Worte im Sommerwind - Birgit Gruber - E-Book
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Worte im Sommerwind E-Book

Birgit Gruber

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Beschreibung

Timo hat ein Ziel: die traumhafte Ostsee-Villa seiner Großmutter zu besitzen. Timo hat einen Plan: mogeln und schummeln, um an sein Erbe zu kommen. Timo hat ein Problem: eine Assistentin, die ihm ganz genau auf die Finger schaut. Timo genießt sein Jet-Set-Leben. Als ihm seine Großmutter jedoch die Villa an der Ostsee vererbt, ist dies an eine Bedingung geknüpft: Er muss einen Roman schreiben.  Blöd nur, dass er darauf gar keine Lust hat. Zum Glück hat er eine geniale Idee, um zu bekommen, was er will – auch ohne die nervige Arbeit. Allerdings wird ihm die hinreißende Dana als Assistentin aufs Auge gedrückt, und das Letzte, was Timo gebrauchen kann, ist jemand, der ihm auf die Schliche kommen könnte. Also sorgt er dafür, dass sein strenger Babysitter rund um die Uhr beschäftigt ist - auch wenn er seine Zeit lieber damit verbringen würde, ihre Kurven und diesen schlagfertigen Mund zu bewundern. Doch während es Sommer wird am Meer, verstrickt sich Timo immer tiefer in seine Gefühle zu Dana und in seinen Plan, der plötzlich gar nicht mehr so genial zu sein scheint … Ein humorvoller und unterhaltsamer Sommerroman, der euch an die atemberaubende Meeresküste der Ostsee entführt!

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Worte im Sommerwind

Birgit Gruber

Dies ist ein Roman.

Die Namen der behandelten Personen sind frei erfunden. Eventuelle Ähnlichkeiten mit real existierenden (lebenden oder toten) Menschen wären reiner Zufall.

1

»Von der Erde bist du genommen, und zur Erde kehrst du zurück. Der Herr aber wird dich auferwecken«, sagte der Pfarrer und warf etwas von ebendieser braunschwarzen Substanz auf den glänzenden dunkelbraunen Holzsarg hinab, den in dem tiefen Loch nur die Umstehenden in vorderster Reihe sehen konnten. Dann wandte der Geistliche sich zu Timo um, übergab ihm, als nächstem Angehörigen, die kleine Schaufel und drückte ihm dabei mit der anderen Hand stärkend den Arm.

Timo nickte kaum merklich und trat einen Schritt nach vorn. Er spürte, dass aller Augen nun auf ihn gerichtet waren. Es mochten dreißig, fünfzig, vielleicht hundert Leute erschienen sein, um seiner Großmutter die letzte Ehre zu erweisen. Er wusste nicht, wie viele es waren, die von der allseits beliebten Frau Abschied nehmen wollten. Zu sehr war er mit sich und seinen Gedanken beschäftigt. Die Trauerrede des Pfarrers hatte er zum Großteil nicht mitbekommen. Um ehrlich zu sein, war er froh, wenn das hier alles vorüber war.

Er streckte den Arm aus, tauchte die Metallschaufel in den Eimer mit Erde und holte sie gefüllt wieder hervor. Sein Anzug fühlte sich bereits klamm an. Das Wetter hätte nicht besser zu einem solchen Anlass passen können. Der Himmel war mit einem tristen blaugrauen Schleier überzogen, und zusätzlich zu der trüben Nebelsuppe setzte jetzt auch noch leichter Nieselregen ein. Er hörte, wie einige der Trauergäste hinter ihm ihre Schirme aufspannten. Es hätte ebenso gut Spätherbst sein können, statt Frühsommer, wie es im Kalender stand. Aber das war an der Ostseeküste nichts Außergewöhnliches und Timo letztlich auch egal.

Morgen schon würde er wieder weg sein. Er war nur wegen der Beerdigung hergekommen. Damit zumindest ein Familienmitglied anwesend war. Viele gab es ja nicht mehr. Nur ihn und seinen Vater. Aber sein alter Herr war wie immer viel zu beschäftigt. Nicht einmal der Tod seiner eigenen Mutter konnte ihn dazu bringen, die Geschäfte ruhen zu lassen. Der Termin passte nicht in sein Zeitmanagement. Wegen der einen Stunde, die das Begräbnis dauerte, setzte er sich nicht ins Flugzeug und nahm die Reise von Amerika nach Deutschland auf sich. Timo hatte das nicht überrascht. Im Gegenteil, er wäre erstaunt gewesen, hätte es sich umgekehrt verhalten.

Andererseits sollte man bekanntlich nicht mit Steinen werfen, wenn man selbst im Glashaus saß. Und in gewisser Weise tat Timo das. Er hatte seine Großmutter seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Zuletzt, als er Mitte zwanzig gewesen war. Das war über ein Jahrzehnt her. Seither war er in der Welt umhergejettet, hatte aber nie die Zeit gefunden, einen Besuch bei seiner Oma an der Ostsee einzuschieben.

