Wohin dein Herz dich trägt - Bettina Münster - E-Book

Wohin dein Herz dich trägt E-Book

Bettina Münster

0,0

Beschreibung

Sarah und ihr ehemaliger Geschäftspartner Sam begegnen sich nach Jahren der Funkstille wieder. Beide spüren sofort die gegenseitige Anziehungskraft, haben aber kaum die Möglichkeit, sich darauf einzulassen, denn Sam kehrt kurz darauf in seine englische Heimat zurück. Doch Sarah kann ihn nach einem einzigen, alles verändernden Kuss nicht vergessen, ihre Sehnsucht wächst stetig. Also setzt sie schließlich alles auf eine Karte und überrascht ihn in England. Die Ereignisse überschlagen sich ... "Wohin dein Herz dich trägt" ist eine intensive Geschichte über zwischenmenschliche Nähe und die Macht der körperlichen Anziehungskraft zwischen zwei Menschen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 178

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Bettina Münster wurde 1980 in Düsseldorf geboren und ist nicht weit davon entfernt aufgewachsen. Seit ihrem dreizehnten Lebensjahr schreibt die Autorin Romane, Kurzgeschichten und Gedichte und hat bereits mehrere Bücher veröffentlicht.

Sie lebt heute mit ihrer Familie in der Region Hannover und schreibt beständig an neuen Werken.

Mehr über die Autorin und ihre Buchprojekte erfahren Sie auf ihrer Website:https://www.bettinamuenster.com

Besuchen Sie auch ihren Autorenservice:www.textzirkus.com

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

1

»Jetzt geh schon! Ich komme hier auch allein klar! Mach dir einfach mal einen schönen Abend und entspann dich ein bisschen!« Tina Sommer musste ihre Chefin beinahe gewaltsam zur Tür hinausschieben.

Schon am Morgen hatte Sarah Westhoff, die Inhaberin des kleinen Buchladens, über Kopfschmerzen geklagt. Im Laufe des Tages waren sie erheblich schlimmer geworden, bis Sarah vor wenigen Minuten innerlich kapituliert und beschlossen hatte, früher nach Hause zu gehen und eine Kopfschmerztablette zu nehmen. Das tat sie sonst nie, daher fühlte es sich für sie wie ein halber Weltuntergang an.

»Ich muss doch noch die Kasse ...« Ihre Angestellte und beste Freundin winkte ab. »Das mache ich heute Abend, du kannst doch nicht mitten am Tag die Kasse machen!«

Sarah stand einen Moment unschlüssig herum und klapperte gedanklich die To Do – Liste ab, die der Laden ihr täglich bot, sah dann zweifelnd durch das bunt dekorierte Schaufenster hinaus in den Nieselregen, der den Dienstag schon seit Stunden immer grauer und trister machte.

Endlich nahm sie ihre Handtasche und ging mit einem Schulterzucken, strebte mit eingezogenem Kopf heimwärts.

Zu Hause angekommen, zog sie zunächst ihre durchnässten Sachen aus, bevor sie eine Tablette nahm und sich unentschlossen auf die Couch setzte. Minutenlang starrte sie Löcher in die Luft, schnippte unsichtbare Flusen von der beigen Oberfläche des Sitzpolsters.

Regentropfen prasselten laut gegen die Fensterscheiben. Die feuchten Spuren auf dem Glas ließen die Welt draußen verschwommen und surreal wirken. Das einzige Geräusch abgesehen von dem Regen war das Ticken der Uhr, die an der Wand über dem Fernsehgerät hing und vor dem Hintergrund der New Yorker Skyline stetig und unerbittlich das Fortschreiten der Zeit demonstrierte.

Was taten normale Menschen, wenn sie früher als geplant nach Hause gingen? Sarah war es nicht gewohnt, viel Zeit zu haben. Ihre Tage und Wochen waren mit dem Geschäft, dem Abklappern von Buchmessen, nichtssagenden Dates und anderen Freizeitaktivitäten so ausgefüllt, dass sie selten eine Chance bekam, sich auch nur zwei Minuten zu langweilen oder sich gar Gedanken darüber zu machen, ob möglicherweise etwas in ihrem Leben fehlte.

