Wolken über Spanien - Kate O'Brien - E-Book

Wolken über Spanien E-Book

Kate O'Brien

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Beschreibung

Alles begann 1922, als die Irin Kate O'Brien nach Abschluss ihres Literaturstudiums nach Spanien reiste und in Burgos die Stelle einer Hauslehrerin antrat. Immer wieder ist sie in den Jahren danach zurückgekehrt. Die Reise, von der sie in Wolken über Spanien berichtet, hat sie 1935 unternommen, kurz vor Ausbruch des Bürgerkriegs. Noch einmal fährt sie durch das geliebte Land, besichtigt die Kathedralen von Burgos und Toledo. Mäandert durch Museen und archiviert im Kopf die unermesslich großen Kunstschätze. Flaniert auf den gotischen Ramblas von Avila, lässt sich überwältigen von der wilden Küste Asturiens. Nimmt Platz in den Restaurants von Santander, wo die schönsten Meeresfrüchte, der beste Wein serviert werden. Erfreut sich bei Überlandfahrten an der Landschaft, um sich gleichzeitig zurück nach Madrid zu sehnen, dorthin, wo es Zeitungen gibt, Buchläden und aufregende Cafés. Es ist ein heiteres, lebendiges Spanien, das sie porträtiert. Aber als sie ihren Bericht 1936 niederschreibt, hat sich ein Schatten über das Land gelegt: "Während ich dies schreibe, brennt Irún …" Und so wird der Reisebericht der Feministin und Kommunistin, die entschieden Position für die Republikaner bezieht und mit ihrer Kritik an Franco nicht hinter dem Berg hält, ein Buch der Erinnerung, eine Liebeserklärung an das Land, auf das die heraufziehenden Wolken des Bürgerkriegs ihren Schatten werfen.

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DIE KÜHNE REISENDE

Kate O’Brien, Farewell Spain

© John O’Brien & Donough O’Brien, Trustees of the copyright of the late

Kate O’Brien, 1937

Kate O’Brien, geboren am 3. Dezember 1897 in Limerick, Irland, starb am 13. August 1974 in Faversham, England. Sie ist eine der wichtigsten irischen Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts. Zu ihren bekanntesten Büchern gehören die Romane That Lady (1946) und Mary Lavelle (1936). Letzterer wurde mit Penelope Cruz verfilmt. 1951 erschien Teresa of Avila, O’Briens Biographie der heiligen Theresa von Ávila.

Klaudia Ruschkowski, Autorin, Kuratorin, Dramaturgin und Übersetzerin, lebt in Volterra, Italien und in Berlin. Sie konzipiert Kunst- und Literaturprojekte und ist als Hörspielautorin tätig. Sie übersetzt aus dem Italienischen und Englischen, zuletzt Etel Adnan, Margaret Fuller, Enrico Deaglio, Vincenzo Latronico.

Susanne Gretter studierte Anglistik, Romanistik und Politische Wissenschaft in Tübingen und Berlin. Sie arbeitet als Verlagslektorin in Berlin. Sie ist Herausgeberin der Reihe DIE KÜHNE REISENDE.

Kate O’Brien

Wolken über Spanien

Eine Reise vor Ausbruch desBürgerkriegs

Aus dem Englischenvon Klaudia Ruschkowski

Mit einem Nachwort von Susanne Gretter

Kate O’Brien (1897–1974)

»… was immer ich auch sehe,

ich werde nie wieder eine Landschaft

auf Erden so lieben,

wie ich die spanische geliebt habe.«

Kate O’Brien

INHALT

ADIÓS, TURISMO

VERDRIESSLICHKEIT

LA MONTAÑA

ROMANISCH UND NEOLITHISCH

PELAYOS SCHWERT UND DIE KNOCHEN DES HEILIGEN JAKOBUS

DER BARBIER VON SALAMANCA

SANTA TERESA

NO PASARÁN

KÜCHENSALZPREDIGT

BLONDINEN UND BRUNNEN

VORWIEGEND PERSÖNLICH

ARRIBA, ESPAÑA!

NACHWORT

ADIÓS, TURISMO

Gelegenheiten zur Hemmungslosigkeit sind selten, da können Moralisten sagen, was sie wollen; und wenn die Verfasserin ihre eigenen Erinnerungen an Spanien als eine solche ausgeben will, muss sie wohl riskieren, von anderen als eine Art Nero betrachtet zu werden.

Ich schreibe wirklich ungeniert als Eskapistin von dem, was vergeht und noch halbwegs in Erinnerung ist. Für Voraussagen bringe ich kein Talent und wenig Neugier auf. Aber Tod und Abschied fesseln mich, wie es die hellsten Hoffnungen der Menschheit nie vermocht haben. Während also das europäische Chiaroscuro, in dem wir alle aufgewachsen sind, zum Blackout wird und seinen in die Länge gezogenen Selbstmord hinnimmt, während das Schicksal den Leichtsinn zum Schweigen bringt und die Beherzten sich ins Zeug legen, um zu sehen, was der morgige Tag an Zerreißproben bringt, schaue ich also noch immer zurück, ganz hemmungslos. Das Morgenlicht, selbst wenn einige von uns es erleben sollten, selbst wenn es strahlt, es wird ernüchternd sein; wenn überhaupt etwas dran ist an menschlicher Verheißung, an politischem Kampf, wird es gleichförmig sein und abwechslungslos. Was die verrückt gewordene Welt jetzt suchen muss, ist die Gerechtigkeit einer vernünftigen Einheitlichkeit. Wie unerreichbar das scheint, wenn man es hinschreibt, und wie elementar notwendig! Dass es nach unserer Sintflut so kommen möge, muss unsere zentrale Hoffnung für die Nachwelt sein, wie ungewiss, wie fraglich auch immer. Wenn einige von uns einstweilen nicht den persönlichen Wunsch aufbringen, es so zu sehen, sollte ihnen diese Schwäche verziehen werden.