Nun blickte er auf den Sarg hinab und fragte sich, wie es ihr in ihren letzten Tagen ergangen sein mochte. War sie krank gewesen? Hatte sie gelitten? Oder war der Tod gnädig zu ihr gewesen und hatte sie im Schlaf ereilt? Das rundliche Gesicht einer fröhlichen Frau tauchte vor seinem inneren Auge auf. ›Du machst das schon, mein Junge‹, hörte er sie förmlich sagen, als stünde sie neben ihm, und er fuhr erschrocken zusammen.

Schwarze Erdkrümel spritzten von der Schaufel und hinterließen ein leises, dumpfes Geräusch beim Aufprall auf dem Holz in der Tiefe. Eilig steckte er die kleine Schippe zurück in den Eimer und ging beiseite.

Eine hagere ältere Frau trat an seine Stelle. Mit wässrigen Augen schmiss sie eine langstielige Rose in das offene Grab, bevor sie sich abwandte und lauthals in ihr Taschentuch schniefte. Der Pfarrer nahm sich ihrer an und spendete ihr tröstende Worte.

Timo beobachtete sie und überlegte, ob die Leute auch von ihm einen Gefühlsausbruch erwarteten. Was für ein Quatsch!, sagte er sich im selben Moment. Er war ein Mann. Und Männer weinten nun einmal nicht. Aber das beklommene Gefühl blieb. Dabei handelte es sich jedoch weniger um Trauer als vielmehr um Schuld.

Er drehte sich um und wollte gehen, da kam die alte Dame auf ihn zu und schüttelte ihm unter Tränen die Hand.

»Sie sind der Timo, nicht wahr? Ich war eine gute Freundin Ihrer Großmutter. Vielleicht erinnern Sie sich an mich. Betty. Betty Schwarz.«

Verwirrt schaute er die Frau an. Ihre schrullige Hand lag noch immer in seiner. Ihr Gesicht war faltig und von Gram verzerrt. Trotzdem erkannte er die Freundlichkeit, die darin lag. Etwas tief in ihm drin regte sich.

»Aber ja.« Er erkannte sie wieder. Als er ein Junge gewesen war, war Betty häufig bei seiner Großmutter vorbeigekommen, zum wöchentlichen Kaffeeklatsch und als Nachbarin auch sonst des Öfteren.

»Es tut mir ja so leid für dich«, sagte sie mit gebrochener Stimme und tätschelte seinen Handrücken.

Timo versteifte sich. So wie Betty von Kummer geschüttelt wurde, hatte er das Gefühl, diese Mitleidsbekundung gar nicht zu verdienen.

»Mir auch. Mein Beileid«, antwortete er mechanisch.

»Ach mein Junge«, schniefte sie und umarmte ihn unvermittelt.

Der Regen wurde stärker, und eine Frau mittleren Alters, vielleicht ihre Tochter, eilte herbei und schob ihren Schirm über Betty Schwarz. Eine Ecke des Metallgestänges traf ihn an der Stirn. Timo fühlte sich im wahrsten Sinn des Wortes vor den Kopf gestoßen. Diese unerwartete Herzlichkeit und das schlechte Gewissen nahmen ihm fast die Luft zum Atmen.

Als die alte Dame endlich von ihm abließ, war er völlig aus dem Konzept gekommen. Die jüngere Frau schüttelte ihm ebenfalls die Hand und sprach ihr Mitgefühl aus. Dann schob sie Betty weiter, und Timo sah, dass sich bereits eine Schlange hinter den beiden gebildet hatte. Offenbar wollten alle kondolieren.

Konsterniert stand er da und ließ es sich gefallen.

Die Zahl der Trauernden schien endlos. Doch irgendwann hatte er auch dem Letzten die Hand geschüttelt. Mit leerem Blick starrte er auf das Friedhofsportal, durch das in dieser Minute die restlichen Gäste verschwanden.

»Im Gasthof Küstennebel findet noch ein kleiner Umtrunk statt. Frau Schwarz und einige andere Gemeindemitglieder haben das organisiert. Ihre Großmutter war sehr beliebt bei uns im Ort. Wenn Sie möchten, zeige ich Ihnen gern den Weg.« Die sonore Stimme des Pfarrers riss ihn aus seinen Gedanken. Unwillkürlich zuckte Timo zusammen. Er hatte geglaubt, endlich allein zu sein.

»Danke. Nein.« Er schüttelte den Kopf und bemerkte erst jetzt, dass er inzwischen vollkommen durchweicht war. Der Anzugstoff hing ihm schwer am Körper. »Ich werde mich umziehen gehen«, meinte er und war dankbar für die passable Ausrede.

