Wolf spielt das Lied vom Tod - Martin Schöne - E-Book

Wolf spielt das Lied vom Tod E-Book

Martin Schöne

4,7

Beschreibung

Operation Gemini – Die Stasi lebt Gerade zurück aus Malta entgeht Ex-BKA-Zielfahnder Tom Wolf in Berlin nur knapp einem Anschlag auf sein Leben. Als der MAD mit der Forderung an ihn herantritt, er solle für ihn arbeiten, ist es endgültig vorbei mit dem Wunsch nach einem bürgerlichen Leben. Wolf hat die Wahl: Entweder er schafft es, seinen Ziehsohn Philip und verschwundenes Stasi-TNT aufzuspüren, oder Philip wird als Staatsfeind Nummer 1 zum Abschuss freigegeben. Die Spur führt ihn nach Moskau, wo er auf die ominöse Stasi-Operation Gemini stößt: Schläfer, die seit Jahrzehnten im Untergrund darauf warten, aktiviert zu werden, um koordinierte Anschläge auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland durchzuführen. Schon bald befindet sich Wolf inmitten eines neuen Kalten Krieges –die Stasi lebt, und es scheint, als könnte nur er sie stoppen.

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Martin Schöne

Wolf spielt das Lied vom Tod

Martin Schöne, geboren 1968 im Westerwald. Nach dem Studium der Geographie arbeitete er als freischaffender TV-Produzent im Bereich Kriminalliteratur. Zurzeit ist er als Redakteur bei 3sat Kulturzeit tätig und hat dort eine monatliche Krimi-Kolumne. Er ist Mitglied in der Jury für den Deutschen Kurzkrimi-Preis und Mitglied in der Jury des Rudolph Dirks Awards der Deutschen Comic Con. Für die Dokumentation »Marek Krajewski – Tod in Breslau« erhielt er 2009 den Deutsch-Polnischen Journalistenpreis.

Der Titel »Wolf spielt das Lied vom Tod« aus seiner Thriller-Reihe um den coolen Ex-BKA-Zielfahnder Tom Wolf ist sein erstes Buch bei KBV.

MARTIN SCHÖNE

WOLF

spielt dasLied vom Tod

Originalausgabe© 2017 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheimwww.kbv-verlag.deE-Mail: [email protected]: 0 65 93 - 998 96-0Fax: 0 65 93 - 998 96-20Umschlaggestaltung: Ralf Krampunter Verwendung von:© luckyjoy7 und © trendobjects - www.fotolia.deLektorat: Volker Maria Neumann, KölnPrint-ISBN 978-3-95441-361-4E-Book-ISBN 978-3-95441-373-7

Dämonen.Man kann ihnen nicht entkommen.Schon gar nicht den eigenen.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Epilog

Danksagung

1

Tote.

Überall.

2

Viel zu heiß.

Zum Sterben.

Für nur irgendwas.

Es hilft nichts. Ein weiteres Kreuz wird in die knochentrockene Erde getrieben. Seit Wochen kein Regen. Luft, die steht. Still und schwer. Der Schrei einer Möwe. Seltsamerweise. Das hier ist Berlin. Nicht Malta. Doch die Sonne verbrennt auch hier alles. Die Bäume. Das Gras. Das Leben. Sie kennt kein Erbarmen.

Den Toten ist es egal.

Die beiden Friedhofsgärtner machen ihren Job. Wischen sich Schweiß von der Stirn. Der Minibagger ist schon weg. Erde türmt sich. Ein Spaten wie ein weiteres Kreuz. Staub zu Staub. Von Asche keine Spur. Ein letzter Schlag. Dann packen sie die Werkzeuge zusammen. Verschwinden schnell zwischen Heiligen und Engeln.

Im Hintergrund Hochhäuser. Nicht schön, aber funktional. Satellitenschüsseln an Balkonen. Sonnenschirme. Markisen. Mietskasernen. In Grau und Beige. Getrennt durch azurblauen Himmel. Kondensstreifen von Flugzeugen. Eine Propellermaschine zieht ein Banner. Jesus lebt.

Gut zu wissen. Denn hier ist der Tod zu Hause. Schleicht um die Gräber herum. Sitzt in den Wipfeln der Bäume. Umschmeichelt die Grabsteine. Die Sense bereit. Wartet. Still und geduldig. Irgendwann kommen sie alle.

Eine kleine Trauergemeinde nähert sich.

Lautlos. Die Hitze schluckt die Geräusche. Lässt sie tanzen wie zu stummer Musik. Ein Walzer in b-Moll. Vorneweg ein Priester. Es folgen die Träger. Der Sarg schwer zwischen ihnen. Angehörige in Schwarz dahinter. Männer. Frauen. Kinder. Die Gruppe stoppt. Der Geistliche bleibt seitlich der Grube stehen. Dreht sich zu den Wartenden. Schweigt. Ein feierliches, ernstes Gesicht. Zur Schau gestellte Trauer.

Jesus lebt.

Die sechs Sargträger setzen sich in Bewegung. Jeweils drei von ihnen rechts und links an der Grube vorbei. Ihre Last genau über die quer ausgelegten Balken. Ein stilles Kommando. Vorsichtig lassen sie den Sarg hinab. Treten zurück. Die Hände vor dem Körper verschränkt. Den Kopf gesenkt. Still stehen sie da.

Bewegung.

Die Trauernden bilden einen Halbkreis.

Zwei Familien. Ein dürrer, großer Mann, dessen graue Haare fingerlang starr nach oben stehen. Als hätte ihn jemand gekrönt. Tiefe Furchen zerteilen sein Gesicht. Er hält sich militärisch gerade. Doch seine Schultern verraten ihn. Ein weiterer einzelner Mann südländischen Aussehens. In glänzenden schwarzen Schuhen. Braun gebrannt. Pechschwarzes Haar. Eine gefaltete, maltesische Flagge in den Händen. Ein gut aussehender, junger Mann im Rollstuhl. Die Hände verbunden. Eine tätowierte, junge Frau greift seine Schulter. Formen und Farben wachsen auf ihren nackten Armen nach unten. Selbst die Hände sind bedeckt von Tattoos. Sie senkt den Kopf. Blonde, kurze Haare. Eine einzelne blaue Strähne fällt ihr ins Gesicht. Daneben eine weitere Frau. Älter. Ihr Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Eine Schönheit. Klassische Züge. Auch sie hält sich gerade. Doch es ist eine bewusste Haltung. Gezwungen. Eine Art Panzer, der sie schützen soll. Als stemmte sie sich der Trauer entgegen. Ein afrikanisches Kind an der Hand, ein Kleinkind auf dem Arm. Eine italienisch aussehende Familie komplettiert die Gemeinde. Ein kleiner, schmaler Mann mit seiner hübschen Frau. Zwei Kinder. Ein Mädchen. Ein Junge.

Alle schwitzen.

Alle schweigen.

Alle hassen den Tod.

Jesus lebt.

Die Propellermaschine verschwindet hinter den Baumwipfeln. Das Motorengeräusch ebbt langsam ab. Dann wird es seltsam still. Als hielten die Menschen die Luft an. Als warteten sie auf Antworten von Fragen, die keiner von ihnen beantworten kann.

Warum?

Warum jetzt?

Warum er?

Verdammt noch mal: Warum die ganze Scheiße?

Stille breitet sich aus wie zähflüssiger Stahl bei der Schmelze. Jetzt wird es ihnen bewusst. In diesem Augenblick. Es gibt keine Antworten. Nicht hier. Nicht heute. Wahrscheinlich niemals mehr. Davor haben sie sich gefürchtet.

Es hilft nichts. Der Geistliche setzt noch einmal zu einer Predigt an. Spricht von Freundschaft und Familie. Von Verlust und Trost. Dass das Leben mit dem Tode nicht zu Ende sei. Daran kann man glauben oder nicht. Dennoch spüren die Trauernden Verbundenheit. Jedem von ihnen gibt sie Halt. Trotzdem weinen die Frauen und Kinder. Oder gerade deswegen. Sie halten sich an den Händen. Tränen. Wenigstens daran glauben sie.

