Woran sich Wohlstand wirklich messen lässt - Hans Diefenbacher - E-Book

Woran sich Wohlstand wirklich messen lässt E-Book

Hans Diefenbacher

4,5

Beschreibung

Was macht das BIP? Wohl und Wehe unserer Republik scheinen von diesem Kürzel abzuhängen: Das Bruttoinlandsprodukt ist die heilige Kuh der herrschenden Ökonomie. Seit Jahren gilt es als der Indikator für Wirtschaftskraft und Wohlstand – dabei ist es blind für so vieles, was unser Leben bereichert: ehrenamtliche Leistungen, gesunde Umwelt, gerechte Chancen für kommende Generationen. Dass das zu kurz greift, erkennt inzwischen auch die Politik: Großbritannien will einen 'Glücksindikator' einführen, Frankreich forderte beim G20-Gipfel ein neues Bewertungssystem und der Deutsche Bundestag setzte gerade eine Enquete-Kommission zur Entwicklung eines neuen Indikators ein. In diese hochaktuelle Diskussion bringen Hans Diefenbacher und Roland Zieschank den 'Nationalen Wohlfahrtsindex' ein – weil gutes Leben mehr bedeutet als viel Geld.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 87

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,5 (18 Bewertungen)
11
5
2
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Hans Diefenbacher Roland Zieschank

Woran sich Wohlstand wirklich messen lässt

Alternativen zum Bruttoinlandsprodukt

ClimatePartner°

Dieses Buch wurde klimaneutral hergestellt. CO2-Emissionen vermeiden, reduzieren, kompensieren – nach diesem Grundsatz handelt der oekom verlag. Unvermeidbare Emissionen kompensiert der Verlag durch Investitionen in ein Gold-Standard-Projekt. Mehr Informationen finden Sie unter www.oekom.de.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2011 oekom verlag, München

Gesellschaft für ökologische Kommunikation mbH, Waltherstraße 29, 80337 München

Lektorat: Heike Tiller, München

Gestaltung + Satz: Heike Tiller, München

Umschlaggestaltung + Umschlagillustration: Torge Stoffers, Leipzig

Alle Rechte vorbehalten.

eISBN: 978-3-86581-369-5

Inhalt

Prolog: Wachstum – die herrschende Orientierung

Wachstum – eine notwendige Relativierung

oder: die Produktion von illusionärem Wohlstand

Wachstum als Illusion

Alternativen zum Bruttoinlandsprodukt – die internationale Dimension

Alternativen zum Bruttoinlandsprodukt – die Diskussion in Deutschland

Wohlstand, Lebensqualität, Glück – Alternativen zur Wachstumsorientierung?

Welches Wachstum? Schlussfolgerungen für die politische Debatte

Zusammenfassung und Epilog: Plädoyer für eine Politik der Selbstbegrenzung – mehr Werte statt Mehrwert

Anhang:

Variablen für den Nationalen Wohlfahrtsindex (NWI)

Abkürzungen

Literaturhinweise zur Vertiefung einzelner Kapitel

Weiterführende Literatur

Veränderung auf Veränderung. Es ist eben nicht, wie die Wissenschaftler uns, mit beträchtlichem Erfolg, weiszumachen suchen, fünf Minuten vor zwölf, es besteht daher keinerlei Anlass zur Panik, da es – Dir brauche ich das wohl nicht zu sagen – bereits dreiviertel drei ist, und jede Panik wäre eine müßige und unangemessene Anstrengung. Das wird Dir auch gern jeder Manager bestätigen, allerdings aus entgegengesetzten Gründen.

Zwar eilt die Wissenschaft uns weit voraus, aber die Wissenschaftler [selbst] rennen weit hinter ihr her und versuchen, sie wieder einzufangen, vergeblich natürlich. Ich sehe sie da rennen, über Stock und Stein, mit Schmetterlingsnetzen und Botanisiertrommeln, als seien sie von gestern, was sie natürlich nicht sind, sie sind von vorgestern.