»Verständlich.« Der Gottesdiener nickte unter seinem Schirm, dann trat er etwas näher, um ihn mit Timo zu teilen.

»Vielen Dank. Aber das ist die Mühe nicht wert. Sie werden nur auch noch nass«, wehrte Timo ab und lief eilenden Schritts zum Ausgang.

»Aber Sie kommen nach?«, rief ihm der Pfaffe hinterher, doch Timo tat, als hörte er ihn nicht.

***

Die kurze Strecke im Auto genügte, damit die Scheiben beschlugen, durch die hohe Luftfeuchtigkeit, die von Timo ausging. Seine Klamotten dampften, alles klebte ihm am Körper. Aber er kannte den Weg gut genug. Die Lüftung brummte laut, und es war regelrecht erlösend, als er vor dem alten Gebäude hielt und ausstieg. Sofort umfing ihn eine himmlische Ruhe, die nur von Geräuschen des nahen Meeres untermalt wurde. Einen Moment verharrte er vor dem Haus und nahm dessen Bild in sich auf.

Es lag etwas zurückversetzt und wurde im Hintergrund von Buchen und höheren Kiefern eingerahmt. Ein Fußweg führte von der Straße mittig durch den Rasen zum Eingang hin. Timo sah auf den ersten Blick, dass die Hecken, die links und rechts das Grundstück abgrenzten, geschnitten werden mussten. Das Backsteingebäude selbst war zwar groß, wirkte aber eher verspielt durch seine verschachtelte Bauweise. Neben dem Haupthaus gab es einen Anbau, in dem sich, sofern sich nichts geändert hatte, ein Esszimmer befand. Vor der Villa, direkt neben der Eingangstür, war ebenfalls ein kleiner, etwa zwei Meter breiter Gebäudevorsprung angefügt worden, um die einstmals schmale Küche zu vergrößern. Die daraus entstehende Ecke im Außenbereich hatte man als Terrasse gepflastert. Doch soweit er erkennen konnte, standen dort nur ein verwitterter Tisch und eine alte Holzbank.

Timo schnappte sich seine Tasche aus dem Kofferraum und lief den Weg zum Eingang entlang. Er erinnerte sich gut an das elende Geschleppe der Einkäufe. Mit zunehmendem Alter hatte er seine Großmutter oft gefragt, warum sie nicht eine Einfahrt anlegen ließ. Man hätte bequem bis vor die Haustür fahren können. Platz genug war vorhanden, um beispielsweise ein Carport anzubauen. Und es wäre immer noch genügend Grünfläche übrig, die das Auge erfreuen konnte. Aber seine Oma hatte jedes Mal den Kopf geschüttelt.

›Timo, das würde das Flair des Anwesens zerstören. So wie es ist, war es schon immer. Das bisschen, was ich zum Leben brauche, kann man doch tragen. Und es hält fit‹, hatte sie immer lächelnd erwidert.

Fast ein Jahrhundert hatte seine Großmutter hier gelebt. Sein Vater war hier groß geworden. Und auch er, Timo, hatte so einige Sommertage in diesem Haus verbracht.

Er zog den Schlüssel hervor und steckte ihn ins Schloss der alten hellgrauen Haustür. Das rhombusartige tellergroße Glasornament auf Augenhöhe schimmerte bläulich wie eh und je. Unter einem leichten Ächzen öffnete sich die Tür.

Drinnen empfing ihn sofort der gewohnte Geruch, den er seit Kindertagen mit dem Gebäude verband. Fast rechnete er damit, dass seine Großmutter gleich um die Ecke gucken und ihn freudig begrüßen würde. Ein Hauch von Kuchenduft lag sogar noch in der Luft. Oder täuschte er sich da?

Der helle Klingelton seines Handys unterbrach die Stille. Timo ließ die Tasche fallen und suchte im Halbdunkel nach dem Lichtschalter, während er gleichzeitig nach dem kleinen Gerät angelte.

»Hallo?«

»Timo! Du bist dran! Ich habe dir schon einige Nachrichten hinterlassen«, säuselte Sweeney in ihrer honigsüßen Stimme.

Er blieb sachlich. »Warum? Was ist so dringend?«

»Ich vermisse dich«, kam es prompt zurück. Es überraschte ihn nicht. Das war so ihre Art. Sofort blitzte vor seinem inneren Auge die schlanke hochgewachsene Blondine mit dem langen lockigen Haar auf, wie sie sich mit dem dunkelroten Seidennegligé auf dem Bettlaken schlängelte. Ihre Proportionen waren genau richtig, und sie sorgte für Zerstreuung, wenn er Zeit und den Kopf frei hatte. Jetzt, im Moment, war das allerdings nicht der Fall.