Erhobene Arme. Der Geistliche spricht den Segen. Schließt für einen Moment die Augen. Nickt dann den Trägern zu. Hände, die Taue packen. Ziehen. Der Sarg wird angehoben. Hände, die Balken beiseite räumen. Vorsichtig wird die Last in die Tiefe gelassen. Hände, die Taue herausziehen. Die Füße der Helfer. Hintereinander gehen sie in Richtung Kapelle davon.

Der Geistliche tritt an den Rand des Grabes. Nimmt den Spaten aus der Erde. Lässt Staub auf den Sargdeckel fallen. Murmelt unverständliche Worte. Bekreuzigt sich. Tritt dann zurück. Überlässt das Ritual den Trauernden.

Nacheinander treten sie an die Grube. Staub vermischt sich mit Tränen.

Der Mann im Rollstuhl ringt nach Fassung. Kramt in der Tasche. Lässt eine Postkarte in die Tiefe segeln. Ballt die verbundenen Fäuste. Die junge Frau drückt seine Schulter. Küsst ihn auf den Kopf. Schiebt ihn in den Schatten. Macht Platz für die Frau mit dem Kleinkind. Den afrikanischen Jungen an sich gedrückt, geht sie in die Knie. In der freien Hand hält sie eine rote Rose. Lässt sie in die Grube hinabfallen. Ihre Schultern beben. Der kleine Italiener zieht sie hoch. Umarmt sie. Spricht beruhigend auf sie ein. Wischt ihr eine Träne von der Wange. Dann nimmt auch seine Familie Abschied.

Der Mann mit den glänzenden Schuhen ist als Nächster an der Reihe. Im Stillen ein Gebet. Unchristlich garniert mit Schimpfwörtern und Flüchen. Obwohl er durch und durch Katholik ist. Er kann nicht anders. Nicht heute. Nicht hier. Nicht jetzt. Freitag wird er zur Beichte gehen. Dann ist er zurück auf seiner Insel.

Er kocht innerlich. Ist wütend und verzweifelt gleichermaßen. Hält seine Fassade aber aufrecht. Zwischen seinen Fingern gleitet die Flagge auf den Sarg. Adieu, mein Freund. Er hebt den Kopf. Farewell, Alter. Ein letzter, kameradschaftlicher Gruß. Sieht mit einer Mischung aus Trauer und Wut auf den Namen. Jemand hat ihn ins Kreuz geschnitzt. Geschwungene Zeichen. Kerben. Mit schwarzer Farbe gefüllt. Kann es immer noch nicht glauben. Liest die Buchstaben und Zahlen. Immer und immer wieder.

W

o

l

f

Darunter.

1964

-

2016

Er schüttelt den Kopf.

Warum, mein Freund?! Was ist schiefgegangen?! Was, verdammt noch mal.

Hat genug. Will weg. Dreht sich um. Geht.

Die Gemeinde schließt sich ihm an. Der Pfarrer folgt in kurzem Abstand. Nur der Mann mit den grauen Haaren bleibt zurück. Er will allein sein mit dem Toten. Wartet, bis Büsche und Bäume die anderen schlucken. Dann tritt er vor, den Blick auf den Eichensarg gerichtet. Legt den Kopf schief. Ein Lächeln umspielt seine Lippen, das zu einem Grinsen wächst.

»Leb wohl, treuer Kamerad«, murmelt er.

Er lauscht noch eine Weile den sich entfernenden Stimmen. Freut sich auf die Trauerfeier und darauf, dass es noch nicht vorbei ist.

»Man kann nicht immer gewinnen, Wolf.«

Er senkt den Blick. Spuckt in die Grube. Legt den Kopf in den Nacken. Beginnt zu lachen. Lauthals. Er schließt die Augen. Genießt seinen Triumph. Kostet ihn aus. Atmet noch einmal tief durch. Will gehen. Dreht sich um …

… und stirbt.

Er hat den Schuss nicht einmal mehr gehört.

Das Stück Blei zerschneidet den Nachmittag in zwei Teile. Das Projektil trifft ihn mittig in die Stirn. Und tritt am Hinterkopf wieder aus. Gehirnmasse und Knochensplitter spritzen auf Kreuz und Erde. Feiner Blutnebel steht einen Moment in der Luft. Dann trägt eine Böe ihn fort in die Ewigkeit. Wie in Zeitlupe kippt er nach hinten. Hinein in das ausgehobene Grab.

Sein Leben versickert im Staub.

Viel zu heiß.

Aber nicht zum Sterben.

Zwei Wochen zuvor …

3 Das Leben war wieder in den richtigen Bahnen.

Beileibe nicht perfekt – eigentlich ein gutes Stück entfernt davon –, aber ich freute mich auf die Zukunft. Fühlte mich den Umständen entsprechend prächtig. Ich war soeben mit Anke aus Malta zurückgekommen. Beide knabberten wir an den Geschehnissen der letzten Woche. Waren ziemlich lädiert. Konnten von Glück sagen, am Leben zu sein. Folter. Kampf. Verlust. Aber ich würde mich schnell erholen. Hatte schon Dutzende solcher Schlachten geschlagen. Es gehörte zum Geschäft. Das war mein Leben. Immer schon gewesen.

Anders Anke. Entführung. Tod. Trauma. Ihr ging es schlecht. Richtig schlecht. Auch jetzt noch. Alles kam hoch. Für sie war es die Hölle. Sie war einfach nicht dafür gemacht. Was sie brauchte, war Ruhe. Die Wunden waren das eine. Sie würden heilen. Die verletzte Seele das andere. Zeit. Nichts anderes würde helfen.

Jetzt Berlin – eine Wohltat.

Mein bester Freund Mauro hatte uns am Flughafen erwartet. Uns chauffiert. In Watte gepackt. Umsorgt. Ein richtiger Freund. Mehr noch, Familie. Das alte Appartement neben seiner Werkstatt. Hier hatten wir ein gemachtes Nest vorgefunden. Frisch renoviert. Liebevoll eingerichtet. Erstbezug sozusagen. Sogar an Blumen hatte er gedacht. An Vorhänge und Bilder. Frische Bettwäsche. Neue Fußmatte. Crime scene – do not cross. Ich liebte seinen Humor. Alles schrie Geborgenheit. Frieden. Stille. Hier konnten wir in Ruhe unsere Wunden lecken.

Jetzt wollte ich raus auf die Bahn.

Raus, den Kopf freikriegen. Kilometer fressen. Den Asphalt bügeln. Ich rutschte auf den Fahrersitz meines BMW. Wie hatte ich ihn vermisst. Drehte den Schlüssel. Lauschte dem sämigen Klang des 6-Zylinders. Schloss die Augen. Spürte die seichten Vibrationen. Das vertraute Kribbeln. Die automobile Schönheit entlockte mir einmal mehr ein Lächeln. In dieser Sekunde tickte die Uhr langsamer. Das Leben verdichtete sich auf das Jetzt. Genau das, was ich brauchte.

Ich öffnete die Augen.

Wollte den ersten Gang einlegen. Gas geben. Doch mein Blick fiel auf einen Zettel unter dem Scheibenwischer. Im ersten Moment dachte ich an eine Nachricht von Mauro. Daran, dass er mich und Anke nicht mehr stören wolle. So war er, rücksichtsvoll. Galant. Ganz der sizilianische Gentleman.

Ich stieg aus.

Der Zettel war eine Postkarte. Keine Adresse. Keine Briefmarke. Kein Stempel. Nichts. Ich drehte sie zwischen den Fingern. Verharrte.

Ein Satz.

In Bleistift: Es war schön, Dich wiederzusehen, Wolf.

Mein Körper reagierte, bevor der Verstand auch nur ansatzweise arbeitete. Ich stand unter Strom. Hörte mein Blut in den Ohren rauschen. Schweiß brach mir aus. Meine Hände kribbelten. Wurden heiß. Kalt. Heiß. Ich stützte mich am BMW ab.

