Wolfsnächte - Manfred Eichhorn - E-Book

Wolfsnächte E-Book

Manfred Eichhorn

4,9

Beschreibung

Dezember 1999. Auf dem Rainbauerhof in Harthausen wird wenige Tage vor Weihnachten eine junge Frau erhängt aufgefunden. Ihr Abschiedsbrief gibt Kommissar Klaus Lott von der Kripo Ulm Rätsel auf. Als tags darauf im Nachbarort ein weiterer Suizid gemeldet wird und das Opfer dieselben Zeilen hinterlässt, glaubt Lott nicht mehr an einen Zufall. Die Spur führt Lott und seine Soko "2412" zu einer okkulten Vereinigung, die sich "Die Hüter der Wolfsnächte" nennt und die es sich zur Aufgabe gemacht hat, den überlieferten Losungen dieser Nächte zu folgen. Die Welt steht an der Schwelle zu einem neuen Jahrtausend, in Harthausen aber scheinen die Uhren rückwärts zu laufen. Als sich dann noch der Jahrhundertsturm "Lothar" ankündigt, kann die "Wilde Jagd" beginnen!

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Manfred Eichhorn

Wolfsnächte

Manfred Eichhorn

Wolfsnächte

Ein Baden-Württemberg-Krimi

Manfred Eichhorn, geboren 1951, ist selbstständiger Buchhändler in Ulm und Autor von Romanen, Erzählungen, Sketschen, Theaterstücken, Gedichten und Kinderbüchern in Schwäbisch und Schriftdeutsch.

Karl-Heinz Hahn,Erster Kriminalhauptkommissar a. D.,in Dankbarkeit gewidmet

© 2012 by Silberburg-Verlag GmbH,

Schönbuchstraße 48, D-72074 Tübingen.

Alle Rechte vorbehalten.

Lektorat: Michael Raffel, Tübingen.

Umschlaggestaltung: Christoph Wöhler, Tübingen.

Coverfoto: © Helmut Petrat – fotocent.

E-Book im EPUB-Format: ISBN 978-3-8425-1544-4

E-Book im PDF-Format: ISBN 978-3-8425-1545-1

Gedrucktes Buch: ISBN 978-3-8425-1216-0

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www.silberburg.de

Prolog

In der Ferne hörte man ihr Geheul. Sie schrien den Mond an.

»Es sind Wölfe«, sagte die Rainbäuerin.

»Es gibt keine Wölfe bei uns«, erwiderte die Tochter. »Was da heult, sind Hunde.«

»Sie haben ein Schaf gerissen!«

»Du träumst, Mutter!«

»Und morgen reißen sie dich!«

»Es ist der neue Hund vom Metz. Sie haben ihn an die Kette gehängt. Und wenn der heult, dann heulen die anderen Dorfhunde mit.«

»Die Wölfe sind hungrig. Sie kommen bereits bis zum Stall. Und die Hühner sind unruhig.«

»Der Fuchs geht um. Beim Lenzbauer hat er letzte Nacht zwei Hühner geholt. Ihr Hahn hats nicht verhindern können.«

»Es sind Wölfe. Wegen einem Fuchs scharren die Kühe nicht mit den Hufen.«

»Es gibt keine Wölfe bei uns!«

»Kind, du weißt nichts.«

»Lass gut sein, Mutter.«

»Fünf Nächte lang muss man sie noch ertragen, sieben der zwölf Nächte, in denen sie heulen und umgehen, sind schon vergangen.«

»Ein Jahr noch, dann beginnt ein neues Jahrtausend!«

»Der Sturm draußen, hörst du ihn? Es werden viele alte Frauen sterben im Dorf. Sei froh, dass du jung bist.«

»Ich bin auch nicht mehr jung.«

»Aber jung genug, um noch zu begreifen. Ich habe die schwarzen Hunde gesehen. Sie bewachen die Welt der Toten. Sie haben mich gerufen mit ihrem Hundegebell zur Mitternacht.«

»Ich dachte, es wären Wölfe?«

»Wölfe und schwarze Hunde. Nichts weißt du!«

»Geh jetzt ins Bett, Mutter. Ich kümmere mich um alles.«

»Beim Heiligabendläuten habe ich die Schlösser von unseren Türen und Truhen geschmiert. Das wird dir Reichtum bringen.«

»Nicht mir. Wenn, dann wird es doch dir Reichtum bringen.«

»Denk an die schwarzen Hunde. Und denk an die Wölfe!«

»Das sind doch alles nur Märchen. Ein Jahr noch, dann beginnt ein neues Jahrtausend.«

In der Ferne hörte man wieder ihr Geheul.

»Hörst du?«

»Der neue Hund vom Metz, und der vom Lenzbauer heult gleich mit.«

»Die Wölfe kennen die Toten. Sie reden mit ihnen. Fünf Nächte lang werden die Wölfe noch heulen. Dann sind alle Zeichen gesetzt.«

Die Rainbäuerin ging zum Fenster und zog den Vorhang ein Stück weit auf.

»Siehst du den Schein der Windlichter? Mit Fackeln jagen sie am Himmel entlang. Zünde auch du ein Windlicht an. Das wird sie besänftigen. Sie wissen genau, wen sie sich vorknöpfen. Die Guten und Fleißigen werden belohnt, die Bösen bestraft. Was wir gesät haben, werden wir nun ernten.«

Dienstag, 21. Dezember 1999

1

Uwe Schwegler war in Feierlaune. Der Leiter des Dezernats für Wirtschaftsdelikte, illegales Glücksspiel, Betrug, Fälschungen und Falschgelddelikte hüpfte durch den Korridor des Neuen Baus wie ein Schuljunge, für den die Weihnachtsferien beginnen.

Am anderen Ende des Korridors angekommen, betrat Schwegler das Büro des Dezernats 1, zuständig für Mord, nicht natürliche Todesfälle, ungeklärte Leichen und Brandermittlung, welches Klaus Lott, Erster Kriminalhauptkommissar, leitete. Bei ihm saß der Kollege Max Brauchle, Kriminalhauptkommissar und Lotts rechte Hand.

Schwegler, die aktuelle Tageszeitung unterm Arm, betrat das Dienstzimmer, schlug noch im Gehen die Zeitung auf und las ihnen unaufgefordert die allein dominierende Schlagzeile des Lokalsportteils vor: »Das Glück kommt zu dem, der zu warten vermag.«

Als die von ihm erhoffte Reaktion der Kollegen ausblieb, intonierte er noch einmal den geradezu philosophischen Satz und fügte feierlich hinzu: »Am 4. Dezember waren wir Tabellenletzter, und alle hatten uns bereits abgeschrieben. Und jetzt, nach dem 3 : O-Sieg gegen die Frankfurter Eintracht, der dritte Dreier in Folge. 15. Tabellenplatz. Sechs Punkte von einem Abstiegsplatz entfernt …«

»Ond bloß no drei Punkt zu ma einstelliga Tabellaplatz«, stimmte jetzt Brauchle in Schweglers Enthusiasmus mit ein.

