich bat meinen Onkel, den Notruf anzurufen, und sagte nur, dass es Papa schlecht ginge – mehr nicht. Rückblickend bin ich mir sicher, dass dieser Anruf Riva und Oma das Leben gerettet hat.
Obwohl ich Onkel Ed ausdrücklich gebeten hatte, nicht selbst hinzufahren, tat es der alte Sturschädel natürlich trotzdem und nahm als Verstärkung noch Onkel Isaak mit, den ältesten der vier Brüder. Sie schätzen den mentalen Zustand meines Vaters komplett falsch ein und begannen einen Streit mit ihm, der derart eskalierte, dass Papa beide zu Boden schlug.
Noch am selben Abend wurde mein Vater in die Psychiatrie eingewiesen. Dort blieb er ein paar Wochen und wurde mit Lithium und vielen anderen Medikamenten ruhiggestellt.
Ich nahm das erste Ticket, das ich kriegen konnte, und flog zu ihm nach Amerika. Bei meiner Ankunft fand ich Riva und Oma ratlos und verzweifelt, auch Papas drei Brüder schienen besorgt. Mein Vater sei bipolar, so die Diagnose, und leide an einer seit Jahrzehnten unbehandelten posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) infolge des Krieges.
Welcher Krieg? 1973 in Israel? Das war 35 Jahren her! Wie konnte das sein? Wir wussten damals weder, was eine posttraumatische Belastungsstörung eigentlich ist, noch was Papa in diesem Krieg erlebt hatte – er hatte nie etwas erzählt.
Die Psychiaterin zeigte sich selbst erstaunt, dass die PTBS erst so spät getriggert wurde. Sie meinte, sein Cannabis-Konsum hätte das wohl in Schach gehalten, und nun habe er womöglich eine andere Droge genommen, die diese Psychose hervorgebracht hatte. Ob er je wieder gesund werden würde, konnte sie nicht mit Sicherheit sagen. Die Medikamente würde er wahrscheinlich für den Rest seines Lebens einnehmen müssen. Früher oder später komme eben alles hoch, meinte sie, und dass Papa in den nächsten Jahren unbedingt eine Gesprächstherapie machen solle. Was er natürlich nicht tat, denn in unserer Familie stand Psychotherapie auf derselben Stufe wie Voodoo.
Als Papa nach zwei Wochen aus der Psychiatrie entlassen wurde, war er ein armes Häufchen Elend. Der unerbittliche, tapfere, harte Mann, der nie eine Träne vergossen hatte, der „Panther“ seiner Sondereinheit, der nie Angst vor einem Gegner gehabt hatte, lag nun stundenlang im Bett und weinte leise vor sich hin. Er war nicht mehr er selbst. Sein Leiden schmerzte mich ebenso stark, wie meine Hilflosigkeit, ihm tatenlos dabei zusehen zu müssen.
Wie oft hatte ich meinem Papa vorgehalten, was für ein schlechter Vater er war – ohne etwas über die Hintergründe zu wissen. Doch nun hatte ich eine mögliche Erklärung für sein Verhalten. Seine Unfähigkeit, Liebe und Nähe zu zeigen, seine irrationalen Entscheidungen. Nun wusste ich, womit er selbst zu kämpfen hatte – war er deswegen so getrieben? Kiffte er, um damit klarzukommen? Ich war hin- und hergerissen. Wäre er auch so geworden, wenn er kein Soldat dieser Spezialeinheit gewesen wäre? Ich weiß es nicht.
Papas depressive Phase hielt mehrere Monate an. In dieser Zeit verließ er kaum das Haus. Doch dann fasste er einen Entschluss: Obwohl er das Leben in Kalifornien so sehr liebte, würde er Amerika verlassen. Er sagte, er könne dort nicht mehr leben, weil ihn alle für verrückt hielten, und er das Gefühl habe, ständig beobachtet und von seinen Brüdern erdrückt zu werden. So verkaufte er seinen geliebten Oldtimer und kehrte 2010 nach Israel zurück.
