Wolfsschatten - Lori Handeland - E-Book

Wolfsschatten E-Book

Lori Handeland

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Beschreibung

Grace McDaniel ist die Polizeichefin des Örtchens Lake Bluff, Georgia. Als nach einem merkwürdigen Gewittersturm auffällig viele ältere Menschen sterben, nimmt Grace die Ermittlungen auf. Irgendetwas scheint in Lake Bluff nicht mit rechten Dingen zuzugehen. Graces Verdacht erhärtet sich, als ein geheimnisvoller Fremder im Ort auftaucht. Dr. Ian Walker verbindet traditionelle indianische Heilkunde mit moderner Medizin, und er scheint mehr über die rätselhaften Todesfälle zu wissen, als er zugibt. Doch trotz ihres Argwohns fühlt sich Grace stark zu dem attraktiven Arzt hingezogen.

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Seitenzahl: 426

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Inhalt

Titel

1

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Epilog

Danksagung

Impressum

LORI HANDELAND

Roman

Ins Deutsche übertragen von Patricia Woitynek

1

Ein Gewittersturm während eines Donnermondes ist ebenso selten wie kraftvoll. Meine Urgroßmutter war der festen Überzeugung, dass in einer solchen Nacht Magisches geschieht. Sie vergaß zu erwähnen, dass Magie töten kann.

Die Julimitte in Nord-Georgia ist der feuchte Traum eines jeden Klimaanlagenvertreters. Theoretisch hätte der Bach hinter meinem Haus angenehm warm sein müssen. Praktisch war er das nicht.

Trotzdem schlüpfte ich aus meinem Morgenmantel und watete hinein; ich hob das Gesicht dem Donnermond entgegen und stimmte den Sprechgesang an, den meine E-li-si, meine Urgroßmutter, mich gelehrt hatte.

„Ich bade im Mondschein und spüre die Macht. Ich werde über den Blitz gebieten und den Regen trinken. Der Donner ist mein Lied und auch deins.“

Ich wusste nicht genau, was die Worte bewirken sollten, aber es waren die einzigen, an die ich mich vollständig erinnerte, darum rezitierte ich sie jedes Mal, wenn ich herkam. Sie aufzusagen tröstete mich. Die Erinnerungen an meine Urgroßmutter zählten zu den wenigen guten Erinnerungen, die ich hatte.

Ihr zufolge konnte ausschließlich eine auf Cherokee gesprochene Beschwörungsformel funktionieren. Leider starb sie, bevor sie mir mehr als ein paar Brocken der Sprache beibringen konnte. Ich hatte immer vorgehabt, sie gründlicher zu lernen, nur leider nie die Zeit dafür gefunden.

Sie hat mir all ihre Bücher, ihre Aufzeichnungen – die sie ihre Heilkunde nannte – hinterlassen. Da ich jedoch keines der Papiere, die sie in einem Schulordner aufbewahrte, lesen konnte, verstaubten sie im Geheimfach des Schreibtischs meines Vaters.

Ich habe meine E-li-si innig geliebt und trauerte jeden Tag um sie. Manchmal vermisste ich sie so sehr, dass mich eine riesige schwarze Wolke der Depression umhüllte, die ich kaum abzuschütteln vermochte.

„Eines Tages“, flüsterte ich der Nacht zu. „Eines Tages werde ich mir all ihre Geheimnisse zu eigen machen.“

Ein Blitz zuckte über den Himmel und das tiefer als normal. Der Mond schien noch immer, nur geisterten jetzt Wolken über seine Oberfläche. Donner grollte, ein gigantisches, graues Raubtier, das die mich umgebenden Berge erschütterte.

Die Blue Ridge Mountains waren immer mein Zuhause gewesen. Ich könnte sie niemals verlassen. Die Berge logen nicht, sie betrogen nicht, sie stahlen nicht, und vor allen Dingen ließen sie einen niemals im Stich. Die Berge würden immer hier sein.

Sie waren ebenso Teil von mir wie mein mitternachtsschwarzes Haar, meine hellgrünen Augen und meine Haut, die so viel dunkler war als die der anderen Stadtbewohner. Meine Vorfahren waren zugleich indianischer als auch afrikanischer Abstammung gewesen, mit einem gehörigen schottisch-irischen Einschlag.

Als meine Zehen vor Kälte zu prickeln begannen, stieg ich aus dem Wasser und hob meinen weißen Frotteemantel vom Boden auf. Ich schob die Arme hinein, und der silberne Schimmer des Mondes erlosch, als wäre er von einer riesigen Himmelshand fortgewischt worden. Der Wind pfiff durch die hoch aufragenden Kiefern wie ein seiner Gefangenschaft entronnener, zorniger Dschinn.

Ich stand am Bach und sah zu, wie der Sturm heraufzog. Ich mochte Stürme. Sie spiegelten den Tumult wider, der schon so lange in meinem Inneren tobte.

Doch dieser Sturm war anders als alle, die sonst über die Berge fegten – er war stärker, schneller, eigentümlicher. Ich hätte beim ersten Windhauch die Beine in die Hand nehmen und nach Hause rennen sollen.

Der Blitz war derart grell, dass ich die Augen schloss, trotzdem schien es, als hätte sich das Bild des aufreißenden Himmels und des elektrischen Flirrens, das sich aus ihm ergoss, in mein Gehirn gesengt. Ozongeruch driftete vorüber, und das Krachen des Donners schien mehr von unten als von oben zu kommen.

Ich öffnete die Augen, als gerade der nächste Blitz den Himmel sprengte. Ein grauenvolles, kreischendes Geheul folgte, und in der Ferne stob ein Funkenregen zur Erde.

„Ich habe ein ganz mieses Gefühl“, murmelte ich und beobachtete mehrere Minuten den entfesselten Himmel, bis das Handy in meiner Tasche zu schnarren begann.

Keine Ahnung, warum ich das Ding mitgenommen hatte. Die meiste Zeit hatte ich hier draußen kein Netz. Die Bäume waren zu hoch, die Berge zu nah. Oft kehrte ich nach Hause zurück, nur um festzustellen, dass ich das Handy entweder am Bach vergessen oder irgendwo auf dem Fußweg verloren hatte. Trotzdem war ich zu sehr Tochter meines Vaters, um jemals ohne Handy das Haus zu verlassen. Mein Dad war vor mir der Sheriff von Lake Bluff, Georgia, gewesen.

„McDaniel“, meldete ich mich und fuhr zusammen, als der Regen wie Nadeln zu fallen begann, der Wind sie aufpickte und in mein Gesicht trieb.

„Grace?“

Die Leitung knackte, und die Stimme am anderen Ende erstarb. Wieder blitzte es, und ich fragte mich unwillkürlich, ob es wirklich vernünftig war, mit einem Handy am Ohr hier draußen zu stehen.

Wohl eher nicht.

Ich machte mich auf den Rückweg zum Haus und …

Kawumm!

Ein Donnerschlag ließ die Erde erbeben. Der Wind peitschte mir meine langen, nassen Haare in die Augen. Die Welt wurde in elektrisierendes Silber getaucht, als ein Blitz sich den Himmel unterwarf.

„Grace! Bist du da? Grace!“

Ich erkannte die Stimme meines Hilfssheriffs, Cal Striker. Cal hatte den Großteil seines Lebens bei den Marines verbracht, bevor er nach zwanzig Jahren aus dem Dienst ausgeschieden war, um in seiner alten Heimatstadt endlich die Füße hochzulegen.

Nur war Cal nicht dafür geschaffen, die Füße hochzulegen. Ich konnte nachvollziehen, warum. Nach Einsätzen im Golfkrieg, in Afghanistan und zuletzt im Irak hatte ihn die gemächliche Gangart in Lake Bluff an den Rand des Wahnsinns getrieben. Er hatte mich angefleht, ihm den vakanten Posten des Hilfssheriffs zu überlassen. Ich war seiner Bitte gern nachgekommen.

„Ja, ich bin dran, Cal.“ Ich war nicht sicher, ob er mich hören konnte. Wind, Regen und Donner bewirkten, dass ich mich selbst kaum hören konnte. „Was gibt es?“

„Wir haben …“ Knister. Knack. „Drüben auf der …“ Kratz. „… Problem.“

Verdammt. Wo hatten wir welches Problem? Bei Cal konnte es alles und nichts sein. Von einem Kätzchen auf einem Baum bis hin zu häuslichem Unfrieden mit Schusswaffengebrauch ging Cal jede Situation mit derselben stoischen Gelassenheit an.