»Das Glück kommt zu dem, der zu warten vermag«, sagte Schwegler zum dritten Mal, und Brauchle fügte aufatmend dazu: »Ond was hemmer net gwartet.«

Beide waren sie Fußballverrückte. Seit ihr Verein, der SSV Ulm 1846, in diesem Jahr in die Erste Fußball-Bundesliga aufgestiegen war, schwebten sie förmlich im siebten Fußballhimmel. Und ihre Götter waren Leandro und Hans van de Haar, Rui Marques und Oliver Otto sowie die übrigen Spieler des rund dreißigköpfigen Kaders – allesamt kurz aufleuchtende Sternchen am Fußballhimmel, die allzu schnell wieder verglühen würden –, angeführt von ihrem Trainer Martin Andermatt, der Zeus unter ihren Göttern.

»Forever, forever, forever now – Ulmer Spatzen, der SSV«, sang Uwe Schwegler jetzt und war nicht mehr zu bremsen. Fehlte nur noch, dass er seinem Feuerzeug eine Flamme entsteigen ließ und diese mit sentimental pathetischer Geste in die Höhe reckte.

Das Klingeln des Telefons durchschnitt die Hymne, die gerade erneut in den Refrain münden wollte. Mit einer entsprechenden Handbewegung bat Lott um Ruhe, denn er musste sich eine Adresse notieren, die ihm von der Notrufzentrale soeben durchgegeben wurde.

Lott legte den Hörer zurück, schaute Max Brauchle vielsagend an und sagte: »In Harthausen hat sich jemand erhängt.«

»Drei Däg vor Weihnächta! Herrgott no amol, für den hot gwieß jemand omsonschd a Gschenkla kauft«, war Brauchles launischer Kommentar.

»Es handelt sich um eine Frau«, klärte Lott ihn auf.

»Kein SSV-Fan«, grinste Schwegler achselzuckend, faltete die Zeitung zusammen und winkte damit als Zeichen des Aufbruchs den beiden Kollegen zu. An der Tür drehte er sich noch einmal um und lächelte: »Und denkt dran, Freunde: Das Glück kommt zu dem, der zu warten vermag.«

Lott und Brauchle griffen nach ihren Jacken und zogen sie noch im Gehen an, dann nahmen sie die Treppe, eilten zum Parkplatz und stiegen in ihren Dienstwagen. Lott setzte sich auf den Beifahrersitz, Brauchle fuhr, so hielten sie es im Allgemeinen.

Der Weg nach Harthausen führte sie über die Weststadt nach Söflingen.

»Jetzt wärad mir schier drhoim«, seufzte Brauchle, als sie an der Leonhardskapelle vorbeikamen, und schaute die Jörg-Syrlin-Straße hoch. Brauchle wohnte im Maienweg, der gleich um die Ecke war. Auch Lott wohnte in diesem Viertel. In der Käthe-Kollwitz-Straße, aber erst seit dem eben vergangenen Herbst. Dort hatten seine Frau Elli und er eine Vier-Zimmer-Eigentumswohnung erworben. Seit Lisa in Freiburg studierte und sich dem Elternhaus allmählich entzog, war ihnen das gemietete Einfamilienhaus in Reutti mit dem dazugehörenden Tausendquadratmetergarten zu groß geworden. Dass er allerdings wieder in Söflingen, dem Ort seiner Kindheit und Jugend, wohnen würde, das hatte er so nicht geplant. Aber Elli hatte alle damit verbundenen Vorteile ins Feld geführt: Stadtnähe, Straßenbahn – ihre Liste der praktischen Errungenschaften, die dieser Wohnungswechsel mit sich bringen würde, schien unbegrenzt zu sein. Selbst die Friedhofsnähe verbuchte sie auf der Habenseite, so dass Lott schließlich keine andere Wahl blieb, als ihrem Wunsch zuzustimmen.

Lotts Blick fiel auf den Kollegen. Brauchle schaute irgendwie wehmütig aus der Wäsche.

»Was ist los, Max?«

»Was soll scho sei?«, antwortete Brauchle ausweichend.

Es war Lott nicht verborgen geblieben, dass es mit der Ehe seines Kollegen nicht zum Besten stand. Das lag sicher auch daran, dass Max sich in seiner Freizeit mehr und mehr dem Fußball verschrieben hatte. Zuletzt trainierte er sogar eine Frauenfußballmannschaft und war dadurch an vielen Abenden und kaum einem Wochenende einmal zu Hause.

Brauchles einzige Tochter, etwas jünger als Lisa, war zudem in diesem Jahr zu ihrem Freund gezogen. Das setzte der Einsamkeit von Brauchles Ehefrau die Krone auf.

»Was macht ihr an Weihnachten?«, fragte Lott absichtslos.

»An schlechta Eidruck«, murrte Brauchle. Bei dieser Antwort schien sein ohnehin großer runder Kopf noch größer und runder zu werden, als hätte sein Unmut nicht genug Platz in ihm.

»Jetzt im Ernst«, hakte Lott nach.

»Frog me net«, wich Max aus.

»Aber du bist doch daheim?«

»I scho.«

»Und Lisbeth?«

»Sie fährt über Weihnachta zu ihrer Mutter. Zumindest droht se drmit. Ond mei Fräulein Tochter lässt sich über d Feiertäg ao net blicka.«

»Max, an der Situation bist du ja nicht ganz unschuldig, oder?«

Brauchle seufzte, sagte aber nichts darauf. Er war bereits auf der Harthauser Straße, auf Höhe der Sportplätze, und gab jetzt mehr Gas. Lott schaute auf die Uhr. Es war kurz nach Mittag.

»Wie war die Adress?«

»Rainbauerhof«.

Max schüttelte den Kopf. »So genau han i s jetzt gar net wissa wella.«

»Dorfstraße 3«, ergänzte Lott.

Brauchle bog hinter dem Ortsschild rechts ab. Von weitem sahen sie einen Streifenwagen auf dem Hof, der wohl der Rainbauernhof war, stehen. Brauchles Suche hatte sich damit erübrigt. Er parkte neben einem BMW, auf dessen Armaturenbrett das Schild ARZT im Dienst mit dem dazugehörigen Emblem, der Schlange, die sich um den Aeskulapstab windet, hervorstach.

Lott stieg aus und ging voraus. Gleich wurde er von der Streifenwagenbesatzung, die den Leichenfundort gesichert hatte, empfangen.

»Eine Josefa Pfäffle, sie hat sich im Stall aufghängt, an der obersten Sprosse einer fest verankerten Leiter, die zum Heuboden führt«, informierte einer der beiden, um Korrektheit bemüht, die Kommissare und ging voraus. Die Tote lag rücklings auf dem Stallboden, der Sisalstrick lag noch lose um ihren Hals. Ihre Augen waren einen Spaltbreit geöffnet, die Zunge lag zwischen den Zähnen. Neben ihr kniete der diensthabende Arzt. Lott erkannte ihn sofort. Es war der Maichel Bernd, sein Schulfreund. Er hatte Medizin studiert und sich später als praktischer Arzt in Söflingen niedergelassen.

Brauchle hatte bereits damit begonnen, die Leiche zu entkleiden, um den Körper nach Spuren einer möglichen Fremdeinwirkung zu untersuchen.

Lott stoppte ihn: »Lass das die KT machen.«

»Warum des?«

»Sicher ist sicher«, gab ihm Lott zur Antwort und rief per Handy im Dezernat 8 an, zuständig für die Kriminaltechnik und den Erkennungsdienst, für Spurensuche und Spurensicherung. Den Dezernatsleiter, Harald Lohner, einen noch sehr jungen Kollegen, bat er, er möge umgehend mit seinen Spezialisten zum Leichenfundort kommen.