Ich war gerade auf dem Weg von der Cafeteria ins Büro, als mein Handy vibrierte. Wäre es nicht stumm geschaltet gewesen, hätte mein „One Night in Bangkok“-Klingelton den müden Mitarbeitern, die vor dem Aufzug standen, vielleicht ein Lächeln ins Gesicht gezaubert – oder sie zumindest aufgeweckt.
Auf meinem iPhone-Bildschirm erschien ein Foto von meiner Schwester Julie und mir. Wir beide lachten strahlend und sahen uns zum Verwechseln ähnlich – fast wie Zwillinge. Naja, bis auf die verdammten 15 Kilo extra, die ich seit ein paar Jahren mit mir herumschleppte.
„Hi, Jul“, sagte ich etwas verwundert. Tagsüber rief sie normalerweise nicht an. Ich erwartete wie gewohnt ein fröhliches „Boker Tov“ (hebräisch: Guten Morgen), doch stattdessen hörte ich nur meinen Namen und eine viel zu lange Pause, die mir sekundenschnell eine Gänsehaut bescherte. Ich blieb wie angewurzelt stehen.
„Jeanne, Papa ist im Krankenhaus“, hörte ich Julie sagen. „Er liegt im Koma. Seine Freundin hat mich angerufen und gesagt, dass er mit dem Rettungswagen abgeholt wurde.“
„Was? Was ist passiert? Papa? Der Alte ist doch fit wie ein Turnschuh!“ Ich war wie vor den Kopf gestoßen.
„Ich weiß es leider nicht genau, ich fahre gleich ins Krankenhaus und rufe dich von dort aus an.“
***
Julie klang hektisch. Sie war immer schon emotional und sehr nah am Wasser gebaut – ganz im Gegensatz zu mir. Ich war immer die Starke, musste Ruhe bewahren und handeln – alles für alle organisieren, koordinieren und selbstverständlich ausführen. So wurde es schon immer von mir erwartet. Julie und Papa waren sich viel näher und hielten engeren Kontakt. Zwei „Partner in Crime“, scherzte ich oft. Klar, sie waren sich in vielerlei Hinsicht sehr ähnlich, besonders in ihrer Hippie-Philosophie. Wie wenig ich von ihrer Lebenseinstellung hielt, machte ich deutlich, wann immer sich Gelegenheit bot, denn häufig fiel mir die „Ehre“ zu, die von ihnen losgetretenen Desaster zu beheben.
Vor zehn Jahren hatte Julie Wien verlassen und war mit ihrer Familie nach Israel zurückgekehrt. Sie lebte im Norden des Landes, und Papa wohnte, seit seiner Rückkehr aus Kalifornien, ganz im Süden, 250 Kilometer von ihr entfernt.
***
Und jetzt lag Papa im Koma. Ich war immer noch sprachlos. So von heute auf morgen? Erzählungen zufolge hatte er schon heimlich als Elfjähriger geraucht. Eine Packung Zigaretten am Tag und nebenbei kiffte er noch. Doch das hatte ihn bislang nicht umgehauen. Was war jetzt passiert? Er war immer so fit gewesen, sportlich und eigentlich in Topform. Seine 73 Jahre sah man ihm nicht an, er konnte locker als 60-Jähriger durchgehen, besonders mit seinem Kleidungsstil, der irgendwo zwischen Cowboy und Crocodile Dundee lag.
Vor ein paar Jahren, da war er schon 70 gewesen, hatte er sich noch mit drei Soldaten angelegt und ihnen die Gewehre abgenommen. Allen dreien, weil sie frech zu ihm gewesen waren! Das war an einer Bushaltestelle in Be’er Scheva, nicht weit von einem großen Militärstützpunkt. Er stand neben einer Gruppe junger Soldaten, die sich über einen anderen von niedrigerem Rang lustig machten. Die drei waren ihm körperlich deutlich überlegen, doch Papa mit seinem übertriebenen Gerechtigkeitssinn konnte das nicht mit ansehen. Oder ihm war einfach nur langweilig und er brauchte etwas Action – wer weiß das schon! Auf jeden Fall eilte er dem „Opfer“ zu Hilfe und ging auf den größten der drei Soldaten zu.