Seufzend stand sie nach wenigen Minuten wieder auf und durchstöberte ihr Bücherregal auf der Suche nach einem Werk, das sie den Abend über unterhalten konnte, sobald das Hämmern in ihrem Hinterkopf nachgelassen haben würde. Dabei fiel ihr Blick unvermittelt auf einen Briefumschlag, der eingeklemmt zwischen zwei Büchern hing. Mit einem Stirnrunzeln zog sie ihn heraus. »Leipzig 2008«

Was war 2008 in Leipzig gewesen? Abgesehen von der Buchmesse natürlich. Moment, war da nicht ...?

Von einer flüchtigen Ahnung befallen, öffnete sie den Umschlag und musste unwillkürlich lächeln. Natürlich. Der Abend in dem mexikanischen Restaurant. Mit dem Zeigefinger strich sie sanft über das Foto, schwelgte in der Erinnerung. Es war ein Gruppenfoto, auf dem sie mit Tina und drei Verlegern zusammen an einem Tisch saß. Vor ihnen waren halbleere Teller und einige ebenfalls nur noch unzureichend gefüllte Gläser verteilt, die von einem feuchtfröhlichen Abend zeugten. Da waren Robert Müller und Konstanze Hillmann, die nun schon seit Jahren nicht mehr in der Verlagsbranche tätig waren. Und ... Sam Winslow, mit dem üblichen ihm eigenen Strahlen in den Augen. Das Lächeln auf ihrem Gesicht wurde breiter. Wann immer dieser Mann einen angesehen hatte, war man nicht sicher gewesen, ob er sich lustig machte oder nur freundlich und interessiert war. Es hatte sie immer ein wenig irritiert – und stark angezogen.

»Sam.«

Sein Name klang gut, auch noch nach so vielen Jahren. Wann hatte sie zuletzt mit ihm gesprochen? Vor drei Jahren hatte er angerufen, auf dem Weg zu einer Buchmesse. Er hatte sich dort mit ihr treffen wollen, aber da sie zu dem Zeitpunkt in einer handfesten Beziehungskrise mit ihrem damaligen Freund steckte, war es ihr nicht möglich gewesen, sich loszueisen. Wenige Monate später hatte die Beziehung ein Ende gefunden.

Vor einem halben Jahr hatte Sarah Sam eine E-Mail geschrieben. Ihn gefragt, wie es ihm ginge. Bislang hatte sie jedoch keine Antwort erhalten. Was nicht weiter besorgniserregend war. Sam hatte die Angewohnheit, Freundschaften nur unregelmäßig zu pflegen. Er war einfach nicht gut darin, wie er selbst eingestand. Sarah hatte das nie gestört. Sie wusste, dass er sich irgendwann melden würde.

Einem plötzlichen Impuls folgend ging sie zu ihrer Handtasche, fischte ihr Handy heraus und tippte eine Nachricht ein:

Hey großer Fremder, wie geht es dir? Habe gerade an dich gedacht. Liebe Grüße aus der Bücherwelt, Sarah.

Zu ihrer großen Überraschung hatte sie nicht einmal Zeit, zum Bücherregal zurückzugehen, bis eine Antwort kam. Das Handy in ihrer Hand vibrierte, um Sarah auf die Textnachricht aufmerksam zu machen.

Hallo Büchermaus, es geht mir ganz gut. Das Leben ist manchmal verrückt. Können wir uns treffen? Vielleicht zu einem Spaziergang?

Sarah las die Nachricht dreimal. Er klang müde, zwischen den Zeilen. ›Das Leben ist verrückt‹? Was war da los? Mit plötzlich wild klopfendem Herzen sagte sie zu.