Lasst uns, die wir nichts anderes können, die Zeit vertun. Und da das individuelle Leben weitergeht, da Gesichter und Erinnerungen nach wie vor wichtig sind, wie sehr auch die Dunkelheit zunimmt, da es noch Wein zu trinken gibt und die nächste Zigarette ein zwingendes Vergnügen bleibt, werden wir, wenn wir gescheit sind, unseren immer gleichen kleinen Marotten nachgehen, werden essen und trinken (wenn wir die Mittel dazu haben), werden stricken, Schreibmaschine schreiben, Bilder machen und Geld und Liebe. Denn was haben wir davon, diese schreckliche Gegenwart, die uns bestimmt ist, zu durchleben, wenn wir unseren egoistischen Mut verlieren, weiter wir selber zu bleiben. Indem ich also den meinen beschwöre, schreibe ich zu meinem eigenen Trost, in einem Stil, der während der letzten zweihundert Jahre überstrapaziert wurde – aber womöglich als eine der letzten, die ihn pflegt, und vielleicht resultiert aus dieser Vermutung eine besondere Befriedigung. Ich schreibe als sentimentale Reisende über ein Land, das lange schon unter derartigen Reisenden leidet. Aber Spanien muss den letzten Nachzüglern unter seinen fremden Liebhabern verzeihen, wie es den ersten verziehen und sich zu ihnen herabgelassen hat. Es wird keine sentimentalen Reisenden mehr geben – nirgends. Ihre Entschuldigung und ihr Spielraum werden an jenem Tag der Einheitlichkeit, den wir übereinstimmend als einzige Hoffnung für die verstörte Welt betrachten, dahin sein. Tourist ist schon ein veraltetes Wort für die Vernünftigen, die, wenn sie noch nach Russland fahren, es nur tun, um herauszufinden, wie die zweite Hälfte des Jahrhunderts aussehen wird, nicht nur in Moskau, sondern überhaupt. Sie fahren dorthin, um sich Experimente und Modelle anzuschauen, um Versuche zu begutachten, die uns alle betreffen und berühren, die aber natürlich in den aufziehenden Stürmen des Nationalismus noch verscherzt werden können, ehe die wahre Gestalt der Dinge, die auf uns zukommen, in Erscheinung tritt. Trotzdem sind diese Russlandreisen, wie aufschlussreich auch immer, nicht Reisen im alten Sinn des Worts. Sie folgen einem neuen Impuls. Sie reagieren auf unsere kommende Einheitlichkeit, sind keine eskapistische Suche nach dem Neuem, nach Individualismus oder Vergangenheit. Sie sind der Arbeitsurlaub für Soziologen und Moralisten, keine Unterhaltungstrips für Müßiggänger, die ihr Vergnügen suchen.

Letztere – das soll nochmal gesagt sein – sind überholt. Und am Ende wird sich auch der Arbeitsurlaub überholt haben. Wenn die europäische Gesellschaft ihre nächste Krise überlebt, wenn die Wissenschaft, die uns zerstört hat, es zulässt oder uns vielleicht sogar dazu verdammt, noch einmal zu leben, dann ist es ein ganz neues Leben, das den Völkern winkt. Denn da die Wissenschaft die Musik bezahlt hat, bestimmt sie mit Sicherheit, was gespielt wird, und diejenigen von uns, die nie vorhatten, nach ihrer Pfeife zu tanzen, können dankbar sein, dass sie zum Zeitpunkt ihrer größten Machtentfaltung still gestellt sind, ganz taub.

Es bringt dann nichts, loszugehen, um nach einem schwankenden Rohr zu suchen. Die Leiden und Schönheiten, die durch Unterschiede in Sprache, Glauben und Klima die Landkarte bislang geprägt haben, werden nicht mehr von Belang sein, denn selbst wenn sie noch Potential besitzen – sie werden von der Wissenschaft, diesem internationalen Diktator, der durch Flugreisen, Radio und Fernsehen ohnehin alle nur möglichen Neuerungen zu langweiligem Kamingespräch macht, kontrolliert und überwacht. Die Welt wird flach und eng, wenn das Goldene Horn nur noch einen Steinwurf von Golden Gate entfernt und hinter keinem Hügel mehr etwas Unbekanntes ist. Die menschenleere Antarktis wird zur Wochenendspritztour und unsere Nachkommen – sollten irgendwelche Aufzeichnungen überdauern, die ihre Aufmerksamkeit erregen – werden sich über unser naives Interesse für unsere Nachbarn wundern und lächelnd feststellen, dass sich die Gewohnheiten eines Arabers einmal von denen eines Holländers und die eines Tibeters von denen eines Schotten unterschieden haben. Schon jetzt singt man in den spanischen Dörfern bereits keinen Cante hondo mehr, um einem Durchreisenden eine Freude zu machen – man sucht im Radio nach »Big Ben« oder einem Song von Henry Hall1.