„Maspik! (hebräisch: genug)“, sagte er freundlich und wies darauf hin, dass drei gegen einen nicht ehrenhaft sei.
„Misch dich nicht ein, Kleiner.“ Übermütig, wie junge Männer oft sind, machten sie den Fehler, sich mit meinem Vater anzulegen.
„Kleiner?“, antwortete Papa sarkastisch. „Größe ist zwar wichtig, aber nicht im Kampf, das solltest du wissen, Großer!“ Mit wenigen schnellen, präzisen Handgriffen entwaffnete er binnen fünf Sekunden alle drei.
Als er mir diese Geschichte erzählte, fügte er noch ganz nebenbei hinzu, dass das zwar nicht seine Bestzeit gewesen sei, aber das müsse man wohl dem Alter zuschreiben.
***
Ich wusste, dass Julie eine lange Zugfahrt vor sich hatte und sicherlich erst am späten Nachmittag bei Papa im Krankenhaus sein würde. Sollte ich seine Zwillings-schwester, meine Tante Riva, informieren? Ich entschied mich vorerst dagegen, um sie nicht zu beunruhigen.
Nach Julies Anruf vergingen die Stunden wie in Zeitlupe. Ich versuchte mich abzulenken und stürzte mich in die Arbeit, doch es fiel mir schwer, mich auf die vielen Mails und Übersetzungen zu konzentrieren, die sich wie immer in meinem Posteingang stapelten. Mit Schrecken dachte ich an Papas frühere Psychose zurück – doch seither war er „gesund“ gewesen, zumindest mental.
Die Gedanken kreisten durch meinen Kopf und versetzten mich in einen Schwächezustand, den ich vergeblich abzuschütteln versuchte. Ich war seit jeher ein Profi in Sachen Kopfkino: Komödien, Tragödien bis hin zu Horrorfilmen, das alles schaffte ich binnen zwei, drei Sekunden in allen Farben und Details vor meinen Augen abzuspielen. Erinnerungen aus meiner Kindheit, die ich sorgfältig verdrängt hatte, kamen nun wieder hoch. Dunkle und schmerzhafte Erinnerungen an Streit, beleidigende Worte und laut zuknallende Türen prallten auf helle bunte Szenen – wie mir Papa im Park das Radfahren beigebracht hatte, oder wie er mich auf seinen Schultern getragen und mich zum Lachen gebracht hatte. So ging es mehrere Minuten, bis ich meinen inneren Bühnenvorhang abrupt fallen ließ und dem Drama ein Ende setzte.
Reiß dich zusammen, ermahnte ich mich. Ich versuchte mich zu beruhigen, doch es blieb ein ungutes Gefühl, das sich immer weiter breit machte. Doch was war das genau? Wut? Besorgnis? Reue? Ganz gleich, was es war, nichts davon konnte ich jetzt gebrauchen – weg damit! Außerdem hatte er es ja nicht mal verdient, dass ich mir Sorgen um ihn machte! Ich verschränkte die Arme wie eine trotzige Fünfjährige und versank im Sumpf meiner Gefühle. Ja, ich war meinem Papa immer noch böse, und das seit gut 30 Jahren.
Die Stunden vergingen und ich haderte immer noch damit, ob ich Tante Riva informieren sollte. Wer weiß, in dem Alter … Schließlich konnte ich es nicht mehr für mich behalten. Ich rief sie an und wartete auf ihre fröhliche Stimme – Riva freute sich immer sehr, wenn ich sie anrief, was zugegebenermaßen viel zu selten vorkam. Ich liebte es, ihr Witze zu erzählen. Sie war dabei das genaue Gegenteil ihres Zwillingsbruders: Mein Papa war ein Meister des Sarkasmus und schwarzen Humors. Riva hingegen hatte eine „lange Leitung“ was Witze anging, ich glaube, die längste in der Familie. Doch wenn sie die Pointe endlich verstanden hatte, lachte sie so herzhaft, dass ich mitlachen musste, schon allein deswegen. Doch dieses Mal hatte ich keinen Witz für sie auf Lager. Ich holte tief Luft.