Cal war ein großer Fan von Chuck Norris, was ihm seitens seiner Kollegen jede Menge Frotzeleien einbrachte; irgendjemand hatte es sich sogar zum Hobby gemacht, Chuck-Norris-Witze auf seinem Schreibtisch zu hinterlassen. Ich fand die meisten von ihnen urkomisch. Mein Hilfssheriff nicht.

„Die Verbindung ist schlecht, Cal. Bitte wiederhole.“

Während ich zu meinem Haus sprintete, geriet ich auf dem mittlerweile glitschigen Weg immer wieder ins Schlittern und hoffte inständig, dass ich nicht auf dem Hintern landen und mich mit Schlamm besudeln würde.

Ich rannte in meinen Garten und blieb fluchend stehen. Das Haus war stockfinster. Der Sturm hatte zu einem Stromausfall geführt, und das wahrscheinlich in ganz Lake Bluff. Die Telefone auf dem Revier würden heiß laufen. Ich habe keinen Schimmer, wie die Menschen immer wieder darauf kommen, dass die Polizei etwas dagegen unternehmen könnte, trotzdem blinkt bei jedem Stromausfall unsere Schalttafel, als trügen wir die Verantwortung.

„Grace.“ Cal war nun, da ich den störenden Kiefern entkommen war, wesentlich besser zu verstehen. „Sieh nach Norden.“

Ich drehte mich um und spähte mit zusammengekniffenen Augen zu dem matt orangeroten Schimmer, der sich genau an der Stelle, wo der seltsame Funkenregen niedergegangen sein musste, gegen den mitternächtlichen Himmel abzeichnete.

„Bin schon unterwegs“, antwortete ich und eilte ins Haus.

Ohne Elektrizität und ohne Mondlicht, das durch die Fenster flutete, kam mir mein Heim fremd vor. Möbelecken reckten sich mir entgegen und malträtierten meine Schienbeine. Ich hätte mir die Zeit nehmen sollen, eine Kerze anzuzünden oder eine Taschenlampe zu suchen, auch wenn sie vermutlich keine funktionstüchtigen Batterien gehabt hätte, aber ein Gefühl der Dringlichkeit trieb mich an.

Vor meinem geistigen Auge sah ich noch immer diesen orangeroten Schein, und er machte mich nervös. Waldbrände waren extrem gefährlich. Sie konnten sich einen Berg hinab und quer durch eine Stadt fressen. Sie hatten schon Autobahnen und Wasserstraßen überwunden und unzählige Hektar schwarzen Morasts und zerstörte Träume zurückgelassen.

Ich stolperte die Treppe zu meinem Schlafzimmer hoch, schnappte mir ein Handtuch, warf den nassen Bademantel in die Wanne, dann schlüpfte ich in dieselbe Uniform, die ich vorhin erst ausgezogen hatte. Während ich zur Treppe zurückhastete, schob ich meine Glock Kaliber 40 ins Halfter. Das Fenster schepperte, und ich wandte mich, in der Annahme, dass der Wind gedreht haben musste, dorthin um.

Ein großer, dunkler Schatten kauerte davor; ich spannte die Finger um den Griff meiner Pistole. Flügel schlugen gegen das Glas; ein Schnabel hackte dagegen. Ich konnte nicht atmen, und als es mir endlich doch gelang, entrang sich meiner Kehle ein ersticktes Keuchen, das mich fast so sehr erschreckte, wie es der Vogel getan hatte.

Dann war die Kreatur verschwunden, und ich starrte auf die Regentropfen, die über die Fensterscheibe rannen. Wie ungewöhnlich. In der Regel flogen Vögel nicht bei schlechtem Wetter. Auf meinem Weg nach unten verdrängte ich meine Verwunderung über das seltsame Verhalten dieses Tieres und konzentrierte mich wieder auf meine Sorge um Lake Bluff und seine Einwohner. Es war davon auszugehen, dass der Wolkenbruch jedwedes Feuer, das das Gewitter entfacht haben mochte, inzwischen gelöscht hatte, trotzdem musste ich auf Nummer sicher gehen.

Ich rannte durch den Regen, sprang in meinen Streifenwagen und folgte der langen, unbefestigten Schotterpiste, die zur Schnellstraße führte. Dort schaltete ich das rote Warnlicht und die Sirene ein. Ich wollte, dass jeder, der dumm genug war, sich jetzt hier draußen aufzuhalten, mich sowohl sehen als auch hören konnte.

Das Licht meiner Scheinwerfer enthüllte Ströme von Wasser, die die Straße vor mir überschwemmten. Die Bäume neigten sich in grotesken Winkeln. Meine Scheibenwischer schoben Zweige, Blätter und Kiefernnadeln zusammen mit dem Regen von meiner Windschutzscheibe. Ich schaute gerade in den Rückspiegel, als hinter mir ein gewaltiger Ast auf die Straße krachte.

„Na toll.“ Ich fingerte am Funkgerät herum. „Ich habe einen 10–53 auf dem Highway, ein Stück nördlich meines Hauses. Ein Ast, groß genug, um einen Schwerlaster ins Schleudern zu bringen.“

„Verstanden, Sheriff.“

Mein Dispatcher, Jordan Striker, war erwachsener, als ihre zwanzig Jahre hätten vermuten lassen, und ihr Verstand so messerscharf wie die Stilettos, die sie beharrlich auch zur Arbeit trug. Sie war Cals Tochter, und obwohl sie sich nicht oft privat sahen, teilten sie ein Verantwortungsgefühl gegenüber der Gemeinde, das ich bewunderte.

Jordans Mutter war nach der Scheidung in Lake Bluff geblieben, wenn auch nur bis zum achtzehnten Geburtstag ihrer Tochter, dann war sie abgehauen. Ich habe nie erfahren, wohin.

Jordan träumte davon, die Duke University zu besuchen. Sie hatte die entsprechenden Zensuren, aber nicht das Geld, und so war sie bei mir gelandet.

„Ich schicke so schnell wie möglich einen Wagen hin“, versprach sie. „Im Moment sind alle wegen der vielen Notrufe im Einsatz. Dieser Sturm hat’s echt in sich.“

„Versuch es bei der Highway-Patrouille. Wir müssen diesen Ast von der Straße entfernen. Irgendein Armleuchter, der nicht genügend Grips im Schädel hat, um sich bei diesem Chaos einen sicheren Parkplatz zu suchen, wird mit dem Ding kollidieren, und dann haben wir auch noch einen Totalschaden.“

„Die Welt ist voll von Armleuchtern“, bestätigte Jordan.

Wie schon gesagt, erwachsener, als ihr Alter vermuten lassen würde.

Ich hielt weiter auf die Stelle zu, wo ich das orangerote Flackern gesehen hatte. Die Funken schienen in der Nähe des Brasstown Bald niedergegangen zu sein, der höchsten Erhebung einer Gebirgsgruppe, die als Wolfpen Ridge bekannt ist. Trotz des Namens gab es in den Blue Ridge Mountains keine Wölfe, und das schon seit Jahrhunderten nicht mehr.

Statisches Rauschen drang aus meinem Funkgerät, zusammen mit Cals Stimme. „Grace, nimm die Abzweigung gleich hinter dem Galilean Drive. Vorsicht, es ist hier wie in einem Sumpf.“

Ich folgte seiner Wegbeschreibung bis zum Ende von etwas, das eigentlich eine unbefestigte Straße hätte sein müssen, jetzt aber die reinste Schlammpfütze war. Cal, angestrahlt vom grellen Licht der Scheinwerfer seines Streifenwagens, trug eine gelbe Regenjacke und den extrem hässlichen Hut, der unsere Uniform komplettierte. Einen Hut, den ich niemals aufsetzte, es sei denn, ich musste.

Seufzend schlüpfte ich in meine eigene Regenjacke und klatschte mir den breitkrempigen, rindenbraunen Stetson-Verschnitt auf mein noch immer feuchtes Haar.

„Wo ist das Feuer?“, fragte ich, kaum dass ich Cal, der am Waldrand stand, erreicht hatte.