»Ich bin in Deutschland.«

»Oh! Das hast du mir nicht gesagt.« Sie klang ein wenig eingeschnappt, was ihren amerikanischen Akzent noch deutlicher zum Vorschein brachte.

»Jetzt weißt du es.«

»Wann kommst du nach Vegas zurück?«

»Gibt es sonst noch etwas Wichtiges?«, fragte er ruppig.

»Vince hat den Termin für sein berühmt-berüchtigtes Pokerspiel bekannt gegeben.«

Sofort durchlief ihn ein aufgeregtes Kribbeln. »Wann?«

»Es findet Ende nächster Woche statt. Das willst du dir doch nicht entgehen lassen, oder?«

Nein, im Grunde nicht. Es war in Las Vegas das Spiel des Jahres. Das Spiel, bei dem er sich mit ausgewählten Leuten messen und zeigen konnte, was er draufhatte.

»Die Einstiegsgebühr liegt bei zwanzigtausend Dollar. Wenn du mir einen Scheck schickst, melde ich dich inzwischen an.«

Im Kopf ging er seinen Kontostand durch. Ein unnötiges Unterfangen, denn er wusste auch so, dass dort gähnende Leere herrschte. Um ehrlich zu sein, hatte es gerade noch für das Flugticket gereicht.

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich es rechtzeitig zurückschaffe«, presste er deshalb hervor und fühlte in seinem Hals einen dicken kalten Knoten. Er wollte unbedingt dabei sein! Er musste nur zuerst das nötige Kleingeld für die Startgebühr auftreiben.

»Hey Daredevil, du kriegst doch keine kalten Füße?« Sweeneys glockiges Lachen drang an sein Ohr. Timo versteifte sich. Sie wollte ihn aufziehen, deshalb benutzte sie auch seinen Spitznamen. Daredevil, was übersetzt ›Draufgänger‹ bedeutete. Wenn sie wüsste, wie es tatsächlich um ihn stand, würde sie vermutlich gar nicht anrufen und hätte sich bereits nach einem anderen ›Spielgefährten‹ umgesehen. Aber in einer brenzligen Lage hatte er sich schon öfters befunden und es immer wieder heraus – bis nach oben! – geschafft. Nur dass es noch nie so schlecht ausgesehen hatte wie jetzt.

Er schob die unwilligen Gedanken beiseite.

»Red keinen Quatsch. Meine Granny ist gestorben. Ich muss hier noch einiges erledigen. Das ist alles«, raunzte er.

Ihr Gelächter verstummte. »Das tut mir leid. Okay, dann melde dich einfach.«

»Mach ich.« Unvermittelt drängte sich ein wiederholendes Geräusch ins Gespräch. Ein weiterer Anruf war eingegangen. »Ich muss auflegen. Bis bald.« Er drückte Sweeney weg, noch ehe sie sich verabschieden konnte.

»Ja?«, fragte er erneut in den Hörer.

»Herr Baier?« Eine jungenhafte Stimme tönte ihm auf Englisch entgegen.

»Wer will das wissen?«

Der Mann am anderen Ende der Leitung räusperte sich. »Hier ist James Karling, von der B & C Brokerexchange, New York.«

Timo warf einen angestrengten Blick zur Decke. Ein Anruf seines Brokers war mit Sicherheit kein gutes Zeichen.

»Womit kann ich Ihnen helfen?«, rang er sich dennoch dazu durch, nachzufragen. Ihm fiel auf, dass er nach wie vor im Hauseingang stand.

»Ich rufe Sie an, um Sie darüber zu informieren, dass das Kapital auf Ihrem Konto den Mindestbetrag unterschritten hat.«

Der Anruf war also ein sogenannter Marging Call. Timo fuhr sich mit der Hand durchs Haar und verzog das Gesicht. Dass es nass war, hatte er völlig vergessen.

»Und deshalb kontaktieren Sie mich persönlich? Das ist heutzutage doch gar nicht mehr üblich.« Er ging quer durchs Haus ins Wohnzimmer und starrte durch die bodenlangen Fenster nach draußen. Rasen und große Bäume zogen sich dahin, soweit das Auge reichte. Er wusste, dass sich dahinter der Strand und das Meer befanden.

»Das ist richtig. Aber da mein Boss ein guter Freund Ihres Vaters ist –«

»Mit ihm haben meine Geschäfte nicht das Geringste zu tun!«, fuhr Timo dem Jungspund dazwischen. Er konnte ihn bildlich vor sich sehen. Jung, voller Power und bereit alles für den amerikanischen Traum und das große Geld zu machen. Entweder bekam er von seinem Boss ordentlich Feuer oder schleimte sich bei ihm ein. Möglicherweise traf auch beides zu.

»Okay, okay. Selbstverständlich hat Ihr Vater keinerlei Kenntnis über Ihre Finanzlage«, beeilte er sich nun zu sagen.