„Riva, Papa ist im Krankenhaus. Julie ist schon auf dem Weg zu ihm.“
Stille. Dann ein Seufzer.
„Scheiße, ich wusste, dass etwas nicht stimmt. Ich habe es gespürt, habe die ganze Nacht nicht geschlafen. Verdammte Scheiße!“
Vielleicht sind Zwillinge wirklich miteinander ver-bunden. Riva hatte immer den Kopf für meinen Vater hingehalten, ihr Leben lang, hatte ihm immer wieder aus der Patsche geholfen. Sie war die Einzige von seinen vier Geschwistern, die noch mit ihm in Kontakt stand – er war eben ihre zweite Hälfte.
„Ich melde mich, sobald ich von Julie höre, okay?“, versprach ich und legte auf.
Mein Handy war auf volle Lautstärke gestellt, aus Angst, den Anruf zu verpassen. Als es endlich klingelte, war es schon nach siebzehn Uhr. Ich spürte die Gänsehaut in meinem Nacken, noch bevor ich abhob.
Julie war ganz außer Atem. Sie war bestimmt vom Bahnhof bis zum Krankenhaus gerannt, die Ärmste.
„Ich bin erst jetzt bei Papa angekommen. Es sieht schlecht aus, Jeanne.“ Julie schluchzte und holte tief Luft. „Ich habe ihn gesehen, du musst herkommen, und zwar schnell!“
Wir waren beide still, wussten nicht recht, was wir sagen sollten. Ich konnte es immer noch nicht glauben. Er war doch so stark, der kleine Giftzwerg, quasi unbesiegbar!
„Ich werde schauen, was ich tun kann, Julie. Du weißt, ich habe Probleme in der Arbeit“, sagte ich frustriert, denn schon während des Telefonats stellte ich mir vor, wie sauer mein Chef sein würde, wenn ich jetzt so kurzfristig Urlaub nähme.
Auf meiner inneren Bühne kreiste schon wieder schwungvoll und mit lauter Musik das Karussell der Gefühle. Ein Karussell, das ich aus meiner Kindheit gut kannte, und nun musste ich wieder aufspringen – das hatte ich meinem Papa zu verdanken. Das stärkste Gefühl auf meinem Karussell war Wut, deswegen kam es gleich an erster Stelle. Dann folgten eine Runde Mitleid und schließlich die Angst vor Kontrollverlust. Ich hatte immer alles unter Kontrolle – oder bildete es mir zumindest ein. Dann funktionierte ich gut und war glücklich. Wenn dagegen unerwartete Ereignisse auftraten, die nicht auf meinem Mist gewachsen waren, verlor ich meine geliebte Balance, kam ins Schwanken und stolperte. Das setzte eine Stressspirale in Gang, die mir dann zuverlässig eine mörderische Migräne bescherte.
Immer noch in meinem Kopfkino gefangen, stieg ich vom Gefühlskarussell ab und wechselte zum Autodrom, wo ich meiner Wut freien Lauf ließ und frontal mit den anderen Autos zusammenprallte – das gefiel mir schon besser, so konnte ich mich etwas abreagieren. Es war doch immer dasselbe. Ich fühlte mich hilflos, als meine Wut in Mitleid umschlug, nicht nur für Papa, sondern vor allem für Julie. Ich konnte sie nicht noch einmal im Stich lassen.
In der letzten Zeit hatte ich alle paar Wochen mit Papa telefoniert, wir hatten uns auf WhatsApp Witze und lustige Videos hin- und hergeschickt. Er hatte sich nie über seine Gesundheit beschwert. Wenn er klagte, dann eher über Geld. Vor allem nahm er mir übel, dass ich ihm kein Geld schickte, obwohl ich doch so viel davon hatte – seiner Meinung nach. Und ich nahm es ihm übel, dass er so ein schlechter Vater war – meiner Meinung nach. Also waren wir in meinen Augen quitt. Dennoch entschied ich, trotz meines inneren Gefühlschaos, so bald wie möglich nach Tel Aviv zu fliegen.
