Wolken über Paris - Kajsa Arnold - E-Book

Wolken über Paris E-Book

Kajsa Arnold

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Beschreibung

Fabienne hat vor Jahren ihren Mann und ihren Sohn bei einem Feuer verloren. Seitdem trägt ihr Herz Trauer. Als sie einen Luftballon findet, an dem die Adresse eines Kindes hängt, ruft sie dort an und erfährt, dass der kleine Liam inzwischen verstorben ist. Fabienne beschließt dennoch, die Karte abzugeben, und trifft auf Yanis. Er ist der Vater des kleinen Liam. Und sie kennt Yanis - denn er ist der Feuerwehrmann, der sie daran gehindert hat, in das brennende Haus zu laufen, um ihre Familie zu retten ... Und wieder bringt das Schicksal diese beiden Menschen zusammen. Beide müssen lernen: Das Leben ist nicht immer nach unserem Geschmack, doch machmal bietet es eine zweite Chance an.

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Seitenzahl: 144

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Wolken über Paris

Kajsa Arnold

Inhalt

Zitat

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

22. Epilog

Danksagung

Bücher von Kajsa Arnold

Deutsche Neuausgabe

Copyright © 2021, Kajsa Arnold

Erstausgabe unter dem

Autorennamen Rhiana Corbin

Alle Rechte vorbehalten

Nachdruck, auch auszugsweise,

nur mit Genehmigung

1. Auflage

Covergestaltung: Marie Wölk,

wolkenart

www.wolkenart.com

Kajsa Arnold ./. Tresjoli

Lutherst. 16, 464146 Rhede

www.kajsa-arnold.de

Zitat

Wem der Himmel eine große Aufgabe zugedacht hat, dessen Herz und Willen zermürbt er erst durch Leid.

(Mengzi)

Kapitel 1

Der Himmel brannte. Flammen erhellten die Nacht und hoben sich vor der schwarzen Kulisse deutlich ab. Die Hitze schlug einem förmlich entgegen. Fabienne konnte sich nicht erinnern, wann sie jemals eine so starke Wärme erlebt hatte. Selbst der einsetzende Nieselregen bewirkte keine Abkühlung, und hinzu kam, dass er die Sicht beeinträchtigte. Jedoch nahm Fabienne das alles kaum wahr, denn Angst hatte die Funktion ihrer Sinne lahmgelegt und nun stand sie hier und zitterte, anstatt zu handeln, sah dabei zu, wie das Feuer ihre Wohnung im dritten Stockwerk des Mehrfamilienhauses auf der Avenue Kléber vernichtete.

Die Straße war überfüllt von Menschen, die in letzter Sekunde aus dem Haus gelaufen kamen, einige wurden von Feuerwehrmännern getragen, gehüllt in Decken, die Gesichter schwarz vom Ruß. Fabienne ließ die Haustür nicht aus den Augen, und hielt nach Eric Ausschau. Er war doch direkt hinter ihr gewesen, mit Théo auf dem Arm. Endlich kam Bewegung in ihren Körper. Plötzlich nahm sie die ohrenbetäubenden Geräusche um sich herum wahr. Die Sirenen der Polizei und Krankenwagen, das laute Hupen der Feuerwehrwagen, von denen immer mehr eintrafen. Schreie der Verletzten und Rufe der Zuschauer, die Menschen entdeckten, die gerettet wurden.

»Eric!«, rief sie aufgeregt. »Eric? Théo?« Ihre Beine setzten sich endlich in Bewegung. Fabienne kämpfte sich durch die Menge an Feuerwehrleuten, Sanitätern und Polizisten, um zur Haustür zu gelangen. Der dichte Qualm, der aus allen Löchern des Hauses drang, nahm ihr die Sicht. Immer wieder kamen Personen aus dem Haus, doch Eric, ihr Mann, war nicht darunter.

»Wir müssen verhindern, dass das Feuer auf die Nebengebäude übergreift!«, hörte sie die Stimme eines Feuerwehrmanns neben sich. Er legte den Kopf in den Nacken, blickte an dem fünfstöckigen Gebäude hinauf. »Merde! So ein Mist!«, fluchte er und wischte sich über das verschwitzte Gesicht. Dunkle Spuren hinterließ sein dicker Handschuh, die sich mit dem Regen vermischten.

»Haben Sie meinen Mann gesehen? Eric … Eric Fontaine, mit einem kleinen Jungen. Théo, er ist drei Jahre alt, hat hellblondes Haar …« Fabienne verstummte, als sie den leeren Ausdruck in den Augen des Mannes sah. Er hatte ihn nicht gesehen.