Dann wandte er sich an einen der Schutzbeamten: »Wer hat die Leiche entdeckt?«

»Eine Tante der Toten, sie ist drinnen im Haus.«

Lott folgte ihm. Die Haustür stand einen Spalt weit offen. Vom Gang aus führte die erste Tür links in die Küche. Der Polizist ging voran und öffnete. An der Spüle hantierte eine Frau in dunkler Kittelschürze, eher über siebzig als darunter. Ihr Kopftuch war hoch über die Stirn gerutscht, so dass ihre Haare, die von Silberfäden durchzogen waren, sichtbar wurden. Als Lott eintrat, schaute sie ihn kurz an, wandte sich dann aber gleich wieder von ihm ab, um die unterbrochene Arbeit fortzusetzen.

»Mein Name ist Klaus Lott, ich bin von der Kripo in Ulm und hätte einige Fragen. Können wir uns setzen?«

Die Frau trocknete sich die Hände an ihrer Schürze ab, kam zum Tisch und wies Lott still an, unter dem Herrgottswinkel Platz zu nehmen.

»Darf ich Sie zunächst nach Ihrem Namen fragen?«, begann Lott.

»Heiler, Dorothea. Ich bin die Tante von der Josefa, ihre Mutter war meine Schwester. Sie ist verstorben.«

»Sie haben Ihre Nichte gefunden?«

Dorothea Heiler nickte.

»Wann haben Sie Ihre Nichte zuletzt gesehen? Ich meine, als sie noch am Leben war.«

Frau Heiler zuckte die Achseln. »Die ist ja gekommen und gegangen, wie es ihr gepasst hat. Und wir sind ja auch nicht immer da.«

»Wir?«, hakte Lott nach.

»Mein Mann und ich.«

»Wohnen Sie denn nicht hier?«

»Auf dem Rainbauerhof? Nein! Wir haben in Ermingen ein Reihenhaus, hier kümmern wir uns nur um alles, seit die Paula, meine Schwester gestorben ist.«

»Und Josefa, wohnte sie hier?«

»Eigentlich auch nicht. Erst die letzten Wochen hat sie hier fast dauernd übernachtet. Sie hat erst in Stuttgart und dann in Ulm Arbeit gehabt.«

»Was war sie denn von Beruf?«

»Sie würde in Immobilien machen, hat sie immer gesagt. Aber dann hat man ihr gekündigt. Erst in Stuttgart und dann auch in Ulm. Nach gerade mal acht Wochen. Aber dann ist sie wieder öfter hergekommen und hat hier auch geschlafen. Hat ja noch hier ihr Zimmer gehabt.«

»Erzählen Sie bitte, was heute genau passiert ist. Wann haben Sie Ihre Nichte entdeckt?«

»Vor eineinhalb Stunden etwa. Ich hab auch gleich nach meinem Mann geschrien.«

»Und?«

»Er hat die Polizei angerufen.«

»Wo ist er jetzt?«

»Zur Kapelle gegangen. Beten für die Josefa.«

Lott hörte, wie mehrere Fahrzeuge auf den Hof fuhren.

»Das wird Lohner mit seinen Kollegen von der Spurensicherung sein«, sagte er, mehr zu seinem Kollegen als zu der Befragten, und stand auf.

»Frau Heiler, mein Kollege wird jetzt Ihre Personalien und die Personalien Ihres Mannes aufnehmen. Ich bin gleich zurück, dann können wir weiterreden.«

Der Polizist, der bis jetzt an der Tür gestanden hatte, setzte sich an den Tisch, um die notwendigen Angaben zu protokollieren. Lott ging zum Stall hinüber. Brauchle hatte die Spurensicherung bereits angewiesen, vom Ereignisort, dem Aufknüpfpunkt, dem Strangulationsmittel und der Strangfurche am Hals Fotos zu machen. Auch der Körper der Toten wurde fotografiert.

»Wir wissen schon, was zu tun ist«, mokierte sich Lohner, worauf Brauchle sich beleidigt wegdrehte und nichts mehr sagte.

Die Hände der Toten wurden mit Klebeband abgeklebt, um eventuelle Faserspuren zu sichern. Die Auswertung dieser Faserspuren, sofern sie welche fanden, würde durch das KTI, das Kriminaltechnische Institut in Stuttgart, erfolgen.

Die Länge des Stricks wurde gemessen und die Stelle, an der er fixiert worden war, nach Spuren abgesucht.

»Ich sehe nichts, wo sie hätte hochsteigen können«, bemerkte Lohner. »Sie muss doch einen Hocker oder Stuhl dazu benutzt haben.«

»Und wenn sie die Leiter hochgestiegen ist, sich dort oben an der letzten Sprosse festgebunden hat und dann …« Marlies Kaupper von der Spurensicherung sprach nicht weiter, als sie Lohners Kopfschütteln darüber wahrnahm.

»Und warum nicht?«, fragte sie.

»Hast du dir die Hände der Toten angeschaut? Und die Leiter?«

»Immer eins nach dem anderen«, wehrte sich die Kollegin.

»Jede einzelne Sprosse ist völlig verdreckt. Es sieht so aus, als hätte diese Leiter seit Monaten keiner mehr benützt. An den Händen der Toten finden wir aber keinerlei Spuren davon.«

»Vielleicht wurde das Aufsteigemittel ja aus reinem Ordnungssinn oder ganz gedankenlos entfernt«, warf Lott ein.

»Freilich. Ond vielleicht d Stallgass no gschwend kehrt ond alles durchbutzt, was soll ao d Polizei denka, wenns do drenna aussieht wie bei Hempels onderm Sofa.« Brauchles Kommentar amüsierte alle. Dennoch wurden sämtliche Spuren gesichert.

Als die Kollegen der KT ihre Arbeit getan und den Stall wieder verlassen hatten, bat Lott den zweiten Streifenbeamten, per Funk zu veranlassen, dass das Beerdigungsunternehmen, mit dem die Ulmer Polizei einen Vertrag über den Leichentransport hatte, verständigt würde. Dann ging er zurück ins Haus, wo Frau Heiler immer noch auf ihn wartete.

Lott setzte sich wieder auf den Platz unter dem Kruzifix. »Frau Heiler, als Sie in den Stall kamen, haben Sie da nicht einen Stuhl, Hocker oder Ähnliches bei Ihrer Nichte entdeckt?«

Die Befragte schüttelte den Kopf. »Ich bin gleich rausgerannt und hab nach meinem Mann geschrien.«

»Wo war Ihr Mann zu der Zeit?«

»Im Haus.«

»Und dann?«

»Ich habe vor dem Stall gewartet. Keine zehn Pferde hätten mich da mehr reingekriegt. Die Josefa! Aufghängt im Stall!«

Dorothea Heiler verbarg ihr Gesicht in den Händen und schluchzte leise in diese hinein. Als sie, sich die Augen wischend, wieder aufschaute und in ein Taschentuch schnäuzte, beteuerte sie: »Ich bin nicht mehr da rein, keine zehn Pferde …«

Sie unterbrach den Satz, denn im selben Augenblick erschien ein Mann in der Tür. Er schaute Lott fragend an.

»Mein Name ist Lott, ich bin von der Kripo in Ulm«, kam ihm der Kommissar entgegen. »Sie sind Herr Heiler?«

Der Mann nickte. Zögerlich griff er nach Lotts grußbereiter Hand und setzte sich dann mit an den Tisch.

»Zunächst mein aufrichtiges Beileid, Herr Heiler.«

Herr Heiler nickte abwesend.