Sie hatten sich kurz entschlossen bereits für den nächsten Tag verabredet, und Sarah war vorher reichlich nervös, wie sie sich selbst eingestehen musste. Würde sich Sam verändert haben, nach Jahren, in denen sie sich nicht gesehen hatten?

Die Frage wurde aufs Angenehmste beantwortet, als er am Eingang des Stadtparks lächelnd auf sie wartete. Es war unglaublich - er sah sogar jünger aus als bei ihrer letzten Begegnung! Die Freude über das Wiedersehen war offenbar auch auf seiner Seite sehr groß, da er sie freudig anstrahlte und sie instinktiv in eine feste Umarmung schloss. Dann schob er sie wieder von sich und musterte sie eingehend.

»Sarah! Du siehst großartig aus! Du hast dich nicht ein

Bisschen verändert, wie ist das nur möglich?«

Sie lachte und sah ihn an, studierte ausgiebig das lange vermisste Gesicht. Konnte kaum fassen, dass er wirklich vor ihr stand. Das Strahlen seiner grauen Augen war ungebrochen, auch wenn sein Blick ein wenig müde war. Ein trauriger Glanz lag darin, der Sarah beunruhigte. Die kleinen Lachfältchen um seine Augen und die Längsfalten um seinen Mund herum schienen ein wenig tiefer als früher, aber die Haut strahlte rosig und frisch, als wäre er im Urlaub gewesen. Sie bemerkte, dass sie ihn zu lange angesehen hatte, und lächelte verlegen, während ihre Wangen sich sanft röteten.

»Lass uns ein Stück gehen.«

Wieder blitzten seine Augen sie vergnügt an, mit dieser Mischung aus Freundlichkeit und Witz, die sie nie recht deuten konnte.

Sie schlenderten nebeneinanderher, lauschten dem Knirschen des Kieswegs unter ihren Füßen und dem Zwitschern der Vögel in den Bäumen um sie herum. Es war eine angenehme Stille zwischen ihnen. Eine Stille, die Raum ließ, um die Gegenwart des anderen zu spüren, seine Stimmung in sich aufzunehmen.

Schließlich machte Sarah den Anfang, mit dem einzigen Detail, das ihr bedeutsam erschien. Für sinnlosen Smalltalk waren sie sich schon immer zu schade gewesen. »Du hast in deiner Nachricht bedrückt geklungen. Geht es dir nicht gut?«

Sam lächelte sie an, beinahe liebevoll, wie sie überrascht bemerkte. »Du bist eine clevere Frau, Sarah. Du hast recht. Das Leben war in der letzten Zeit sehr verrückt.«

Ihre Arme streiften sich beim Gehen. Statt den Abstand zu vergrößern, verringerten sie ihn zeitgleich noch mehr, sodass sie beim Laufen gegeneinanderstießen. Ihre Hände berührten sich, sein Finger streifte sanft ihren Handrücken. Sarah widerstand dem Bedürfnis, ihre Hand in seine zu schmiegen.

»Erzähl mir davon.«

Im Laufe der kommenden Viertelstunde erfuhr sie, dass Sam seinen Job zweimal innerhalb eines Jahres aufgrund der schlechten Wirtschaftslage verloren hatte und dass seine Mutter mit einer einfach nicht heilen wollenden Lungenentzündung lange Zeit im Krankenhaus gelegen hatte – in seiner englischen Heimat, beinahe unerreichbar für ihren Sohn, der sich zunehmend hilflos dem Schicksal ausgeliefert fühlte und sich danach sehnte, die Dinge wieder selbst in die Hand nehmen und beeinflussen zu können.

Sarah hörte aufmerksam zu und unterbrach ihn nur einmal, um eine Zwischenfrage zu stellen. Als sie spürte, wie nahe ihm die Entfernung zu seiner kranken Mutter ging, strich sie ihm tröstend über den Arm. Sam nahm die vertrauliche Geste lächelnd zur Kenntnis und drückte dankbar ihre Hand.