Eine Postkarte.

Sechs beschissene Worte.

Vergangenheit. Gegenwart. Zukunft. Alles verschob sich. Alles verdichtete sich.

Sechs beschissene Worte.

Einmal im Jahr. Zum Geburtstag. Nur ein Mensch wusste von den Karten. Diesen bitteren Worten. Nur einem Menschen hatte ich jemals davon erzählt. Nicht Anke. Nicht Mauro.

Nein.

Philip.

Mein Blick fiel wieder auf die Karte in meiner Hand. Philip war hier auf dem Grundstück der Werkstatt gewesen. Ich sah mich um. Nichts. Lief ans Tor. Niemand. Die Straße. Leer. Verwaist. Ich lehnte mich mit dem Rücken an die Mauer. Rutschte langsam hinunter, bis ich saß. Die Karte glitt mir durch die Finger, überschlug sich mehrmals in der Luft. Blieb mit der Schrift nach oben liegen. Wieder las ich die Worte. Über Kopf.

Es war schön, Dich wiederzusehen, Wolf.

Wann? Wo? Meine Gedanken flogen zurück.

Es war schön, Dich wiederzusehen, Wolf.

Dann sah ich es vor mir.

Falsche Nase. Falsches Kinn. Falsche Wangen. Alles passte nicht richtig zusammen. Falsche Augen. Schwarz, nicht blau. Die falsche Stimme. Zu tief. Viel zu tief.

Nicht Philip, hatte ich gedacht.

Ich hatte mich geirrt. Hatte ihn nicht erkannt. Mister Romero – so hatte er sich genannt. Der, der mir auf Malta alles besorgen konnte. Waffen. Geld. Mädchen. Sogar eine Familie. Wenn ich wollte. Der, der mir so fremd gewesen war. Für meinen Vater gearbeitet hatte. Mir sein Lächeln geschenkt hatte. Jetzt wusste ich warum.

Mister Romero war Philip.

Philip war Mister Romero.

Der Operationssaal im Keller meines Vaters. Schönheitschirurgen. Blitzende Skalpelle im Neonlicht. Plan B. Der beschissene Plan B. Weil mich mein Vater nicht locken konnte. Alles fügte sich zusammen. Philip hatte die Nachfolge des großen L’imperatur auf Malta angetreten. So sah es aus. Es hatte direkt vor mir gelegen. Zum Greifen nahe.

Mit Sicherheit hatte sich mein Vater das etwas anders vorgestellt. Doch er hatte die Geister selbst gerufen. Dafür hatte er mit dem Leben bezahlt.

Hatte wirklich Philip ihm die Kehle durchgeschnitten? Von einem Ohr zum anderen? Ihn in seinem Rollstuhl verbluten lassen. Mit der Stirn auf der kalten Tischplatte. Zugesehen, wie alles aus ihm heraussprudelte? Er zuckte und würgte, bis er schließlich an seinem eigenen Blut ertrank?

Unvorstellbar …

Es war schön, Dich wiederzusehen, Wolf.

Philip lebte, verdammt!

Mehr noch. Er war in der Nähe. Spielte mit mir. Verhöhnte mich. Ich griff nach der Postkarte. Stand auf. Ging nachdenklich zurück ins Haus.

Das Leben kotzte mich einmal mehr an.

4 Der Mann auf dem Dach gegenüber fluchte stumm.

Die Zeit wurde knapp. Verdammt knapp.

Sein Ziel war früher aus Malta zurückgekehrt, als er gedacht hatte. Er hatte es soeben noch hier raufgeschafft. War schon einmal auf diesem Gebäude gewesen. Hatte es ausgekundschaftet. In aller Ruhe. Wusste, worauf er achten musste. Es war perfekt. Ein Glücksfall.

Er hatte schon ganz andere Bedingungen vorgefunden. Einsehbare Positionen. Belebte Orte. Tage, an denen es so kalt war, dass er die Finger kaum warmhalten konnte. Finsterste Nacht. Sandstürme. Gegenlicht. Manchmal ging es nicht anders. Aber hier und jetzt hatte er Glück.

Nichts hatte sich verändert. Das Schloss zur Dachluke unberührt. Der Tropfen Wachs noch an Ort und Stelle. Er hatte ihn auf das Loch des Schließzylinders gegeben. Wie er es gelernt hatte. Absicherung. Akribie. Nichts dem Zufall überlassen. Gute Vorbereitung war die halbe Miete.

Er war Profi.

Vorsichtig hob der Mann den Kopf. Sah über die kniehohe Brüstung. Wolf auf dem Bürgersteig. Geschätzte fünfzig Meter entfernt. Den Rücken an der Werkstattmauer. Wolf saß auf dem Präsentierteller. Ahnungslos. Ganz in seine Welt versunken.

Es wurde Zeit. Der Mann zog den Kopf wieder ein. Seine Finger fanden den Reißverschluss der Segeltuchtasche, die neben ihm lag. Er öffnete sie. Ertastete den kühlen Körper der Waffe. Mit einer flüssigen Bewegung hob er sie an. Griff mit der anderen Hand den Lauf. Steckte beide Teile zusammen. Klappte das Zweibein aus. Er konnte sich auf seine Finger verlassen. Sie arbeiteten selbstständig. Schnell. Zuverlässig. Blind konnte er die Sako zusammensetzen. Im Schlaf.

Wenn es sein musste.

Den Schalldämpfer hatte er im Wagen vormontiert. Das hatte ihm einfach ein gutes Gefühl gegeben. Da war er abergläubisch. Ein Ritual. Die Schulterstütze. Passgenau rastete sie ein. Das Gewicht der Waffe angenehm vertraut. Eine seltsame Ruhe breitete sich in ihm aus.

Eine Patrone vom Kaliber 7,62 x 51 mm NATO.

Fünf davon hatte er vor sich aufgestellt wie brave Soldaten. Mehr als einen Schuss würde er nicht brauchen. Die Fünf war seine Glückszahl. Der Verschluss lief butterweich. Er ließ die Patrone in die Kammer gleiten. Lud behutsam durch. Ein leises Klicken – kaum hörbar. Perfekt.

Fast.

Er legte die Waffe auf die Dachpappe. Ließ die Knöchel seiner Schusshand knacken. Eins fehlte noch: die Laservisiereinheit. In der Seitentasche. Eingeschlagen in ein Tuch. Er holte sie heraus. Wickelte sie aus. Hob sie ans linke Auge. Wieder riskierte er einen Blick. Der Entfernungsmesser zeigte genau vierundfünfzig Meter an.

Wolf hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Kauerte immer noch am Boden. Das perfekte Ziel. Für einen Scharfschützen ein Kinderspiel. Fast schon eine Beleidigung.

Er war Profi.

Kurz setzte er das Zielfernrohr ab. Aus beiden Augen ließ er den Blick über die Dächer der benachbarten Industriebauten gleiten. Zur Linken ein metallverarbeitender Betrieb. Ein Küchengeschäft. Ein Gebrauchtwagenhändler. Weiter hinten der schmucklose Komplex einer Speditionsfirma. Zur rechten Brachland. Im Anschluss ein Schrottplatz. Vor sich die Sportwagenschmiede M+M. Die Fensterfront von Wolfs Appartement – gute achtzig Meter entfernt.

Auch hier ein ideales Schussfeld.

Wieder fixierte er Wolf.

Die Karte zwischen den Fingern, verschwand dieser soeben durchs Tor zur Werkstatt. Die Mauer schluckte ihn. Toter Winkel. Ein Blick zum Schornstein über den Garagen. Das Windfähnchen. Schlaff. Der Mann auf dem Dach grunzte.

Die Visiereinheit.

Die Sako.

Warten.

5 Anke.

Wolf hatte sie allein gelassen. Er wollte raus auf die Straße. Den Kopf freibekommen. In den BMW und ab. Sie liebte ihn dafür. Er spürte, wenn sie Zeit für sich brauchte. Sie lächelte. Das erste Mal, dass ihr das bewusst auffiel.