Sollte das Ziel der Wissenschaft tatsächlich in einem vernünftigen Überleben der Menschheit bestehen, wird sie gut daran tun, darauf hinzuarbeiten, allen Grundsätzen, die einer ausgewogenen internationalen Einheitlichkeit dienen, erbarmungslos zu folgen und die romantischen Unterscheidungen zu zertreten, durch die die Geschichte, oder unser Begriff davon, uns zu dem Schlachtfeld des zwanzigsten Jahrhunderts geführt hat. In der wiederhergestellten Welt sollte es besser keine Geschichte geben. Lasst sie ganz kahl beginnen, ohne ein Haar – ohne einen einzigen Zahn. Oh, wie eifrig die Wissenschaft versuchen wird, ihre neuen Gesundheitsregeln durchzusetzen. Soll sie nur! In der Zwischenzeit warten wir darauf, dass unsere alte, zerzauste, mangelhafte Welt in einem letzten Anfall explodiert. Und wir zählen unsere unseligen Segnungen – den Ramsch, den wir angehäuft und so besessen geliebt und zu vermehren gesucht haben. Tempel, Paläste, Kathedralen; Bibliotheken voller Unsinn; Bilder, um Tote zu feiern, seltsame Legenden, noch seltsamere individuelle Konzeptionen; Lieder, um Gott zu preisen, oder eine Idee, die wir besaßen und Liebe nannten; Gräber und Buntglasfenster; Symphonien, Sonette, flügellose Siegesgöttinnen – Krimskrams aus zweitausend blödsinnigen Jahren, in denen es der Individualismus nach einer Menge beachtlicher Aufregung schließlich fertig gebracht hat, sich an seiner langen Leine zu erhängen. Es wird hoffentlich nie wieder zweitausend so derangierte oder sinnlos ertragreiche Jahre geben.

Mit diesen paar Worten der Selbstherabsetzung – denn wir sind alle Teil unserer beklagenswerten und schuldigen christlichen Ära –, mit diesen paar Worten, mit denen wir die Fortschrittlichen besänftigen, die Vernünftigen beschwichtigen wollen, lassen wir die Jalousien wieder herunter und richten uns von Neuem in unserer alten Behaglichkeit ein. Lasst uns die persönliche Erinnerung preisen, die persönliche Liebe.

Behaglichkeit! Während ich schreibe, brennt Irún. Die Times brachte heute Morgen ein Foto von der kleinen Plaza mit den niedrigen Stühlen aus Eisen und den gestutzten Platanen – der alltägliche Ort jeder spanischen Stadt. Das Café an der Ecke ein Haufen zerborstener Steine. Ein paar Männer mit Gewehren stehen niedergeschlagen herum. Die Zeitungen von gestern zeigten uns Frauen an der Küste von Hendaye, die zusehen, wie ihre Häuser auf der anderen Seite der Flussmündung in Flammen aufgehen. Dieser Spanienkrieg, der mit dem uralten spanischen Willen geführt wird, den Tod mit zeremonieller Grausamkeit zu erleiden oder zu vollstrecken – dieser Krieg ist nur ein Geschwür in einer mit Geschwüren übersäten Welt. Aber die individuelle Fantasie – wie die ethnische auch – ist nichts als Selbstschutz, und obwohl niemand, der eine Spur von Vernunft besitzt, über den universellen Terror von Nationalismen, Diktaturen und rassistischer Feindseligkeit hinwegsehen kann, ganz zu schweigen von der absurden Politik der versiegelten Lippen, obwohl niemand bestreiten kann, dass eine Welt, die außerstande ist, Slums, Arbeitslosigkeit, Giftgas oder Minenexplosionen abzuschaffen, dass eine Welt, die sich in der Gewalt von Dürren, Überschwemmungen, Streiks, manipulierten Märkten, Geheimabkommen, privaten Monopolen und Rüstungswettrennen befindet, eine dem Bösen und dessen Konsequenzen preisgegebene Welt ist – trotzdem dringt all das nur dann wirklich durch unser schützendes Phlegma, zehrt es nur dann wirklich an unseren Nerven, wenn das, was wir persönlich erfahren haben, das, was uns selbst berührt hat, für eine Weile im Rampenlicht steht. Wir sind also für unsere Sünden gemacht, und weil wir so gemacht sind, sind unsere Sünden Berge an Unmenschlichkeit. Doch genau wie Mr. Salteena2 davon sprach, dass er kein Gentleman sei – daran lässt sich jetzt nichts mehr ändern. Die persönliche Note, der sentimentale Individualismus, hat uns so weit gebracht, dass nur etwas Wesensfremdes und Schreckliches das Leben retten kann, indem wir, die wir leben, uns selber zerstören.

Während China Not leidet, es in Lancashire zu Hungermärschen kommt, Bildungsbehörden im Kindergarten Gasschutz-Übungen veranstalten und Mussolini den Faschistengruß nicht einmal Vierjähriger entgegennimmt, beklagen Touristinnen, die sich für den Winter nach Hampstead, Neuilly und Brooklyn zurückgezogen, die neue Regenschirme gekauft und ihre Koffer verstaut haben, mehr als jede andere Katastrophe den Brand von Irún. Beklagen ihn als einen traurigen Fall, der an ihre persönliche Erinnerung rührt.

Sie sahen Irún das erste Mal an einem verregneten Augustmorgen. Nie werden sie ihre Enttäuschung vergessen. Die Nacht im Liegewagen zweiter Klasse war die Hölle gewesen; es war ihnen nicht gelungen, von überlasteten, schlecht gelaunten Schaffnern einen Kaffee zu bekommen; in Bayonne hatte eine alte Frau sie beim Kauf von Birnen übers Ohr gehauen. Einmal auf der anderen Seite der Brücke, würden sie den Zug wechseln und es mit einer Schar von Zollbeamten aufnehmen müssen. Sie würden nass werden bis auf die Knochen. Sie konnten kein Wort Spanisch. Würde ihnen jemand den exakten Wechselkurs der Pesete nennen? Du lieber Himmel, hatte man je einen solchen Regen gesehen?