»Das will ich auch hoffen«, brummte Timo. Das hätte ihm noch gefehlt, dass sein alter Herr sich da einmischte. Sie hatten höchstens sporadisch Kontakt und keinerlei Beziehung zueinander. Er brauchte ihn bestimmt nicht, damit er ihm vorbetete, was er tun und lassen sollte. Und auf die verbalen Seitenhiebe, die unweigerlich folgen würden, konnte er verzichten.

»Das ändert aber nichts daran, dass Sie Ihr Limit überzogen haben. Ihre Positionen konnten nicht mehr aufrechterhalten werden. Sie wurden verkauft.«

Was bedeutete, dass er einen ordentlichen Verlust eingefahren hatte und sein Konto jetzt leer war. Warum hatte er nur so hoch spekuliert und obendrein alles auf eine Karte gesetzt? Weil er eben ein Draufgänger war. Ein Daredevil, der Spitzname kam nicht von ungefähr. Er war überzeugt gewesen, dass es der Deal des Jahres werden würde. Und er hatte in seinem Leben schon einige Male recht behalten. Diesmal jedoch schien er kein glückliches Händchen gehabt zu haben.

»Ich verstehe. Ich werde mir die Sache ansehen. Danke für die Information«, erklärte er barsch und drückte den ungebetenen Anrufer weg. Er legte keinen Wert darauf, Höflichkeiten auszutauschen. Wozu auch? Mr. Karling ging seine Lage doch am A… vorbei. Vielleicht steckte sogar sein Vater dahinter, dass man sich telefonisch mit ihm in Verbindung gesetzt hatte, um seinem Taugenichts von Sohn eine weitere Lektion zu verteilen. Ja, das würde durchaus zu seinem alten Herrn passen. Timo hegte gewisse Zweifel daran, dass er wirklich nichts von seiner Lage wusste. Diese Großköpfe steckten doch alle unter einer Decke. Tratsch und Mauschelei waren an der Tagesordnung.

Er öffnete eine der breiten Flügeltüren und trat hinaus auf die Terrasse hinter dem Haus. Kühler Wind umfing ihn und ließ ihn die feucht-nasse Kleidung spüren. Er atmete tief durch, dann inspizierte er endlich den aktuellen Zustand des Badezimmers.

***

Die Nacht war lang und kurz zugleich gewesen. Dafür gab es mehrere Gründe. Allen voran lag das natürlich am Jetlag.

Als Sweeney ihn gegen fünf Uhr nachmittags deutscher Zeit angerufen hatte, war es in Vegas gerade mal acht Uhr morgens. Timo hatte sich im Nachhinein gefragt, warum sie um diese Zeit überhaupt wach gewesen war. Normalerweise krabbelte die Frau nicht vor mittags aus den Federn. Sie musste wohl eine ausschweifende Party besucht haben und erst gegen Morgen nach Hause gekommen sein.

Das Pokerspiel, von dem sie ihm erzählt hatte, juckte ihn in den Fingern. Jetzt noch mehr, da er wusste, dass er pleite war. Es wäre die Möglichkeit, seine Finanzen auf einen Schlag wieder in den Griff zu bekommen und seinen Lebensstil auf großem Fuß wie gewohnt weiterführen zu können. Blieb nur ein Problem. Die Startgebühr!

Er pumpte nicht gerne Leute an. Abgesehen davon, wüsste er niemanden, der ihm so viel Geld geben könnte. Ausgenommen seinen Vater natürlich. Der besaß so viel Kohle, dass er Dagobert Duck ernsthaft Konkurrenz machen konnte. Aber eher würde die Hölle gefrieren, als dass Timo ihn fragen würde. Ansonsten fielen ihm nur zwielichtige Typen ein. Mit deren Geschäften wollte Timo allerdings nichts zu tun haben. Er mochte ein Lebemann sein, manche bezeichneten ihn als Spieler, aber er war immer auf der richtigen Seite geblieben. Die Linie, die unweigerlich ins Verderben führte, hatte er niemals übertreten. Und damit würde er auch jetzt nicht anfangen. Er wusste nur allzu gut, dass er, würde er auch nur einen Fuß in dieses Metier setzen, auf ewig nicht mehr davon loskommen würde. Ob er wollte oder nicht. Das hatte er schon oft genug beobachtet. Aber was sollte er dann machen?

Zusammen mit eineinhalb Flaschen Rotwein, die er im Keller seiner Großmutter gefunden hatte, hatte er die halbe Nacht seinen Kontostand durchgerechnet. Doch wie er es auch gedreht und gewendet hatte, die Summe am Ende blieb die gleiche. Eine dicke fette Null.

Er konnte nicht einmal auf das schicke Appartement in New York zurückgreifen, da er das bereits vor Monaten verkauft hatte. Seitdem hatte er mal hier mal da bei Freunden geschlafen, überwiegend aber in Hotelsuiten. Je nachdem, in welchem Teil des Landes er sich gerade befunden oder was sein Vermögen hergegeben hatte.

