Woodwalkers & Friends. Zwölf Geheimnisse - Katja Brandis - E-Book

Woodwalkers & Friends. Zwölf Geheimnisse E-Book

Katja Brandis

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Beschreibung

Bühne frei für Holly, Brandon, Jeffrey und Co.: 12 Hintergrundgeschichten zu den beliebtesten Woodwalkers-Figuren Zwölf Geschichten aus unterschiedlichen Perspektiven zeigen dir die Welt der Woodwalkers, wie du sie noch nie gesehen hast. Begleite deine Lieblingscharaktere bei ihren Abenteuern abseits der Clearwater-High! Triste Weihnachtstage im Waisenhaus? Nicht mit Rothörchen Holly! Sie hat einen Plan für das schönste Fest aller Zeiten. Jeffrey muss seine Wolfsgestalt an der Menschenschule geheim halten. Ob er mit einer waghalsigen Mutprobe endlich erreichen kann, dass ihn seine Mitschüler akzeptieren? Wapiti-Wandlerin Lou hat schlechte Erfahrungen mit Raubtieren gemacht. Trotzdem kann sie nicht aufhören, an den Pumajungen Carag zu denken. Und Brandon? Während eines Urlaubs auf Hawaii wächst der schüchterne Bison-Wandler über sich hinaus. Eines haben alle gemeinsam: Für Gestaltwandler wird das Leben nie langweilig! Mit einzigartigen, noch nie gesehenen Illustrationen von Claudia Carls. Die Woodwalkers- und Seawalkers-Bände erscheinen halbjährlich. Bisher erschienen sind: Woodwalkers (1). Carags Verwandlung Woodwalkers (2). Gefährliche Freundschaft Woodwalkers (3). Hollys Geheimnis Woodwalkers (4). Fremde Wildnis Woodwalkers (5). Feindliche Spuren Woodwalkers (6). Tag der Rache Woodwalkers & Friends (1). Katzige Gefährten Seawalkers (1). Gefährliche Gestalten Seawalkers (2). Rettung für Shari Seawalkers (3). Wilde Wellen Seawalkers (4). Ein Riese des Meeres Seawalkers (5). Filmstars unter Wasser

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Seitenzahl: 209

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Bücher von Katja Brandis im Arena Verlag:

Woodwalkers. Carags Verwandlung

Woodwalkers. Gefährliche Freundschaft

Woodwalkers. Hollys Geheimnis

Woodwalkers. Fremde Wildnis

Woodwalkers. Feindliche Spuren

Woodwalkers. Tag der Rache

Woodwalkers and Friends. Katzige Gefährten

Seawalkers. Gefährliche Gestalten

Seawalkers. Rettung für Shari

Seawalkers. Wilde Wellen

Seawalkers. Ein Riese des Meeres

Seawalkers. Filmstars unter Wasser

Khyona – Im Bann des Silberfalken

Khyona – Die Macht der Eisdrachen

Gepardensommer

Koalaträume

Katja Brandis, Jahrgang 1970, hat Amerikanistik, Anglistik und Germanistik studiert und als Journalistin gearbeitet. Schon in der Schule liehen sich viele Mitschüler ihre Manuskripte aus, wenn sie neuen Lesestoff brauchten. Inzwischen hat sie zahlreiche Romane für Jugendliche veröffentlicht, zum Beispiel Khyona, Gepardensommer, Floaters – Im Sog des Meeres oder Ruf der Tiefe. Die begeisterte Taucherin hat in den Meeren dieser Welt schon unvergessliche Begegnungen mit Haien, Delfinen und Rochen erlebt. Sie lebt mit Mann, Sohn und drei Katzen, von denen eine ein bisschen wie ein Puma aussieht, in der Nähe von München.

www.woodwalkers.de | www.seawalkers.de

1. Auflage 2021

© 2021 Arena Verlag GmbH

Rottendorfer Straße 16, 97074 Würzburg

Alle Rechte vorbehalten

Dieses Werk wurde vermittelt durch die

Autoren- und Projektagentur Gerd F. Rumler (München).

Cover und Innenillustrationen: Claudia Carls

E-Book ISBN 978-3-401-80963-2

Besuche den Arena Verlag im Netz:

www.arena-verlag.de

Für Trudy und Bo

Nussige Weihnachten

Holly, Rothörnchen

Die Geschichte spielt in Hollys Waisenhaus-Zeit.