Fühlte sich so Glück an? Bald würden sie eine Familie sein. Bald würden sie den Jungen aus Malta nach Berlin holen.

Beschwingt zog sie sich aus. Bis auf die Unterwäsche. An Philip wollte sie jetzt nicht denken. Erst morgen wieder. Dieser Moment gehörte ganz ihr selbst. Eine Dusche. Heißes Wasser. Den Dreck abspülen. Die Erinnerungen. Scheiß auf die Wunden. Sie war in Sicherheit. Sie war bei ihm.

Sie schlüpfte ins Bad. Sah sich im Spiegel lächeln. Zwinkerte sich zu. Stellte das Wasser an. Ein Piepsen. Ihr Handy. Eine SMS.

Wolf, dachte sie. Ihr Herz hüpfte.

Sie ging zurück in den Wohnraum. Kramte das Handy aus den Taschen ihrer Jeans. Rief die Benachrichtigungen auf. Erstarrte.

Nein.

Nein.

Nein.

Von ihnen.

Da stand: ES GEHT LOS.

Nur drei Worte.

Wie ICH DREH DURCH.

Die Welt zerriss. Ihr Traum löste sich auf. Stattdessen war da etwas anderes. Der Drang, einfach wegzulaufen. Einfach raus hier. Weg. Alleine sein. Verkriechen. Für Immer. Und ewig.

Fast hätte sie sich übergeben.

Ihr Glück zerfiel. Wolf. Der Junge. Frisch adoptiert. Die Familie. Endlich wieder. Aber sie hatten sie in der Hand.

Der Teufel.

Das Pack.

Kein Entrinnen.

Niemals.

Ihre Gedanken kreisten um Wolf. Im Kopf suchte sie nach Worten. Wie erklären, was nicht zu erklären ist.

»Wie feige ich bin«, murmelte sie. »Wie gern würde ich alles rausschreien, Geliebter. Lies meine Gedanken.«

Verdammt.

Lies sie:

Wolf, ich liebe dich.

Aber ich muss gehen. Es geht nicht. Da ist diese Dunkelheit, die mich zu verschlingen droht. Alles ist falsch. Mein Leben eine einzige Lüge.

Wo fange ich an?

Am besten ganz vorne. Peter. Ich habe meinen Mann geliebt. Ja, ich kann sagen, dass ich ihn wohl immer noch liebe, und dass sich das nie ändern wird – obwohl er tot ist. Aber es ist eine andere Liebe als die zu dir jetzt. Beide seid ihr damals gleichzeitig in mein Leben getreten. Man kann nicht sagen, dass ich euch gesucht habe, vielmehr habe ich euch gefunden. Peter war immer der Sanftere von euch beiden, zarter, aber nicht weniger männlich. Ganz im Gegenteil, ich liebte seine Art, mir zu zeigen, wie sehr er mich begehrte.

Du, Wolf, warst ganz anders. Misstrauischer. Unnahbarer. Ein Einzelgänger. Trotzdem spürte ich dein Verlangen. Aber es musste Peter sein, damals. Heute ist das anders. Peter ist nicht mehr. Und du bist immer noch da. Besser sollte ich sagen, wieder da. War es Schicksal, dass Philip verschwunden ist und ich dich um Hilfe gerufen habe? Nein, nichts von alledem ist Schicksal.

Nichts.

Wolf, mein Leben ist eine einzige Lüge.

Lange habe ich geglaubt, damit umgehen zu können. Aber ich war allein. Du hast mich allein gelassen. Ich leide unter Depressionen. Nehme Tabletten. Zu viel und zu oft. Viel zu viel, viel zu oft. Aber ich gebe nicht dir die Schuld. Dass du mich nicht falsch verstehst, hörst du?! Nein, das ist allein meine Entscheidung gewesen.

Ich kann nicht mehr.

Philip hat mich im Leben gehalten. Doch auch er ist gegangen. Fort. Von heute auf morgen. Vielleicht habe ich ihn vertrieben. Ganz bestimmt habe ich das. Kinder spüren die Wahrheit, auch wenn sie sie nicht kennen. Doch, das meine ich ernst.

Ich habe so viel falsch gemacht.

Es ist nur gerecht, dass alle Menschen, die mir je etwas bedeutet haben, gegangen sind. Peter. Du. Philip. Vielleicht sollte ich auch einfach gehen. Die Sache beenden. Hier und jetzt. Nach all den Jahren die Reißleine ziehen.

Keine Schmerzen mehr. Keine Angst mehr. Keine Lügen mehr.

Ich bin schuld.

Und ich habe es von Anfang an gewusst. Es konnte nicht gut gehen. Wie naiv war ich, zu glauben, es gebe einen Ausweg. Zu glauben, irgendwann sei es vorbei. Einfach so. Ohne Konsequenzen. Alles, was ich tat und tue, hat Konsequenzen. Weitreichende. Entscheidende. No way out – kein Weg raus. Nur tiefer hinein. Von Anfang an. Eine Spirale. Abwärts. Immer weiter. Immer schneller. Das Ende, Leid und Tod.

Jetzt zahle ich den Preis dafür.

Eben habe ich eine SMS erhalten. Ich hatte gehofft, sie würden mich vergessen und unsere Liebe hätte eine Zukunft. Ich habe die Augen verschlossen. Mich tot gestellt. Gebetet und gehofft. Doch der Dunkelheit in mir kann ich nicht entkommen. Sie füllt mich vollkommen aus. Bald verschlingt sie mich.

Leb wohl, mein Geliebter. Morgen bin ich weg.

Und verzeih mir …

Es ist allein meine Schuld!

Sie griff die Reisetasche. Paralysiert. Stellte sie neben den Nachttisch. Morgen würde sie verschwinden.

Gleich nach dem Aufstehen.

6 Ich fühlte mich hochgradig beschissen – im doppelten Sinn. Die Postkarte zwischen meinen Fingern schien zu brennen. Vor dem BMW blieb ich stehen. Funkelte den Scheibenwischer an, als wäre er schuld an alledem.

Er war hier gewesen. Hier im Hof. Hier in meinem Revier.

Philip.

Was sollte ich tun? Anke informieren? Schweigen? Ich hatte ihr auf Malta das Versprechen gegeben, über alles zu reden. Gemeinsam. Keine Geheimnisse mehr.

Ein Versprechen!

Ich schaute die Karte an. Warum hatte Philip auf diese Weise mit mir Kontakt aufgenommen? Was wollte er mir damit sagen? Was?! Warum kam er nicht einfach aus seinem Versteck spaziert. Sagte: »Hey Wolf, wir müssen reden.«

Ja, verdammt noch mal. Reden hilft. Das hatte ich von Anke gelernt. Mann, wir waren eine Familie!

Konnte er nicht? Wollte er nicht? Was sollte der Scheiß?!

Ich drehte mich um die eigene Achse. Rief: »Zeig dich! Ich bin dein Freund, verdammt! Deine Familie!«

Vor dem Tor fuhr ein Auto vorbei. In der Ferne bellte ein Hund. Die Straße. Der Hof. Die Werkstatt. Verwaist. Kein Philip. Keine Menschenseele. Niemand. Ich fluchte. Was sollte ich tun? Alles stehen und liegen lassen und ihn suchen?

Was sollte ich tun?

Ich spürte kalten Zorn wie Sodbrennen in mir aufsteigen. Zwang mich zur Ruhe. Er war doch der große Zampano. Derjenige, der mit mir und seiner Mutter Katz und Maus spielte. Er war derjenige, der seine Familie verriet.

Ich hatte die Schnauze voll von Heimlichkeiten. Von Menschen, die nur sich selbst sahen. Von Menschen, die einfach verschwanden. Ich hatte es so satt zu suchen. So verflucht satt.