Offensichtlich gab es in Irún sonst nichts zu sehen – außer einem Mann in Schwarz, gleich hinter der Brücke. Er stand ganz ruhig auf der Straße, mit dem Rücken zum Zug. Ein solider, etwa fünfzigjähriger Mann von respektablem Äußeren, der seinen schwarzen Mantel wie ein Cape umgeworfen hatte. Er trug auch eine schwarze Baskenmütze. Den Zug nahm er offenbar nicht zur Kenntnis, das Wetter schien ihm egal zu sein.

An jenem Morgen sahen sie diesen immer gleichen Mann, denn wo und wie man auch nach Spanien hereinkommt, er ist das erste lebendige Wesen, das einem ins Auge fällt. Wenn das Linienschiff an einem warmen, schönen Abend in den Hafen von Coruña einläuft, steht er zwischen den Felsen auf einer Landzunge, den Mantel wie ein Cape um die Schultern, die Baskenmütze auf dem Kopf – nachdenklich und standhaft. Wenn man in den frühen Morgenstunden auf den Bahnsteig von Madrids Nordbahnhof hinaustritt, ist er schon da, haargenau der gleiche. Auch sieht man ihn immer am Südende der Bidasoa-Brücke.

In den Erinnerungen eines jeden Touristen steht er in vorderster Front, jener nüchterne, nachdenkliche Mann.

Aber zu Irún. Am Abend zuvor saßen die Touristinnen in einem Café in der Nähe des Quai d’Orsay, aufgeregt – und vielleicht ein bisschen zu geschwätzig. Spanien am Morgen, die spanische Grenze. Die Pyrenäen, die resoluten Basken, Fuenterrabia, »wo Karl der Große mit seiner ganzen Peerage fiel«3. Der Jakobsweg nach Compostela. Pamplona, wo Ignatius von Loyola sich seine schwere Wunde zuzog. Die Fasaneninsel, wo es zu der einen und anderen vergessenen Verhandlung zwischen der einen und anderen vergessenen Persönlichkeit kam.4 Die Fluchten der Bourbonen, hin und her. Wellingtons Siege über General Soult. Die Carlistenkriege. Das Pelota-Spiel. Der schreckliche Stierkampf. Oder sollten sie sich doch einfach einmal einen ansehen? Bis man So-und-So, der immer noch über die Franken nachsann, vor sich hinmurmeln hörte: Dieu! que le son du Cor est triste le soir, au fond des bois!5 Wodurch er den Rest der Gesellschaft verwirrte, was missmutig hochgezogene Brauen zur Folge hatte. Wollte So-und-So sich auf der Reise als echter Langweiler erweisen?

Sie wurden also nass bis auf die Knochen. Irún ist ein schlecht organisierter Bahnhof. Auf ihrem Weg zwischen Zug, Zollschuppen, Kantine und dem anderen Zug wurden sie wirklich furchtbar nass. Ebenso ihr Gepäckträger, ein stiller, friedfertiger Mann mit hellen, blauen Augen. Überhaupt kein spanischer Typ, bemerkten die Touristinnen. Sie verließen Irún mit Unbehagen und ohne auch nur einmal an die Peerage Karls des Großen gedacht zu haben. Wirklich ohne irgendeinen Eindruck – abgesehen vom Regen und dem stillen Gepäckträger. Er hatte selbst sein Trinkgeld schweigend eingesteckt.

Ohne irgendeinen Eindruck – und obwohl sie seitdem oft in Irún gewesen, die Promenade, den Paseo, entlangspaziert waren, sich in seinen Cafés unterhalten, den kleinen Zug nach San Sebastián genommen hatten, dachten sie jetzt, wo es brannte, zuerst an jenen ersten unerfreulichen Morgen – den Mann in Schwarz an der Brücke, den Regen und die Stille. Sonderbar, diese Erinnerung an die Stille – ein Grenzbahnhof zur geschäftigsten Tageszeit kann eigentlich kein ruhiger Ort sein. Und doch erinnern sich die Touristinnen, die ihn am behaglichen Kamin vor ihrem inneren Auge aufscheinen lassen, an eine Atmosphäre der Stille und an eine Glocke, die inmitten regennasser Bäume schlug. Und das war alles, was Spanien ihnen bei ihrem ersten Halt gegeben hatte.

Die Touristinnen seufzen, rühren in ihrem Getränk. Denn danach hatte es ihnen so viel gegeben – sie waren aufrichtig entflammt. Echte Touristen. Sie gehörten zur Kategorie derer, denen das Leben selbst das Herz viel mehr erfüllt als die schönsten Theorien oder Experimente. Spanien war also ganz nach ihrem Geschmack. Und jetzt stand das Grenzland in Flammen. Toledo von Kugeln durchsiebt, Burgos ein Kriegsschauplatz, die Sierra de Guadarrama ein Schlachtfeld. Ortega, der Stierkämpfer, vor Kurzem erschossen. Bomben fielen auf den Bahnhof Atocha, gefährlich nah beim Prado. Die Touristinnen finden ihr Getränk ungenießbar und gehen zu Bett. Doch bei aller Niedergeschlagenheit, und weil das am einfachsten ist, glauben sie, dass sie ihrer Liebe wiederbegegnen werden. Die Spanier haben ihnen den Reiz und die Ausflucht des »mañana« gezeigt, und dass es sich dabei um einen neuen Tag handelt. Aber wie neu, in unserer Zeit? Das ist wahrhaftig eine Frage. Während man auf Antwort wartet, ist es doch jedenfalls etwas, das letzte und angeregteste Jahrzehnt in der Geschichte des Tourismus durchlebt zu haben.