Graues Weihnachten sollte verboten werden, dachte Holly trotzig. Das Problem ist – niemand hört auf mich.

Am liebsten wäre sie Mr Tambin, dem immer so fürchterlich beschäftigten Heimleiter, als Hörnchen auf den Kopf gesprungen und hätte ihn so lange an den Ohren gezogen, bis er um Gnade winselte und ihnen das bunteste, schönste Weihnachten versprach, das sie sich vorstellen konnten. Doch es durfte auf keinen Fall jemand wissen, dass sie eine zweite Gestalt hatte, also fielen solche Stunts aus. Wie lange war es eigentlich her, dass sie sich zuletzt verwandelt hatte?

Nur noch drei Tage bis Weihnachten, und draußen regnete es, was die Straßen, flachdachigen Unternehmensgebäude und Motels rund um das Waisenhaus noch trostloser aussehen ließ. Drinnen hatte Mrs Lomack schon an Nikolaus ein paar Tannenzweige aufgehängt, kombiniert mit roten Kerzen aus Pappe. Diese Deko blieb normalerweise bis zum Januar hängen. Mittlerweile waren die Tannenzweige so vertrocknet, dass man sie auf keinen Fall anfassen durfte, sonst bekam man einen Schauer von Nadeln in den Kragen. In der Schule sah es etwas hübscher aus, aber die immer gleichen Weihnachtslieder, die in der Pause durch die Lautsprecher kamen, fühlten sich an wie ein Dauerregen, der ihr Fell durchtränkte.

»Was passiert hier eigentlich an Weihnachten?«, wagte Holly schließlich Mrs Lomack zu fragen, die wie üblich in Grau und Schwarz gekleidet war und damit perfekt zu diesem Winter passte. Zurück kam wie üblich ein missbilligender Blick. Holly wusste längst, dass Mrs Lomack sie nicht leiden konnte, weil sie ihr viel zu quirlig, zu laut, zu wild war. Sie hatte mal gehört, wie diese Frau Eichhörnchen »Ratten der Bäume« genannt hatte, das sagte ja wohl alles.

»Ihr dürft ausschlafen!« Mrs Lomack klang, als würde sie einen Lottogewinn verkünden. »Am Weihnachtsmorgen gibt es erst um neun Uhr Frühstück und für alle einen heißen Kakao.«

»Ah«, sagte Phil, der zufällig mitgehört hatte. Er war groß, dünn und blass. Weil er schon dreizehn Jahre alt war, hatte er jede Hoffnung aufgegeben, irgendwann mal adoptiert zu werden. »Also könnte man sagen, es passiert nichts. So wie üblich.«

»Wir Betreuer haben alle unsere eigenen Familien, ihr könnt nicht erwarten, dass wir die ganzen Feiertage hier sind«, sagte Mrs Lomack spitz. »Philipp, dein Hemd ist ja völlig verknittert, bitte bügele das unbedingt vor dem Abendessen!«

»Ja, Mrs Lomack«, erwiderte Phil mechanisch, während ihre Erzieherin sich zum Gehen wandte. Er war schon lange hier und hatte sich etwas zu gut ans Gehorchen gewöhnt.

Fressen Sie Bisonkacke, und trinken Sie Klowasser, Mrs Lomack!, ergänzte Holly in Gedanken und schnitt eine absolut grauenhaft-furchtbare Grimasse in Richtung des sich entfernenden Rückens.

Phil sah es und musste grinsen. Obwohl sie eigentlich nicht befreundet waren, ergab es sich irgendwie, dass sie zusammen zum Aufenthaltsraum gingen. »Kannst du dich noch an Weihnachten mit deinen Eltern erinnern?«, fragte er plötzlich. »Du bist ja schon eine Weile hier.«

Holly musste schlucken. Konnte es wirklich sein, dass sie schon seit drei Jahren hier lebte? »Ja, seit mein Vater gestorben ist. Klar kann ich mich erinnern, für immer und immer werde ich mich daran erinnern«, sagte sie und fühlte, wie etwas sie ins Herz stach.

Im letzten Jahr seines Lebens waren ihr Papa und sie zu zweit als Rothörnchen durch den Wald getobt, hatten sich selbst und andere Tiere mit Schnee beworfen und jede Menge Spaß gehabt. Danach hatten sie sich daheim mit einer warmen Karamell-Milch aufgewärmt und Nussplätzchen gebacken. Selig hatte Holly sich abends unter ihre grün-lila-orangefarbene Decke gekuschelt und gewusst, dass sie am nächsten Tag ihr Geschenk auspacken würde und er seines. Mehr als eins ging nicht, weil ihr Papa mit seinen Abendschichten bei einer Burger-Braterei nicht viel verdiente. Aber wozu brauchte man denn mehr als ein Geschenk? Es war viel wichtiger, sich in den Arm zu nehmen.