»Fick dich!«, zischte ich durch geschlossene Zähne. Stieß etwas zu fest die Tür zur Garage hinter dem Wagen auf. Von hier gelangte ich über eine Treppe in mein Appartement. Ich dachte an Anke. Keine Geheimnisse mehr. Ich würde mein Versprechen halten. Reden. Über alles. Gemeinsam. Das würde ich.

»Bin wieder da«, rief ich.

Die Wohnungstür fiel hinter mir ins Schloss. Ich verharrte. Stille. Für einen Moment stand ich unschlüssig da. Der Nachmittag ging langsam in den Abend über. Durch die breiten Fenster zum Hof floss nur noch diffuses Licht in den großen Raum. Auf dem Bett sah ich Ankes Klamotten. Jeans. Bluse. Davor Sneaker. Die Reisetasche neben dem Nachttisch. Hörte beim Nähertreten das Rauschen von Wasser aus dem angrenzenden Bad.

Ich spielte kurz mit dem Gedanken, mich auch auszuziehen. Ihr nah zu sein. Sie zu spüren. Aber die Erlebnisse auf Malta waren heftig gewesen. Sie konnte noch immer kaum laufen. Konnte von Glück sagen, von der Kugel nicht schlimmer erwischt worden zu sein. Ich durfte daran gar nicht denken.

Also ging ich hinüber in die offene Küche. Legte Philips Postkarte auf den Tisch. Holte zwei Tassen aus dem Schrank. Startete den Kaffee-Vollautomaten. Während er aufheizte, inspizierte ich den Kühlschrank. Voll. Mauro hatte wirklich an alles gedacht.

»Danke, mein Freund.«

Ich dachte an die Ruine, die ich damals verlassen musste. Brandbomben waren durch die Scheiben geflogen wie wütende Vögel. Die Flammen hatten ganze Arbeit geleistet. Nichts hatte ich retten können. Nicht einmal meinen Stolz.

Während ich auf Malta war, hatte Mauro aufgeräumt. Sich um alles gekümmert. Mir diese Luxussuite hier hingestellt. Ein bisschen zu viel von allem. Aber Mauro hatte es gut gemeint. Sicherlich ein Versuch, mich hier zu binden.

»Komm endlich zur Ruhe, Wolf.« Dabei sprach er mit mir wie mit einem kranken Gaul. Ich grinste. »Vielleicht, mein Freund, vielleicht hast du es geschafft.«

Ich blickte zur Badezimmertür. Spürte mit einem Mal Glück.

»Alles wird gut, Anke«, flüsterte ich.

Das grüne Lämpchen an der Maschine blinkte. Ich ging mit der Tasse hinüber. Stellte sie unter den Auslass. Drückte den Knopf. Kaum hörbar wurden Bohnen gemahlen. Mit kurzer Verzögerung und einem Zischen verließ herrlich duftender Kaffee den Automaten. Ich nahm einen Schluck. Ließ ihn im Mund umherwandern. Schloss die Augen. Langsam ging es mir besser.

Den Schock von kurz zuvor hatte ich verdaut.

Ich genoss den Kaffee bis zum letzten Tropfen. Stellte die Tasse in die Spüle. Sah hinüber zur Badezimmertür.

»Anke?«

Lauschte. Nichts. Ging hinüber.

Lauter. »Anke? Willst du auch einen Kaffee?«

Wieder nichts.

Schlagartig hatte ich ein komisches Gefühl.

»Beruhig dich, Wolf«, redete ich mit mir selbst. »Nicht immer findest du hinter verschlossenen Türen Leichen. Du bist paranoid.«

Es half nichts. Das Gefühl blieb. Ich öffnete die Schiebetür – musste es einfach tun.

Sie saß zusammengekauert in der Dusche. Das Wasser prasselte auf sie hinab. Ihre Unterwäsche hatte sie an. Den Kopf zwischen den Knien. Die Hände im Nacken. Ihre Schultern bebten.

»Anke …« Ein raues Flüstern.

Dann war ich bei ihr. Das Wasser eiskalt. Ich ließ es laufen. Nur wärmer. Ich hockte mich neben sie. In voller Montur. Als ich den Arm um sie legte, sah sie mich an. Tränen und Wasser und Wimperntusche. Sie sagte kein Wort. Schaute mich einfach nur an. Ich zog ihren Kopf heran. Drückte ihn an die Brust.

»Ich weiß«, flüsterte ich. »Ich weiß!«

Das Wasser prasselte und nahm die Worte mit.

Wie lange wir so dagesessen hatten, ich weiß es nicht. Es war auch nicht wichtig. Was zählte, war der Moment. Der Augenblick.

Bilder schoben sich vor. Malta. Strand. Meer. Ihr lebloser Körper. Hände, die sie aus dem Wasser fischten. Blaue Lippen. Geschlossene Augen. Blut, das pochend aus ihrer Wunde lief. Finger, die das Loch verschlossen. Sanitäter. Geschrei. Panik. Der Tod. Ganz nah. So verdammt nah.

Im Hier und Jetzt. Bewegung in meinen Armen. Ankes Atem an meinem Hals. Ihre Hand an meiner Wange. Lippen, die die meinen suchten. Zögerlich. Eine Ertrinkende. Ich zog sie auf die Beine. Spürte Widerstand. Zog immer und immer weiter. Beharrlich.

Ein Seufzen. Endlich. Er brach – der Widerstand. Fingernägel in meinem Fleisch. Der Schmerz. Wir lebten. Die andere Hand suchte meinen Hosenbund. Fand ihn. Rutschte rein. Fester Griff. Alle Dämme brachen. Wir liebten uns hart, wir liebten uns sanft. Eine Achterbahnfahrt der Gefühle. Hemmungslos, bedingungslos. Sex pur.

Das Wasser prasselte auf uns nieder und nahm auch den Rest mit.

Atemlos klammerten wir uns aneinander. Genossen den Moment. Dass es ihre Art war, Lebewohl zu sagen, sie mich schon am nächsten Morgen verlassen würde, wurde mir erst klar, als ich ihren Blick sah.

»Wirklich?«, fragte ich.

Sie nickte nur. An ausgestreckten Armen hielt ich sie vor mir.

»Du schaffst das hier in Berlin nicht.«

Wieder nickte sie nur.

»Ich dachte, wir zwei …«

Ihr Zeigefinger an meinen Lippen. »Wolf, das hat nichts mit uns zu tun. Ich liebe dich, das weißt du. Aber ich …« Sie schlug die Augen nieder. Erzitterte. »Ich brauche Zeit. Zeit für mich. In dieser Stadt hier habe ich alles verloren. Peter. Philip. Alles.«

Philip.

Ich dachte an die Postkarte auf dem Küchentisch. »Ich …«

»Bitte, Wolf. Ich fliege morgen zurück nach Malta. Es gibt so vieles, um das ich mich dort kümmern kann. Das wird mir guttun. Schließlich haben wir ein Kind adoptiert.«

»Und deine Verletzungen?«

»Ich werde auch dort einen guten Arzt finden.«

Ich starrte sie an. Wollte böse sein. Konnte nicht. Ich liebte diese Frau. »Ich verstehe. Versprich mir nur eins …«

»Wenn ich Hilfe brauche, rufe ich dich an.«

Ich musste lachen. »Kluges Mädchen. Ich werde Sandro anrufen. Er wird dich im Appartement unterbringen. Noch ist es nicht verkauft.«

Ich glitt aus der Dusche. Streifte die restlichen Klamotten ab. Griff nach dem Badetuch. Nachlässig trocknete ich mich ab. Anke schenkte mir ein Lächeln. Mit einem Handtuch um die Hüften schlüpfte ich in die dunkle Wohnung. Dieses Lächeln. Es versöhnte mich mit der Welt.

Die Schiebetür zog ich hinter mir zu. Tappte zum Tisch hinüber. Ertastete die Postkarte. Drehte sie im Kreis. Nein, die sollte sie nicht sehen. Auch wenn ich ihr dieses Versprechen gegeben hatte. Das eben … Sie steckte ohnehin in einer Krise. Warum alles noch komplizierter machen?!