„Ich bin mir nicht sicher. Trotzdem habe ich es gesehen. Genau wie du. Verdammt, genau wie jeder in einem Umkreis von einem Kilometer. Aber als ich hier ankam … nichts.“

Vermutlich hatten der tobende Wind und der heftige Regen das Feuer inzwischen gelöscht. Dennoch gebot die Nähe zur Stadt, dass wir uns vergewisserten. Was uns gerade noch fehlte, wäre, dass im Schutz des dichten Waldes ein Holzstück vor sich hinglomm, bevor es in der Sekunde, in der wir uns abwandten, in Flammen aufging.

„Du bist sicher, dass dies die richtige Stelle ist?“

Cal nickte. Mein Hilfssheriff war kein besonders großer Mann, er überragte mich mit meinen eins achtundsiebzig um maximal drei Zentimeter, dennoch war er eine imposante Erscheinung und – obwohl er vor zwei Jahren die Streitkräfte verlassen hatte – noch immer ein Muskelpaket. Ich bezweifelte, dass ich, sollte mich je das Verlangen überkommen, meine Hände um seinen Hals schließen könnte. Cals hellbraunes Haar war im Stil des Marineinfanteriekorps geschnitten, sein Gesicht faltig von Einsätzen in Ländern, in denen es weitaus mehr Sonne, Wind und Sand gab, als wir je würden aufbieten können.

„Ward Beecher hat das Feuer gemeldet“, fuhr Cal fort. „Er berichtete, dass die Bäume in Flammen stünden. Er hat den Rauch gerochen.“

Ich runzelte die Stirn. Ward Beecher war kein Dummkopf. Er war der Pastor der Baptistenkirche von Lake Bluff. Ich hielt ihn auch nicht für einen Lügner, außerdem wohnte er kaum einen halben Kilometer von diesem Waldstück entfernt.

„Jetzt ist hier nichts mehr.“ Ich umrundete die Lichtung. Die Bäume, das Gras, die Erde, alles war klatschnass; ich entdeckte nicht eine einzige verkohlte Kiefernnadel.

„Abgesehen davon.“ Cal wies mich auf eine Stelle vor seinem Auto hin.

Ich trat neben ihn an den Rand eines ziemlich großen Lochs. Es erinnerte mich an Aufnahmen, die ich von Meteoriteneinschlägen gesehen hatte. Nur dass es hier nicht einen einzigen Stein nennenswerter Größe gab.

„Könnte schon immer hier gewesen sein“, gab ich zu bedenken.

„Möglich.“

Er klang nicht überzeugt, aber welche andere Erklärung könnte es geben? Das Loch war leer. Es sei denn …

Ohne mich um den Matsch, der meine Uniform durchtränkte, zu kümmern – ich war sowieso schon nass bis auf die Knochen –, kauerte ich mich auf ein Knie und inspizierte den Untergrund.

„Du vermutest, dass jemand vor uns hier war?“, fragte Cal. „Und mitnahm, was auch immer da vom Himmel gefallen ist?“

Ich antwortete nicht, sondern setzte meine Spurensuche fort. Ich war die beste Fährtenleserin im ganzen County. Dafür hatte mein Vater Sorge getragen. Aber manchmal, wie zum Beispiel jetzt, brachte es rein gar nichts, die Beste zu sein.

„Der Regen hat die oberste Erdschicht weggeschwemmt“, bemerkte ich. „Hier hätte ein Elefant durchstapfen können, und ich würde keine Spur mehr von ihm finden.“

Ich richtete mich auf und heftete den Blick auf die Ausläufer des Waldes, als ein niedriger, gedrungener Schemen die Gestalt eines Wolfs annahm.

Das gefiel mir kein bisschen. Wir hatten nämlich vergangenen Sommer ein kleines Problem mit Wölfen gehabt.

Mit Werwölfen, um genauer zu sein.

Ich hatte es auch nicht geglaubt – bis ein paar echt schräge Dinge passiert waren. Wie sich am Ende herausstellte, wimmelte es bei uns geradezu von Werwölfen. Am Ende kam sogar eine geheime Organisation der Regierung ins Spiel, die den Auftrag hatte, sie unschädlich zu machen.

Ich hatte angenommen, dass sie alle eliminiert, wahlweise geheilt worden wären – seit Monaten war niemand mehr eines grauenhaften, blutigen Todes gestorben.

Aber womöglich hatte ich mich geirrt.

2

Bis ich meine Pistole gezogen hatte, war das Tier zwischen den Bäumen an der Nordseite der Lichtung verschwunden. Ich setzte ihm nach, obwohl ich noch nicht mal Silberkugeln dabeihatte.

Ich spreche von Munition.

„Was ist passiert?“ Cal folgte mir, auch er seine Waffe im Anschlag.

„Hast du nicht den …“ Ich unterbrach mich. Hatte ich wirklich einen Wolf gesehen?

Ja.

Wollte ich es Cal erzählen?

Nein.

„Nicht wichtig.“ Ich steckte die Glock weg. „Es war nur ein Schatten. Schlimmstenfalls ein Bär.“

Es gab in diesen Bergen keine Wölfe, Bären hingegen schon.

Die blaugrauen Augen zusammengekniffen, spähte Cal in den Wald. „Gewöhnlich wagen sie sich nicht so nahe an Menschen heran.“

„Was erklären könnte, warum er so schnell Reißaus nahm.“

„Mmm.“ Cal steckte die Waffe ins Holster, behielt aber vorsichtshalber die Hand an seinem Gürtel.

Es überraschte mich ein wenig, dass er den Wolf nicht gesehen hatte. Das Tier hatte direkt vor ihm gestanden; er hätte, auch wenn er auf den rätselhaften Krater im Boden konzentriert gewesen war, zumindest eine Bewegung wahrnehmen müssen.

Ich untersuchte den Boden auf Spuren, entdeckte jedoch keine. Obwohl es noch immer in Strömen goss, hätte ein Bär Abdrücke hinterlassen. Auch ein Wolf hätte das tun müssen.

„Wir können ebenso gut zurückfahren“, sagte ich schließlich. „Ich bin sicher, Jordan hat eine armlange Liste von Problemen, um die wir uns kümmern müssen.“

„Vermutlich“, stimmte Cal mir zu. „Was denkst du, was dieses orangefarbene Leuchten war?“

„Eine Reflektion?“

„Von einem UFO?“

„Zum Beispiel.“ Es waren schon seltsamere Dinge passiert – gleich hier in Lake Bluff.

Cal lachte über meine spontane Zustimmung. „Leben hier draußen noch andere, mit denen wir sprechen könnten? Vielleicht haben sie ja etwas gesehen.“

„Meine Urgroßmutter hatte eine Freundin, die wohnt …“ Ich gestikulierte vage Richtung Norden. „Allerdings weiß ich nicht, wie viel sie noch sehen oder hören kann.“

Ich hatte Quatie lange Zeit nicht mehr besucht. Meine Urgroßmutter hatte mich gebeten, nach ihr zu sehen, wann immer ich in der Gegend wäre, aber das letzte Jahr war – wegen der Werwölfe – die Hölle gewesen, und ich hatte es schlichtweg vergessen. Ich musste das so schnell wie möglich nachholen.

„Vermutlich lohnt es sich nicht, extra hinzufahren“, meinte Cal.

„Nein“, bestätigte ich, machte mir jedoch eine geistige Notiz, an einem anderen Tag bei ihr vorbeizusehen.

Wir stiegen in unsere Autos und schafften es ohne stecken zu bleiben zur Schnellstraße. Anschließend düste Cal in die eine Richtung davon, ich in die andere.

Ich beschloss, auf direktem Weg zum Haus der Bürgermeisterin zu fahren. Claire Kennedy hatte nicht nur das Sagen in dieser Stadt, sie wäre um ein Haar auch von den Werwölfen getötet worden; ihr Ehemann, Malachi Cartwright, wusste mehr über sie als jeder andere.