»Weißt du, was – wenn diese beknackten Auspuffwolken nichts mit uns zu tun haben wollen, organisiere ich uns diesmal selbst eine Weihnachtsparty«, entfuhr es Holly.

Phil blickte sie skeptisch an. »Du weißt, dass wir alle bestraft werden, wenn einer … oder eine … Mist baut.«

Holly fühlte, wie sich ein breites Grinsen auf ihrem Gesicht ausbreitete. »Wenn wir sowieso alle bestraft werden, dann soll es sich doch wenigstens lohnen, oder? Außerdem sind Weihnachtspartys kein Mist!«

»Was genau hast du vor?«, fragte Phil besorgt.

»Also erst mal brauchen wir Nussplätzchen«, sagte Holly. »Eine Menge Nussplätzchen.«

»Okay. Ich weiß, wie die gehen«, meinte Phil nach kurzem Nachdenken. Sehr gut – das hieß wohl, dass er dabei war bei dem Plan. »Aber wir haben keine Zutaten, und ich darf allein die Küche nicht benutzen. Mr Gambrini brauche ich gar nicht erst zu fragen.«

Das stimmte. Ihr Koch war nicht nur ziemlich faul – am liebsten kochte er, indem er Dosen öffnete und alles zusammenschüttete –, sondern auch ziemlich launisch. Wenn er morgens mit seiner Frau gestritten hatte, war er den ganzen Tag über mies drauf und redete kaum ein Wort.

»Hm«, sagte Holly und fummelte an einer aufgeribbelten Stelle ihres Pullovers herum. »Uns wird was einfallen. Erst mal fragen wir die anderen, wer mitmachen mag. Du im Jungsschlafsaal, ich bei den Mädchen. Aber vorsichtig!«

»Keine Sorge, Frederick wird nichts mitbekommen«, versprach Phil.

Frederick war bekannt dafür, dass er an die Erzieherinnen petzte, wenn jemand, wie es hieß, »vom Pfad der Tugend abwich«. Dafür bekam er manchmal ein Stück Schokolade oder ein wohlwollendes Lächeln von Mrs Lomack, die sonst meistens aussah, als hätte sie gerade Zitronensaft getrunken.

Als Erstes quatschte Holly Melina an, deren Beine verkrümmt waren, weil ihre Eltern sie früher gezwungen hatten, Tag und Nacht in einem viel zu kleinen Bettchen zu liegen. Sie konnte zwar nur auf Krücken laufen, hatte aber geschickte Hände.

»Ein lustiges Weihnachten? Oh ja, sehr cool«, sagte Melli sofort, sie klang sehnsüchtig. »Ich könnte Geschenke basteln. In einem der Abstellräume ist noch bunte Wolle, daraus könnte ich Armbänder flechten.«

Ein paar der anderen Mädchen waren auch gleich begeistert und hatten Ideen für Geschenke oder Spiele, mit denen man Spaß haben konnte. Doch dann kam Samantha herein und hörte leider mit. »Was quatscht ihr da von einer Weihnachtsparty? Seid ihr bescheuert? Das gibt nur Ärger.«

Samantha war richtig hübsch mit ihren langen blonden Locken, nur ihre Pickel trieben sie vor Besuchstagen zur Verzweiflung. Weil sie keine Schminke kaufen durfte, hatte sie zuletzt versucht, sich das Gesicht mit Mehl zu pudern, wodurch sie leider ein bisschen wie eine Schneeeule ausgesehen hatte. Sie war fest entschlossen, bald adoptiert zu werden. Wen sie dabei als Konkurrenz sah, der hatte es nicht leicht.

»Du bist doch eine gute Schauspielerin, vielleicht könntest du unsere Erzieher nachmachen?«, fragte Holly. »Oder dir eine andere waldige Vorführung ausdenken?« Sie tat einfach so, als hätte sie die bescheuerten Einwände nicht gehört.