Ja, Timo musste sich eingestehen, dass dieses Jahr nicht sein bestes war. Er hatte sich mehrmals verspekuliert, und auch im Spiel war sein Glück derzeit eher schwankend. Was hatte sich geändert? Wurde er allmählich alt?

Er warf einen prüfenden Blick in den Spiegel. Für seine siebenunddreißig Jahre sah er immer noch ziemlich gut aus. Die Leute schätzten ihn in der Regel jünger ein. Mit seinem charmanten spitzbübischen Grinsen wickelte er Frauen wie Männer ein. Er besaß ein außergewöhnliches Talent dafür, Menschen für sich und seine Visionen zu gewinnen. Das war sein bestes Kapital und ihm bereits in die Wiege gelegt worden. Es half ihm bei seinen Geschäften ebenso wie beim Poker. Bis jetzt!

Ach was!, sagte er sich selbst und verließ das Haus. Salzig frische Meeresluft schlug ihm entgegen und weckte alle seine Sinne. Der mit Wachphasen durchzogene Dämmerschlaf in Kombination mit dem übermäßigen Weingenuss hatte Spuren hinterlassen. Kopf- wie Gliederschmerzen plagten ihn. Aber zum Ausruhen war keine Zeit. In einer Viertelstunde war Testamentseröffnung. Nur deshalb war er am Vorabend nicht sofort wieder abgereist. Dabei dachte Timo nicht eine Sekunde daran, dass ihm seine Großmutter etwas vererbt haben könnte. Er vertrat lediglich seinen Vater. So wie gestern bei der Beerdigung. Vermutlich gehörte seinem alten Herrn nun das Haus am Meer. Noch ein Grund, warum Timo sich nicht länger dort aufhalten mochte als nötig. Ihm wollte er bestimmt nichts schuldig sein. Denn eins war so sicher wie das Amen in der Kirche: Von Eduard Baier bekam man nichts umsonst. Er forderte immer eine Gegenleistung. Sogar oder erst recht bei seinem Sohn!

2

Das Notariat lag in der sogenannten Innenstadt, wenn man das Örtchen als Stadt bezeichnen wollte, denn sonderlich groß war es nicht. Aber es gab alles, was man zum Leben brauchte. Zudem war es hübsch hergerichtet und für Touristen wahrscheinlich eine Perle mit Ostseeküstenflair. Timo hingegen war Größeres gewohnt. Die letzten Jahre hatte er überwiegend in den Metropolen Amerikas verbracht. Kein Vergleich zu alldem hier.

Dr. Petersens Kanzlei befand sich in einem kleinen Haus, das sich mit weiteren gleichartigen aneinanderreihte. Die Räume selbst wirkten gebraucht und gemütlich, von modern konnte jedoch keine Rede sein.

Timo saß als einziger Anwesender dem Notar gegenüber.

»Wir können es kurz machen, Dr. Petersen«, sagte Timo, als er sich der Tatsache bewusst wurde, dass auch kein weiterer Begünstigter mehr erscheinen würde. »Schicken Sie die Unterlagen einfach an meinen Vater. Ich gebe Ihnen gerne seine Adresse in New York, falls Sie Ihnen nicht vorliegt.«

Der ältere Mann sah von seinem Schreibtisch auf. »Ihrem Vater?«

»Natürlich. Eduard Baier. Er ist der leibliche Sohn meiner Großmutter.«

»Das ist mir durchaus bekannt. Ich kenne ihn und erinnere mich noch gut an ihn. Ebenso wie an Sie. Sie waren ein aufgeweckter Junge.« Der Notar lächelte.

Das war lange her. Timo kam es manchmal vor, als wäre es in einem anderen Leben gewesen.

»Ein Junge mit ausgeprägtem Geschäftssinn«, redete sein Gegenüber derweil weiter und lehnte sich entspannt auf seinem Chefsessel zurück. »Die Geschichte, als Sie Blumen von den Wiesen pflückten, sie in alte Gläser steckten und damit von Haus zu Haus zogen, bringt noch heute viele zum Lachen. Sie haben die kleine Ida dazu angestiftet, mitzumachen.«

Ida! An das Nachbarsmädchen hatte er schon ewig nicht mehr gedacht.

Dr. Petersen verschränkte die Hände vor seinem wohlbeleibten Bauch. »Sie beide haben bei den Leuten geklingelt und sind erst weitergegangen, wenn sie Ihnen ein Sträußchen gegen eine kleine Gebühr abgekauft hatten.«

Ja, Menschen überzeugen konnte er schon immer. Womöglich war diese Geschichte, auch wenn er schon lange nicht mehr daran gedacht hatte, der Beginn seiner beruflichen Karriere gewesen. Plötzlich hatte Timo das Gefühl, als wäre es erst gestern gewesen. Das irritierte ihn.