Ich öffnete die Schublade. Ließ Philips zweifelhaften Gruß verschwinden.

Irgendwie erleichtert trat ich ans Fenster. Blickte hinaus in die Dunkelheit.

Wir mussten lange unter der Dusche gewesen sein. Draußen tauchten Straßenlaternen die Welt in blasses Licht. Der Hof selbst war finster wie ein Bärenarsch.

Ich hörte die Schiebetür. Drehte den Kopf. Ankes Hand wanderte zum Schalter. Zwei Deckenfluter flammten auf. Drei Nummern zu grell. Mindestens. Ich kniff die Augen zusammen. Lächelte ihr zu.

Mitten in der Bewegung hielt sie inne. Schüttelte den Kopf, als wäre ihr irgendetwas in den Sinn gekommen. Huschte zurück ins Bad. Ich wandte mich um. Sah mein Spiegelbild in der Scheibe. Narben. Blaue Flecken. Groteske Formen und Farben. Andenken an Malta. Stumme Zeugen.

Und ich sah den scheiß kleinen, roten Punkt. Wie eine lästige Fliege wanderte er über meine Stirn.

Fuck!

7 Die Kugel traf punktgenau ihr Ziel.

Durchschlug den gesamten Schädel, um dann ins Trudeln zu geraten. Sie hatte dennoch ausreichend Bewegungsenergie, um acht Zentimeter tief ins Mauerwerk dahinter einzudringen.

Der Schalldämpfer hatte seine Aufgabe erfüllt. Bis auf ein matschiges Ploppen und ein widerliches Klatschen war nichts zu hören gewesen. Nicht annähernd laut genug, unten auf der Straße wahrgenommen zu werden. Geschweige denn, Aufmerksamkeit zu erregen. Wahrscheinlich hätten Passanten nur einmal kurz den Kopf gedreht, um dann ihren Weg fortzusetzen.

Die Zielperson selbst war nach hinten gekippt. Schon tot und seelenlos, bevor sie auf dem Boden aufschlug. Um ihren Kopf hatte sich ein roter Heiligenschein ausgebreitet. Zitternd wachsend wie Lava, die aus dem Erdinneren fließt.

Der Schütze hielt den Abzug noch eine Weile in der Endposition. Atmete kontrolliert und gleichmäßig ein und aus. Durch die Visiereinheit beobachtete er die leblose Gestalt. Nicht weil er befürchtete, der Kerl könne noch aufstehen. Sondern weil er sich vergewissern wollte, auch die richtige Zielperson erwischt zu haben. Ein Foto zur Identifizierung war nicht nötig. Kannte er den Mann doch aus einem anderen Leben.

Es passte.

Zufrieden ließ er das Gewehr sinken. Flink zerlegte er es in seine Einzelteile. Ließ diese in eine Sporttasche verschwinden. Prüfend sah er zu Boden. Versicherte sich, keine Spuren zu hinterlassen.

Er schulterte sein Gepäck.

Verschwand lautlos, wie er gekommen war.

8 Flammen fraßen sich durch Papier, Celluloid und Fleisch.

Hinterließen nichts als Glut und Asche. Das Feuer war an drei verschiedenen Stellen des Lagers gleichzeitig ausgebrochen. Jeweils in zwei gegenüberliegenden Ecken und in der Mitte waren Sprengsätze deponiert gewesen. Mit nahezu 6.900 Metern pro Sekunde war das versteckte TNT explodiert. Und hatte die Welt in ein Inferno verwandelt. Wer von den unglücklichen Angestellten nicht durch die Explosionen direkt getötet worden war, wurde Opfer des alles erstickenden Rauches und der Flammen. Das Gebäude brannte die ganze Nacht über bis in die frühen Morgenstunden.

Asche zu Asche.

Der Plan war aufgegangen. Die herbeigerufenen Einsatzkräfte konnten nur noch mit ansehen, wie der ganze Block verglühte. Und schließlich krachend in sich zusammenfiel. Funken stoben in die Luft. Eine weiße Ascheschicht bedeckte Autos und Asphalt.

Die drei Täter hatten sehr schnell gearbeitet. Unter falschem Namen Akteneinsicht beantragt. Für die gleiche Uhrzeit am gleichen Tag. Nach Prüfung durch den zuständigen Beamten war den Anfragen schließlich stattgegeben worden. Die Kontrollen am Eingang des Gebäudes waren kaum der Rede wert gewesen. Ein Beamter hatte lediglich Legitimation und Personalien geprüft. Die Rucksäcke jedoch nicht durchsucht. Hatten sie doch wahrscheinlich nur Papier enthalten. Vielleicht noch einen Laptop. Wer in dieses Gebäude kam, wollte schließlich etwas über sich erfahren. Oder seine Angehörigen. Oder Freunde. Oder Nachbarn. Oder ehemalige Mitarbeiter in seinem Betrieb. Gibt es eine Akte von mir? Wer hat mich ausspioniert? Wenn ja, wie lange? Vielleicht sogar der eigene Bruder? Die Schwester? Besucher kamen in guter Absicht hierher. Normalerweise. Obwohl der gesunde Menschenverstand einem eigentlich das Gegenteil sagen musste. Eine Münze hat immer zwei Seiten. Die Spitzel von damals waren vielleicht immer noch da draußen. Denunzianten. Kaderhörige. Opfer.

Nachdem die Täter den riesigen Raum betreten hatten, waren sie ausgeschwärmt. Dutzende Regale voller Papier und Ordner. Katalogisiert. Gestapelt. Jeder hatte exakt gewusst, was er zu tun hatte. Ihr Anführer hatte sich auf die Suche nach einer bestimmten Akte begeben. Der kleine, drahtige Mann fand sie korrekt abgelegt. Unter W. Im hinteren Bereich einer langen Reihe. Er hatte die erste Seite aufgeschlagen. Den Namen geprüft. Das Geburtsdatum. Sicher war sicher.

Er hatte einen klaren Auftrag. Es wäre eine Katastrophe, die falschen Dokumente abzuliefern. Zufrieden hatte er die fingerdicke Akte schließlich unter die Jacke geschoben.

Der Rest konnte draufgehen.

Zeit für den zweiten Teil seines Auftrags.

Ein paar Regalwände weiter fand er die ideale Stelle. Etwa in der Mitte des Raumes. Er war in die Knie gegangen. Und hatte seinen Rucksack geöffnet. Ein Päckchen entnommen. Schuhkartongroß. Den Timer auf 15 Minuten gestellt. Den Zünder in den Sprengsatz gesteckt. Von seinem Paket aus war ein Signal gesendet worden. Es ließ auch die beiden anderen Bomben seiner Komplizen gleichzeitig explodieren. Auf die Millisekunde genau.

Er hatte den Sprengsatz weit nach hinten unter die Regale geschoben. Geprüft, ob es in irgendeiner Weise zu sehen war. Perfekt. In aller Gelassenheit das Gebäude verlassen. Nur ein Besucher, der nach Hause ging. Ein Kinderspiel.

Draußen war er auf seine beiden Komplizen gestoßen. Ein kurzes Nicken. Beide hatten ihre Sprengsätze ebenfalls deponiert. Ein Blick auf die Uhr. Noch elf Minuten. Zwei Straßen weiter waren sie zusammen in einen schwarzen Mercedes gestiegen.

Und verschwunden.

Niemand hatte von ihnen Notiz genommen.

Der Anfang war gemacht. Wolfs Akte wie geplant auf einem Schreibtisch gelandet. Nur ein paar Straßen weiter.

Es hatte begonnen.

Operation Gemini war endlich angelaufen.

9 Ich blinzelte – und der rote Punkt war verschwunden. Dann schlug ich auch schon auf dem Parkett auf. Rollte über die linke Schulter ab. Ging hinter der Couch in Deckung. Das Handtuch war mir von den Hüften gerutscht. Lag wie weggeworfen vor dem Fenster.

Scheiße, was war das gewesen?