Mein Chef war, milde ausgedrückt, nicht glücklich über meinen kurzfristigen Urlaub, und ich wusste, es würde ein Nachspiel geben, doch das war mir offen gestanden egal.
Tel Aviv war und ist ein beliebtes Reiseziel. Ab Wien gab es damals drei Flüge pro Tag und alle waren ausgebucht. Der erste Flug, den ich für Riva und mich buchen konnte, ging in fünf Tagen. In Papas Zustand waren fünf Tage eine lange Zeit, in der viel passieren konnte, aber es ging nicht anders. Immerhin blieb uns genügend Zeit zum Packen.
Obwohl ich meine Tante anflehte, ihren Koffer nicht mit Essen vollzustopfen, wie sie es sonst immer tat, hatte sie auch diesmal gute vier Kilo Übergepäck. Und natürlich durfte ich dann wie eine Blöde durch den Flughafen rennen, um den Schalter zu finden, an dem man die Übergepäckgebühr bezahlen musste. Ich war stinksauer, es war einfach immer dasselbe mit ihr, oder wie mein Opa so schön sagte: „Red zu der Wand“ – eine jiddische Redewendung, die auf so unbelehrbare Leute wie Riva gemünzt ist. Sie hatte einfach alles im Koffer, von warmen Pullovern bis zu Sportsocken, Samarin-Brausetabletten gegen Sodbrennen, ein Kilo Leberkäse und natürlich Vanillekipferl! All dass, obwohl sie genau wusste, dass die Einfuhr von Lebensmitteln nach Israel verboten war. Wenn der Zoll sie erwischte, würde es eine saftige Strafe geben. Ich musste mich sehr bemühen nicht auszurasten.
Unser Billigflieger war wie immer voll. Wir saßen wie Sardinen in der Büchse und sogar meine kurzen Beine drückten fest gegen den Sitz vor mir. Als Extra-Bonus schlief mein übergewichtiger Sitznachbar nach wenigen Minuten ein und sackte immer mehr auf meinen Schoß. Zwischen den Touristen fanden sich einige Pinguine – schwarz gekleidete Orthodoxe mit großen Hüten und langen Schläfenlocken, dazu ein paar laute Israelis, die ich bereits aus der Ferne erkannte. Und mittendrin wir, zwei besorgte Gestalten mit traurigem Blick.
Erst der Anflug auf Tel Aviv zauberte mir ein Lächeln ins Gesicht, und als ich am Horizont das Lichtermeer der Stadt erblickte, pochte mein Herz wild bis zum Hals. Da lag sie vor mir, die Stadt, die ich bis heute so sehr liebe. Das ist immer wieder ein unbeschreibliches Gefühl, egal wie oft ich schon dort gelandet bin. Eine melancholische Art von Hassliebe, ein Heimkommen-aber-Nicht-Bleiben-Wollen.
Von meinem 20. bis zum 30. Lebensjahr habe ich in Tel Aviv gelebt – ein Jahrzehnt, das mich bis heute am meisten prägt. Viel Freude und Schmerz habe ich dort erlebt und erlitten, oft im schnellen Wechsel oder sogar gleichzeitig. Dennoch bin ich froh, dass ich mich 1999 entschieden habe, Israel zu verlassen und mit meinem Mann und meinen zwei Kindern nach Wien zu ziehen.
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Unser Flugzeug begann mit dem Landeanflug und fuhr die Räder aus. Ich schaute durchs Fenster auf die flackernden Lichter in der Dunkelheit und konnte es kaum erwarten. Sobald die Räder den Boden berührten, klatschten die Israelis fröhlich und mit lautem „Ahhh“, „Ohhh“ und „Bravooo“. Wir klatschten natürlich voll Begeisterung mit. Das war Tradition, ein israelisches Ritual, das ich bisher nirgendwo sonst auf der Welt im Flugzeug erlebt habe. Ich denke, diese Tradition des Klatschens, wenn man israelischen Boden berührt, kommt erstens von der Erleichterung, dass es überhaupt ein Israel gibt, und zweitens von der Dankbarkeit, dass die Piloten die Landung in einem Stück geschafft haben.