Es dauerte keine dreißig Sekunden, bis Samantha einknickte. »Na gut, ich bin dabei. Es gibt ja Plätzchen, hast du gesagt?«

»Es wird einen Plätzchenstapel geben, der mindestens so hoch ist wie eine dreijährige Pinie«, versicherte ihr Holly. »Oder sogar noch höher!«

Sie hatte keine Ahnung, wie sie den organisieren sollte. Doch die Lösung kam schon auf sie zu, mit großen Schritten und Schuhgröße 46. »Hier, bring den für mich zur Post«, befahl der Heimleiter und drückte ihr einen braunen Umschlag in die Hand. Mr Tambin war ein fast kahler Mann mit Strickjacke, der es irgendwie schaffte, immer gestresst zu wirken. »Und zwar gleich, wenn ich bitten darf.«

»Klar – ich mache es nicht nur gleich, sondern sofort«, sagte Holly und wippte auf den Zehenspitzen. Perfekt. Das Postamt war genau neben dem Supermarkt. Sofort zischte sie los zu einer Einsatzbesprechung mit Phil.

»Perfekt«, sagte auch er. »Übrigens wollen von den Jungs ganz viele mitmachen. Pepe meint, er kann Akrobatik, und Sergej will auch irgendwas zeigen, er wollte aber nicht verraten, was.«

»Oje«, sagte Holly. Sergej wirkte oft ein bisschen seltsam, und nicht nur, weil er praktisch kein Englisch sprach. »Aber wird bestimmt lustig, egal was es ist. Jetzt fehlt nur noch ein bisschen Geld, und wir müssen irgendwie in die Küche.«

»Ich hab ein bisschen was gespart«, flüsterte Phil, rannte zu seinem Schlafsaal und kam mit ein paar zerknitterten Zehn-Dollar-Scheinen zurück. Holly war gerührt. »Nussig! Davon bekommen wir ganz viel Butter, Mehl, gemahlene Haselnüsse und solchen Kram. Den Küchenschlüssel besorg ich.«

»Es ist so lustig, dass du immer ›nussig‹ sagst«, meinte Phil. »So was habe ich noch nie von jemandem gehört. Wie willst du denn an den Schlüssel rankommen?«

»Sag ich dir besser nicht«, raunte Holly. »Dann können sie es auch durch Folter nicht aus dir rauskriegen.«

»Bring Mrs Lomack bloß nicht auf Ideen«, brummte Phil. Bisher wurden sie im Heim nicht geschlagen, aber manche der Erzieher schienen große Lust darauf zu haben.

Holly holte ihre Jacke und rannte mit dem Umschlag (gut sichtbar unter dem Arm) und ein paar Einkaufstüten (unter der Jacke) los. Das mit dem Einkaufen klappte bestens, Phil lenkte die Erzieher ab, als sie mit den vollen Tüten zurückkam, und Holly versteckte die Zutaten unter ihrem Bett im Schlafsaal, während gerade niemand darin war.

Jetzt wurde es interessant – der Küchenschlüssel war dran. Holly stattete dem Koch Mr Gambrini einen kleinen Besuch ab. Leider war heute einer seiner schlechten Tage.

»Niemand weiß mehr, was der Unterschied zwischen Gut und Böse ist«, beschwerte er sich. »Nie ist mir diese Welt so verdorben und verkehrt vorgekommen.«

Da konnte ihm Holly nur recht geben. Mit einer Welt, in der Eltern von Raubtieren gefressen werden konnten, stimmte rein gar nichts. »Wieso? Hat Ihre Frau die Zahnpastatube falsch ausgedrückt?«

Der Versuch, ihn aufzuheitern, kam nicht gut an. »Was willst du?«, knurrte Mr Gambrini und blickte noch finsterer drein.

»Ach, nur ein bisschen Salz«, sagte Holly. Das stand weiter hinten in der Küche, und um es zu holen, musste er sich herumdrehen. Nur so kam sie an seine hintere Hosentasche heran, in der seine Schlüssel steckten.

»Wozu brauchst du denn Salz?« Mr Gambrini zog die Augenbrauen hoch, kratzte sich am Kopf und gab etwas von sich, was die Erzieher hier einen Darmwind nannten.

»Okay, dann kein Salz, aber dafür Rosmarin«, meinte Holly.

Er reagierte genauso, wie sie gehofft hatte. »Rosmarin? Du tickst wohl nicht richtig, ich werde dir oder den anderen Gören doch wohl keine teuren Gewürze geben! Ein bisschen Salz kriegst du, und dann verschwindest du wieder, klar?«

»Schneller, als Ihr Pups verweht«, sagte Holly mit ihrem schönsten Augenaufschlag.