Etwas – persönlich betrachtet. Denn international scheint es wenig wert gewesen zu sein, wie die zukünftige Welt zu Recht zeigen wird, wenn die geschäftigen und sich selbst verleugnenden Bevölkerungen – keine Nationen mehr – all die alten Quellen gegenseitiger Neugier, all die Vorwände, dem Vergnügen nachzugehen, all die Entschuldigungen für den Genuss ungetrübter und insofern verderblicher Träume beseitigt haben werden.

Pervers genug wiederhole ich trotzdem, dass ich zu meinem persönlichen Vergnügen schreibe. Auch wenn das Schicksal über mich hereinbricht, bin ich froh, dass ich nicht im Tausendjährigen Reich gelebt habe. Ich bin auch froh, so lange nach der Zeit der Grand Tour gelebt zu haben – etwas Derartiges wäre mir bei meinem bescheidenen Los nie vergönnt gewesen. Froh, dass ich die rauen Segnungen der Touristenkabine, des einfachen Fahrscheins und den Autobus kennenlernte. Denn das unbeschwerte Reisen, wie es für meine Generation erschwinglich und ohne übertriebenen Aufwand möglich war, zählte mit Sicherheit zu den größten und geheimsten aller persönlichen Freuden. Für mich hieß das nicht unbeschwertes Reisen hier, dort und irgendwo – mein Herz ist eng –, sondern unbeschwertes Reisen durch Spanien.

Wenn es zulässig und nicht hochgradig gefährlich ist, zu diesem Zeitpunkt Pater6 zu zitieren, riskiere ich es, diese viel zu oft bemühten Worte hier noch einmal zu wiederholen: »Die Kunst kommt zu dir, indem sie offen erklärt, nichts anderes zu geben als deinen Augenblicken, die dahingehen, höchste Qualität – einfach um dieser Augenblicke willen.«

Eine einschränkende Aussage, aber es gibt Leute, die genau in deren Akzeptanz irgendeine Art funktionierender persönlicher Wahrheit gefunden haben – falls sie den Mut hatten, sie zuzulassen. Künstler, ob sie dieser Bezeichnung gerecht werden oder nicht, oder überhaupt durchscheinen lassen, dass sie mit dem Stigma behaftet sind, kennen sich selbst. Sie kennen ihre Handicaps und, mitunter vielleicht etwas selbstgefällig, auch ihre Stärken. Viele von ihnen lehnen Paters ästhetisches Diktum ab und können es durch ihre eigenen Fähigkeiten und Leistungen widerlegen und bleiben doch unbestreitbar Künstler. Aber für andere hält es stand. Nicht, dass sie versuchten, abgeschottet damit zu leben – außer sie wären Freaks – oder dass ihre ganze Geschichte darin enthalten wäre. Aber sie erfahren, oft genug ernüchtert und zu ihrem Bedauern, dass es sich um die Erkenntnis handelt, die sie am ehesten verstehen, und machen die Entdeckung, dass deren Kollision mit anderen inneren Prinzipien diese aus der Bahn wirft. Oft zu Unrecht oder unangenehmerweise. Und der Rest von uns, an welcher Stelle im Register wir uns auch befinden – wird nicht auch auf uns gelegentlich in Bezug auf Paters Aussage verwiesen? Werden nicht auch wir, wie sporadisch und unzulänglich auch immer, von diesem »erregenden Lebensgefühl«, diesem »vervielfachten Bewusstsein« heimgesucht, das das tägliche Brot des Künstlers ist? Sodass wir beunruhigt, aber zugleich beglückt von dieser Heimsuchung, zaghaft von neuem und wann immer wir können nach ihr suchen?

Nicht als Droge. Die Fortschrittlichen, die keine Grabschriften lesen und in zerfallenem Stein nur eine einzige Botschaft entdecken, müssen bitte glauben, dass gewisser Leute gedankenversunkene Beschäftigung mit Ramsch kein Laster ist, wie sie es sehen, sondern in ihrer Absage an jeden Utilitarismus vielmehr eine Quelle der Kraft und des Mutes. Indem sie uns mit dem kalten Hauch des Todes konfrontiert – das heißt, mit dem von Zeitlosigkeit und Distanz –, verhilft sie uns immer mal wieder kurzfristig zu Immunität gegenüber dem derzeitigen Radau, während sie zugleich zu Geduld damit rät. Einmal war der Aquädukt von Segovia ein Spektakel, eine lebendige, praktische, städtische Idee, und jetzt steht es keinesfalls schlechter um ihn, und genau darin liegt der Kern seiner Würde. Der Kern, nicht das Ganze. Denn er wurde zu einer Potenz, die mehr umfasst als den Wasserbedarf einer Stadt. Kein Bedarf an Phrasen. Entweder geht einem bei seinem Anblick das Herz auf, oder nicht; entweder kommt es zu dem »erhöhten Bewusstsein«, das einem Augenblick, der dahingeht, die höchste Qualität verleiht, oder wir bemitleiden die schwere körperliche Arbeit der Sklaven und gratulieren uns zu Stahl und elektrischer Energie. Nicht, dass letztere die Freude nicht verdienten, die wir an ihnen haben. Es ist außerdem möglich, dass in zweitausend Jahren die himmelstürmende Fassade des Empire State Building ein prächtigeres und ergreifenderes Spektakel abgeben wird als heute – wenn solche Relikte denn stehenbleiben dürfen. Was unwahrscheinlich ist. Und während wir dieser Befürchtung noch ausweichen, denken wir traurig darüber nach, dass Macaulays Neuseeländer7, der uns in der Schule so begeistert hat, mit größter Wahrscheinlichkeit nie auf der Westminster Bridge stehen wird, um die Ruinen von St. Paul’s zu betrachten – (a) weil zu diesem Zeitpunkt kein Mensch, der etwas auf sich hält, in solch einem Ausflug einen Sinn sehen wird und (b), weil Ruinen aus Gründen der physischen und geistigen Hygiene nicht geduldet werden.