»Sie senden also alle wichtigen Papiere an meinen Vater«, wiederholte Timo. Er wollte nicht in Erinnerungen schwelgen. »Sofern Sie irgendwelche Unterschriften brauchen, kann ich Ihnen vermutlich kaum weiterhelfen. Sie werden den Postweg beschreiten müssen. Mein alter Herr glaubt nämlich, er wäre unabkömmlich in Übersee.« Er wandte sich zum Gehen.

Der Notar sprang auf. »Ich glaube, hier liegt ein Missverständnis vor.«

Timo drehte sich um. »Inwiefern? Ich bin nur anstandshalber hier.«

»Sie täuschen sich.« Einen Augenblick schauten sie sich schweigend an. »Bitte, Timo, setzen Sie sich.« Dr. Petersen zeigte auf den Stuhl ihm gegenüber.

Auf Timos Stirn bildete sich eine Falte. Zögernd kam er der Aufforderung nach. Jetzt war er doch neugierig geworden.

»Wollen Sie damit andeuten, meine Großmutter hat mir etwas vererbt?«

»Allerdings.«

Timo fragte sich, was das sein könnte. Ein Oldtimer wäre nicht schlecht. In seiner Fantasie sah er seine Oma in einem Chevrolet-Cabriolet sitzen. Es hätte durchaus zu der lebenslustigen alten Lady gepasst. Nur hatte sie nie ein Auto besessen.

Vielleicht hatte er auch Glück, und sie hatte ihm etwas Geld hinterlassen. Reich war sie seines Wissens zwar nicht gewesen, hatte aber immer sorgenfrei gelebt. Im Gegensatz zu ihm. Auch wenn es sich also nur um eine kleine Summe handelte, wäre ihm in seiner aktuellen Lage schon geholfen. Denn so wie es gerade aussah, konnte er sich nicht einmal ein Zimmer irgendwo auf der Welt leisten.

Petersen räusperte sich. Timo sah auf und bemerkte, dass er in Gedanken versunken war. Die gepolsterte Sitzfläche des Stuhls mit Lederbezug, auf dem er saß, war bequem. Er versuchte sich zu konzentrieren, während der Notar in eine aufgeklappte Aktenmappe schaute.

Täuschte sich Timo oder war er ebenfalls etwas angespannt?

Dann erhob Petersen die Stimme und begann zu lesen:

»Lieber Timo, wenn du diese Zeilen hörst, bist du bei meinem lieben Jugendfreund Konrad Petersen, und ich weile nicht mehr unter euch. Bitte seid nicht allzu sehr bedrückt deswegen! Ich hatte ein erfülltes und gutes Leben. Es gibt nur wenig, was ich hätte anders machen wollen und bedauere.

Eines dieser Dinge ist, dass wir uns in den letzten Jahren nicht mehr gesehen haben. Aber ich verstehe durchaus, dass du als junger Mensch dein Leben genießen und versuchen wolltest, dein Glück in der großen weiten Welt zu finden. Das hast du wohl von deinem Vater.

Wenn ich raten darf, dann ist er wahrscheinlich zu beschäftigt, um jetzt auch anwesend zu sein. Doch ich mache ihm keinen Vorwurf, und ich hoffe, du auch nicht. Er liebt dich, auch wenn er es schlecht zeigen kann. Sein Leben war lange Zeit nicht einfach, nun hat er offenbar seinen Weg gefunden. Ich wünsche ihm das Beste und habe ihm einen gesonderten Brief geschrieben.

Du, mein lieber Timo, bist hingegen, wie ich glaube, noch immer auf der Suche nach dem für dich passenden Weg. Die Bezeichnung ›Charmeur‹ trifft ebenso auf dich zu wie der Begriff ›Hallodri‹, wie dich manch einer nennen mag. Dein Leben gleicht einer Achterbahn. Aber wir wissen beide, dass viel mehr in dir steckt!

Deshalb möchte ich dir heute ein Angebot unterbreiten. Lieber Timo, ich vermache dir mein Haus am Meer und alles, was dazugehört. Ich wünsche mir von Herzen, dass du dort zur Ruhe kommst und glücklich wirst.

Es gibt nur eine Auflage, die mit der Erbschaft verknüpft ist. Du schreibst endlich einen Roman. Deinen Roman! Womöglich wird es ein Bestseller. Ich traue dir das durchaus zu! Erinnerst du dich noch an deinen Lehrer, Herrn Brütting? Er war so begeistert von dir, als du den ›Preis für junge Literatur‹ erhalten hast. Was waren wir alle stolz auf dich! Nicht nur er hat dich damals als das Nachwuchstalent bezeichnet.