»Wann bekommst du eigentlich den Waffenschein für dein Mundwerk?«, brummte Mr Gambrini. Kaum hatte er sich umgedreht, huschte sie näher und zupfte ihm den Schlüssel aus der Tasche. Er bekam davon nichts mit. Erstens hatte sie von Natur aus geschickte Finger, und zweitens hatte sie das lange geübt – im Waisenhaus gab es ständig Dinge, die man nicht haben durfte, aber haben wollte. Außerdem konnte sie sich auf Ausflügen mithilfe von fremden Portemonnaies das Taschengeld von atemberaubenden fünfzig Cent pro Kopf und Woche aufbessern.

Vielleicht spürten die Erzieher, dass irgendetwas in der Luft lag, eine ungewohnte Aufregung. Um sie nicht noch misstrauischer zu machen, strengte sich Holly an wie bestimmt kein Hörnchen vor ihr. Sie versuchte, nur ganz wenige freche Antworten zu geben und fast still zu sitzen – ganz still war unmöglich, wer schaffte so was? – und wenigstens ab und zu zu tun, was die Erwachsenen von ihr erwarteten. Auch die anderen Eingeweihten machten mit.

Es funktionierte. »Ihr seid aber heute brav«, meinte eine der Erzieherinnen sogar.

Die Mitarbeiter verabschiedeten sich einer nach dem anderen gut gelaunt in den Weihnachtsurlaub, nur Mr Tambin wirkte dabei ein bisschen schuldbewusst. »Entspannt euch schön«, sagte er zum kleinen Pepe, der erst sieben war, und tätschelte ihm die schwarzen Haare.

»Nee, entspannen will ich gar nicht, weil wir nämlich …«, begann Pepe. Doch zum Glück unterbrach ihn Phil geistesgegenwärtig: »Ja natürlich, Mr Tambin, wir genießen die Zeit ohne Schule und das lange Ausschlafen. Frohe Weihnachten.«

»Frohe Weihnachten«, murmelte Mr Tambin, setzte seine braune Strickmütze auf, schlang sich den braunen Strickschal um den Hals und ging dann rasch, ohne sich noch einmal umzusehen.

Schließlich war nur noch das Nachtpersonal übrig – in diesem Fall die alte Grit, die Holly an einen verschrumpelten Apfel erinnerte. Sie wirkte meistens ein bisschen geistesabwesend. Ihre Aufgabe war, dafür zu sorgen, dass auf den Fluren des Waisenhauses nicht ganz so viel Erde lag wie im Wald – was bei vierzig Kindern mit dreckigen Schuhen ein Kampf war, den sie nicht gewinnen konnte. Wahrscheinlich hatte sie den Nachtdienst heute übernommen, weil sie weder Kinder noch Enkel und als Haustier nur einen Wellensittich hatte, den sie jeden Tag zur Arbeit mitnahm.

»So, Zähne putzen und ab ins Bett«, nuschelte Grit und schlurfte mit ihren grauen Filzpantoffeln den Mädchen voraus in den Waschraum.

In jedem Schlafsaal – einem kahlen, beige gestrichenen Raum mit einer Heizung, die immer das Gegenteil von dem tat, was sie eigentlich sollte – schliefen sechs Kinder in Doppelstockbetten aus grauem Stahlrohr. Es roch dort immer nach alter Wolle, Mottenpulver und Gips von den abbröckelnden Wänden. Aber heute störte Holly das nicht. Sie zog ihre wunderbar seidige grün-lila-orangefarbene Decke, wegen der sie mit den Erzieherinnen schon so viel Stress gehabt hatte, über sich. Ganz sachte schloss sie die Augen, obwohl sie eigentlich hellwach war. Dann wartete sie. Holly hörte ein paar der anderen Mädchen unterdrückt kichern, in diesem Saal waren alle eingeweiht und konnten es kaum erwarten.

Es dauerte zwei oder drei Ewigkeiten, bis endlich alles ruhig war. Nicht mal Grits Wellensittich zwitscherte im Aufsichtszimmer, der war bestimmt ebenso eingepennt wie seine Besitzerin. Holly warf die Decke beiseite und sprang aus dem Bett, die Aufregung prickelte durch ihren ganzen Körper hindurch bis in die Haarspitzen.