Was sie dann an mutigen Dingen unternehmen, mit welcher Lasur sie ihre Spießigkeit überziehen und wie sie ihre persönlichen Varianten von Schmerz und Irrationalität am Ausbruch hindern werden, bleibt ihr Geheimnis. Du und ich kommen zurecht, gut oder schlecht, so wie wir eben können – indem wir nach Strohhalmen greifen. Ein Buch, eine Hand, ein erstklassiger Witz; ein Gebet zu Gott oder die Geburt eines Kindes; die Flucht in die Einsamkeit oder in wildes Nachtleben; ein Arbeitsanfall, eine Attacke romantischer Liebe oder ehelichen Friedens; ein Theaterbesuch; ein guter Brandy oder ein kühles Bier. Oder eine Reise ins Ausland – um einmal alles hinter sich zu lassen, wie man so sagt.

Alles hinter sich lassen! Eines unserer Klischees, das für unsere Urenkel in ihrer uniformen Welt erst Bedeutung haben wird, wenn sie sterben. Etwas, das wir tun können und sie nicht für möglich halten werden – alles hinter sich zu lassen. Unsere Schwäche ist eine Stärke, die sie wahrscheinlich vermissen werden, es sei denn, sie wären wirklich Übermenschen. Wenn sie nach unseren entsetzlichen Picknicks alles aufgeräumt und aus der Welt einen utopistischen Distrikt gemacht haben – was dann? Oh, Himmel, hab Mitleid mit ihnen!

Sofern die Hypophyse nicht ein monströses Wunder vollbringen kann, wie es sich nicht einmal das alte Christentum hat träumen lassen, werden unsere Nachkommen, wie ich fürchte, entdecken, dass sie unglücklich sind – falls sie dieses Wort kennen. Eine glückliche Entdeckung, wage ich unbeirrt zu glauben. Glücklich, selbst wenn sie haarsträubend, ja, unwiderruflich ist – außer man verjubelte den Distrikt. Und irgendeiner könnte sogar zu dieser regressiven Maßnahme greifen, denn abgesehen davon, was dessen vorbildliche Bürger auch immer sein mögen, ihr Same – kontrolliert, konditioniert, nenn es, wie du willst – könnte immer noch von Adam stammen. Oder ist so eine sentimentale Folgerung schmerzlich veraltet?

Einstweilen leben wir, die Eskapisten, die Umstürzler, noch inmitten unserer Slums und Ruinen und halten an unserer alten, grauen Vorstellung fest, dass das Leben von etwas bestimmt wird, das niemals in ein Reagenzglas geht. Während wir Kinder der langen Schatten des Individualismus hauptsächlich aus menschlichem Respekt einen schüchternen Kniefall vor unserer Hirnanhangsdrüse machen, wie unlängst vor unseren Reflexen und erst kürzlich vor unseren Komplexen, hören wir noch immer ein Rauschen in der Muschel, für das wir keinerlei äußere Erklärung brauchen. Es erstirbt vielleicht, aber es bleibt dabei, dass wir es unbedingt hören möchten. Wir suchen den intensiven Sinn des Lebens, die Zufälle, die die Fantasie beflügeln, hält doch ein jeder von uns das Leben in seiner Brust für sein eigenes und nicht für ein Bauteil im bewundernswerten soziologischen Schema eines anderen. Wir sind wirklich hoffnungslose Fälle, die von Zeit zu Zeit darauf bestehen, alles hinter sich zu lassen.

Zu den anderen guten Dingen, die mit uns sterben werden, gehört also auch der Tourismus. Jedem sein eigenes Refugium, seine eigenen Ferien. Italien war bekanntermaßen die Herzensheimat von Millionen. Griechenland ebenso; und alle Mittelmeerinseln. China und das Ostchinesische Meer bedeuten weite Flüge auf der Suche nach einem Glückstreffer, aber viele haben auch das auf sich genommen. Es gibt Mexiko, Afrika, die menschenleere Antarktis und die gefährlichen Länder um den Amazonas. Es gibt Irland und Finnland und die Arabische Wüste – alle sind sie auf die eine oder andere Weise müßiger Betrachtung ausgesetzt und dem tiefen selbstsüchtigen Genuss von Augenblicken, die dahingehen – alle tragen sie aus verschiedenen unerforschlichen klimatischen, historischen und ethnischen Gründen zu jener individualistischen Aufregung bei, die dem Herzen die beste Ruhe verschafft; alle verweisen sie dreist auf die hartnäckige Schönheit des Lebens.