Ich schielte hinter der Lehne hervor. Sah nur das Appartement. Matt. Verschoben. Eine verzerrte Wirklichkeit im Spiegel.

Wer war da draußen? Wer hatte auf mich gezielt? Hatte überhaupt jemand auf mich gezielt? Oder hatte ich mir den roten Punkt nur eingebildet?

Nein.

Die Schiebetür.

»Wolf?!«

»Bleib im Bad!«

Anke steckte den Kopf ins Zimmer.

»Zurück, verdammt!« Ich schrie ihr die Worte entgegen.

Sie verschwand wieder hinter der Tür. Ihre Stimme zitterte. »Was ist denn los?«

Eine gute Frage. Ich fluchte. »Lösch die Fluter, Anke.«

»Was?!«

»Das Licht! Mach das verdammte Licht hier im Wohnzimmer aus!«

Ihre Hand kroch hinter der Tür hervor. Kein roter Punkt zeigte sich. Gut. Die Finger tasteten weiter über die Wand. Fanden den Schalter. Mit einem Knacken gingen die Lampen aus. Das Licht aus dem Badezimmer, eine Schneise im Appartement. Dann erlosch auch das. Sie ging auf Nummer sicher.

Dunkelheit schlug brutal über mir zusammen. Scheinbar endgültig. Nur langsam ließen sich Konturen erkennen.

Wieder blickte ich hinter der Couch hervor. Keine Spiegelung mehr. Die Welt vor dem Fenster war schwarz. Die matte Straßenlaterne ein Lichtklecks, mehr nicht. Die Gebäude gegenüber ließen sich nur erahnen. Unmöglich zu sehen, ob jemand an einem der Fenster stand oder auf dem Dach.

Ich kam auf die Beine. War mit ein paar schnellen Schritten an der Schiebetür.

»Bleib im Bad, Anke. Ich bin gleich wieder da. Und lass das Licht aus.«

»Was ist los?« Eher wütend denn besorgt.

»Ich weiß es noch nicht. Da war was. Draußen.«

Aus dem Schrank angelte ich mir eine Unterhose. Jeans. Sweatshirt. Die Turnschuhe. Ich griff nach hinten in den Schrank. Wühlte mich durch T-Shirts. Mauro hatte Wort gehalten. Meine Finger fanden den kalten Griff einer Automatik. Ich zog sie hervor. Überprüfte sie. Das Handy. Die kompakte, aber leistungsstarke LED-Lampe. Dann war ich an der Tür. Durchquerte die Garage. Tastete mich vorwärts. Der Hof. Ich lief um den BMW herum ans Tor.

Zögerte. Keine gute Idee, einfach den Haupteingang zu nehmen. Sollte tatsächlich ein Schütze gegenüber lauern, wäre ich leichte Beute.

Ich konnte nur hoffen, dass die Tür zum Reifenlager immer noch das kaputte Schloss hatte. Also zurück. An der Mauer entlang. Im Schatten der Dunkelheit.

Eine Palette. Mein Knöchel. Keine gute Kombi. Ich fluchte. Biss auf die Zähne. Die Wand zum Reifenlager. Die Tür nur eine Ahnung. Als wäre das Schwarz dort noch dichter. Die Klinke. Nahezu lautlos schwang die Tür nach innen. Na also, ging doch. Durch den Spalt. Das helle Rechteck eines Fensters an der hinteren Wand. Da musste ich hin.

Es roch penetrant nach Gummi. Meterweise Regale. Stapel von Reifen. Felgen. Werkzeuge. Der Boden leicht schmierig. Vorsichtig glitt ich zum Fenster. Musste die Fensterbank von irgendwelchen Spraydosen und Lacken freiräumen. Dann konnte ich es öffnen.

Ich steckte den Kopf ins Freie. Nichts. Kein Auto. Kein Mensch. Nur Sirenen in der Ferne. Die Gegend wie tot. Ich sprang auf den Bürgersteig. Überquerte die Straße im toten Winkel. Schlug mich durch die Büsche. Um dann in einem weiten Bogen hinter das Gebäude zu gelangen, das genau gegenüber der Einfahrt zu Mauros Werkstatt war. Dunkel lag es vor mir. Erst am Montag würden sich die Büros wieder füllen.

Das offene Fenster fand ich direkt. Lauschte. Mein Griff um die Waffe wurde fester. Nichts. Kein Laut. Ich zog mich am Fensterrahmen in die Höhe. Glitt in den Raum dahinter. Niemand erwartete mich.

Wie ich es beim BKA gelernt hatte, arbeitete ich mich Stockwerk für Stockwerk nach oben. Wäre ich ein Scharfschütze, wäre das Dach meine erste Wahl. Ein offenes Fenster hingegen könnte auffallen. Und man saß in einem Zimmer fest. Nur eine Tür, das konnte schnell zur Falle werden.

Die oberste Etage. Die Leiter zum Dach. Die Automatik im Anschlag starrte ich direkt in den Nachthimmel. Die Luke war sperrangelweit geöffnet. Kühle Luft senkte sich auf mich herab.

Ich hörte in mich hinein. Verließ mich auf meine Instinkte. War allein. Wer auch immer hier gewesen war, längst verschwunden.

Trotzdem wollte, musste ich nachsehen. Vielleicht fand ich Spuren. Irgendetwas, das mir weiterhelfen würde. Niemand hinterlässt gar keine Hinweise. Zigarettenkippe. Kaugummipapier. Fußabdrücke. Irgendetwas.

Das Dach war flach wie ein Kuchenblech. Keine Rohre. Keine Kästen. Keine Verstecke. Eine ebene Fläche. Begrenzt nur durch die Brüstung zur Straße. Der Himmel dahinter und darüber eine Nuance heller.

Wind kam auf. Leicht. Frisch. Widerlich. Er trieb mir einen eigentümlichen Geruch in die Nase. Ich erstarrte. Schnüffelte. Mit allem hätte ich gerechnet, aber nicht den Bluthund geben zu müssen. Brauchte Licht. Riskierte es. Ließ die Taschenlampe aufblitzen. Abgeschirmt mit der Hand. Reflexionen. Wie Zuckerguss.

Scheiße!

Obwohl ich vorgewarnt war, traf mich das, was ich sah, wie ein Faustschlag.

Die Oberfläche einer beachtlichen Blutlache glänzte im hellen Schein der LED. Ein Körper dahinter. Wie weggeworfen. Es ist schwer, Größe und Gewicht einer Person zu schätzen, die liegt und gleichzeitig noch einen Schatten wirft. Aber ich hatte den Eindruck, einen relativ kleinen Mann vor mir zu haben. Er lag halb auf der Seite. Den Rücken zu mir. Stiefel. Armeehosen. Darüber eine Jacke. Sein Halstuch über das Gesicht gerutscht. Ein Zipfel in der riesigen Blutlache. Halb vollgesogen.

Ich runzelte die Stirn. Die Proportionen passten ganz und gar nicht. Es sah aus, als wäre der Kopf zur Hälfte in die Betondecke getrieben worden. Als hätte ein Riese seinen Stiefel darauf abgesetzt und sein Gewicht verlagert. Ich wusste, was das hieß: Ein Teil des Schädels fehlte.

Ich leuchtete den Bereich unmittelbar vor mir ab. Wollte keine Spuren zerstören. Erst recht keine hinterlassen. Fehlte nur noch, dass ich in der Sauerei ausrutschte. Dann könnte ich gleich meine Visitenkarte dalassen. Dieser widerliche Geruch von Blut. In einem Bogen ging ich um den Toten herum.

Ein Gewehr zu seinen Füßen. Eine Hochpräzisionswaffe. Zweifarbig lackiert. Braun und grün. Camouflage. Zweibein. Schalldämpfer. So lang wie mein Unterarm. Das Arbeitsgerät eines Profis. Ich ging in die Hocke. Scannte Zentimeter für Zentimeter. Zog den Ärmel meines Sweatshirts über die Hand. Keine Fingerabdrücke hinterlassen.