»Backzeit, und nicht nur zu zweit«, sang Holly, während sie und ein paar andere Mädchen, die mitmachen wollten, auf Zehenspitzen zur Küche schlichen. Dort wartete schon Phil mit einem Helfer.

»Alles klargegangen?«, hauchte Holly.

»Ja, Frederick ist schnell eingeschlafen und nicht aufgewacht, als wir uns rausgeschlichen haben«, berichtete Phil, der ein bisschen nervös wirkte. Wahrscheinlich weil er sonst immer alle Regeln befolgte. Dabei war so was eindeutig ungesund!

So eine kleine verbotene Party ist eine wunderbare Übung für ihn und wird ihm bestimmt guttun, fand Holly und fummelte mit dem Schlüssel herum, bis sie die Küchentür aufbekommen hatte. Zum Glück knarrte das Ding nicht.

Kurz darauf duftete es in der Küche nach Zimt, flüssiger Butter und gemahlenen Nüssen. Die Stimmung war bestens, während sich Holly und Melina gegenseitig Teig aus den Schüsseln klauten.

»Meine Mama hat auch immer mit mir Plätzchen gebacken«, erzählte Pepe, und das brachte sie alle kurz zum Schweigen, weil sie wussten, dass seine Mama schon seit einem halben Jahr im Gefängnis saß und nicht so bald rauskommen würde.

Schließlich schleppten Holly, Samantha und die anderen Mitglieder des Backteams fünf Platten mit noch warmen Plätzchen frisch aus dem Ofen, Mandarinen und Nüssen in den Aufenthaltsraum. Dort hatten die anderen inzwischen die Stühle und Tische beiseitegeräumt für die Vorführungen. »Waldige Weihnachten!«, wünschte Holly strahlend, zog sich ihre grüne Bommelmütze auf und tanzte eine Runde durch den Raum.

Alle stürzten sich auf die Plätzchenberge, die in ungefähr fünf Minuten verschwunden waren. Aber das machte nichts, weil alle nun gute Laune hatten und bereit waren, Spaß zu haben. Pepe hatte mit den Krücken von Melina Kunststücke eingeübt, er stützte sich mit beiden Armen auf den Handgriffen ab und schleuderte die Beine immer höher in die Luft. Holly ging auf den Händen – das hatte sie irgendwie schon immer gekonnt –, turnte ein paar Flickflacks quer durchs Zimmer und wirbelte sich hoch in einen Salto, wie es ihr Papa ihr beigebracht hatte.

Der Applaus war laut – zu laut? Hoffentlich hatte den niemand gehört!

Auch Phil wirkte beunruhigt. »Leise, Leute, bitte! Wenn Grit aufwacht, ist das hier vorbei.«

Als Nächstes hatte Samantha ihren Auftritt. Sie hatte sich die dunkelgraue Strickjacke von Mrs Lomack und deren Hausschuhe geschnappt, ihre Haare zurückgebunden und den berühmten Zitronensaft-Gesichtsausdruck aufgesetzt. »Ihr werdet in der Gosse enden, alle miteinander!«, schimpfte sie mit verstellter Stimme und hob drohend den Zeigefinger. »Dort, wo ich schon war und wo ich mich eigentlich richtig wohlgefühlt habe! Ich kuschele so gerne mit den Ratten, die genauso stinken wie ich, aber das darf natürlich niemand wissen, ist das klar?«

Schwungvoll hielt die heute ungewöhnlich junge und hübsche Mrs Lomack einen Vortrag über ihren Vater, der stolz darauf war, dass er sich schon seit zehn Jahren nicht mehr gewaschen hatte, und über ihre Mutter, die hundert Stunden lang beten und danach noch einen wilden Stier an den Hörnern über die Wiese schleifen konnte. Natürlich auch über ihren Onkel, der den längsten Bart in ganz Iowa hatte und bei Kirchenkonzerten gerne nackt durch den Altarraum flitzte, weil er die Schreie der alten Damen mochte.

Das kam alles prima an. Pepe ließ sich vor Lachen auf den Boden fallen und wälzte sich zwischen ein paar Mandarinenschalen herum, die den anderen heruntergefallen waren. Auch Holly war begeistert, sie hatte gar nicht gewusst, dass Samantha so viel Humor hatte.

Als Nächstes trat Sergej auf, den manche nur den Seltsamen Sergej nannten und der oft so ruhig war, dass man ihn kaum bemerkte. Niemand wusste, wie er ins Waisenhaus gekommen war. Man vermutete, dass er aus Russland stammte und ihn seine Eltern auf ihrer Reise durch Amerika an einer Raststätte vergessen hatten.