Gleich darauf folgte die zweite Tradition: Noch auf der Rollbahn, lange bevor das Flugzeug zum Stillstand kam, klackten allerorts die Sicherheitsgurte. Binnen Sekunden füllte sich der Gang mit ungeduldigen Israelis, die die Gepäckablagen öffneten, um ihre Handgepäckstücke zusammenzusuchen. Wie immer forderte die genervte Stewardess sie vehement dazu auf, sich „verdammt noch mal hinzusetzen und sitzenzubleiben, bis das Anschnallen-Zeichen erloschen ist!“
„Red zu der Wand!“, wie Opa immer sagte.
Gleich in der Ankunftshalle des Ben-Gurion-Flughafens hing ein Schild, das ich immer wieder aufs Neue sehr amüsant fand: „Glaube nicht, dass du klüger bist als andere – hier sind alle Juden.“ Humor haben wir, das muss man uns lassen!
Für die zweite Etappe unserer Reise musste ich ein Auto mieten, denn Papa wohnte in Be’er Scheva, einer Wüstenstadt im Süden des Landes. Ein richtiges „Loch“, wo eigentlich nur Studenten, Proleten und arme Pensionisten lebten, ganz viele Araber und – nicht zu vergessen – ein Großteil der erfolglosen russischen Immigranten.
Auf meinen bisherigen Reisen hatte ich es bewusst vermieden, Papa dort zu besuchen – diesen Teil Israels wollte ich meinen Kindern ersparen. Stattdessen hatten wir uns immer in Tel Aviv getroffen. Papa hatte sich über jede Gelegenheit, in die „Zivilisation“ zu kommen, gefreut. Er hatte immer nah am Meer leben wollen, doch das konnte er sich nicht leisten, wie er oft so ganz nebenbei betonte – ein subtiler und doch stechender Vorwurf angesichts meiner Weigerung, ihn finanziell zu unterstützen. Nun musste ich den weiten Weg nach Be’er Scheva auf mich nehmen und wusste nicht, was mich dort erwarten würde.
Natürlich hatte ich vorab einen Leihwagen reserviert, aber trotzdem mussten wir gute 90 Minuten warten und dann noch mit dem Mitarbeiter diskutieren, weil das reservierte Auto nicht verfügbar war. Willkommen in Israel! Ich musste erst einen Riesenskandal heraufbeschwören, denn anders geht es im Gelobten Land nun einmal nicht – hier muss man sich alles erkämpfen, als wäre das Leben nicht ohnehin schon schwer genug. Schließlich bekam ich ein anderes Auto. Das angebliche „Upgrade“ war eine absurde Beleidigung, doch ich hatte keine Zeit für weitere Diskussionen und machte mich mit dieser 58-PS-Konservendose auf den Weg.
Das Auto war so klein, dass unsere Ellbogen gegeneinanderdrückten. Riva war sehr besorgt und mit jedem Kilometer, den wir zurücklegten, wurde sie blasser und stiller. Ich wusste nicht, ob es am Auto lag, oder ob sie spürte, wie es um ihren geliebten Zwillingsbruder stand. Nach fast eineinhalb Stunden Fahrt erreichten wir endlich das Krankenhaus.
Julie erwartete uns bereits ungeduldig am Eingang. Sie war richtig abgemagert, erschöpft und zerzaust. Nach einer kurzen Gruppenumarmung machten wir uns auf den Weg.
Auf einem Schild stand in großen Buchstaben: „Besuchszeiten ausnahmslos bis 19 Uhr.“ Es war fast Mitternacht, doch zum Glück gab es in Israel immer Ausnahmen – wenn man es richtig anstellte. Sie hätten uns sicher nicht reingelassen, wenn Julie sich in den vergangenen Tagen nicht mit allen Krankenpflegern angefreundet hätte. In solchen Dingen war sie ein Profi! Sie hatte allen erzählt, dass wir direkt aus Wien kämen, und so wurden wir im Krankenhaus wie Promis erwartet.