WOLFGANG HILDESHEIMER: Mitteilungen an Max über den Stand der Dinge und anderes, 1983

Prolog: Wachstum – die herrschende Orientierung

Der Kreis gab sich geschlossen. Wissenschaftler, höhere Staatsbeamte und Politiker sowie Vertreter von Wirtschaftsverbänden und Aktionsgruppen kamen nach längeren Diskussionen zu der gemeinsamen Auffassung, »dass das heutige System der volkswirtschaftlichen Rechnungslegung, in dessen Mittelpunkt die Bruttosozialproduktrechnung steht, nicht mehr auf der Höhe der Zeit ist«. Dieses Zitat aus einem Fachbuch zur Wirtschafts- und Umweltberichterstattung von Christian Leipert und Roland Zieschank liest sich wie eine Diagnose der aktuellen Situation auf internationaler Ebene. Doch es hat selbst bereits einige Höhen und Tiefen der Geschichte überdauert, denn es stammt aus dem Jahr 1989.

Offensichtlich war damals, vor über 20 Jahren, die Zeit für eine umfassende Erörterung der zentralen Kenngrößen, mit denen Ökonomen die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes beschreiben, noch nicht reif. Im Gegenteil, das Statistische Bundesamt hatte damals die Berechnung und Veröffentlichung eines »Ökosozialprodukts« abgelehnt: Man befürchtete, damit in fachlicher Hinsicht Grenzen zu überschreiten. Die Entscheidung wurde Anfang dieses Jahrzehnts durch die Arbeit eines Wissenschaftlichen Beirats noch einmal bestätigt.

Aber ist die Zeit jetzt reif? Und wenn ja, warum? Warum scheint man nun auch zunehmend in der Politik nicht mehr zufrieden mit den alten Orientierungsmarken? Vor allem in den letzten beiden Jahren wurden in nahezu beängstigendem Ausmaß Aktivitäten entwickelt: Der französische Präsident Nicolas Sarkozy hat eine Kommission eingesetzt (unter anderem bestehend aus mehreren Nobelpreisträgern), die ein neues Wohlfahrtsmaß vorschlagen soll. Dem folgte Bundeskanzlerin Angela Merkel: Im Dezember 2010 arbeiteten die Wirtschaftsweisen in Deutschland im Auftrag des deutschfranzösischen Ministerrats eine Expertise aus, in der ein umfassendes Indikatorensystem zu den Themen Wirtschaftsleistung, Lebensqualität und Nachhaltigkeit verlangt wird. Doch damit nicht genug: Einmütig setzten alle im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien im selben Monat eine neue Enquetekommission »Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft« ein, die bis zum Ende der Legislaturperiode unter anderem einen »ganzheitlichen Wohlstands- beziehungsweise Fortschrittsindikator« entwickeln soll. Da steht das Europäische Parlament nicht nach: Dessen Umweltausschuss stimmte im November 2010 einem Gesetz zur Umweltökonomischen Gesamtrechnung zu, demzufolge ab 2012 alle Mitglieder der Europäischen Union Daten für ein »Ökosozialprodukt« liefern sollen.

Das Unbehagen über die Begleiterscheinungen unserer alle Lebensbereiche durchdringenden Wirtschaftsweise ist nicht neu. Neu ist allerdings, dass die klassische Kritik am Versagen des Marktes wiederauflebt und zeitlich mit den jüngsten Krisen des Finanz- und Wirtschaftssystems und neuen politischen Anforderungen an dessen Gestaltung zusammenfällt. Dennoch sind all die genannten, fast hektischen Aktivitäten so angelegt, dass sich nichts ändern muss – jedenfalls nicht schnell: Nachdem man mehr als 20 Jahre nichts getan hat, um längst vorhandene wissenschaftliche Erkenntnisse in eine Veränderung der amtlichen Statistik und der politischen Praxis umzusetzen, erlaubt man sich jetzt – wieder einmal – eine lange Periode, in der Kommissionen tagen und Studien erarbeitet und diskutiert werden.