Früher hatte ich allem Übersinnlichen skeptisch gege übergestanden. Obwohl meine Urgroßmutter eine Medizinfrau mit ungeheuren Fähigkeiten gewesen war und sie an die Magie geglaubt hatte, fühlte ich mich lange hin- und hergerissen. Einerseits hatte ich wie sie sein wollen; ich hatte glauben wollen. Andererseits hatte ich meinem Vater gefallen wollen – bevor ich sehr viel später feststellen musste, dass das ein Ding der Unmöglichkeit war –, und er war Polizist gewesen, ein Skeptiker vor dem Herrn, der auf Fakten bestand. Ich war verwirrt gewesen, zerrissen … bis zum letzten Sommer, als ich keine andere mehr Wahl hatte, als das Inakzeptable zu akzeptieren. Ohne mich darum zu kümmern, dass es fast Mitternacht war und Claire ein Neugeborenes hatte, wendete ich den Streifenwagen und schlug den Weg zu ihrem Haus ein. Claire würde Bescheid wissen wollen.

Aber noch bevor meine Reifen zwanzig Umdrehungen gemacht hatten, flackerten Scheinwerfer auf der anderen Seite einer Anhöhe auf. Ich fasste gerade nach der Sirene, als ein Fahrzeug über die Hügelkuppe holperte, die Kurve zu schnell nahm und über die gelbe Mittellinie schlitterte. Außer Kontrolle geraten, raste der Wagen direkt auf mich zu.

Ich riss das Lenkrad nach rechts, in der panischen Hoffnung, einem Frontalzusammenstoß zu entgehen und auch nicht in die Fahrerseite gerammt zu werden. Das entgegenkommende Auto streifte lediglich meine Stoßstange, doch durch die Kombination aus Geschwindigkeit und rutschiger Fahrbahn geriet ich ins Schleudern. Unfähig, den Streifenwagen wieder unter Kontrolle zu bringen, prallte ich gegen einen nahen Baum.

Mein Airbag blies sich auf und schlug mir so hart ins Gesicht, dass mein Kopf nach hinten gerissen wurde; dann wurde alles schwarz.

Beim Aufwachen vernahm ich die Geräusche des Regens und den fernen Rhythmus von etwas, das eine Trommel hätte sein können. Vielleicht war es Donnergrollen.

Nein, das war nicht richtig.

Ich runzelte die Stirn, dann stöhnte ich, als der Schmerz in meiner Stirn und Brust explodierte. Langsam öffnete ich die Augen.

Der Streifenwagen war in den Stamm einer hohen Eiche gekracht, mein Gesicht in den Airbag gequetscht. Ich schmeckte Blut.

Der Motor lief nicht. Das Funkgerät war zerschmettert. Ich tastete nach meinem Handy und blinzelte benommen auf das Display, das verkündete: Kein Netz.

Mir war schwindlig und übel. Ein flüchtiger Blick in den Rückspiegel erbrachte nicht viel, allerdings konnten die dunklen Flecken in meinem schemenhaften Konterfei ein Hinweis darauf sein, dass ich mir die Nase gebrochen hatte.

Ich löste den Sicherheitsgurt und kämpfte mich aus dem Auto. Anschließend stand ich allein auf der verlassenen, regennassen Fahrbahn. Der Mistkerl, der mich gerammt hatte, war einfach getürmt. Ich würde ihn zu Kleinholz verarbeiten, wenn ich ihn in die Finger bekäme.

Der Regen durchnässte mich in Sekunden bis auf die Haut. Ich hatte meine Regenjacke ausgezogen, bevor ich eingestiegen war. Und ich war zu benommen gewesen, um mir den Befehl zu erteilen, sie vor dem Aussteigen wieder überzuziehen.

Die Bäume drehten sich im Kreis. Ich wollte mich setzen. Stattdessen lehnte ich mich gegen die hintere Stoßstange und angelte nach einem zusammenhängenden Gedanken.

Ich saß in den Bergen fest, ohne die Möglichkeit, jemanden zu kontaktieren. Ich könnte nach Lake Bluff zurücklaufen, würde es wahrscheinlich tun müssen. Nur nicht jetzt gleich.

Zweige knackten. Ich blinzelte den Regen aus meinen Wimpern. Immer noch war alles verschwommen. Ich konnte zusehen, wie meine Nase anschwoll. Ich würde zwei Veilchen bekommen. Wäre nicht das erste Mal. Ich hatte vier ältere Brüder.

Nicht, dass sie mich häufig geschlagen hätten, aber ich hatte immer mit ihnen mithalten wollen, und aufgrund der mangelnden Beaufsichtigung – Resultat der Besessenheit meines Vaters von seiner Arbeit und der Flucht meiner Mutter, als ich drei war – hatte ich mir jede Menge blauer Flecken und blutiger Kratzer geholt.

Gleichzeitig hatte es mich hart im Nehmen gemacht, fähig, auf mich selbst aufzupassen und den Schmerz auszublenden – exakt die Eigenschaften, die ich im Moment brauchte.

„Danke, George, Gerry, Greg und Gene“, murmelte ich.

Ich hatte mich oft gefragt, ob meine Mutter aus sentimentalen Gründen Vornamen mit G ausgesucht hatte oder weil wir ihr nicht wichtig genug waren, um sich etwas Originelles einfallen zu lassen. Falls sie nicht eines Tages zurückkehrt, und darauf würde ich lieber nicht wetten, werde ich es nie erfahren. Meine Brüder haben sich immer geweigert, über sie zu sprechen, genau wie mein Vater.

Hat ihre Flucht mich negativ geprägt? Definitiv. Wann immer mir jemand etwas bedeutete, wusste ich, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis er mich verlassen würde. Bis heute wurde ich nie enttäuscht.

Ich bewegte mich auf die Ausläufer des Waldes zu. Obwohl ich benommen war, mein Kopf wehtat und ich nicht wusste, inwieweit ich bei klarem Verstand war, beunruhigten mich diese Bäume. Sie wiegten sich nicht im Wind, wie ich anfangs dachte, sondern sie schwankten, als würde etwas auf mich zukommen.

Ich zog meine Waffe. Würde ich in meinem Zustand überhaupt in der Lage sein, ein Ziel zu treffen? Würde mir eine Bleikugel in dieser Nacht etwas nützen?

Warum nur hatte ich nicht auf meine innere Stimme gehört und alle meine Schusswaffen mit den speziell angefertigten Silberkugeln bestückt, die ich letzten Sommer in Auftrag gegeben hatte? Ich war hier der Boss. Niemand würde Einwände erheben.

Zumindest nicht in meiner Gegenwart.

Ich baute mich breitbeinig auf und umklammerte die Glock mit beiden Händen, um sie zu stabilisieren. Was immer da kam, es war groß.

Wieder hörte ich dieses seltsame Rumpeln – kein Donner, keine Trommeln, vielleicht der Wind, ich wusste es nicht. Dann wurde eine schattenhafte Gestalt zwischen den Kiefern sichtbar.

Zu groß für einen Wolf, zu schmal für einen Bären – mein Hirn lief nicht auf vollen Touren, sonst hätte ich den Schemen als den eines Mannes identifiziert, noch bevor er aus dem Wald glitt und, den Blick auf meine Waffe fixiert, wie angewurzelt stehen blieb.

„Normalerweise dauert es ein bis zwei Tage, bis die Leute den Wunsch verspüren, mich zu erschießen“, bemerkte er.

Sein Akzent war ungewöhnlich – er klang weder nach Süd- noch nach Nordstaaten, sondern wie irgendetwas dazwischen. In der Dunkelheit konnte ich sein Gesicht nicht erkennen, aber er war einige Zentimeter größer als ich, mit breiten Schultern, die sich zu einer schmalen Taille verjüngten. Seine Haare waren lang, dunkel und so nass wie meine.

Ich krampfte die Finger um den Pistolengriff, als sich alles zu drehen begann. „Was … was tun Sie …“

Ich wollte ihn fragen, was er hier draußen im Regen machte, als mir plötzlich alles vor den Augen verschwamm und ich so hart mit den Knien auf die Straße stürzte, dass mein ganzer Körper gestaucht wurde.

„He“, rief der Mann und eilte auf mich zu. „Sind Sie verletzt?“

„Wie kommen Sie denn darauf?“, murmelte ich und verlor das Bewusstsein.

Ich war nicht lange ohnmächtig, wenigstens kam es mir so vor. Der Sturm wütete noch immer; der Fremde kauerte auf den Hacken neben mir. Seine Finger huschten über mein Gesicht und meinen Hals, dann verharrten sie unter meinem Ohr.