Julie war sichtlich erleichtert, dass wir gekommen waren. Es war sicherlich eine anstrengende Woche für sie gewesen. Sie war die ganze Zeit nicht von Papas Seite gewichen und hatte kaum geschlafen.
„Du kannst dir nicht vorstellen, wie sich Papa benimmt. Er ist unfreundlich und gemein zu den Ärzten. Ganz besonders zu den Arabern“, beschwerte sie sich. Wir nickten verständnisvoll und wenig überrascht. Typisch, dachte ich mir, also eh ganz der Alte.
Papa hatte zwei Seiten – wüsste ich es nicht besser, würde ich ihn als gespaltene Persönlichkeit beschreiben, doch die korrekte Diagnose lautet: bipolar bzw. manisch-depressiv. An guten Tagen war er der netteste Mensch auf der Welt, doch an schlechten war er skrupellos und gemein. Ich kannte beide Seiten nur zu gut. Uns Kinder hatte er nie angerührt, weder im positiven noch im negativen Sinne. Er hat uns nie geschlagen, aber genauso wenig umarmt, außer vielleicht zum Geburtstag. Er hat nie mit uns gekuschelt oder ein nettes Wort gesagt, nie ein Kompliment gegeben oder mich für meine guten Noten gelobt.
„Papa, schau, ich habe als Einzige eine Zwei für meine Schularbeit bekommen“, verkündete ich stolz.
„Besser wäre eine Eins“, antwortete er kalt, ohne nur einen Blick darauf zu werfen. Zu Julie, die meistens schlechte Noten hatte, sagte er: „Ach, an dich habe ich sowieso keine großen Erwartungen.“
Ja, so war er, frei nach dem Motto: „Nicht geschimpft ist genug gelobt!“
Ich hasse Krankenhäuser, aber wer mag sie schon? Der Weg durch das Labyrinth der unendlichen Korridore erschien mir viel länger, als er tatsächlich war. Ich war mir sicher, dass ich allein gar nicht mehr herausfinden würde, doch Julie ging mit schnellen Schritten voran und nutzte jede mögliche Abkürzung – sicher geübt durch ihre vielen Rauchpausen. Wir durchquerten mehrere Gebäude, die wegen der späten Uhrzeit gruselig menschenleer wirkten, und erreichten endlich die Intensivstation. Julie läutete an, schaute hinauf zur Kamera, deutete mit der Hand auf uns und schon ging die Tür auf.
Noch ein paar Schritte und dann standen wir vor Papas Zimmer. Julie ging als Erste zu ihm hinein und winkte uns zu, er sei wach, wir sollten kommen. Riva fing an zu weinen, stieß mich, schusselig wie sie war, zur Seite und rannte zu ihrem Bruder. Ich hatte gar nicht gewusst, dass sie noch so schnell laufen konnte! Mir dagegen war gar nicht nach Laufen zumute – nach Weglaufen schon eher.
Die Lichter waren gedimmt und die meisten Patienten schliefen – nur einige wenige lagen wach und machten vor Schmerzen schreiend alle paar Minuten auf sich aufmerksam. Der Krankenhausgeruch drehte mir den Magen um, und überall piepsten irgendwelche Geräte, laut und in regelmäßigen Abständen, was mich zusätzlich nervös machte.
Als ich das Zimmer betrat, hielt Riva meinen Vater noch immer umarmt, und obwohl sie selbst von kleiner Statur war, verdeckte sie ihn komplett. Erst als er sich streckte und über ihre Schulter zu mir blickte, sah ich, dass er sich freute, mich zu sehen. Er wirkte erleichtert, wahrscheinlich hatte er nicht damit gerechnet, dass ich überhaupt kommen würde. Er sah so … so klein, harmlos und unschuldig aus. Sein Anblick versetzte mir einen Stich ins Herz, so stark, dass ich kurz nach Luft ringen musste. Sobald Riva ihn freigab, bückte ich mich zu ihm und nahm ihn ganz vorsichtig in die Arme. In seinen Händen steckten Infusionsschläuche, und er hatte einen Sauerstoffschlauch in der Nase, ohne den er nicht mehr selbstständig atmen konnte.