Als er zum Ende seines Berichts gekommen war, setzten sie sich eine Weile auf eine Parkbank und schwiegen, sahen vereinzelten Vögeln zu, die Essbares aus der Wiese pickten. Ruhe breitete sich wie ein schützender Kokon um sie herum aus und hüllte sie ein. Sie mochten die Nähe des anderen. Beinahe schien es Sarah, als würden ihre Körper und Seelen eine eigene Unterhaltung jenseits aller Worte führen, die gegenseitige Nähe in stiller Zwiesprache genießen. Sam verlagerte sein Gewicht, bis sein Bein das ihre berührte. Sie lächelte und rückte ein Stück näher, erwiderte die Berührung.

»Was wirst du jetzt tun?«

Sarah wandte sich ihm zu, musterte seine vertrauten Züge. Sie wusste nicht, ob es an ihr lag, aber der traurige Ausdruck, den sie zu Beginn ihres Treffens wahrgenommen hatte, war aus seinen Augen verschwunden.

Trotz seiner offenbar schwierigen Situation fühlte sie sich plötzlich von einem unglaublichen Glücksgefühl durchströmt. In Sams Nähe zu sein fühlte sich richtig an. Als müsse es genau so sein.

Er nahm ihre Hand und drückte sie, ließ sie nicht wieder los. Sanft umschloss er ihre Finger, genoss die Wärme ihrer Haut.

»Ich werde nach England zurückkehren.«

Er brachte es in einem Ton vor, als wollte er ihr sagen, dass es morgen regnen könnte, und lächelte sie dabei aufmunternd an. Seine Augen verrieten jedoch, dass es eine schwere Entscheidung gewesen sein musste. Sarah nickte und schwieg. Fühlte, wie etwas in ihr plötzlich taub wurde.

Sam würde gehen. Nach England.

Auch wenn der Kontakt zwischen ihnen in den letzten Jahren spärlich gewesen war, so hatte sie doch stets gewusst, dass er nahe war.

England.

Sie würden fliegen müssen, um einander zu sehen. Waren sie eng genug befreundet, um Gründe für Treffen zu finden? Mussten sie überhaupt Gründe finden?

»Dann ... gibst du hier alles auf und gehst ... komplett zurück?« Sie räusperte sich, als ihre Stimme ins Wanken geriet.

»Ja, ich ... ich habe ein Haus gefunden, in der Nähe meines Elternhauses, in dem meine Mutter noch immer lebt. Mein Bruder wohnt mit seiner Familie auch nicht weit entfernt.« Sarah versuchte, nicht allzu traurig auszusehen.

»Dann hast du deine ganze Familie und alle Freunde in England?«

»Nicht alle Freunde.« Er zwinkerte ihr charmant zu, und sie wurde ein bisschen rot.

»Du, Sam?« Sie sah auf ihre Hände, dann wieder in seine Augen.

»Hm?«

»Würde es dir etwas ausmachen, wenn wir ... ab jetzt in engerem Kontakt blieben? Nicht nur alle paar Jahre?«

Sie hatte es nicht fragen wollen. Ihre eigene Stimme hörte sich seltsam dabei an. Fremd. Es war einfach aus ihr herausgebrochen, und ein wenig erschrak sie vor sich selbst.

Nachdenklich ließ Sam seinen Blick über ihr Gesicht gleiten, über die sorgenvoll gerunzelte Stirn und die Hoffnung in ihren schönen blauen Augen, bevor er sich entspannt zurücklehnte.

»Natürlich, sehr gerne sogar. Es tut mir leid, ich ... bin nicht besonders gut im Pflegen von Freundschaften. Aber ich werde mir in Zukunft mehr Mühe geben.«

Sarah lächelte ihn dankbar an. »Das wäre sehr schön. Ich würde dich sonst ... vermissen.«

Die Röte stieg bis in ihre Ohrmuscheln, umso mehr, als er sie unvermittelt zu sich zog und ihr als Dank einen Kuss auf die Stirn drückte.