Viel mehr noch: Trotz dieser erstaunlichen Entwicklungen fällt ein Blick auf die Art und Weise, wie in der Öffentlichkeit, in der Politik und auch in den Medien über Wirtschaft geredet wird, außerordentlich ernüchternd aus. Nach wie vor ist pures Wachstum, gemessen als Zuwachsrate des Bruttoinlandsprodukts, die zentrale Orientierungsgröße von Wirtschaft und Politik, Medien und Öffentlichkeit. Wie bei der sprichwörtlichen Frage, wer zuerst da gewesen sei, die Henne oder das Ei, ist es mittlerweile nicht mehr besonders wichtig zu erforschen, ob es die Politiker waren, die sich zuerst auf das Leitbild des quantitativen Wachstums des Bruttoinlandsprodukts verständigt haben, oder die Wirtschaftswissenschaftler, die das Wachstumsziel, das noch im Stabilitätsgesetz von 1967 nur eines von vier Zielen war, als Erste verabsolutiert haben. Diese Frage ist sicher von wirtschafts- und dogmenhistorischem Interesse, für die künftige Politik jedoch nicht mehr entscheidend, weil noch immer die überwiegende Mehrheit der genannten Gruppen (Politiker, Wirtschaftswissenschaftler und insbesondere Journalisten) Wirtschaftswachstum als zentrales Ziel propagiert – zumindest öffentlich – und mit entsprechenden Schlagwörtern die Wirtschaftsseiten von Zeitungen und Zeitschriften beherrscht:

»Kanzler, tu was!« titelte

Bild

im September 2003. Was war der Grund für diesen Hilferuf? – Das Wirtschaftswachstum lag bei »nur« einem Prozent.

»Deutschland – am Ende«, so die Überschrift in einer Finanzmarktzeitschrift im März 2004, als das Wachstum ein halbes Prozent betrug.

»Ein Wachstum von drei Prozent sollte doch einfach möglich sein!« Das ist die Sehnsucht vieler Politiker bis heute. Und der Geschäftsführer des renommiertesten deutschen Beratungsunternehmens gab noch im Jahr 2006 die zukunftsweisende Devise aus: »Ziel ist eine Verdopplung des deutschen BIP in 30 Jahren«.

Die Staats- und Regierungschefs der EU berieten am 11. Februar 2010 bei einem Sondergipfel in Brüssel über eine neue europäische Wirtschaftsstrategie. Dabei erklärte der neue ständige EU-Ratspräsident, Herman Van Rompuy, die EU brauche mehr Wachstum, um ihr Sozialmodell zu finanzieren.

In der Natur gibt es kein permanentes Wachstum von Lebensformen oder Ökosystemen, durchaus aber Wandlungsprozesse und neue Entwicklungsrichtungen, oft auch Veränderungen im steten Rhythmus der Zeiten. Jedenfalls wächst in der Natur kein Organismus unbegrenzt; Ökosysteme, wie der Wald oder Korallenriffe, können im Verlauf des Evolutionsprozesses allenfalls ein gewisses Endstadium erreichen. Doch gerade in der Ökonomie soll – schenkt man den täglichen Nachrichten und Verlautbarungen aus der Wirtschaft Glauben – permanentes Wachstum möglich sein? Grenzen des Wachstums werden zwar immer wieder diskutiert – so sorgte der entsprechende Bericht des Club of Rome Anfang der 1970er-Jahre für Aufsehen –, aber in die politischen Zielsetzungen hat der Gedanke einer Begrenzung des quantitativen Wachstums im Grunde immer noch nicht Eingang gefunden. Im Gegenteil:

(I.) Wohlstand für alle – durch nachhaltiges Wirtschaften

(1.) Wachstum und Aufschwung: In der jetzigen Situation gilt es, den Einbruch des wirtschaftlichen Wachstums so schnell wie möglich zu überwinden und zu einem neuen, stabilen und dynamischen Aufschwung zu kommen.

– so lauten die ersten Sätze des Koalitionsvertrags der schwarz-gelben Bundesregierung von 2009. Wohlstand und Wachstum erscheinen hier fast bedeutungsgleich – und das Prädikat »nachhaltig« wird quasi beiläufig auch noch untergemischt. Die Historie von Deutschland als Wirtschaftswunderland schien nicht mehr auszureichen. Erstmals sah sich eine Bundesregierung genötigt, den von ihr sonst so geschätzten »freien Kräften des Marktes« nachzuhelfen und ein entsprechendes, schon in sprachlicher Hinsicht bemerkenswertes Gesetz zu verabschieden, das »Wachstumsbeschleunigungsgesetz« – sozusagen als Krone der Wirtschaftspolitik.