Ich schlug sie weg. „Was fällt Ihnen ein?“

„Ich bin Arzt.“

„Das behaupten sie alle.“

Er zögerte, als wüsste er nicht, ob das ein Jux sein sollte; wahlweise fand er mich einfach nicht komisch. Wenige Menschen taten das.

Ich konnte sein Gesicht noch immer nicht erkennen. Der Mond blieb von Wolken verdeckt, und es gab weit und breit keine Straßenlampe.

Ich lag auf Gras statt auf Asphalt. Der Mann war so clever gewesen, mich von der Straße wegzuziehen. Würde er meinen Tod wollen, hätte er mich dort liegen lassen.

Aber warum sollte er meinen Tod wollen? Wie er richtig bemerkt hatte, dauerte es in der Regel ein paar Tage, bevor ein Mensch einem anderen den Tod wünschte.

Er nahm die Hand von meinem Hals, und, ausgekühlt vom Regen, vermisste ich augenblicklich ihre Wärme. Wasser tropfte von seinem Kopf auf meinen.

„Sie werden überleben“, informierte er mich.

„Gut.“

Er blieb in der Hocke. „Was ist passiert?“

„Irgendein Idiot ist zu schnell gefahren. Kam über den Hügel gebrettert und ist in meinen Wagen geschlittert; ich bin gegen diesen Baum gekracht und rums – fertig war das Airbag-Gesicht.“

Er lachte, es könnte aber auch ein Hüsteln gewesen sein. „Ich glaube nicht, dass Ihre Nase gebrochen ist, trotzdem sollten Sie sie zur Sicherheit röntgen lassen.“

„Wozu? Kann man gegen eine gebrochene Nase etwas unternehmen?“

„Das hängt davon ab, wie stark sie gebrochen ist. Sie wollen bestimmt nicht für den Rest Ihres Lebens mit einem Höcker oder einer Delle in der Mitte herumlaufen.“

Mein Aussehen hätte mir nicht unwichtiger sein können. Man hatte mir schon hunderte Male gesagt, dass ich schön und exotisch sei. Was ich hingegen sein wollte, war durchschnittlich, normal und geliebt, nur würde das ein frommer Wunsch bleiben.

„Da Sie eine ganze Minute bewusstlos waren“, fuhr er fort, „haben Sie sich vermutlich eine Gehirnerschütterung zugezogen.“

„Wäre nicht das erste Mal.“

„Wie kommt das?“

„Ich habe Brüder.“

„Nun, dann kennen Sie sich ja aus.“

Das tat ich, wenn ich mich nur daran hätte erinnern können, was die Symptome einer Gehirnerschütterung waren.

Er musste mir meine Verwirrung angemerkt haben, denn er fügte hinzu: „Falls Sie erbrechen müssen, suchen Sie einen Arzt auf. Lassen Sie sich heute Nacht einmal von jemandem wecken.“

Ich schnaubte, was in meinem Kopf und meiner Nase ein schrilles Kreischen auslöste. Die einzige Person, die bei mir zu Hause wohnte, war ich. Nicht, dass ich in dieser Nacht überhaupt zum Schlafen kommen würde.

„Und legen Sie Eis auf Ihr Gesicht“, riet er abschließend.

Der Wind frischte auf und peitschte ihm eine Strähne vor die Augen. Er strich sie weg. Ein verirrter Mondstrahl brachte seinen Ring zum Funkeln. Ich konnte nicht unterscheiden, ob er aus Silber oder aus Gold war.

Er drehte den Kopf, als ob er etwas gehört hätte, und ein dünner, geflochtener Zopf, an dem irgendeine Feder baumelte, schwang über seine Schulter. In dem schwachen Licht ließ sein Profil eine scharf akzentuierte Nase und hohe Wangeknochen, für die jedes Model morden würde, erkennen.

Dieser Mann war so indianisch wie ich.

War er aus der Vergangenheit gekommen? War er ein Geist? Ein Unsterblicher? Wie schlimm hatte ich mir den Kopf gestoßen?

„Ich helfe Ihnen beim Aufstehen“, bot er an.

Ich wäre gern noch eine Weile liegen geblieben, aber rotes und blaues Geflimmer erhellte den Himmel aus der Richtung, in die er gespäht hatte. Wie hatte er das Auto vor mir bemerken können?

Mühsam rappelte ich mich auf die Füße. Mein Retter ließ mich los, und ich war froh, dass ich nicht zusammenklappte.

Ein Streifenwagen kam über die Hügelkuppe. Ich hob den Arm, aber Cal scherte bereits vor meinem geschundenen Auto auf den Seitenstreifen ein.

Er sprang heraus und rannte zu mir. „Ist alles okay, Grace?“

„Ihm zufolge ja.“ Ich wedelte mit der Hand zu dem Fremden.

Falten der Verwirrung traten auf Cals Gesicht. „Wem zufolge?“

Ich wandte den Kopf, um den Mann nach seinem Namen zu fragen, aber da war niemand.

3

„Ich mache mir langsam Sorgen um dich“, stellte Cal fest.

„Ich mir auch.“

Ich trat an den Waldrand. Zu viel Gras, als dass man irgendwelche Fußabdrücke erkennen konnte. Ich entdeckte ein paar vereinzelte Vertiefungen, doch konnten die von allem Möglichen verursacht worden sein.

Erst der verschwundene Wolf, jetzt der verschwundene Mann. Bestand da ein Zusammenhang?

„Und ob“, murmelte ich.

„Grace?“

Ich führte mal wieder Selbstgespräche. Menschen, die allein leben, neigen dazu. Ich sollte mir das unbedingt abgewöhnen, doch war fraglich, ob es mir gelingen würde.

„Nicht wichtig“, brummte ich. „Wie hast du mich gefunden?“

„Notruf aus einer Telefonzelle. Wahrscheinlich die Person, die dich angefahren hat.“

„Dieser Penner“, presste ich hervor, obwohl ich froh war, dass jemand die Polizei verständigt hatte. „Ich fürchte, du wirst mich nach Hause fahren müssen.“

„Ich bringe dich ins Krankenhaus.“

„Nein, das tust du nicht.“

„Du bist voller Blut.“

„Deshalb will ich meine Uniform wechseln, bevor ich wieder rausgehe.“

„Du wirst nicht wieder rausgehen. Nicht heute Nacht.“

„Du scheinst dem Irrglauben zu unterliegen, mein Boss zu sein“, fuhr ich ihn an.

Cals Lippen wurden schmal, doch als er sprach, war er die Ruhe selbst. So viel zur Geduld eines Heiligen. „Du kannst nicht blindlings in der Gegend herumfahren, vor allem nicht in diesem Chaos, solange du benommen bist. Nimm dir zumindest die restliche Nacht frei.“ Er zeigte mit dem Daumen zu meinem demolierten Streifenwagen. „Du wirst sowieso Probleme haben, das Ding wieder zum Laufen zu bringen.“

„Ich besitze auch noch ein privates Auto, Cal.“

Er murmelte etwas, von dem ich instinktiv wusste, dass ich es nicht hören wollte. Cal versuchte nur, mich zu beschützen, allerdings war ich nicht besonders gut darin, mich beschützen zu lassen.

„Bring mich heim“, befahl ich.

Die kurze Fahrt zu meinem Haus verlief in frostigem Schweigen. Als ich versuchte, aus dem Wagen zu klettern, pochte mein Kopf so heftig, dass sich mir der Magen umdrehte.

Seufzend guckte ich Cal an. „Na schön, du hast gewonnen. Ich werde zu Bett gehen, aber ruf mich an, falls irgendein Ernstfall eintritt.“

Seinem vage sarkastischen Salut entnahm ich, dass es nichts geben konnte, das Cal als ernst genug erachten würde, um mich in dieser Nacht zu wecken.

Ich zögerte. Mein Vater hatte nur selten Verantwortung delegiert. Wäre er jetzt hier, hätte er verächtlich geschnaubt und mich einMädchen genannt. In meiner Familie die ultimative Beleidigung.

„Brauchst du Hilfe beim Reingehen?“, erkundigte Cal sich.

„Nicht mehr, seit die Bürgermeisterin und ich uns mit sechzehn einen Karton billigen Fusel hinter die Binde gekippt haben und ich anschließend drei Tage lang über der Kloschüssel hing.“

„Ihr beide müsst echte Schätzchen gewesen sein.“

„Oh ja, wir waren große Klasse.“

Sobald ich es auf die Veranda geschafft hatte, hob ich die Hand, woraufhin Cal den Wagen wendete und zurück zur Arbeit fuhr.