»Schon gut«, erklärte Fabienne und machte sich auf den Weg.

»Madame? Sie können nicht zurück in das Haus. Es wird jeden Augenblick einstürzen, wir haben den Befehl zum Rückzug gegeben. Es sind alle Bewohner aus dem Haus evakuiert«, erklärte er im strengen Ton.

»Nein, nicht alle! Mein Mann und mein Sohn sind noch da drin!«, rief Fabienne aufgeregt und deutete völlig außer sich auf das Haus.

»Nein, Madame, das kann nicht sein. Das Haus haben meine Männer komplett geräumt.« Der Feuerwehrmann berührte ihre Schulter, doch Fabienne riss sich los.

»Lassen Sie mich, ich muss da rein, ich muss meinen Sohn und meinen Mann suchen.«

Fabienne schaffte es, sich loszureißen, und rannte auf die Haustür zu. Es wäre Wahnsinn, sich ohne Atemschutz in das Haus zu stürzen, doch sie musste es zumindest versuchen. Sie konnte doch nicht ihr Kind und ihren Mann einfach so verbrennen lassen!

»Bleiben Sie doch vernünftig! Sie können dort nicht mehr rein! Schon gar nicht ohne Ausrüstung. Das Haus ist nicht mehr sicher, es wird …«

Der Feuerwehrmann hielt sie an den Hüften zurück, indem er einen Arm darum legte und sie einfach hochhob. Er war einen ganzen Kopf größer als Fabienne und sehr stark. Sie strampelte, jedoch half ihr das überhaupt nicht. Er schleppte sie einige Meter vom Haus fort und stellte sie wieder auf ihre Füße. »Es ist zu gefährlich. Ich werde Sie dort nicht hineingehen lassen!«, schnauzte er sie an.

In Fabienne kochte es und sie drehte sich zu den Mann um. Ohne darüber nachzudenken, holte sie aus und gab ihm eine feste Ohrfeige. In diesem Augenblick erhellte sich der Himmel, wie bei einem Blitz, doch Fabienne nahm es nur am Rande wahr.

Der Feuerwehrmann griff automatisch an seine Wange und blickte Fabienne überrascht an. Diesen Moment seiner Verwirrung nutzte sie und lief zurück Richtung Haus. Weit kam sie allerdings nicht. Nach wenigen Schritten wurde sie aufgehalten, weil die Feuerwehrmänner und Polizisten ihr rufend entgegenkamen. Sie fuchtelten wild mit den Armen und schrien etwas, das Fabienne nicht sofort verstand, weil plötzlich ein ohrenbetäubendes Geräusch erklang. Im nächsten Moment wurde sie von hinten von den Beinen gerissen und stürzte zu Boden. Sie landete auf einem weichen Körper, was sie zunächst gar nicht wahrnahm, denn sie blickte zu dem Haus, an dessen Stelle nur noch ein klaffendes Loch zu finden war. Steinstaub, Holz und Wasser prasselten auf sie nieder und in der nächsten Sekunde wurde sie herumgerissen und eine schützende schwarze Wand aus Neopren baute sich vor ihr auf. Der Feuerwehrmann, den sie gerade geschlagen hatte, lag auf ihr und schützte sie mit seinem Körper vor den herumfliegenden Trümmern. Der Gestank von Rauch, Schweiß und Gummi stieg ihr in die Nase. Sie sah kleine graue Partikel auf sich niederrieseln, und Wassertropfen, die auf ihr Gesicht prasselten.

Langsam erhob sich der Mann von ihr, blickte sie besorgt an. »Sind Sie in Ordnung, Madame?«

Fabienne nickte. »Ja … ich glaube schon. Ja, ich bin in Ordnung.«

Er erhob sich von ihr und half ihr ebenfalls auf die Beine. In diesem Augenblick wurde ihr klar, was passiert war. Der Schlag traf sie in den Magen und Fabienne schlug sich die Hand vor den Mund. Das Haus war eingestürzt und hatte jeden, der sich noch im Inneren befunden hatte, begraben. Nein, das durfte nicht wahr sein!

Ein lauter Schrei verließ ihren Mund und sie krümmte sich vor Schmerz. »Théo!«

»Oh mein Gott! Théo … Eric … Théo …« rief sie immer wieder, doch die Namen verhallten ungehört in der Nacht und Fabienne brach schreiend zusammen ...