„Sag mal, Papa, was führst du denn da auf?“, fragte ich und versuchte meine Stimme unter Kontrolle zu behalten, um tapfer und optimistisch zu klingen. Mir fiel nichts Besseres ein.
Er zuckte mit den Schultern, bloße Knochen, wo einst breite Muskeln und ein starker Hals gewesen waren, und lächelte. „Was soll ich denn machen? Sonst kommt ihr mich ja nie besuchen!“, scherzte er leise und alle lachten. So eine Antwort war typisch für ihn.
Er sah schlecht aus, richtig schlecht – darauf war ich nicht gefasst gewesen. Seine sonst goldbraun gebrannte, straffe Haut war blass und grau geworden und hing lose über seinen Knochen. Er atmete in kurzen Zügen. Es fiel ihm schwer zu sprechen und er deutete immer wieder mit der Hand auf seinen Mund, vermutlich weil er zu trocken war. Doch das Schlimmste waren seine Beine. Sie sahen aus wie Ballons, die kurz vor dem Platzen waren, und passten nicht zum Rest seines dünnen Körpers.
Irgendwann kam ein Pfleger herein und bat uns höflich, nach Hause zu gehen.
Am nächsten Morgen trafen wir seine Ärztin, Frau Dr. Schneider, eine ältere Dame aus Russland, ganz „alte Schule“. Sie bestätigte, was wir bereits von Julie gehört hatten.
„Komplettes Nierenversagen, ab jetzt muss er alle 48 Stunden zur Dialyse ins Krankenhaus – für immer! Dazu hat er fortgeschrittenen Knochenmarkkrebs. Die Prognose ist schlecht. Unheilbar, aber er könnte noch einige Jahre leben, wenn er die Regeln befolgt“, referierte sie mit Blick in seine Krankenakte.
„Also wird er sterben. Er hat sich noch nie an irgendwelche Regeln gehalten“, hörte ich mich sagen. Oje, das hatte ich nicht laut aussprechen wollen! Noch dazu hatte ich die Ärztin mitten im Satz unterbrochen und das war mir peinlich. Alle sahen mich erstaunt an, besonders Riva, die mir mit erhobener Augenbraue einen strengen Blick zuwarf.
„Wir werden ihn morgen aus dem Krankenhaus entlassen. Es gibt nichts mehr, was wir für ihn tun können“, schloss die Ärztin. Sie gab uns reihum die Hand und drehte sich abschließend zu Riva. „Es tut mir wirklich sehr leid“, fügte sie auf Russisch hinzu und ging aus dem Zimmer.
Riva, hilflos und bestürzt, schüttelte den Kopf und begann zu weinen: „Nu, sag du mir, was soll das?“
Da war er wieder, ihr typischer Satz, den wir in der kommenden Woche mindestens hundertmal hören sollten. Das war ihre Standardphrase, wenn sie sich aufregte – über Nachrichten, Politik, Flüchtlinge, Wetter und alles andere. Sie sagte das immer in einem bestimmten Ton und Akzent, den ich bis heute gern imitiere, um die Familie zum Lachen zu bringen.
Vor Papas Entlassung mussten wir ein Gespräch mit der Diätologin und der Sozialarbeiterin führen. Uns wurden Listen und Prospekte überreicht und gesagt, was wir – also ich – alles für meinen Vater organisieren müssten, da er sein Leben komplett umstellen müsse – wenn er denn leben wollte.
Papa war einfach nur erleichtert, dass er heimgehen durfte. Ganz besonders, weil er zuhause wieder Rauchen konnte, und weil am nächsten Tag ein wichtiges Fußballspiel stattfand, das er auf keinen Fall verpassen wollte.