Kann das langfristig gut gehen? Oder nimmt man, wie die amerikanische Regierung, wortwörtlich alles »in Kauf«, von neuen Autos bis zu schrottreifen Bankanleihen, um die Konjunktur anzukurbeln? Das Ziel des kurzfristigen politischen Erfolgs wird dabei auch noch mit langfristigen Schuldenbergen erkauft, die offensichtlich ebenfalls unbegrenzt zu wachsen scheinen.

Wachstum – eine notwendige Relativierung

oder: die Produktion von illusionärem Wohlstand

Wenn von Wachstum die Rede ist, ist in aller Regel das Wachstum des preisbereinigten Bruttoinlandsprodukts eines Landes gemeint. Dabei basiert die Botschaft des Wachstumskonzepts vereinfacht auf folgender Argumentation: Das Bruttoinlandsprodukt umfasst die über den Markt getauschten Güter und Dienstleistungen eines Landes. Aus der Veränderung des Bruttoinlandsprodukts von einem Jahr zum anderen errechnen sich die Wachstumsziffern. Wachstum schafft mehr ökonomische Wahlmöglichkeiten und steigert damit den verfügbaren wirtschaftlichen Wohlstand. Bei der Bevölkerung erhöht sich dadurch die gesellschaftliche Wohlfahrt, weil das Einkommen – je nach individuellen Präferenzen – für die jeweils am wichtigsten erachteten Güter und Dienstleistungen ausgegeben werden kann.

Aus historischer Sicht spielten die Wachstumsraten vor allem für westliche Industrienationen immer eine zentrale Rolle, sowohl in den USA nach der Weltwirtschaftskrise als auch in Westeuropa. Sie dokumentierten nicht nur den wirtschaftlichen Wiederaufbau der Nachkriegszeit, sondern signalisierten auch die Überlegenheit des Westens im Kampf der politischen Systeme.

Dieses über einen längeren Zeitraum weitgehend erfolgreiche Konzept hat nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch in Politik und Gesellschaft die grundsätzliche Überzeugung entstehen lassen, so gut wie alle Probleme seien durch Wachstum lösbar. Wohl deshalb wurde dieser ökonomische Leitindikator in die bundesdeutsche Nachhaltigkeitsstrategie seit 2002 übernommen – und zwar nicht nur als eigenständige Zielgröße, sondern auch als Bezugsgröße in anderen Indikatoren wie der Energie- und der Ressourcenproduktivität oder im Verkehrsbereich. Gerade an dieser Ansicht der deutschen Regierungen, gleich welcher Couleur, dass das Wirtschaftswachstum auch ein Indikator für eine erfolgreiche Nachhaltigkeitsstrategie sei, entzündete sich nach ersten kritischen Einschätzungen bereits in den 1980er-Jahren eine neuerliche Diskussion über die Aussagefähigkeit des Bruttoinlandsprodukts. Denn Nachhaltigkeit liegt nur vor, wenn wir unsere Bedürfnisse so befriedigen, dass auch nach uns kommende Generationen die Möglichkeit haben, ihre jeweiligen Bedürfnisse zu befriedigen. Nachhaltigkeitsstrategien sprechen daher notwendigerweise Themen wie soziale Gerechtigkeit und ökologische Tragfähigkeit an; sie wollen eine ökonomische Entwicklung anstoßen, die auch künftig Bestand haben kann. Das Bruttoinlandsprodukt, verbunden mit dem Ziel kontinuierlichen Wachstums, gerät hier in ein Spannungsfeld.

Faktisch verbergen sich hinter den Wachstumsraten zahlreicher Volkswirtschaften aus den letzten Jahren drei Illusionen, die von der aktuellen Debatte nicht annähernd wieder-gegeben werden. Diese Illusionen führen – wie nachfolgend dargelegt – zu einer wohl unumgänglichen Relativierung des traditionellen, meistens nur quantitativ verstandenen Wirtschaftswachstums. Dazu kommen weitere Überlegungen, die im Zusammenhang mit dem Leitbild einer nachhaltigen Entwicklung anzuführen sind und die sich vor allem an die älteren Industrienationen der westlichen Hemisphäre richten.