Für einige von uns gab es Spanien. Zunächst das Spanien, das wir uns vorstellten – ein Ort, an den wir uns jetzt nicht mehr erinnern können –, und dann das Spanien, das wir vorfanden. Es gab viele Überraschungen in diesem zweiten Spanien, viele Erschütterungen und Längen und Zeitspannen, in denen wir uns beinahe so träge und verdrießlich fühlten, als wären wir zu Hause. Aber irgendwie kehrten wir immer wieder zurück. Wir haben es einigermaßen kennengelernt – nach Art der Reisenden – und bemerkt, dass uns egal war, ob wir ein anderes Land je auch nur halb so gut kennenlernen würden. Wann immer wir etwas Geld übrig hatten, nahmen wir den Zug nach Irún oder, falls das zu kostspielig war, ein Schiff nach Santander oder Coruña. Und wenn wir gemächlich in diese Häfen einliefen – oh, die endlos langen Ankünfte! –, waren wir trotz möglicher kleiner Irritationen mit uns im Reinen. Obwohl keiner der beiden Häfen atemberaubend ist, selbst wenn die gleißende Sonne auf Coruñas verglaste Balkone trifft oder der Morgennebel federleicht von den schläfrigen, dunklen Hügeln hinter »La Magdalena« aufsteigt. Auf dieser vorgelagerten Halbinsel uns zur Rechten der hässliche Palast von Alfons XIII.8 – heute eine Sommerschule – und viele andere Bausünden. Am Kai von Coruña ein paar wirklich scheußliche Palmen und ganz in der Nähe Sir John Moores9 unansehnliches Grab. Und an beiden Orten die hohe Wahrscheinlichkeit, dass es in Strömen regnet. Aber wir kennen das alles, wir sind alte Hasen. Unser Vergnügen besteht einfach darin, dass wir dort angekommen sind, wo wir hinwollten. Da ist der Mann mittleren Alters in Schwarz, wie immer nachdenklich, der seinen Mantel wie ein Cape um die Schultern schlingt. Die dürren, grindköpfigen Jungs, die Frauen, die gebrannte Mandeln in Tüten verkaufen. Die närrischen Mädchen, die zu dritt oder viert schrill singend auf und ab spazieren, begeistert von sich selbst und ihrer aberwitzigen Aufmachung. Und wie immer ist da auch der tragisch blickende Gepäckträger, der schweigend auf uns zutritt, um uns die Taschen abzunehmen. Wir sind wirklich wieder da – in dem Land, in dem wir gerne sind, dem Land, das wir unkritisch, doch, wie wir denken, illusionslos und offenen Auges lieben.

1Henry Hall (1898–1989), populärer britischer Musiker und Bandleader, dessen Tanzmusik zwischen 1920 und 1960 im BBC Radio lief.

2The Young Visiters oder Mister Salteena’s Plan (1919) ist ein in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts sehr erfolgreicher Roman der englischen Schriftstellerin Daisy Ashford (geb. 1881), den sie als Kind im Alter von neun Jahren geschrieben hat.

3Kate O’Brien zitiert den englischen Dichter John Milton (1608–1674): »Charlemagne, with all his peerage, fell / By Fontarabbia«, Paradise Lost (1.573–87).

4Nach langwierigen Verhandlungen unterzeichneten Ludwig XIV. von Frankreich und Philipp IV. von Spanien 1660 auf der Fasaneninsel den Pyrenäenfrieden.

5»Gott! Wie traurig ist doch der Klang des Horns am Abend, in den Tiefen des Waldes!«, aus Alfred De Vignys (1797–1863) Gedicht Le Cor über das heldenhafte Ende von Ritter Roland.

6Walter Horatio Pater (1839–1894), englischer Essayist und Kritiker. Zitat aus Studien zur Geschichte der Renaissance (1873).

7Der britische Historiker, Dichter und Politiker Thomas Babington Macaulay, 1. Baron Macaulay (1800–1859), goss die Vorstellung eines zukünftigen Besuchers antizipierter Ruinen1840 in ein bestimmtes Bild: den Neuseeländer. Ein scheinbar gebildeter Neuseeländer bereist das untergegangene Großbritannien. Mit dieser Figur hatte Macaulay einen Nerv der Zeit getroffen. Der Neuseeländer bestimmte im 19. Jahrhundert das Bild des zukünftigen Touristen.

8Alfons XIII. (1886–1941) war von Geburt an de jure König von Spanien. Bis 1902 führte seine Mutter Maria Christina von Österreich die Amtsgeschäfte. Seine Regierungszeit fiel in die Ära der politischen Restauration in Spanien. Er wurde kritisiert, dass ihm eine echte Vision für sein Land fehlte. Im April 1931, nachdem in Madrid die Republik ausgerufen worden war, ging er ohne formelle Abdankung ins Exil, zunächst nach Paris, dann nach Rom. Erst wenige Tage vor seinem Tod verzichtete er zugunsten seines Sohnes Juan de Borbón y Battenberg auf den Thron.

9Der britische General Sir John Moore (1761–1809) spielte eine Schlüsselrolle zur Unterstützung der Spanier bei La Coruña in der Schlacht vom 16. Januar 1809 zwischen der französischen Besatzungsarmee und einem britischen Expeditionskorps.

VERDRIESSLICHKEIT

Wo ließen wir die sentimentalen Touristinnen am Ende des letzten Kapitels an Land gehen? Sagen wir in Santander, um keine Zeit zu verschwenden. Der Himmel weiß, dass schon genug verschwendet wurde, seit wir uns zuletzt mit diesen Geschöpfen beschäftigten. »Die Zeit schreitet voran«, wie sie uns neuerdings unnötig salbungsvoll in der Kinowochenschau mitteilen. Wo wir auch erfahren, dass die Arbeiterarmee ebenfalls voranschreitet und dass Francos Männer in Erwartung der Mauren10 und ironischerweise ausgerechnet in Toledo den Alcázar mehr als sechzig Tage lang gegen die Kastilier gehalten haben. Das aber ist kein Reisebericht, sondern gerade »Aktualität«, wie ein Spanier sagen würde, und die Zeit hat nichts von ihrer Härte verloren. Aber Santander ist vergleichsweise sicher, um dort Erinnerungen nachzuhängen. Auch lebendig. Lebendig genug, um es der Autorin zu erleichtern, den störenden Touristinnen aus dem Weg zu gehen. Lassen wir sie also ziehen – es wurde langweilig mit ihnen. Jetzt sind wir selber dran.