Mit wichtiger Miene schritt er nun in die Mitte des Aufenthaltsraumes. Gespanntes Schweigen senkte sich über die Partygäste. Auch Holly wartete neugierig. Beim großen Kiefernzapfen, jetzt erfahren wir endlich, was er vorführt, dachte sie. Hoffentlich nichts Beknacktes, das allen die Laune kaputt macht.

»So sieht aus Mr Tambin, wenn er hat einen Regenwurm in seiner Socke gefunden«, sagte Sergej, riss den Mund auf, schielte und verzog das Gesicht, als wäre es aus Gummi. Es war eine der besten Grimassen, die Holly jemals gesehen hatte, und sie vergaß beinahe, dass heute nur leise applaudiert werden durfte.

»Yeah, mach weiter!«, rief Melina und schwenkte ihre Krücken, sie sausten um eine Tasthaaresbreite an einer Lampe vorbei.

In den nächsten Minuten erfuhren sie und die anderen, was Grit für ein Gesicht machte, wenn es auf dem Klo mal wieder nicht klappte, wie sich Mr Gambrini benahm, wenn er versehentlich eine Kakerlake mitgegessen hatte, und noch vieles mehr. Strahlend und wahrscheinlich gut durchgewärmt vom Lachen seines Publikums wollte Sergej gerade seine nächste Vorführung beginnen … da ging plötzlich die Tür auf.

Alle erstarrten und glotzten zum Eingang des Aufenthaltsraums. Oh nein, da stand Frederick im gestreiften Schlafanzug, rieb sich die Augen und blickte erstaunt um sich. Frederick, die Petze. Frederick, der verraten hatte, dass Mira ihr Essen nicht aß, sondern das meiste davon heimlich im Schrank für schlechte Zeiten aufhob, woraufhin sie ins Krankenhaus gekommen war und Holly sie nie wiedergesehen hatte.

»Was ist denn hier los?«, fragte Frederick und kratzte sich am Kopf. Haare hatte er dort gerade keine, weil Grit vor ein paar Tagen an ihm Läuse entdeckt hatte.

»Weihnachtsparty«, informierte ihn Holly, wobei er das eigentlich selbst hätte sehen können.

»Ihr wart so laut, dass ich nicht schlafen konnte.« Frederick klang vorwurfsvoll. »Erlaubt hat diese Party niemand, oder?«

Darauf antwortete keiner, es war eine zu alberne Frage. Schließlich war es Mitternacht, und nirgendwo war ein Erzieher oder eine Erzieherin in Sicht, außer man rechnete Samantha dazu, die noch ihr Mrs-Lomack-Kostüm trug.

»Feier doch einfach mit«, schlug Melina vor und lächelte ihn an. »Schlafen kannst du morgen wieder.«

Frederick zögerte, die Stirn gefurcht, der Blick misstrauisch.

Es war Schicksal, dass gerade in diesem Moment zwei der anderen Mädchen mit mehreren Blechen Plätzchennachschub reinkamen, diesmal gab es Vanillekipferl mit Puderzucker. Fredericks Augen wurden groß.

»Na, komm schon, setz dich irgendwohin, oder meinetwegen bleib stehen, oder mach einen Kopfstand, okay?« Holly wurde ungeduldig. »Jedenfalls läuft hier gerade eine Vorführung, und die möchte jetzt weitergehen.«

Frederick setzte sich und nahm sich drei Vanillekipferl, während Sergej seine nächste Grimasse schnitt. Es war eine geradezu sensationelle Darstellung einer Mrs Lomack, die gerade gemerkt hatte, dass ihr jemand Pass, Schlüssel und Handy geklaut hatte.

Fast bekam Holly Lust, es mal auszuprobieren – das mit dem Mrs-Lomack-rundum-Beklauen. Vielleicht lachten die anderen dann auch so windstürmisch wie jetzt. Selbst Frederick verzog ein klein wenig die Mundwinkel nach oben. Vielleicht war er netter, als er manchmal wirkte. Und wenn nicht, konnte sie es auch verstehen. Sie hatte gehört, dass sein Stiefvater ihn gezwungen hatte, fiese Dinge mit ihm zu machen, bis das Jugendamt Frederick da rausgeholt hatte.