Ich war voller Schlamm, voller Blut; meine Uniform war so viele Male nass geworden und stellenweise wieder getrocknet, dass sie sich steif und unbehaglich anfühlte. Meine Haare hatten sich aus ihrem Zopf gelöst und peitschten wie drahtige Heubüschel gegen meinen Nacken.

Eine lange, heiße Dusche spülte die Starre, den Matsch und das Blut von meinem Körper und Gesicht. Ich nahm einen Beutel Eis mit ins Bett. Auch das nicht zum ersten Mal.

Ich stellte den Wecker auf 3:00 Uhr früh und wurde zum Glück mühelos wach, als er klingelte. In dem Eisbeutel war nur noch Wasser. Ich warf ihn auf den Boden und schlief weiter.

Ich träumte von Blitzen und Vögeln, die in einem Glaskäfig eingesperrt waren, sodass ihr panisches Flügelschlagen wie fernes Donnergrollen klang. Ich wurde sofort hellwach, als mir dämmerte, was das seltsame Geräusch vergangene Nacht im Wald gewesen sein musste.

„Der Flügelschlag eines wirklich großen Vogels.“ Ich schüttelte den Kopf und wurde mit einem dumpfen Schmerz hinter meinen geschwollenen Augen bestraft.

Meine Gehirnerschütterung war schlimmer, als ich angenommen hatte. Ich hatte den Wind gehört, vielleicht den Donner. Es gab keinen Vogel, der groß genug war, um dieses Geräusch zu erzeugen, das die Erde, die Bäume, die ganze Atmosphäre hatte erzittern lassen.

Natürlich gab es in Georgia auch keine Wölfe, trotzdem hatten wir letzten Sommer welche gehabt. Nach allem, was ich im Sturm gesehen hatte, könnten wir wieder welche haben.

Ich stand auf, zog mich an und machte mich auf den Weg zu Claire.

In den meisten Nächten brauchte ich eine Weile, bis ich einschlummerte. Mit der Folge, dass ich häufig verschlief und mit noch feuchten Haaren und nach einer einzigen Tasse Kaffee unter der Dusche zur Arbeit hetzen musste.

An diesem Morgen hatte die Dämmerung gerade erst den Horizont geküsst, als ich den verblichen roten Pick-up meines Vaters die Center Street hinabsteuerte. Ein Brotlaster parkte vor dem Good Eatin’ Café. Das Offen-Schild des Coffeeshops begann gerade zu blinken, als ich es passierte. Der Laden hatte sich auf die überkandidelten Lattes und Tees spezialisiert, die sich in den Großstädten so großer Beliebtheit erfreuten – während der Sommermonate verdankten wir einen Großteil unserer Einnahmen den Touristen –, aber das Café verkaufte auch guten, altmodischen Kaffee zum Mitnehmen, als Zugeständnis an Einheimische wie mich.

Ein Umzugswagen parkte vor einem Gebäude, das einmal ein Puppengeschäft gewesen war, bis dann vor achtzehn Monaten der Besitzer das Zeitliche gesegnet hatte. Seitdem stand der Laden leer. Ich notierte mir im Geist herauszufinden, wer das Haus gekauft hatte, und den neuen Besitzer anschließend in der Nachbarschaft willkommen zu heißen.

Claire gehörte das größte Haus in Lake Bluff. Nicht, dass das ihre Absicht gewesen wäre, aber als ihr Vater – der vorherige Bürgermeister – starb, hatte er ihr nicht nur seinen Job, sondern auch das Familienanwesen vermacht.

Claire hatte auch das Bürgermeisteramt nicht angestrebt. Sie hatte Nachrichtensprecherin werden wollen und war nach Atlanta gegangen, um ihren Traum in die Tat umzusetzen. Nur leider hatte sie feststellen müssen, dass ihr Talent und ihre Intelligenz, die sie in Lake Bluff zu einer Ausnahmeerscheinung gemacht hatten, in einer Großstadt eher Durchschnitt waren oder noch darunter lagen. Also war sie stattdessen Produzentin geworden, aber das hatte ihr keinen Spaß gemacht.

Dafür hatte sie inzwischen Freude an ihrem Job als Bürgermeisterin gefunden, und sie war eine gute. Zu ihrer eigenen wie auch zur allgemeinen Überraschung.

Ich war nur froh, sie wiederzuhaben. Claire und ich waren Busenfreundinnen, seit unsere Mütter verschwunden waren. Ihre in den Himmel, meine weiß der Geier wohin.

Auch unsere Väter waren Freunde gewesen – der Bürgermeister und der Sheriff –, und hatten uns, unter der Fuchtel des einen oder anderen meiner Brüder, oft zusammen aufs Abstellgleis geschoben. Claire und ich hatten überlebt. Damals wie heute waren wir aufeinander angewiesen.

Ich parkte vor dem weitläufigen, zweistöckigen Haus am Ende der Center Street. Claire ging jeden Tag zu Fuß zur Arbeit, genau wie ihr Vater es getan hatte. In einer Stadt mit knapp fünftausend Einwohnern gab es keine sehr weiten Wege.

Die Tür wurde geöffnet, bevor ich klopfen konnte.

„Wer hat dich denn vermöbelt?“, verlangte Claire zu wissen. „Und was hast du gesagt, um es herauszufordern?“

Sie hatte die Fäuste geballt und schien bereit, es mit jedem aufzunehmen, der es gewagt hatte, mich anzurühren. Nicht, dass sie nicht den Kürzeren ziehen würde. Claire war ein Mädchen im wahrsten Sinne des Wortes – weich und üppig, mit feuerrotem Haar, mondbleicher Haut und den klaren, blauen Augen ihrer schottisch-irischen Vorfahren.

„Wie kommst du darauf, dass ich etwas gesagt haben könnte?“, gab ich zurück.

„Weil du das immer tust?“

„Dieses Mal nicht. Mein Gesicht hatte eine intime Begegnung mit einem Airbag.“

Ihre Finger lockerten sich. „Alles in Ordnung?“

„Bestens. Aber der Streifenwagen sieht nicht halb so gut aus wie ich.“

Sie zog eine Braue hoch. „Was für ein Glück, dass wir uns einen neuen leisten können.“

Seit Claire im Amt war, hatte die Stadtkasse einen beachtlichen Aufschwung erlebt. Nicht nur war unser letztes Vollmond-Festival – trotz der Werwölfe – ein riesiger Erfolg gewesen, auch hatte Claire eine Vielzahl neuer Ideen entwickelt, um den Tourismus das ganze Jahr über und nicht nur während dieser einen Augustwoche anzukurbeln.

„Da ist etwas, worüber ich mit dir reden muss“, sagte ich.

Claire winkte mich nach drinnen und ging mir voran in die Küche. „Kaffee?“

„Gott, ja.“

Ich hielt Ausschau nach Oprah, der Katze, die ihren Namen Claires kurzer Episode als Moderatorin verdankte, bevor mir wieder einfiel, dass sie eine spontane Liebe zu dem Baby entwickelt hatte und ihm selten von der Seite wich.

Wann immer Noah in seinem Gitterbettchen schlief, lag Oprah darunter. Schlummerte er irgendwo anders im Haus ein, wachte sie neben ihm, und sobald jemand das Zimmer betrat, stimmte sie ein Geschrei an, das einen Toten geweckt hätte, das Baby jedoch nicht zu stören schien. Oprah war die beste Alternative zu einem Wachhund, die Claire hätte finden können.

„Wo sind die Jungs?“, fragte ich.

„Sie schlafen noch, Gott sei Dank.“

Claire hatte Malachi Cartwright Anfang letzten Herbstes geheiratet. Ihr Sohn, Noah, war im Mai geboren worden, was bedeutete, dass Claire viel zu wenig Schlaf bekam. Zum Glück kümmerte Mal sich tagsüber um das Baby, sodass sie sich um Lake Bluff kümmern konnte.

Mal war eine Kuriosität hier, und das nicht nur, weil er die Rolle des Hausmannes übernommen hatte. Er war vergangenen Sommer mit seinem Zigeunertrupp in die Stadt gekommen, als Unterhaltungsprogramm während des Festivals. Nachdem sich eine ganze Reihe unheimlicher Geschehnisse abgespielt hatte, war er geblieben, während der Rest seiner Leute weitergezogen war.