Kapitel 2

3 Jahre später

Der April gehörte zu Fabiennes Lieblingsmonaten. Wenn der Winter gänzlich verschwand, um dem Sommer Platz zu machen, getragen von dem Frühling. Dieses Jahr kam er, der Frühling, nicht so recht in die Gänge. Es war immer noch empfindlich frisch, sodass sie ihren grünen Wintermantel aus Kaschmir, mit dem großen Schalkragen, noch nicht einmotten wollte. Der heutige Tag machte da allerdings eine Ausnahme. Es war so warm, dass sie in einer dünnen Bluse auf der Terrasse ihres kleinen Hauses sitzen und eine Tasse Kaffee trinken konnte. Sie blickte zu den Dachschindeln der umliegenden Häuser hinauf. In Paris waren viele Gebäude nahtlos aneinandergebaut, es blieb nicht viel Platz für Privatsphäre, dennoch hatte sie sich dieses kleine Haus in der Rue de Foin gekauft. Erics Lebensversicherung war hoch genug, dass sie für den Rest des Lebens ausgesorgt hatte. Also hatte sie es in ein Mehrfamilienhaus investiert. Das Gebäude hatte drei Etagen, die über ihrer Wohnung im Erdgeschoss lagen und ein Dachgeschoss, das jedoch noch nicht ausgebaut war. Sie wollte keinen Kredit aufnehmen, daher würde der Ausbau noch etwas warten müssen. Fabienne bewohnte das Erdgeschoss mit den vier Zimmern ganz allein. Die übrigen sechs Wohnungen des Hauses waren vermietet, meistens an Studenten, die das Marais-Viertel bevorzugten. Fabienne mochte die Nähe zum Place des Vosges, den kleinen Park, mit seinen Springbrunnen, den ausladenden Bäumen und gepflegten Wegen. Oft nahm sie im Sommer ein Buch mit und setzte sich auf eine Bank, wobei sie mehr die Menschen um sich herum beobachtete, als zu lesen. Die Leute zu betrachten gab ihr das Gefühl, nicht ganz so allein zu sein, und auch wenn sie selten mit jemandem sprach, so vermittelte es ihr doch den Eindruck, sie wäre ein Teil des Geschehens, ein Stückchen dieser Welt. Dann fühlte sie sich weniger einsam. Sie schüttelte den Kopf. Nein, sie war nicht einsam, allein ja, aber nicht einsam. Seit ihr Mann Eric und ihr gemeinsamer Sohn Théo bei einem Hausbrand gestorben waren, lebte Fabienne allein. Es hatte einige Wochen gedauert, bis sie sich das Haus hatte kaufen können, da die Versicherung einige Zeit brauchte, um die Versicherungssumme auszuzahlen. So lange war sie bei Camille untergekommen, ihrer Freundin aus Studientagen, die die Gabe hatte, Fabienne immer wieder aus dem dunklen Loch zu reißen, wenn sie sich einfach fallen ließ und depressiv wurde. Den Tag, an dem das Mehrfamilienhaus nahe des Triumphbogens in Flammen stand und später in sich zusammenstürzte, würde Fabienne niemals vergessen. Wie auch … es hatte sie für kurze Zeit zu einer Prominenten gemacht, unwillkürlich. Fabienne hätte gerne darauf verzichtet. Am Tag nach dem Brand zierte ihr Bild sämtliche Tageszeitungen und war Header der Nachrichtendienste im Internet. Es zeigte Fabienne, wie sie dem Feuerwehrmann, der sie daran hinderte, erneut in das brennende Haus zu laufen, eine schallende Ohrfeige gab.