Kurz und gut, liebe Leser – aber werden Sie mir diese altmodische Anrede gestatten? Eine Freundin sagte mir einmal, als sie das Werk eines bedeutenden und unterkühlten Essayisten auseinandernahm, dass »größere Autoren als Alice Meynell11 sie mit ›liebe Leserin‹ angeredet hätten«, also gehe ich ganz bescheiden das Risiko ein, zu diesen gezählt zu werden. Liebe Leser, ich konfrontiere Sie direkt mit der ersten Person Singular. Ich werde Sie mitnehmen auf meine eigene Reise und in direkter Rede von allem erzählen, woran ich mich erinnere und was ich gern wiedersehen möchte. Ich glaube, so ist es am besten.

Meine Reise wird allerdings ein Patchwork aus vielen Reisen sein und ohne überflüssigen chronologischen Bezug. Die Route wird sich aus vielen Routen zusammensetzen; Jahreszeiten und Städte werden nach meiner Erinnerung folgen, ziemlich sicher war es in Wirklichkeit nicht so; Begleiterinnen oder zufällige Reisebekanntschaften werden in ungenauer Reihenfolge auftreten, sich einschalten, verschwinden und wiederkehren, ganz ohne Absicherung durch all die nützlichen Tagebücher, die ich nie führe. Ihre Rollen, an den entsprechenden Orten, werden so getreu sein, wie die Erinnerung sie gestalten kann – so lange niemand nach dem Datum fragt.

Ich befinde mich also in Santander, und sagen wir einfach, dass es sich um eine Zeit handelt, die mehr als zwei Jahre zurückliegt und weniger als drei. Und während ich im üblichen Café vor dem Regen Schutz suche und in die Hände klatsche, um Eduardo auf mich aufmerksam zu machen, höre ich neben mir aufgeregtes englisches Gerede und stelle bestürzt fest, dass die Schornsteine, die sich draußen im Hafen schwach abzeichnen, die der »Cordillera« oder der »Reina del Pacífico« sein müssen, und dass soeben eine neue Ladung von Urlaubern, knapp bei Kasse und ahnungslos, auf den klatschnassen Paseo de Pereda gekippt wurde – Urlauber, die ganz aus dem Häuschen sind, jetzt endlich in Spanien zu sein – »in Spanien, meine Liebe!« – und dreizehn Sommertage vor sich zu haben.

Mir wird schwer ums Herz. Denn mir scheint, dass sie getäuscht werden, und Spanien nicht minder. Es verhält sich nämlich folgendermaßen: Die Leute, die in der Touristenklasse von Southampton oder Dover zu einem der nähergelegenen spanischen Häfen aufbrechen, sind hauptsächlich hart arbeitende Lohnempfänger, denen die jährliche vierzehntägige Freiheit sehr kostbar ist, und die alle eher wenig Reiseerfahrung haben, da ihnen seit der Schulzeit nur vierzehn Tage pro Jahr fürs Reisen zur Verfügung stehen. Mit dem zunehmenden Tourismus sind sie bemerkenswert unternehmungslustig geworden – dafür, dass sie so wenig Geld und Zeit haben, können sie erstaunlich weit wegfahren. Und in diesem Jahr ist Spanien dran. Man kann die Gespräche förmlich hören, in Ein-Zimmer-Wohnungen und Bungalows, in den Reiseagenturen. »Die Peseta steht dies Jahr so günstig, und die Schiffe sind fantastisch. Hat mir Mabel gesagt. Pro Strecke etwa sechsunddreißig Stunden – genau das Richtige für dich. Und Spanien! Komplett was anderes. Der Arzt sagt, du musst einmal alles hinter dir lassen, Liebling, die Kinder und alles. Sie werden wunschlos glücklich sein in Broadstairs, bei Mutter. Du weißt, wie sehr sie es liebt, sie mal für sich zu haben. Spanien! Was könnte aufregender sein! Bestimmt werden wir uns einen schönen Sonnenbrand holen. Oh, es ist also nicht ganz so heiß im Norden? Die Hotels sind in Ordnung, nehme ich doch an? Das hier scheint mir sehr günstig zu sein. Oh, ich denke, das ist eine fabelhafte Idee, George. Wo liegt Toledo? Sollen wir uns Toledo ansehen – oder die Alhambra? Ach, egal. Spanien ist Spanien. Und wir werden immerhin dreizehn Tage dort sein. Besorg besser einen Sprachführer, Daisy …«

Würden sie mit den Kindern nach Broadstairs fahren, dann wäre das für sie nicht sehr aufregend, aber sie kämen in den Genuss bestimmter Annehmlichkeiten und Freuden, die ihnen vertraut sind – das übliche Strandglück, das sich bei den meisten Menschen todsicher einstellt. Aber wenn sie plötzlich sagen: »Der Arzt meint, ich muss einmal alles hinter mir lassen«, und: »Spanien! Wie herrlich!«, verlangen sie etwas, das, sofern überhaupt käuflich, nicht für ihre wenige Zeit und für ihr Geld zu haben ist. Sie verlangen Zutritt zur Welt der Plakate, einer Welt aus Kunststoff und Kobaltblau, aus Singen und Nichtstun, mit einer Nelke im Mundwinkel. Sie möchten – da die Peseta so günstig ist – endlich sehen, was sie sich in ihrer Kindheit vorgestellt haben und was in ihnen lebendig geblieben ist.