»Ich habe leider, wie es der Umstand erfordert, einige Fragen an Sie, Herr Heiler.«

Wieder nickte der Mann stumm.

»Sie waren, nachdem Ihre Frau Sie gerufen hatte, der Erste am Fundort. Was haben Sie getan?«

»I han erscht guckt, ob se no lebt. Aber sie war dod, sonscht hädd i se abgschnitta … aber so?«

»Haben Sie etwas verändert? Wir haben bei Ihrer Nichte kein Aufsteigemittel, also keinen Stuhl oder Hocker gefunden. Sie muss aber, um sich zu erhängen …«

Alfons Heiler unterbrach erschrocken Lotts Ausführungen und verneinte: »I han nix weggräumt. I bin ins Haus ond han 110 agrufa.«

»Und dann?«

»Ben i los. Nix wie en d Kapell nauf ond betet. Für dr Josefa ihr Seel. Wer sich so versündigt, hots net leicht en Himmel zum komma. Do brauchts de ganz Fürbitte. Alle Nothelfer muss ma arufa. Ond wer solls doa außer ons. Sie hot ja sonscht niemand.«

»Verwandtschaft hat sie immer gebraucht, die Josefa, auch wenn sie sonst nicht viel von uns gehalten hat«, sagte Dorothea Heiler mit einem bitteren Blick.

»Sag des net, onser Josefa war koi Schlechte.«

»Dich hat sie um die Finger gewickelt!«

»Schwätz doch net raus.«

»Aber verkauft hätte sie trotzdem.«

»Was verkauft?« Lott wurde hellhörig.

»Den Hof«, antwortete Frau Heiler.

Ihr Mann zuckte mit den Achseln, sagte aber nichts.

Lott wäre darauf gern gleich eingegangen, weil er spürte, dass da etwas nicht in Ordnung war, irgendetwas, das mit diesem Hof zu tun hatte. Doch er wusste, wenn er sich jetzt zu weit vorwagte, würden sie für immer dichtmachen.

»Und Sie haben wirklich nichts weggenommen, Herr Heiler? Vielleicht ganz in Gedanken, um Ordnung zu schaffen. Denken Sie nach.«

Alfons Heiler zögerte. »Ebbes scho«, rückte er langsam mit der Sprache heraus.

»Und das wäre?«

Heiler stand auf, öffnete eine Keksdose, die auf der Anrichte stand, und zog ein Blatt hervor. »Ihr Abschiedsbrief.«

»Wo haben Sie den entdeckt?«

»Em Stall. Aufm Strohballa isch er glega.«

»Und wo lag der Strohballen?«

»En dr Stallgass.«

»Neben Ihrer Nichte?«

»A Stückle weiter weg.«

»Mir ist vorhin kein Strohballen aufgefallen. Den müssen Sie mir nachher zeigen«, bat Lott.

Alfons Heiler nickte.

Lott schaute auf den Brief. Um nicht weitere Fingerabdrücke zu hinterlassen, bat er den Streifenbeamten um eine Folie und Schutzhandschuhe. Beides befand sich im Wagen. Eine Minute später kam der Uniformierte mit den gewünschten Utensilien zurück. Lott streifte sich die Handschuhe über, faltete den Brief auseinander und las die mit ungelenker Hand geschriebenen Zeilen:

Der dunkelste Tag, die längste Nacht.

Die Glocken beginnen zu läuten.

Heute ist der Tag des Gerichts.

Ich habe gesündigt, ich bin mein eigener Richter.

Die Strafe ist gerecht. ich bin Mein eigener Henker.

mÖge Gott Mir veRzeihen.

DER Tod ist mein eigenes Urteil.

Josefa

Kaum hatte Lott den Brief zu Ende gelesen, hörte er einen Wagen vorfahren. Er schaute aus dem Fenster und sah, dass es der Leichenwagen war. Brauchle, der die Leiche beschlagnahmt und den Leichensack inzwischen mit dem entsprechenden Anhänger versehen hatte, veranlasste, dass sie in die Friedhofshalle des Ulmer Hauptfriedhofs gebracht wurde. Dort würde man sie unter Verschluss halten, bis der Staatsanwalt sie freigab.

Lott steckte den Brief in die Folie und sagte, Heiler zugewandt: »Können Sie jetzt mit mir in den Stall rübergehen?«

Heiler nickte, stand auf und ging dem Kommissar zielstrebig voran.

Brauchle war gerade dabei, mit Hilfe des Polizisten den Stall zu versiegeln. »Warte noch einen Augenblick«, unterbrach ihn Lott. »Wir müssen noch einmal rein.« Er öffnete die Tür und ließ Heiler vorgehen.

Lott beobachtete ihn. Heiler wirkte verstört. Seine Blicke wanderten unruhig von der einen zur anderen Stelle. Es sah aus, als vermisse er etwas. Plötzlich sagte er: »Der Strohballa isch weg.«

»Wo lag er denn?«

Heiler zeigte auf die Stelle. Sie war nicht weit von dem Platz entfernt, an dem die Tote gefunden wurde. Andererseits war ein Strohballen das denkbar schlechteste Aufsteigemittel, um sich durch Erhängen aus diesem Leben zu verabschieden.

»Do isch er glega. A baar Hälmla liegat doch no do.«

Heiler ging zu der Stelle und kickte die Strohreste zur Seite.

»Wo lagert denn das andere Stroh?«, fragte Lott.

»Es isch nemme viel do. D Viecher send ja alle weg.«

Heiler ging den Kommissaren voran und führte sie in einen Winkel des Stallgebäudes, wo das restliche Heu und Stroh lagerte, aus der Zeit, als der Hof noch Viehwirtschaft betrieb.

»Em Frühsommer hemmers wegdoa. Fuffzeh Küh ond drei Kälbla.«

»Hatte Ihre Nichte das so entschieden?«

»Ja«, antwortete Heiler kurz angebunden.

»Haben Sie den Abschiedsbrief Ihrer Nichte gelesen?«

»Freilich.«

»Und? Für einen Abschiedsbrief klingt der doch seltsam, finden Sie nicht?«

Herr Heiler schwieg. Dann begannen seine Augen zu flackern. Er schluckte. Schließlich sagte er: »Thomastag isch heit.«

»Was heißt das?«, hakte Lott nach.

»Der Tag, an dem Gericht gehalten wird«, antwortete er mühsam, weil hochdeutsch. »Und jetzt hat sie Gericht ghalta.«

Brauchle verdrehte die Augen und klopfte auf seine Armbanduhr.

Lott winkte ab. »Herr Heiler, was hat das mit dem Tod Ihrer Nichte zu tun?«

Heiler antwortete fiebrig: »Sie hat sich selber verurteilt!«

Lott ließ die Antwort im Raum stehen.

»Ond in der Thomasnacht wird onser aller Schicksal nei gwoba, hot zumindest mei verstorbene Schwägerin behauptet«, fuhr Heiler fort, mit etwas fanatischem Gesichtsausdruck, wie Lott fand. Er schaute ihn deshalb fragend an.

»Wie elles weitergoht, so d Paula, zoigt sich heut Nacht.«

Brauchle verdrehte wieder die Augen, brummte ungehalten etwas vor sich hin, und Lott hörte nur den Aberglauben des frommen Mannes heraus. Sie verließen den Stall, der zu Brauchles Erleichterung jetzt endlich versiegelt werden konnte.