Viel hatte sie von dem Trubel nicht mitbekommen, denn kurz drauf war das Haus eingebrochen und der besagte Feuerwehrmann hatte ihr zum zweiten Mal an diesem Tag das Leben gerettet, weil er sich schützend über ihren Körper warf. Danach war sie in ein Krankenhaus eingeliefert worden. Splitter hatten sich in ihre Beine gebohrt. Doch das war nichts gegen den unsäglichen Schmerz, den Fabienne fühlte, dass sie ihre Familie verloren hatte. Ihr Sohn war noch so klein gewesen, erst drei Jahre alt, sie war erst vier Jahre mit Eric verheiratet gewesen. Jetzt, mit zweiunddreißig, musste sie ihr Leben neu ordnen, seit drei Jahren versuchte sie ihm einen neuen Sinn zu geben, aber mehr als ein Haus zu kaufen und die Wohnungen zu vermieten, war nicht dabei herausgekommen. Der Schmerz war einfach zu groß. Zuerst hatte sie dem Feuerwehrmann die Schuld gegeben, bis ein Psychologe ihr klargemacht hatte, dass dieser Mann ihre Dankbarkeit verdiente, weil er ihr das Leben gerettet hatte. Doch immer wieder sah sie im Schlaf sein Gesicht vor sich, wie er sie davon abhielt, das Gebäude zu betreten. Irgendwann war die Wut auf ihre eigene Person umgeschlagen. Sie hätte sich mehr zur Wehr setzen müssen, und niemand auf der Welt konnte ihre Meinung dazu ändern. Deshalb hatte sie auch aufgehört, die Termine des Psychologen wahrzunehmen. Keiner konnte ihr helfen und vielleicht wollte sie sich auch nicht helfen lassen. Es würde bedeuten, dass sie sich von Eric und Théo verabschieden musste und das war etwas, was sie auf keinen Fall zulassen würde. Natürlich war ihre Ehe nicht immer einfach gewesen. In der letzten Zeit hatte es immer wieder Streit mit Eric gegeben, weil er sich eingeengt fühlte. Er musste sich einfach daran gewöhnen, dass er nun eine Familie zu versorgen hatte, was ihm mit seinem Künstlergehalt nicht immer gelang. Fabienne arbeitete als Notfallärztin, bevor Théo zur Welt kam, und hatte danach ihren Job an den Nagel gehängt. Camille fände es eine gute Idee, wenn Fabienne wieder in ihren Beruf zurückkehren würde, doch sie war noch nicht bereit dazu.

Sie griff zu der dampfenden Tasse und genoss den Kaffee, den sie immer mit ein wenig Sahne verfeinerte. Nur einen kleinen Schuss. Eric hatte immer zu viel hineingetan, aber sie hatte es ihm nie gesagt. Warum eigentlich nicht? Vielleicht, weil sie wusste, wie sehr es Eric kränkte, wenn sie ihn korrigierte. Er hatte sich immer unterlegen gefühlt, wobei Fabienne ihm nie einen Anlass dazu gegeben hatte. Er hatte so viele liebenswerte Eigenschaften gehabt. Seine Art zu malen fand sie wundervoll. Die Wohnung hing voller wunderbarer Bilder von Eric, doch sie waren alle dem Feuer zum Opfer gefallen. Seine Art mit Théo umzugehen, war bewundernswert gewesen und manchmal hatte Fabienne neidisch danebengestanden, wenn Théo sich lieber hatte von Eric trösten lassen. Fabienne schüttelte den Kopf. Das waren alles Erinnerungen, das Einzige, was ihr geblieben war, denn nach dem Feuer hatte sie nur noch die Kleider, die sie trug, alles andere war verbrannt. Es gab keine Erinnerungsstücke, nicht einmal ein paar Handyfotos. Fabienne hatte sich immer geweigert, ein Social Media Konto zu eröffnen. Hätte sie einen Instagram Account oder ein Facebook Profil gehabt, dann gäbe es vielleicht dort Fotos, doch so gab es nur die Erinnerungen in ihrem Kopf. Die Angst, dass diese bald verblassen würden, quälte sie, besonders nachts. Sie litt unter der Panik, sich irgendwann einfach nicht mehr an die Gesichter der beiden Personen erinnern zu können, die sie am meisten liebte.

Sie trank einen Schluck und blickte in den Himmel. Wolken zogen auf, doch es würde nicht regnen, das hatte sie im Gefühl. Plötzlich erregte etwas ihre Aufmerksamkeit und Fabienne fokussierte sich auf das Ende ihres Gartens. Dort in den Rhododendronbüschen schimmerte etwas. Zuerst hielt sie es für eine Blüte, doch sie hatte sich geirrt. Ein Vogel war es auch nicht, denn es bewegte sich nicht. Neugierig erhob sich Fabienne von dem gemütlichen Holzstuhl, der zu der Sitzgarnitur gehörte. Erst heute hatte der Gärtner den Tisch und die Stühle wieder herausgestellt. Vier an der Zahl, dabei benötigte sie höchstens zwei, wenn Camille sie besuchte.

Vorsichtig drückte Fabienne die Äste zur Seite. Der Busch trug schon Blüten, die sich in den nächsten Tagen öffnen würden, wenn das Wetter weiterhin so warm bliebe. Es waren wunderschöne roséfarbene Knospen und sie freute sich darauf, wenn der Garten wieder etwas Farbe in ihr Leben bringen würde.