Als sie sich eine halbe Stunde später verabschiedeten, taten sie dies mit einer langen und innigen Umarmung, die von Herzen kam. Sam hielt sie fest und hob sie ein Stück hoch, bis sie den Boden unter den Füßen verlor und ihr Gesicht lachend in seiner Halsbeuge vergrub.

Als er sie wieder absetzte, sah er ihr lange in die Augen und strich sanft mit seinem Daumen über ihre Wange. Dann nickte er, drehte sich um und ging davon, während sie von innerer Wärme erfüllt den Heimweg einschlug.

Sie sahen sich vor seinem Umzug nicht wieder. Sam musste seinen Haushalt auflösen, das Auto verkaufen, sein neues Haus bewohnbar machen. Aber er hielt sein Versprechen, Kontakt zu halten.

Er hatte ihr verraten, dass sein einziger Plan zunächst darin bestand, sich in seiner Heimat wieder einzurichten und nahe bei seiner Mutter zu sein, die der Hauptgrund für seine Rückkehr war. Sam wollte die Jahre, die Mrs Winslow hoffentlich noch blieben, in ihrer Nähe verbringen und für sie da sein. Etwas, das die vergangenen zwanzig Jahre nicht möglich gewesen war, da er sich bewusst für ein Leben in Deutschland entschieden hatte. Ihre lange Krankheit hatte ihn aufgerüttelt und daran erinnert, dass Familie über alles ging. Vor allem über den egoistischen Wunsch nach unbedingter Unabhängigkeit.

Sarah genoss es, wenn sie einander E-Mails schrieben oder, was allerdings nur einmal vorkam, telefonierten. Jede E-Mail und Textnachricht verursachte ein warmes Gefühl in ihrem Bauch, verbunden mit der Gewissheit, dass es sich einfach richtig anfühlte.

Zudem lernte sie ihn immer besser kennen. Im Laufe der Jahre hatten sie nur wenig Kontakt gehabt, und Sarah war klar, dass sie so gut wie nichts über ihn wusste. Als er sich nun die Zeit für sie nahm, mitten im Umzugsstress, und mehr über sich erzählte, wurde ihr immer wärmer ums Herz.

Sam war außerordentlich feinfühlig und rücksichtsvoll, der vollendete Gentleman. Er schien stets bemüht zu sein, andere glücklich zu sehen, wollte immer, dass es den Menschen um ihn herum gut ging. Die einzige negative Eigenschaft, die sie an ihm entdecken konnte, war, dass er Ratschläge anderer Personen nur ungern annahm. Er ließ sich nicht gerne etwas sagen. Aber war das zwangsläufig eine negative Eigenschaft, oder gehörte es einfach zu seinem Charakter als Freigeist? Wenn Sarah ehrlich zu sich selbst war, ließ sie sich auch nicht gerne etwas sagen. Was sie aber am meisten beeindruckte und vor allem veränderte, war eine WhatsApp-Unterhaltung, die sie zwei Monate nach seinem Weggang führten. Sarah hatte etwas geschrieben, das sie im Nachhinein albern und dumm fand. Es hatte eine lustige Bemerkung sein sollen, aber schon nach wenigen Minuten wusste sie selbst nicht mehr, was daran witzig war.

Sie wollte Sam gefallen und konnte diese Dummheit nicht einfach so stehen lassen, also entschuldigte sie sich.

Es dauerte fast einen ganzen Tag, bis sie eine Antwort erhielt. Sie schwitzte und fieberte dem Moment entgegen, in dem ihr Handy durch ein ›Ping‹ das Ankommen einer neuen Nachricht ankündigen würde. Es war ihr so unendlich wichtig, wie Sam von ihr dachte.

Sie trug das Handy in ihrer Gesäßtasche mit sich herum, während sie eine Bücherlieferung auspackte und einscannte, legte es neben sich auf den Schreibtisch, wenn sie E-Mails schrieb und hatte es sogar griffbereit, wenn sie Kunden bediente. Mehrfach stellte sie sicher, dass der Nachrichtenton aktiviert und nicht auf stumm geschaltet war. Aber sie erhielt kein ›Ping‹.