Von Anfang an hätte man sich kein unwahrscheinlicheres Paar vorstellen können – die Bürgermeisterin und der Zigeuner-Pferdetrainer, die First Lady von Lake Bluff und die Hilfskraft. Ich könnte endlos fortfahren und Vergleiche anstellen, die direkt einem historischen Kitschroman entsprungen sein könnten. Doch die Wahrheit ist, dass es den beiden vorherbestimmt war, sich kennenzulernen und ineinander zu verlieben. Sie waren das glücklichste Paar, das mir je untergekommen war. Ich nehme an, Claire hat vergeben, wenn nicht gar vergessen, dass Malachi ursprünglich in die Stadt kam, um sie zu töten.

Claire stellte zwei Becher auf den Tisch, und wir setzten uns. „Was ist passiert?“, fragte sie.

Hastig berichtete ich ihr von letzter Nacht. Dem seltsamen flackernden Licht. Dem Feuer, das keines war. Dem Krater und dem Wolf.

„Nicht schon wieder“, murmelte sie.

„Ich bin nicht sicher, ob ich es tatsächlich gesehen habe. Als ich nach Spuren suchte, waren da keine.“

„Du hattest erwartet, nach einem Gewittersturm, wie wir ihn vergangene Nacht hatten, Spuren zu finden?“

Ich zuckte die Achseln. „Man kann nie wissen.“

„Hast du ein Heulen gehört?“

„Nein, nur Donner und Wind.“ Und das rhythmische Schlagen der gigantischen Flügel eines unsichtbaren Vogels. Ich beschloss, dieses Detail für mich zu behalten.

„Außerdem war da ein Mann. Er tauchte wie aus dem Nichts auf.“

„Du meinst, erst war er nicht da, dann plötzlich schon?“

„Keine Ahnung. Er kam aus dem Wald. Ich konnte sein Gesicht nicht klar erkennen, aber er war indianischer Abstammung. Eine Sekunde dachte ich …“ Ich machte eine Pause und durchforstete meine Erinnerung. „Meine Urgroßmutter hat mir früher die Geschichte eines Cherokee-Stammes erzählt, der sich in den Bergen versteckte, um dem Pfad der Tränen zu entgehen. Sie verbargen sich so gut, dass sie am Ende sowohl unsterblich als auch unsichtbar wurden.“

„Ich fürchte, du hast dir echt den Kopf gestoßen.“

Obwohl ich das Gleiche dachte, konnte ich es mir nicht verkneifen zurückzusticheln. Das gelang mir selten.

„Und das von einer Frau, die gesehen hat, wie sich Menschen in wilde Tiere verwandeln.“

Sie prostete mir mit ihrem Becher zu. „Der Punkt geht an dich.“

Ich stieß mir ihr an und trank einen Schluck. „Sobald ich wieder klar denken konnte, realisierte ich, dass ein Wolf zwischen diesen Bäumen verschwunden und kurz darauf ein Mann dort hervorgekommen war.“

„Hatte der Wolf menschliche Augen?“

Wir hatten letzten Sommer entdeckt, dass ein Werwolf einem echten Wolf in jeder Hinsicht ähnelt – bis auf die menschlichen Augen.

Ich versuchte, mir die Augen des Wolfes und die des Mannes ins Gedächtnis zu rufen, aber es wollte mir nicht gelingen. Eigentlich sollte man meinen, dass ich mich an so etwas Bizarres wie die Augen eines Menschen im Gesicht eines Wolfs erinnern würde, aber da waren schließlich noch die Nachwirkungen der Gehirnerschütterung …

„Ich weiß es nicht“, gestand ich. „Seit der Sache mit dem Airbag klaffen gewisse Lücken in meinen grauen Zellen.“

Sorge flackerte über ihr Gesicht. „Möchtest du ein Aspirin?“

„Nein, Mom, trotzdem danke.“

„Pass auf, was du sagst, sonst werde ich dich Noah nicht halten lassen, wenn er aufwacht.“

Ich hatte eine echte Schwäche für Noah Cartwright. Wer hätte gedacht, dass die kratzbürstige, taffe, waffennärrische, befehlshaberische Grace McDaniel wegen eines Babys sentimental werden würde? Ich bestimmt nicht.

„Leider werde ich nicht warten können, bis sich Seine Hoheit aus dem Gitterbett erhebt.“ Ich stand auf und trank meinen restlichen Kaffee in einem Zug leer.

„Ich werde das, was du mir erzählt hast, mit Mal bereden“, versprach Claire, als sie mich zur Tür brachte. „Er ist ziemlich gut darin, ungewöhnlichen Begebenheiten auf den Grund zu gehen.“

Da Malachi einst dazu verflucht worden war, jahrhundertelang auf der Erde zu wandeln, verfügte er in Sachen Gestaltwandler über einen reichen Erfahrungsschatz.

„Das wäre klasse“, erwiderte ich.

Ich hätte es selbst getan, nur hatte ich die düstere Vorahnung, dass mich die menschlichen Bewohner von Lake Bluff in den kommenden Tagen ziemlich auf Trab halten würden. Hinzu kam, dass ich nie mit eigenen Augen einen Werwolf gesehen hatte und mich damit im Nachteil befand. Nicht, dass ich an ihrer Existenz zweifelte. Schon lange bevor sie aufgetaucht waren, hatte ich andere, ebenso erstaunliche Dinge gesehen, die mich letztendlich bekehrt hatten.

„Ich werde diese Woche viel unterwegs sein.“ Ich trat auf die Veranda und staunte darüber, wie hell die Sonne nach diesem schrecklichen Unwetter schien. „Ich muss nach den Leuten in den Randbezirken sehen.“

Es gab noch immer jede Menge rückschrittlicher Menschen, die sich nicht davon abbringen ließen, ohne Telefon und Elektrizität in den Bergen zu hausen. Ja, es gab sogar ein paar fortschrittliche Menschen, die das für den letzten Schrei hielten. Für mich waren sie geisteskrank. Was wahrscheinlich daran lag, dass ich jedes Mal, wenn die Natur verrückt spielte, nach ihnen sehen musste.

„Du darfst deine Überstunden gern aufschreiben“, bemerkte Claire.

„Genau das hatte ich vor.“

Ich fuhr den Hügel hinab, an dessen Fuß das Grundstück lag, das sowohl die Polizeiwache als auch das Rathaus beherbergte. Doch anstatt auf den Parkplatz einzubiegen, hielt ich auf das Gebäude zu, vor dem der Möbelwagen gestanden hatte. Die Ladentür war offen, also trat ich ein.

Vermutlich hätte ich mich durch Rufen bemerkbar machen sollen, aber der Raum war leer. Hatte der Umzugswagen Gegenstände abtransportiert, anstatt welche anzuliefern?

Clevere Diebe taten häufig so, als hielten sie sich rechtmäßig an einem Ort auf, und nur selten stellte jemand unliebsame Fragen. Welch bessere Methode gäbe es, ein Haus zu plündern, als einen Umzugswagen zu bestellen und sich als Möbelpacker auszugeben?

Mit dem Vorsatz, herauszufinden, ob jemand dieses Haus gekauft hatte, wollte ich gerade den Rückzug antreten, als über mir eine Diele knarrte.

Langsam hob ich den Kopf. Ich hatte die darüberliegende Wohnung vergessen.

Im Anschluss an die Hintertür des Ladens befand sich ein schmaler Bereich, früher Schmutzraum genannt, mit einer Treppe. Die Stufen führten zu einem langen, düsteren Flur mit einer ganzen Reihe von Türen, von denen nur die letzte offen stand. Während ich auf sie zuging, überkam mich plötzlich das Gefühl, beobachtet zu werden. Ein rascher Blick über meine Schulter erbrachte keine Bestätigung.

Die erste Tür, die zweite, die dritte, die vierte – ich öffnete den Mund, um mich anzukündigen, als ein weicher Luftzug über meinen Nacken strich.

Ungeduldig fuhr ich herum, um meiner überbordenden Fantasie zu beweisen, dass der Flur hinter mir leer war.

Der Mann stand so nahe, dass meine Brüste seinen Oberkörper streiften.