Nach Sergej klopfte Phil einen kleinen Trommelwirbel, und feierlich holte Melina den Karton mit Geschenken raus, die sie und die anderen in den letzten Tagen organisiert und gebastelt hatten. Zum Glück reichten sie für alle, die gekommen waren. Jeder durfte sich eins der Geschenke nehmen, die Melina in rote Servietten verpackt hatte, und konnte sich davon überraschen lassen, was er darin fand.

Minuten später waren alle eifrig am Auspacken und zeigten sich ihre neuen Schätze. Samantha bekam drei Bonbons, der kleine Pepe ein Pferd aus einer Kastanie und Streichhölzern. Holly war begeistert von dem großen goldenen Jackenknopf mit schwarzem Wappen in ihrem Päckchen, Frederick freute sich über ein von Melina geflochtenes Freundschaftsband und Phil, der gerne kochte, über eine Nachbildung des Küchenschlüssels aus Holz, die ihm Holly geschnitzt hatte. »Hab ihn schon ausprobiert«, meinte sie stolz. »Den zu benutzen, ist so leicht, wie den Finger in weiche Butter zu stecken!«

»Sehr cool, jetzt kann ich ab und zu um Mitternacht was kochen, wenn ich Lust habe.« Phil lächelte ihr zu.

Vielleicht hätten sie Wachen aufstellen sollen, um im Notfall Alarm zu geben, besonders nach dem Zwischenfall mit Frederick. Doch natürlich hatte keiner Lust gehabt, Wachdienst zu machen, während drinnen all die lustigen und leckeren Sachen passierten.

Als sie Schritte im Flur hörten, erstarrten sie alle zum zweiten Mal.

Es waren schwere, schlurfende Schritte. Entweder Grit oder der Weihnachtsmann, dachte Holly. Aber in beiden Fällen nicht eingeladen!

»Schwingt die Pfoten – Licht aus, Klappe halten und unter den Tisch!«, zischte sie. Überall tauchten Kinder in Deckung, und gerade noch rechtzeitig erreichte jemand den Lichtschalter, bevor von außen die Klinke heruntergedrückt wurde.

Erschrocken, mit angehaltenem Atem, beobachtete sie, wie die Tür aufging und sich die Silhouette der alten Grit gegen die Helligkeit des Flurs abzeichnete. Grit spähte in den Aufenthaltsraum, und Holly wusste, dass sie gleich das Licht anmachen und alles vorbei sein würde. Selbst wenn sie kein Licht machte und all diese Kinder nicht bemerkte, konnte ihr unmöglich dieser unerhörte Vanillekipferlduft entgehen, der in der Luft hing wie der Pups eines Engels.

Aber einmal im Jahr, vielleicht genau heute, durfte auch hier mal ein Wunder passieren. Grit griff nicht nach dem Schalter. Sie machte einen Schritt zurück … und dann schloss sie die Tür wieder, ganz leise und behutsam.

Danke, sagte Holly lautlos zu ihr. Dann glitt sie zur Tür und knipste das Licht wieder an.

Vorsichtig, noch ein bisschen steif und ungläubig, krochen die anderen Kinder unter den Tischen hervor. Holly strahlte sie an. »Kann weitergehen!«, verkündete sie.

Danach geriet die Party ein kleines bisschen außer Kontrolle.

»Wir wünschen euch ein piksiges Weihnachten«, sang Holly, streifte die trockenen Nadeln von den Tannenzweigen und streute sie in die Hausschuhe der Erzieher, wobei die anderen Kinder kräftig mithalfen. Jemand kam auf die Idee, die Kerzen aus roter und gelber Pappe richtig anzuzünden, was aber nicht weiter schlimm war, weil Phil schnell einen Eimer Löschwasser organisierte. Außerdem landete die dritte Ladung Plätzchen auf dem Boden, als die beiden jungen Bäcker auf einer Mandarinenschale ausrutschten. Aber dort blieben die Plätzchen nur ganz kurz liegen, weil es Haselnussmakronen waren, auf die alle scharf waren, und die paar Sekunden auf dem Boden zählten ja wohl nicht. Sie schmeckten trotzdem prima.

Es war wild und wunderbar und sehr, sehr festlich.

Trotzdem wurden sie irgendwann müde, und ein Gast nach dem anderen schlich zurück in den Schlafsaal zu seinem Bett. Wahrscheinlich vergaßen die meisten, sich die Zähne zu putzen, und wahrscheinlich war das allen egal.