Als sie die Hoffnung schon aufgegeben und sich auf den Heimweg gemacht hatte, mit der festen Absicht, den Abend frustriert in der Badewanne zu verbringen, schreckte das heiß ersehnte Geräusch sie schließlich hoch und ließ sie mitten auf der Straße hektisch in ihrer Handtasche wühlen. Mit zitternden Händen öffnete sie die Nachricht.

Du bist, wie du bist, und genau so respektiere ich dich. Es gibt keinen Grund, sich für etwas zu entschuldigen.

Sarah las die Nachricht viermal. Und spürte mit jedem Mal mehr, wie sich etwas in ihr auflöste. Ein Knoten in ihrem Magen, der sie immer dazu hatte bringen wollen, anderen zu gefallen, Sam zu gefallen. Sie war gut, wie sie war. Sie war genau richtig, so wie sie war. Dieses Gefühl, dieses Wissen hatte ihr noch nie jemand gegeben. Sarah spürte in diesem Augenblick, dass diese kurze Textnachricht ihr Leben für immer verändert hatte.

2

Drei Monate waren vergangen, seit Sam und Sarah gemeinsam spazieren gegangen waren. Sarah ging ihrem täglichen Alltag nach, bediente ihre Kunden und spürte mit jedem Tag mehr, dass sich etwas verändert hatte.

Sie fühlte sich wohl. In ihrer Haut, ihrem Selbst. Sie begann, sich selbst zu akzeptieren, mit allen Macken und Eigenheiten. Eine Tatsache, die sie noch vor kurzem nicht in dem Ausmaß für möglich gehalten hätte, denn schon immer hatte sie andere Menschen für ziemlich perfekt, sich selbst dagegen für ziemlich fehlerhaft gehalten.

Besaß Sam tatsächlich so viel Gewicht in ihrem Leben, dass seine Meinung, seine kurze Nachricht ausreichte, um ihre Einstellung von Grund auf zu ändern?

Sie kannte die Antwort. Tief in sich. Schon lange.

Es war Samstagmorgen, als sie gedankenverloren, im Jogginganzug und mit riesengroßen Plüschpantoffeln in Tigerkrallenform an den Füßen, zum Briefkasten ging und auf dem Rückweg in ihre Wohnung die verschiedenen Werbeumschläge, Schreiben von Versicherungen und Postkarten von Freunden durchging. Dabei fiel ihr ein Umschlag in die Hand, der sich von allen anderen unterschied.

Sie klemmte sich die restliche Post unter den Arm und kickte mit dem Fuß ihre Wohnungstür zu, während sie den Umschlag erwartungsvoll öffnete und eine graumeliert unterlegte Karte herauszog. Das Papier war ziemlich fest und sah teuer aus.

EINLADUNG

Zurück in der Heimat dachte ich mir

Es wäre nun Zeit für eine Party hier.

Mein neues Heim scheint fertig zu sein,

Daher lade ich Dich herzlich ein.

Viele Grüße, Sam Winslow

Überrascht zog Sarah die Augenbrauen hoch, bevor sie leise lachte. Sam dichtete? Ihr Sam? Die Adresse und das Datum waren ebenso angegeben wie die Bitte um Rückantwort. Diese Einladung passte so erheblich nicht in das Bild, das sie von Sam hatte, dass sie eine Weile nicht aufhören konnte, darauf zu starren.

Vielleicht war das Gedicht auch die Idee eines Freundes gewesen. Oder einer Freundin? Plötzliche Unsicherheit stieg in ihr auf. Die Einladungskarte machte einen fröhlichen Eindruck, und es war ein Gedicht, das Sams gute Laune durchblicken ließ. Was, wenn eine Frau die Urheberin dessen war?

Was, wenn er mit ihr, Sarah, tatsächlich nur diese harmlose Freundschaft pflegte, in der es zwischendurch knisterte, und währenddessen eine neue Liebe gefunden hatte? Vielleicht war sie sogar mit für seine Rückkehr nach England verantwortlich gewesen, und Sam war nur zu feinfühlig gewesen, es Sarah zu sagen?