»Herr Heiler, wir melden uns wieder. Es gibt sicher noch die eine oder andere Frage zum Tod Ihrer Nichte.«

Der alte Mann nickte, drehte sich um und ging zum Haus zurück.

Die Glocke der Harthauser Kirche schlug zwei Uhr.

2

Vom Kinderkarussell, das auf dem Ulmer Weihnachtsmarkt, nahe dem Stadthaus, aufgestellt worden war, wehten Weihnachtsklänge herüber.

Lott saß an seinem Schreibtisch, auf dem der Abschiedsbrief von Josefa Pfäffle lag.

Er wurde nicht schlau daraus. Und musste sich eingestehen, dass ihm vor lauter Hunger allmählich schlecht wurde. Er sagte sich, dass seine Unkonzentriertheit daher kommen musste.

Den ganzen Advent über war er den kulinarischen Verführungen, die der Weihnachtsmarkt bot, erlegen. Schupfnudeln, rote und weiße Bratwürste, die Feuerwurst nicht zu vergessen. Heute war es nicht anders. Im Moment tendierte er zu Schupfnudeln.

»Kommst du mit oder soll ich dir etwas mitbringen?«, fragte er den Kollegen Brauchle.

Der winkte ab. »I will zerscht fertig werra.«

Lott zuckte mit den Achseln, griff nach seiner Winterjacke und nahm die Treppe. Um diese Zeit war der Andrang an den Buden noch erträglich. Selbst die Apostelgasse konnte man noch zügig passieren. Später, gegen Abend, wäre dort kaum noch ein Durchkommen möglich. Lotts favorisierter Schupfnudelstand war am anderen Ende des Marktes. Zielstrebig machte er sich zu ihm auf, und er musste auch nur eine kleine Weile warten, bis ihm die Spezialität auf einem Pappschälchen kredenzt wurde.

Die Wirtin bediente ihn mit einer Vertrautheit, die nur wirklich guten Stammgästen entgegengebracht wurde. Dass Lott dazugehörte, ließ sie ihn jedes Mal wissen. Lächelnd häufte sie immer noch eine Gabel zusätzlich auf die ohnehin schon gut gemeinte Portion.

Lott verkroch sich in eine der Standnischen. Bei den derzeit herrschenden Temperaturen blieb das Essen nicht lange heiß. Ein paarmal mit der Plastikgabel das Kraut etwas gehoben, schon war die ärgste Hitze entwichen, und er konnte in der ihm gewohnten Geschwindigkeit die Portion bezwingen.

Während er aß, dachte er an Elli. Sie hatte ihm gesagt, dass sie in diesem Jahr den Weihnachtsbaum besorgen wolle. Bisher war das immer seine Aufgabe gewesen. Seit sie die neue Wohnung bezogen hatten, nahm Elli mehr und mehr die gestalterischen wie handwerklichen Arbeiten in die Hand. Selbst jetzt, wo sie über die Zeit des Weihnachtsgeschäfts aushilfsweise in einer kleinen Buchhandlung arbeitete. Ihre Energie schien grenzenlos zu sein. Lott wünschte sich, da mithalten zu können. Er war jetzt 48 und hatte schon vor dem drohenden 50er Angst. Wie schnell waren doch die acht Jahre seit seinem 40. Geburtstag vergangen. Ihm war, als wäre er gestern erst in dieses sogenannte Schwabenalter vorgedrungen. Damals hatte ein grausamer Mord an einem jungen Mann, begangen auf offener Straße ohne erkennbares Motiv, ihm die Feierlaune gründlich verdorben. Eine Gedenktafel auf dem Münsterplatz erinnerte noch heute daran. Es war einer der wenigen Fälle, die er nicht hatte aufklären können.

Lott überlegte, ob er sich noch einen Glühwein holen sollte, entschied sich aber dann dagegen. Vom Glockenspiel des Kaufhauses Abt erklang Oh du fröhliche … Er warf die Pappschale in einen der Müllsäcke und schlenderte durch die Gässchen des Marktes. Morgen wäre der Weihnachtsmarkt zum letzten Mal geöffnet, und Lott vermisste ihn schon jetzt. Weihnachtsstimmung auf Vorrat müsste man sich anlegen. Er kaufte sich noch eine Waffel, dann ging er zurück zum Neuen Bau.

Brauchle saß noch immer an seinem Schreibtisch. Er hatte den Bericht weitgehend fertig. Und das ohne Schreibkraft. Lohner hatte indessen veranlasst, dass der Sisalstrick zum KTI geschickt wurde.

»Punkt, Schluss, Feierobend«, sagte Brauchle und stand auf, obwohl es noch früher Nachmittag war. Er erklärte Lott, dass er noch ein Weihnachtsgeschenk für seine Frau brauche. Dass er dabei nicht gerade glücklich ausschaute, deutete auf eine gewisse Hilflosigkeit bei diesem Unterfangen hin.

»Was wünscht sich denn deine Lisbeth von dir?«, fragte Lott.

»Ebbes zum Anzieha dät ihr bestimmt gfalla«, antwortete Brauchle genervt.

»Und an was denkst du?«

»S letscht Johr han ra a Schürz kauft. Des war net grad dr Renner. Also irgend ebbes anders.«

Lott grinste, als Brauchle Hals über Kopf aus dem Büro stürzte, um sich draußen in den Geschäften der Hirschstraße dem Kampf um ein passendes Weihnachtsgeschenk zu stellen. Er hatte für Elli zwar auch noch keines, aber dafür war ja noch Zeit bis zum Heiligen Abend.

Er setzte sich an seinen Schreibtisch, auf dem noch immer der Abschiedsbrief von Josefa Pfäffle lag. Er las ihn noch einmal durch. Und er fragte sich, welchen Grund es denn für sie gegeben haben könnte, freiwillig aus dem Leben zu scheiden.

Der dunkelste Tag, die längste Nacht.

Die Glocken beginnen zu läuten.

Heute ist der Tag des Gerichts.

Ich habe gesündigt, ich bin mein eigener Richter.

Die Strafe ist gerecht. ich bin Mein eigener Henker.

mÖge Gott Mir veRzeihen.

DER Tod ist mein eigenes Urteil.

Josefa

Was hatte sie denn getan, das ein solches Urteil auch nur im Entferntesten rechtfertigte? Welche Sünde hatte sie begangen? Und wer hatte das Aufsteigemittel beiseite geräumt? Und diese fast kindliche Schrift! Das alles passte nicht zusammen.

Er las den Brief noch einmal durch. Wort für Wort. Erst jetzt fiel ihm auf, dass einige Buchstaben mittendrin großgeschrieben waren. Er setzte sie zusammen. Sie ergaben ein Wort: MÖRDER!

3

Das Nothemd muss in der Weihnachtsnacht von einem unschuldigen Mädchen auf bloßer Haut getragen werden.

Und alles Ackergerät unter Dach sein, kein Holz darf vor dem Ofen liegen bleiben, kein Bett im Freien gelüftet, alles Verliehene muss wieder im Hause sein. Und stirbt jemand in den Zwölften, so werden im folgenden Jahr zwölf Leichen aus dem Orte folgen müssen.

Gemeinsam stapften sie durch den einige Zentimeter hohen Schnee, dann führte der Weg sie durch ein Waldstück.

So viele Knöpfe einem an einem Kleidungsstück fehlen in dieser Zeit, so viele Geldstücke werden dir gestohlen werden.