4

Instinktiv griff ich nach meiner Waffe. Er fing mein Handgelenk auf halbem Weg dorthin ab. Meine linke Hand holte nach seinem Kopf aus, und er hielt auch sie fest. Dann starrten wir einander an, er meine Handgelenke so brutal umklammernd, dass ich später blaue Flecken haben würde, unsere Körper so dicht beieinander, dass unser Atem sich mischte.

Er trug einen schwarzen Anzug und Krawatte, dazu ein Hemd, das so blütenweiß war, dass es sogar in dem spärlichen Licht hell schimmerte. Aber es war nicht der Anzug, der mich aus dem Konzept brachte – es war das lange, mit einem geflochtenen Zopf und einer Adlerfeder geschmückte Haar.

Wenigstens hatte ich ihn mir nicht nur eingebildet.

Mit Ausnahme der Feder wirkte er in diesem Licht nicht indianisch. Seine Haut war um einiges blasser als meine, und seine Augen hatten eine ungewöhnlich helle Farbe – nicht braun, nicht grün, nicht grau, sondern eine faszinierende Mischung aus diesen drei Farben.

„He!“ Ich zerrte an meinen Händen.

Er gab sie nicht frei; wortlos ließ er den Blick über mein Gesicht gleiten. Ich leistete Widerstand, ich konnte nicht anders. Seit mein ältester Bruder, George, mich einmal festgehalten hatte, während Greg mein Gesicht mit Ahornsirup bestrich, werde ich ziemlich nervös, wenn ich in der Falle sitze.

Ich wehrte mich weiter. Er ignorierte es weiter. Die Reibung, die ich durch mein Gezappel erzeugte, begann sich besser anzufühlen, als sie sollte. Meine Brustwarzen reagierten, obwohl sie durch einen gepolsterten BH geschützt waren, was meine Atemfrequenz und damit die Reibung zusätzlich steigerte.

Ich erwog, ihm ans Schienbein zu treten, aber seinem kraftvollen Griff als auch seiner Miene nach würde er mich trotzdem weiter festhalten.

„Schleichen Sie sich oft in fremde Häuser und bedrohen die Leute mit einer Schusswaffe?“, fragte er.

„Nur, wenn ich einen verwaisten Laden mit einer offenen Tür sehe und sich dann jemand von hinten an mich heranschleicht. Sie fordern Ärger heraus.“

„Das höre ich oft.“

„Sie werden mehr als das zu hören bekommen, wenn Sie mich nicht loslassen. Nämlich einprägsame Begriffe wie ‚Tätlichkeit gegen eine Polizeibeamtin‘ und ‚Haft ohne Kaution‘.“

Seine einzige Antwort bestand in einem Lächeln, bei dem seine leicht schiefen, aber sehr weißen Zähne aufblitzten. Nichtsdestotrotz ließ er von mir ab. Ich wich zurück und rieb mir geistesabwesend erst das eine, dann das andere Handgelenk.

Mein Blick blieb an der Adlerfeder hängen. Nach Tradition der Cherokee wagten es nur große Krieger, sich mit den Federn des heiligen Vogels zu schmücken. War ihm das bekannt? Interessierte es ihn überhaupt?

„Was macht Ihr Kopf?“

„Er fühlt sich an, als würde er gleich explodieren.“

„Eigentlich sollte er inzwischen nicht mehr so stark schmerzen.“

Der Mann kam so schnell auf mich zu, dass mir nicht die Zeit blieb, einen klaren Gedanken zu fassen, geschweige denn zu fliehen; er zog mich an sich, sodass meine Nase über sein Hemd rieb, und untersuchte meinen Schädel.

„Au!“ Ich stieß ihn weg, obwohl er wirklich gut roch, ein bisschen, als hätte er sich mit Minzblättern abgerieben.

Er starrte mich halb belustigt, halb besorgt an.

„Meinem Kopf fehlt nichts“, behauptete ich. „Warum haben Sie sich an mich rangeschlichen?“

„Ich habe mich nicht rangeschlichen.“

„Ich habe Sie nicht kommen hören.“

„Ich war schon immer sehr leise.“

Er war viel mehr als das. Ich war leise. Mein Vater hatte mir beigebracht, Menschen wie Tieren vollkommen lautlos zu folgen, aber dieser Mann hatte den Spieß umgedreht. Da war etwas an ihm, das meine Instinkte in Alarmbereitschaft versetzte – oder war es am Ende nur meine Libido?

„Wer sind Sie?“, fragte ich.

„Das sagte ich Ihnen bereits letzte Nacht, erinnern Sie sich nicht?“

„Sie behaupteten, Arzt zu sein, aber jetzt ertappe ich Sie dabei, wie Sie in einem leer stehenden Laden herumschleichen und fremde Frauen misshandeln.“

Ein Lächeln umspielte seine Lippen. „Es hat Ihnen nichts ausgemacht.“

Könnte ich erröten, wäre ich knallrot angelaufen. Stattdessen stieg mein Blutdruck so abrupt an, dass mein Puls schmerzhaft hinter meinen blau geschlagenen Augen pochte.

„Ich sollte Sie wegen Inbesitznahme eines leer stehenden Hauses festnehmen.“

„Sehe ich für Sie wie ein Hausbesetzer aus?“

Ich nutzte die Gelegenheit, ihn einer genaueren Musterung zu unterziehen. Im Kontrast zu seinem teuren Maßanzug trug er Sandalen. An seinem rechten Ringfinger funkelte im Sonnenlicht der goldene Ring, der mir schon letzte Nacht aufgefallen war. Es hätte ein Ehering sein können, nur trug er ihn an der falschen Hand.

„Officer?“, drängte er, als ich meine Begutachtung fortsetzte.

Er war nicht im klassischen Sinn hübsch. Dafür waren die Knochen in seinem Gesicht zu markant. Aber mit seinen dunklen Haaren, den hellen Augen und der leicht gebräunten Haut prägte er sich dem Gedächtnis ein.

„Sheriff“, korrigierte ich ihn.

Sein Blick glitt zu meiner Brust, und mein Puls beschleunigte sich von neuem. „Sheriff McDaniel“, las er von meinem Namensschild ab. „Ich bin Ian Walker. Aus Oklahoma.“

Was den Akzent erklärte – nicht Süden, nicht Norden, sondern Westen, wo die meisten Cherokee schon vor langer Zeit verschwunden waren.

„Was führt Sie her?“

„Nach Lake Bluff oder in dieses Haus?“

„Beides.“

„Ich werde eine Praxis eröffnen, sobald ich dieses Gebäude renoviert habe, und ich entschied mich für Lake Bluff, weil …“ Er hielt inne, als müsste er sich den Grund erst überlegen.

„Weil?“, insistierte ich.

„Die Spur meiner Vorfahren endet in dieser Stadt. Sie stammt noch aus der Zeit, bevor unser beider Volk den Weg, auf dem wir weinten, erdulden musste.“

Er verwendete das Cherokee-Synonym des historischen Begriffs „Pfad der Tränen“. Beide bedeuteten dasselbe. Ein weiteres Beispiel dafür, wie die US-Regierung mit jenen umsprang, deren einziges Verbrechen darin bestand, als Erste hier gewesen zu sein und dann den Hochmut zu besitzen, nicht aufzugeben, was ihnen gehörte, obwohl man es ihnen befahl.

„Woher wissen Sie, dass wir vom selben Volk sind?“, fragte ich.

Ich hätte genauso gut jedem anderen Stamm im Land angehören können. Nach allem, was er wissen konnte, musste überhaupt kein indianisches Blut in meinen Adern fließen, sondern vielleicht afrikanisches, asiatisches, italienisches, mexikanisches oder eine beliebige Kombination aus all dem.

„Im Zuge der Recherchen meine eigene Familie betreffend stieß ich auf die McDaniels. Ihr lebt hier schon seit Anbeginn der Zeit.“

„So lange nun auch wieder nicht.“ Nur beinahe.

Der Legende nach kamen die Aniyvwiya, das Hauptvolk, aus einem Land der Wasserschlangen und Seeungeheuer, nahe jenem Ort, wo die Sonne geboren wurde. In anderen Worten: aus Osten. Aber wir waren schon derart lange in diesen Bergen, dass niemand wirklich wusste, wann sich die ersten Cherokee hier niedergelassen hatten.