Aber mit welchem Recht machte sie sich darüber überhaupt Gedanken? - Denn er war schließlich nur ein Freund, oder?

Sarah legte die Karte bedächtig auf den Esstisch und starrte darauf, wie man ein Tier anstarrt, das zwar wunderschön aussieht, von dem man aber nicht sicher ist, ob es möglicherweise gefährlich sein könnte.

Es stand außer Frage, dass sie die Einladung annehmen würde. Aber was wäre, wenn sie dort seiner neuen Freundin begegnete? Wäre sie eifersüchtig? Sie war zu feige, sich diese Frage ehrlich zu beantworten, und schob den Gedanken schnell beiseite. Stattdessen setzte sie sich an ihren Laptop, buchte für das genannte Wochenende einen Hin- und Rückflug und suchte sich anschließend eine kleine Pension aus. Nachdem sie alles arrangiert und das Zimmer telefonisch bei der freundlichen Pensionswirtin reserviert hatte, schrieb sie Sam eine kurze E-Mail, in der sie sich für die Einladung bedankte. Eine halbe Stunde später ergänzte sie ihre Zusage auf seine Nachfrage hin um die Angabe, in welcher Pension sie abzusteigen gedachte.

Es waren noch zwei Wochen bis zu der Party. Und Sarah war eins sofort klar: Das würden die längsten zwei Wochen ihres Lebens werden.

Selbst die längsten zwei Wochen haben Gott sei Dank irgendwann ein Ende - auch wenn man bereits nach zwei Tagen glaubt, die Zeit würde stehenbleiben, sich lähmend über einen legen und jede Bewegung zur Qual werden lassen.

Sarah hatte sich während dieser Zeit mit einem sehr surrealen Gefühl der Trance durch ihr Leben bewegt. Jeder Kontakt mit ihren Kunden schien endlos viel Kraft zu kosten, und das Lesen eines neu erschienenen Buches erforderte ein Maß an Konzentration, das sie schlicht überforderte. Sarah wusste nicht, warum die bevorstehende Party bei Sam ihr so zusetzte. Aber die Erinnerung an die Nähe zwischen ihnen, an seinen Duft, als er sie umarmt hatte, auch wenn es bereits Monate zurück lag, hielt sich hartnäckig in ihrem Bewusstsein.

Um dieser Trance entgegen zu wirken, hatte sie sich mit Verabredungen, intensiver Lektüre und viel Sport abgelenkt. Das Ergebnis dieser Beschäftigungstherapie war allerdings, dass sie ziemlich ausgelaugt war, als sie endlich ihre Tasche für das Wochenende packte.

Nervös stand sie in ihrem Schlafzimmer, die kleine blaue Reisetasche vor sich auf dem Bett. Über die Unterwäsche brauchte sie nicht nachzudenken. Sarah war noch nie eine Frau gewesen, die ihre Reize übermäßig zur Schau gestellt hatte, und besaß entsprechend trotz regelmäßiger Dates kaum Dessous. Stirnrunzelnd musste sie nun zugeben, dass es vielleicht auch daran lag, dass selten ein Mann wiederkam. Ausgewaschene Slips und einfarbige, schmucklose BHs waren nicht gerade der Traum eines Mannes, der auf eine heiße Nacht mit einer hübschen Frau hoffte. Mehr aus Vernunftgründen packte Sarah schließlich das einzige Negligé ein, das sie besaß, einen Fummel aus blauschwarzer Seide, eher ein Hauch von Nichts als ein Nachthemd. In diesem Moment fiel ihr zum ersten Mal auf, dass sie sich für ihre Unterwäsche schämte – und beschloss, diesen Umstand zu ändern, sobald sie aus dem Wochenende zurück sein würde. Froh, das Thema Wäsche abgehakt zu haben, wandte sie sich dem Inhalt ihres großen Kleiderschranks zu.