»Lass uns zur Kapelle gehen und beten.«

»Wir werden allen Weisungen folgen. An uns soll es nicht liegen.«

Der Weg führte sie aus dem Wald zurück und schnurstracks zur Kapelle hin. Beim Eintreten bekreuzigten sie sich. Dann suchten beide die erste Bank auf und knieten dort nieder.

Heilige Maria Mutter Gottes, bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes. Amen.

Als sie die Kapelle wieder verließen, hielten sie sich an den Händen. Nachdem sie ein Stück Waldweg hinter sich hatten, ließen sie einander wieder los.

»Gott hat uns verziehen«, sagte er.

»Er wird dich nicht mehr in einen Wolf verwandeln. Du wirst keinen Menschen mehr verletzen und niemand mehr töten«, antwortete sie ihm.

Er lachte. Dann lachte auch sie. Ihr Lachen klang wie das Meckern einer Ziege.

»Habergeiß«, sagte er.

»Sei ruhig, du schwarzer Hund!«

Sie stieß ihm in die Rippen. Er griff ihr unter den Rock.

»Jetzt pfeif nur noch, dann ist das Unglück nicht weit«, protestierte sie lachend und ließ ihn gewähren.

»Mein eigener Richter bin ich«, grunzte er und trieb seine Erregung dem Höhepunkt zu. »Und mein eigener Henker, wenn es denn sein muss.«

Sie stöhnte auf. »Sei kein Narr und gib ein paar Kupfermünzen als Weggeld. Dann ist auch das hier ungeschehen.«

»Halt still, Habergeiß!«

»Geh weg, Ziegenbock!«

Jetzt stieß sie ihn von sich und ordnete ihre Kleider. Die Dämmerung hatte eingesetzt. Zwischen den niederen Fichten lagen Nebelfetzen.

»Die unerlösten Seelen, sie wollen uns ins Verderben führen«, jammerte sie.

»Nicht uns«, sagte er. »Und heute schon gar nicht.«

4

Der frühe Abend war noch abweisender geworden. Zu dem Schneeregen hatte sich ein übler Ostwind gesellt, der hatte die Wolken zerstört. Und der Schneeregen hatte den Staub auf dem Weg, der am Wald vorbeiführte, gebunden.

Dennoch schienen die beiden Männer vergnügt. Einander überbietend, hatten sie zunächst mit ihren Eroberungen geprahlt.

Während der Ältere kräftig voranschritt, bremste der Jüngere und sprach wie ein fiebriges Kind: »Hast du die Augenlider gesehen. Sie haben geflattert. Geflattert wie ein Schmetterling. Und so gezittert, dass ihr Augapfel zu sehen war. Der Mundwinkel eine einzige Talfahrt. Der Kiefer ganz unten. Die Mimik außer Rand und Band und dabei doch so entspannt, als ob sie schliefe. Dornröschen! Dornröschen!«

Er war so begeistert von sich, dass der Ältere ihn rügen musste.

»Der alte Mann aus unserem Dorf hätte dich in die Wüste geschickt und dir einen Arm abgebissen. Aber wenn du wieder vernünftig geworden wärst, hätte er ihn dir wieder nachwachsen lassen. Der alte Mann konnte das.«

»Du und deine Geschichten!«

»Und du gehst zu weit. Dosiere deine Macht. Sonst ergreift sie am Ende noch Besitz von dir.«

»Ach Gott!«

»Demut gehört mit zum Handwerk.«

»Hätte mir dein alter Mann das auch gesagt?«

»Er hätte nicht mit dir gesprochen.«

Sie nahmen jetzt den Weg in die Stadt. Schlugen die Mantelkragen hoch und trotzten dem waagerechten Schneeregen.

»Über jede Sache wächst Gras, auch im Winter«, sagte der Jüngere.

Der Ältere sagte nichts mehr. Er hatte das Gefühl, in einen Tunnel zu gehen, aus dem es kein Heraus mehr gibt.

5

Das spärliche Licht der Salzkristalllampe erhellte das Zimmer. Ellis Kopf lag auf seiner Brust. Ihre Haare waren ein einziges Durcheinander. Jetzt strich sie über sein Glied, als würde sie es segnen. Das tat sie immer, wenn sie derart gesättigt von ihm stieg, dankbar wie einem geliebten Pferd gegenüber, das die gesamte Strecke bis nach Hause durchgehalten hatte.

Lott starrte an die Decke und dachte an Josefa Pfäffle. Arbeit und Privates ließen sich einfach nicht trennen. Warum hatte sie das Wort Mörder in ihrem Abschiedsbrief verschlüsselt? Für wen hatte sie das gemacht? Doch nicht für die Polizei. Oder doch? Lott atmete tief durch.

»An was denkst du?«, fragte Elli.

»Wir hatten heute eine erhängte Frau. In Harthausen, auf einem Bauernhof.« Lott erzählte und verschwieg ihr auch den Brief nicht, in welchem Josefa das Wort Mörder, als Großbuchstaben getarnt, versteckt hatte.

»Du glaubst nicht an einen Selbstmord?«

»Es ist schon alles sehr merkwürdig«, zweifelte Lott. »Auch ihr Onkel, der gleich, nachdem er seine Nichte erhängt aufgefunden hat, zur Kapelle dort hochgerannt ist, um für ihre arme Seele zu beten. Und dann hat er vom Thomastag dahergefaselt. Dass das der Tag des Gerichts wäre. Und dass sie sich selber gerichtet hätte.«

»Der Thomastag hat mit den Raunächten zu tun«, sagte Elli.

»Ich dachte, die Raunächte wären zwischen Weihnachten und Dreikönig?«

Elli klärte ihn auf: »Es heißt, am 21. Dezember, in der dunkelsten und längsten Nacht des Jahres, wird das Licht geboren. Es gibt auch Raunächte im Jahreskreis, die nicht zu den Tagen Zwischen den Jahren gehören. Zum Beispiel dieser Thomastag und die Thomasnacht vor allem.«

»Ist das nicht alles Aberglaube?«

Elli schmiegte sich wieder an Lotts Brust und flüsterte: »Nein, mein lieber Kommissar. Das ist altes, keltisches Wissen und lange vor dem Christentum entstanden.«

»Die Thomasnacht auch?«, warf Lott fragend ein.

»Das Christentum hat aus diesem Wissen ihre eigenen Mythen gestrickt.«

»In der Thomasnacht soll das Schicksal neu gewoben werden. So hat dieser Onkel, recht geschwollen übrigens, dahergeredet.«

»Man glaubte, dass es in dieser Nacht möglich ist, in die Zukunft zu schauen, um das Schicksal ändern zu können. Aus alten Riten der Julnacht ist auch das übernommen worden.«

»Heute ist der Tag des Gerichts. Ich bin mein eigener Richter und Henker. So in etwa stand es in ihrem Abschiedsbrief. Kannst du dir einen Reim drauf machen?«

»Der Thomastag war früher auch der Tag der Richter und des Rates. Eine Amtszeit wurde an diesem Tag beendet, oder sie begann an diesem Tag.«

Lott staunte. Elli bemerkte das, wehrte diese wortlose Bewunderung aber mit verhaltenem Stolz ab: »Wir Buchhändlerinnen wissen alles, aber von allem eben nur ein bisschen.«

Lott strich über ihr immer noch zerzaustes Haar. »Aber wo man das Licht löscht, weißt du allemal«, sagte er dabei.