Mit den Fingerspitzen angelte sie einen dunkelroten Luftballon heraus. Er hatte sich in der Hecke verfangen. Die Luft war schon lange entwichen, er war mit einem Knoten an eine Schnur gebunden, an dessen Ende eine Karte hing. Die hellblaue Karte war mit einer kindlichen Handschrift beschrieben. Schwer leserlich waren die Buchstaben noch zu erkennen. Sie musste von einem Kindergeburtstag stammen. Es war ein schönes Spiel, Ballons steigen zu lassen und wessen Luftballon es am weitesten schaffte, bekam einen Preis. Théo hätte seinen Spaß an diesem Spiel …

Fabienne schüttelte den Kopf. Nein, nicht weiter denken. Sie würde niemals wieder einen Geburtstag für Théo ausrichten. An dessen Geburtstag besuchte sie sein Grab auf dem Friedhof. Ein leeres Grab, wie sie wusste, denn die Leichen von Théo und Eric waren niemals gefunden worden. Alles war verbrannt und für immer vernichtet.

Fabienne atmete angestrengt aus und warf einen Blick auf die Karte. Wenn du diese Karte findest, melde dich bei Liam unter 00331 … Rue Montmartre …

Das lag im 2. Arrondissement. Camille hatte mal auf dieser langen Straße gewohnt. Die Karte war schon sehr verwittert und musste einige Zeit dort gelegen haben. Die Blätter des Buschs hatten sie wohl vor Schnee und Regen geschützt, sodass die Tinte noch leserlich war. Schmutz und Blütenstaub hatten sich auf das Papier gelegt und Fabienne strich mit dem Handballen vorsichtig darüber. Na ja, weit war der Ballon nicht geflogen, kaum drei Kilometer Luftlinie, wenn überhaupt, eher weniger. Damit würde Liam wohl keinen Preis gewinnen. Aber Fabienne gefiel die Idee, die dahinter steckte. Es würde dem Jungen bestimmt gefallen, wenn er hörte, dass sein Ballon gefunden worden war. Kurzentschlossen ging sie ins Haus und griff nach ihrem Handy, wählte ohne zu zögern. Plötzlich schlug ihr Herz schneller. Wer weiß, ob die Nummer noch stimmte? Als ein Freizeichen ertönte, atmete sie angestrengt aus. Konnte sie einfach so bei fremden Leuten anrufen? Aber auf der Karte hatte gestanden, dass sie sich melden sollte und es war ein Samstagnachmittag um fast sechzehn Uhr, da würde sie nicht wirklich stören.

»Yanis Bonnet«, meldete sich eine tiefe Stimme, die Fabienne Furcht einflößte. »Hallo? Wer ist da?«, fragte der Mann ungeduldig nach. »Ich habe keine Zeit für diese Art von Scherzen.«

»Entschuldigung!«, stammelte Fabienne. »Ich war mir nicht sicher, ob ich richtig bin. Ich suche Liam … ich habe seinen Ballon gefunden.« Sie musste sich vermutlich wie eine Irre anhören.

»Liam?«, fragte der Mann am anderen Ende und seine Stimme verlor ihre Grobheit.

»Ja, ich habe seinen Ballon gefunden, mit dem Zettel seiner Adresse und Telefonnummer. Ich wollte nur Bescheid geben, dass er bei mir angekommen ist. Kann ich vielleicht mit Liam sprechen?«, fragte sie hoffnungsvoll. Auf einmal war es ihr wichtig, dass sie es Liam selbst sagen konnte, wenn er alt genug war, es zu verstehen, aber die Handschrift auf dem Zettel war kindlich, er musste also schon zur Schule gehen.

»Liam ist vor einem halben Jahr gestorben.«

Bei diesen Worten stockte Fabienne der Atem. Was? Das konnte doch nicht möglich sein. »Nein, Liam ist ein Kind«, erklärte sie leise.

»Als wenn ich das nicht wüsste, er war mein Sohn und ist nur sieben Jahre alt geworden. Er starb an Leukämie. Es tut mir leid, Sie kommen zu spät.«

»Bitte entschuldigen Sie, ich weiß, wie Sie sich fühlen, ich habe auch mein Kind verloren, daher ist das nicht nur so dahergesagt, ich weiß es wirklich und fühle mit Ihnen. Es tut mir unendlich leid.« Fabienne sprach ganz leise, und sie dachte schon, er hätte aufgelegt, bis sie seine Atemgeräusche hörte.

»Sie haben auch ein Kind verloren?«, fragte er stockend nach, sein Tonfall eher rüde.

»Ja, mein Sohn war erst drei Jahre, bei einem Hausbrand. Vielleicht haben Sie davon gehört, in der Avenue Kléber, das Haus stürzte damals ein.«

Ein Klicken ertönte und das Gespräch war unterbrochen.