Die Optik. Ein Druck. Rot schwebte der Punkt am Fuß der Brüstung. Die scheiß kleine Fliege.

Ich sah nach rechts. Nach vorn. Wieder nach rechts. Im Entengang bewältigte ich den Meter zur Brüstung. Und leuchtete den Rand ab. Da. Feine Einkerbungen im Mauerwerk. Da wo das Zweibein Kontakt gehabt hatte. Von hier konnte ich direkt auf mein Appartement blicken.

Anke hatte nicht auf mich gewartet. Die dicken Vorhänge waren zugezogen. Am rechten Ende blitzte Licht durch den Spalt zur Wand. Ich nahm es nüchtern zur Kenntnis. Auch ich hätte keine Lust gehabt, mich auf unbestimmte Zeit im Bad zu verschanzen.

Ich leuchtete nach rechts. Zum anderen Gebäude hinüber. Der helle Strahl an der Fassade. Hoch. Hinauf bis aufs Dach. Die andere Position.

Dort musste er gesessen haben, der andere Schütze. Mein Schutzengel. Der, der mich beschützt hatte. Der, der mir das Leben gerettet hatte. Der, der längst verschwunden war. Er hätte sich längst gezeigt. Da war ich sicher. Instinkt, Erfahrung oder eine Mischung von beidem. Ich war hier mit der Leiche des Heckenschützen allein.

Die Leiche.

Ich drehte mich um. Und blickte den Toten an. Ging näher ran. Leuchtete. Das Projektil hatte die rechte Kotelette durchschlagen. Ein sauberes, hässliches Loch. Das Gesicht. Geschwärzt. Kriegsbemalung. Auf wundersame Weise unversehrt. Jedenfalls der Teil, der nicht vom Tuch bedeckt wurde.

Moment!

Ich schluckte.

Das kann nicht sein!

Ich zitterte, als ich den Zipfel mit spitzen Fingern leicht anhob. Und die Lampe genau auf die Reste des Gesichtes richtete.

Scheiße!

Aber das sagte ich bereits.

10 Ich stieß die Luft aus. Ließ das Tuch los. Hatte genug gesehen.

Antonio schien einen wirklich üblen Tag gehabt zu haben.

Ich stand auf. Löschte die Lampe. Stand in der Dunkelheit. Abendgeräusche tropften auf mich herab. Perlten ab. Nur der Tod und ich.

Was zum Teufel ging hier vor?!

Antonio.

Pater Antonio. Ehemals Priester auf Malta. Aber auch ein Fremdenlegionär. Ein Söldner. Durch und durch. Nun war er gestorben, wie er gelebt hatte: mit der Waffe in der Hand. Long Kitty. So hatte er sein Gewehr genannt. Seine Braut – wie er gesagt hatte. Bis dass der Tod sie scheidet – oder so ähnlich. Jetzt lag sie neben ihm. Im Tode vereint.

Auf Malta hatte Antonio mir geholfen. Mich verraten. Wieder geholfen. Auch wenn ich ihn niemals als Freund bezeichnet hätte, sein Tod bewegte mich.

Zum Schluss hatte er für den mächtigen L’imperatur gearbeitet. Den Paten der Insel. Dessen Stern im Begriff war unterzugehen. Der L’imperatur, der sich als mein tot geglaubter Vater entpuppte. Der L’imperatur, der mich auf seine Seite ziehen wollte. In seine Fußstapfen sollte ich treten. Sein Imperium aus Gewalt und Profit in die nächste Generation führen. Ich – oder Philip. Den er wie einen Enkelsohn, der ihm selbst verwehrt geblieben war, angenommen hatte. Aber es kam anders. Sein zweifelhaftes Reich starb mit ihm. Ich hatte Malta den Rücken gekehrt – für immer. Die Wunden noch frisch.

Und Philip? Der hatte sich abgesetzt von der Insel. Zurück blieb die Leiche meines Vaters. Noch mal: War er dafür verantwortlich? Auch Antonio hätte die Möglichkeit gehabt. Oder sonst einer seiner Männer. Ich wusste es nicht. Würde es vielleicht niemals erfahren.

Und jetzt? War Antonio hier aufgetaucht, um mich auszuschalten? Lag die Antwort nicht vor mir? Er war ein vorzüglicher Scharfschütze, ich hatte es auf Malta erlebt. Aber warum? Aus freien Stücken? Oder erledigte er wieder die Drecksarbeit für irgendwen? Einmal Söldner, immer Söldner.

Ich ging in die Knie. Schüttelte den Kopf. Schloss ihm die Augen. Bedeckte sein Gesicht mit dem Tuch. Ruhe in Frieden.

Aber wer hatte ihn erledigt? Philip? Ich dachte an die Botschaft auf der Karte hinter dem Scheibenwischer. Er war hier gewesen, das stand fest. Aber war er auch der Killer von Antonio? Mein Philip?!

Immer noch konnte ich mir nicht vorstellen, dass mein Ziehsohn dermaßen abgerutscht sein sollte. Erst ein Dieb, der sich Tonnen von Stasi-TNT unter den Nagel gerissen hatte. Dann ein Waffenhändler, der Sprengstoff an den L’imperatur verticken wollte – und jetzt ein Mörder?! Vielleicht sogar ein Doppelmörder?!

Mein Kopf brummte. Zu viele Fragen für den Moment. Viel zu viele.

Feierabend, dachte ich bitter.

Und weg hier.

11 Kennen Sie diese Tage, die mit diesem einen komischen Gefühl beginnen? Als säße jemand auf Ihrer Brust und hindere Sie am Atmen? Wenn die Alarmglocken schrillen als gäbe es kein Morgen? Und Liegenbleiben die einzig vernünftige Alternative ist? Klar kennen Sie die.

Schon am Vorabend herrschte zwischen Anke und mir eine seltsame Funkstille. Sie sah mich nicht mehr an. Ignorierte mich, wie man einen Hund ignoriert, der auf den Lieblingsteppich geschissen hat. Ich hasste es, wie ein unliebsames Haustier behandelt zu werden. Ich war machtlos. So verdammt machtlos. Und überfordert.

Was lief hier falsch, verdammt?

Erst als sie was von Migräne murmelte und in der Schlafecke verschwand, schien ich wieder freier atmen zu können.

Ihr Schweigen folterte mich noch beim Frühstück. Ihre Bewegungen waren spärlich. Ein Biss in den Toast. Ein Nippen am Kaffee. Blick in die Unendlichkeit. Ich existierte auch weiterhin nicht.

Wie bitte verhält sich da der Mann? Wie bloß?

Ich hatte keine Ahnung, noch weniger Übung. Schwere Jungs hatte ich zuhauf zum Singen gebracht. Lag unter Feuer, und der einzige Ausweg ein Sprung aus dem dritten Stock. Bei geschlossenen Fenstern. Jetzt aber brach mir der kalte Schweiß aus.

Himmelherrgottnochmal!

Ich spürte das Verlangen, einen psychopathischen Massenmörder aus einem panamaischen Gefängnis zu entführen. Mit ihm durchs ganze Land zu reisen. Von mir aus auf dem Buckel, sollte er nicht laufen können. Die Meute im Nacken. Unter Feuer. Gehetzt. Über den halben Kontinent hinweg. Gebt mir den Auftrag und ich sitze im Flieger nach Panama-Stadt. Und zwar sofort!

Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was ich verbrochen hatte.

Sie merkt, dass ich ihr etwas verheimliche. Hatte ich zuerst gedacht. Aber sie hatte nicht einmal den Versuch eines Gespräches unternommen. Danke und Gute Nacht die einzigen Worte. Nicht einmal angesehen hatte sie mich dabei.

Vielleicht das Trauma ihrer Verletzungen? Die Folgen ihrer Entführung auf Malta? Das damit einhergehende Ableben zahlreicher Menschen? Sie hatte dem Tod ins Auge gesehen. Und die Augen der Toten.

Ich konnte nur spekulieren.