Elli beugte sich aus dem Bett, so weit, dass sie den kleinen Schalter am Lampenkabel erreichen konnte, und knipste das salzkristallene Licht aus. Dann schwang sie sich in die Kissen zurück, küsste Lotts Mund mit Vehemenz, aber ganz und gar unerotisch jetzt, ein Gutenachtkuss, dem nur noch ein gemeinsamer Schlaf folgen durfte.

Lott griff nach Ellis Hand und hielt sie fest, bis er ihren Atem gleichmäßig, von leisen Schnarchgeräuschen begleitet, wahrnahm. Und dachte: So für immer bleiben zu dürfen, wäre Gnade schlechthin. Irgendwann drückte Elli aber dann seine Hand, um sie gleich wieder loszulassen, sich wegzudrehen und in der Seitenlage ihren Schlaf fortzusetzen.

Lott blieb liegen, wie er lag. Draußen heulte ein Hund. Oder waren es zwei? Lott dachte an Wölfe.

Mittwoch, 22. Dezember 1999

1

Von einem Traum eine Nacht lang mit Haut und Haaren geschluckt und darin, wie im Bauch eines Wales, gefangen und erst am Morgen wieder, auf dringlichen Wunsch des Alltags, mit allen Ängsten bepackt, entlassen zu werden. Kann eine Nacht sich denn nicht abschütteln lassen wie ein lästiges Insekt?

Lott schwitzte. Sein Nacken war feucht und fühlte sich kalt an. Sein Atem rasselte.

Kann ein Tag miserabler beginnen?

Er richtete sich auf. Es war schon hell, also mindestens acht Uhr. Er hörte Elli, die sich bereits über die Nordlandtanne hermachte, um diese weihnachtlich zu schmücken. Sie fluchte ein wenig über den zu dicken Stamm, der sich nicht in den Christbaumständer zwängen ließ. Lott stand auf. Die Knie mussten sich erst an das Gewicht seines Körpers gewöhnen. Er wankte ins Bad und erschrak vor dem Gesicht, das aus dem Spiegel ihn anstierte. Er fror. Er wusch sich das Gesicht und ein wenig nur vom übrigen Körper. Die Dusche schreckte ihn. Notwäsche nannte er das. Aber sein Zustand ließ nichts anderes zu.

Er hatte von Wölfen geträumt, die hatten ihn die ganze Nacht über gejagt. Und als er endlich Zuflucht in einem Stall fand, hing dort Josefa Pfäffle, erhängt an der obersten Sprosse der Leiter, und krächzte wie ein dressierter Rabe »Mörder! Mörder!« zu ihm herunter.

Lott blieb im Bad. Der Heizlüfter spendete eine angenehme Wärme. Die brauchte er jetzt, so sehr, wie er den Kaffee hinterher brauchen würde. Schwarz und stark musste der sein, eine Droge, die ihm für einen solchen Tag wie dem zu erwartenden angemessen schien.

Um neun Uhr war Lott im Neuen Bau, pünktlich zur ersten Dienstbesprechung. Die hatte heute Vorrang. Noch bevor der Ablaufkalender erstellt und die Mails gesichtet werden mussten. Neue Fälle, in die er sich hätte einlesen müssen, gab es zum Glück nicht. Josefa Pfäffle war, zwei Tage vor Weihnachten, Fall genug. Zudem lag ihm dieser Abschiedsbrief, in dem sie das Wort Mörder versteckt hatte, zentnerschwer im Magen. Er hoffte, das KTI hatte eindeutige Befunde vorzuweisen, in welcher Richtung auch immer.

Polizeichef Lander, Max Brauchle, Harald Lohner und Marlies Kaupper saßen bereits im kleinen Konferenzzimmer, als er – gemeinsam mit Schwegler – dazukam.

Lott schaute den Kollegen verwundert an.

»Unser Lander hat gemeint, ich soll mit dabei sein«, gab Schwegler seinem Blick zur Antwort. »Es handelt sich wohl um einen Test, weil ab nächstem Jahr die Dezernate quasi ineinander verschwimmen.«

Beide setzten sich nach den üblichen Höflichkeitsfloskeln mit in die Runde. Noch ehe Lott, wie es eigentlich üblich war, die Dienstbesprechung eröffnen konnte, hatte Lohner bereits das Wort ergriffen.

»Das Problem ist das fehlende Aufsteigemittel. Aber es ist nicht das einzige. Es gibt Anzeichen einer Gewaltanwendung. Blaue Flecke an beiden Unterarmen der Toten. Die allerdings sind so schwach und entweder so alt, dass sie bereits am Abklingen waren, oder aber so wenig heftig, dass es unwahrscheinlich ist, dass sie von einer Gewaltanwendung herrühren, mit der man einen doch relativ kräftigen Menschen, wie es Josefa Pfäffle war, überwältigen und erhängen müsste. Ich habe, nach Rücksprache mit dem Staatsanwalt, die Leiche in die Rechtsmedizin bringen lassen.«

»Hot s Kriminaltechnische Institut sich scho wega eventueller Faserspura gmeldet?«, fragte Brauchle.

»Noch nicht. Das wär nun auch ein bisschen zu viel verlangt«, antwortete Lohner genervt.

Lott hielt den Zeitpunkt für gekommen, seine Entdeckung im Abschiedsbrief der Toten den anderen mitzuteilen. Er hatte den Brief kopieren lassen und verteilte ihn.

»Ein auffallend ungelenk geschriebener Text«, begann Lott. »Und diese ja fast kindliche Handschrift passt so gar nicht zu dem Inhalt des Briefes. Etwas anderes aber ist mir beim erneuten Lesen aufgefallen, ich meine die Großbuchstaben, teils mitten im Wort, die ich auf den Kopien markiert habe und die, zusammengesetzt, das Wort Mörder ergeben.«

»Sakra«, staunte Brauchle.

»Das kann, muss aber kein Hinweis auf ein Fremdverschulden sein. Möglich, dass Josefa Pfäffle einen ohnehin dramatischen Abgang noch dramatischer inszenieren wollte.«

»Oder aber sie fühlte sich zu diesem Selbstmord getrieben«, hakte Lohner ein. »Es gibt in ihren Augen einen Schuldigen, den wir jedoch strafrechtlich nicht verfolgen können. Wir müssen alle Möglichkeiten in Betracht ziehen.«

»Der Inhalt des Briefes ist ja richtig gruselig«, meinte Lander kopfschüttelnd. »Der dunkelste Tag, die längste Nacht, Ich bin mein eigener Richter … mein eigener Henker …«

»Sie weist auf den Thomastag und die Thomasnacht hin«, klärte Lott die Kollegen auf und gab weiter, was Elli ihm an Informationen gegeben hatte.

Eine Weile herrschte betretenes Schweigen. Dann murrte Schwegler: »In welchem Jahrhundert leben wir eigentlich?« Und gab sich gleich selbst die Antwort: »Im zwanzigsten. Zumindest noch eine Woche lang.«

»Du musst fragen, in welchem Jahrhundert man in Harthausen lebt«, konterte Marlies Kaupper.

Lott lächelte vielsagend. »Der Aberglaube scheint mir tatsächlich der letzte Strohhalm zu sein, an dem das alte Jahrhundert sich noch festklammern will.«

»Hör auf. Mei Tochter isch jong ond glaubt no an Engel ond Goister ond dass en zwölf Johr de halb Welt ondergoht«, entgegnete Brauchle genervt.

Marlies Kaupper grinste. »Man nennt das New Age«, sagte sie.

»Lompagruscht, sag i drzua«, schimpfte Brauchle. »Ond was brengtr? A aufgehängte junge Frau. Ich bin mein eigener Richter. Mein eigener Henker. Ja, leck mich doch am Arsch!«

»Lassen wir den Brief jetzt einmal beiseite«, schlug Lohner vor. »Was mir mehr Kopfzerbrechen macht, ist das fehlende Aufsteigemittel.«

»Vor allem, wer es entfernt hat«, spannte Lott weiter den Bogen.

»Die Handschrift prüfen wäre doch der nächste Schritt«, meinte Lander mit Blick auf Uwe Schwegler, der im Dezernat für Wirtschaftsdelikte und Fälschungen mit dieser Untersuchung vertraut war.

Uwe nickte verhalten. »Dazu bräuchte ich zunächst einmal brauchbares Vergleichsmaterial. Darüber hinaus wäre es bestimmt auch nicht falsch, wenn wir das Ganze einmal von der finanziellen Seite aus betrachten würden. Wer hat einen Vorteil von ihrem Ableben? Ums Geld gehts doch fast immer.«

Lander gab seine Zustimmung, räumte aber ein, erst die Ergebnisse sowohl der Rechtsmedizin wie auch die des Kriminaltechnischen Instituts in Stuttgart abwarten zu wollen.

»Und was machat mir solang?«, fragte Brauchle, mit einem Seitenblick auf Lott.

»Wir fahren noch einmal zum Rainbauerhof. Irgendetwas stimmt da nicht, ich habe das Gefühl, dass wir dort etwas übersehen haben.«

Lander stand als Erster auf und verließ bruddelnd die Runde. An der Tür drehte er sich um. »Als ob die Taschendiebstähle auf dem Weihnachtsmarkt unseren Betrieb nicht genügend auf Trab halten würden.«

»Damit zumindest ist ja ab morgen Schluss«, beruhigte ihn Schwegler.

Lander schaute ihn verdattert an. »Ach ja. Heut ist der ja den letzten Tag geöffnet.« Dann ließ er die Tür hinter sich ins Schloss fallen.

»Schaut zu, dass ihr den Befund der Rechtsmedizin und des KTI bis zum Nachmittag auf dem Tisch habt«, sagte Lott zu Lohner und Marlies Kaupper. »Wir setzen uns um 17 Uhr wieder zusammen.«

Brauchle hatte bereits die Jacke an und öffnete Lott, der die seine gerade von der Garderobe griff, die Tür.

»Also bis dann.«

Brauchle und Lott eilten zum Parkplatz und stiegen in den zugeteilten Dienstwagen.

»Was glaubsch denn, was mir gestern überseha hend?«, fragte Brauchle.

»Ich kanns nicht sagen, es ist mehr ein Gefühl.«

»Du moinsch, ebbes basst net zamma?«

»Frag mich nicht, was, aber wir müssen auf jeden Fall noch einmal mit den beiden Alten reden.«

Wenige Minuten später erreichten sie den Rainbauerhof. Längst war Harthausen eingemeindet worden, gehörte zu Ulm und somit auch in den Zuständigkeitsbereich der Ulmer Polizeidirektion. Dennoch hatte Lott das Gefühl, dass diese Nachricht bei den Bewohnern noch nicht so recht angekommen war. Noch immer galten hier die alten Hausnamen, die schon lange, bevor es Hausnummern gab, ihre Gültigkeit hatten.

Die beiden Kommissare stiegen gleichzeitig aus dem Wagen und gingen auf das Wohngebäude zu. Lott bemerkte, wie ein Vorhang zur Seite geschoben wurde, und erkannte Frau Heiler am Fenster. Sie war also da. Und ihr Mann sicher auch. Tatsächlich kamen beide auch gleich zur Tür und ließen die beiden Polizisten eintreten, führten sie in die Stube und boten ihnen wie tags zuvor am Tisch unter dem Herrgottswinkel Platz an.

»Mir hend doch alles gsagt«, begann Heiler das Gespräch, so, als wollte er es damit gleich wieder beenden.

»Der Tod von Frau Pfäffle wirft leider doch mehr Fragen auf, als uns allen lieb ist«, antwortete Lott. »Wir bedauern also, Sie damit noch einmal belästigen zu müssen, aber es geht nicht anders. Der Abschiedsbrief von Josefa, wir werden nicht schlau daraus. Der dunkelste Tag, die längste Nacht, heute ist der Tag des Gerichts usw. Nicht dass wir diese Dinge nicht einordnen könnten, aber war denn Josefa Pfäffle tatsächlich mit diesem, nennen wir es einmal Brauchtum, verbunden?«

»Sie eigentlich net, net so wie ihr Mutter«, brummte Herr Heiler.

»Aber warum schreibt sie dann so einen Abschiedsbrief?«

Dorothea Heiler zuckte mit den Achseln und sagte: »Sie war eher ein moderner Mensch. Vielleicht zu modern.«

»Was meinen Sie damit?«

»Naja, sie hat sich halt mit allem Neumodischen ausgekannt. Computer und so. Und was alles dahinter steckt.«

»In der Beziehung hot se eher gsponna«, mischte Heiler sich ein.

»Wie meinen Sie das?«

Frau Heiler kam ihm mit der Antwort zuvor: »Sie war eben anders als wir, ganz anders als meine Schwester.«

»Die Paula war gläubig. Sie hot zwar gsponna, aber sie war gläubig, was ma von der Josefa hot net grad behaupta könna.«

»Aber sie schreibt doch möge Gott mir verzeihen. Da kann man ihr doch eine gewisse Religiosität nicht absprechen«, erwiderte Lott.

»Wer woiß, welchen Gott se drmit gmoint hot«, blaffte Heiler.

Seine Frau schaute wütend zu ihrem Mann: »Hör doch auf damit.«

»Ja, ischs denn net wohr? Sie war gwieß koi Schlechta, d Josefa, aber gsponna hot se doch.«

Brauchle, der bis jetzt nichts gesagt hatte, ging dazwischen. »Wir müssten s Zimmer von Ihrer Josefa sehn«, sagte er und bat Heiler darum, ihn hinzuführen.

Der brummte: »Do gibts net viel zum seh, aber bitte.«

Er ging voraus, und Lott war froh, Frau Heiler nun ungestört befragen zu können.

»Frau Heiler, Sie sind nicht von hier?«

»Nein, meine Schwester und ich stammen aus dem Altvatergebirge. Wir sind Flüchtlinge. Sind schließlich in Ulm, im Flüchtlingslager auf dem Kuhberg untergebracht worden. Meine Schwester Paula hat hier auf dem Rainbauerhof Arbeit gefunden. Hat dort den Bauer Pfäffle geheiratet, ein Jahr nachdem seine Frau gestorben war. Die Josefa kam aber erst viel später zur Welt, als man schon geglaubt hat, die Paula könne keine Kinder bekommen. Dann ist es leider nur ein Mädchen geworden, wo der Pfäffle sich doch einen Sohn gewünscht hat, der den Hof einmal hätte übernehmen können.«

»Hat er sie deshalb Josefa taufen lassen?«

»Vielleicht auch, aber Josefa ist am 19. März geboren worden, am Josephstag, da lag es nahe, dass man sie Josefa taufen ließ.«

»Und wie sind Sie nach Ermingen gekommen?«, fragte Lott im Plauderton.