Vielleicht ist es an der Zeit, dein Können in diesem Bereich unter Beweis zu stellen. Ich weiß, du kannst das.

Deshalb habe ich bereits alles in die Wege geleitet. Ein guter Bekannter und einflussreicher Literaturagent hat mir zugesagt, dass er dein Manuskript wohlwollend prüfen und dich unterstützen wird. Aber die Einzelheiten dazu erfährst du, wenn es so weit ist. Konrad Petersen hat alle nötigen Kontaktdaten. Zuerst einmal musst du deinen Roman schreiben!

Du hast ein Jahr Zeit dafür. Ich denke, das kannst du schaffen. Bis dahin ist für dich gesorgt. Zusammen mit dem Haus erhältst du eine monatliche Summe aus meinem Fond, die deine Unterhaltskosten decken sollte.

Das Angebot gilt ab jetzt. Du musst dich innerhalb von achtundvierzig Stunden entscheiden. Überlege es dir gut!

Ich liebe dich und setze all meine Hoffnungen in dich. Und wer weiß, vielleicht findest du in diesem Jahr endlich, was du die ganze Zeit über gesucht hast.

Herzlich, Deine Oma Charlotte!«

Die Stimme des Notars verstummte. Ruhig und bedächtig faltete er das Briefpapier zusammen und steckte es ordentlich in den Umschlag, den er Timo anschließend überreichte.

Wie vom Donner gerührt saß er da. Mechanisch griff er danach. Sein Blick fiel auf die geschwungene Handschrift seiner Großmutter, in der sein Name auf dem Kuvert geschrieben stand.

»Nun. Was sagen Sie?«, fragte Dr. Petersen.

Timo blinzelte. In ihm tobte ein Sturm. Damit hatte er nun überhaupt nicht gerechnet. Es war eine Chance, die seine gesamten derzeitigen Probleme auf einen Schlag lösen könnte. Aber sesshaft werden und schreiben?! Ihn hielt es nie lange an einem Ort. Womöglich eine Folge seines langjährigen Internatsbesuchs. Schon damals hatte er sich eingesperrt und eingeengt gefühlt. Alles war so streng geregelt gewesen. Für einen lustigen und spritzigen Typen wie ihn ein echtes Dilemma. Sobald er sein Abitur in der Tasche gehabt hatte, war er auf und davon gewesen. Zuerst nur, um ein Jahr Auszeit vor dem Studium zu nehmen. Das taten viele. Aber im Gegensatz zu den anderen war Timo nie zurückgekehrt. Er hatte seine bis dahin verborgenen Talente entdeckt und sein ›glückliches Händchen‹.

»Nein!«, sagte er so inbrünstig, dass der Notar unweigerlich die Augen weitete. »Nein, ich glaube nicht, dass Großmutters Vorschlag etwas für mich ist«, fügte er deshalb etwas milder hinzu und rutschte unwohl auf dem Stuhl herum.

Es folgte ein Knarzen, dann ein Splittern, und Timo wurde eine Etage tiefer gelegt. Er sackte nach rechts zur Seite und landete unsanft am Boden, während seine Sitzgelegenheit mit einem dumpfen Schlag neben ihn kippte.

Beide Männer starrten verblüfft auf den kaputten Stuhl, dessen hinteres Bein in zwei Teile gebrochen war.

Dr. Petersen lachte kurz laut auf. Wahnsinnig komisch!, dachte Timo. Dann besann sich der Notar.

»Ach du heiliger Strohsack!«, rief er und eilte um seinen Schreibtisch herum. Mit hochrotem Kopf reichte er Timo die Hand, um ihm aufzuhelfen. »Das ist mir ja schrecklich unangenehm! Es tut mir so leid! Wie konnte sowas nur passieren? Na ja, der Stuhl hat schon einige Tage hinter sich, und zuletzt hatte ich einen ziemlich übergewichtigen Mandanten zu Besuch. Aber trotzdem! Echtholz sollte sowas doch aushalten«, redete er vor sich hin.

Timo war sich nicht sicher, ob er damit ihn oder sich selbst beruhigen wollte. Er sagte nichts, rappelte sich auf und klopfte sich ab. Den Aufprall spürte er noch leicht, aber viel mehr beschäftigte ihn dieses seltsame Gefühl, das ihn beschlich. Fast so, als hätte seine Großmutter ihm einen Schubs gegeben, weil er ihr Angebot strikt abgelehnt hatte. Skeptisch beäugte er das demolierte Teil am Boden, um anschließend flüchtig zur Zimmerdecke zu schauen.

»Geht es Ihnen gut?«, fragte der Notar, sichtlich peinlich berührt.

Timo schüttelte den Kopf, um seine eingebildeten Spukgeschichten zu verscheuchen. Esoterisch war er noch nie veranlagt gewesen. Damit würde er jetzt nicht anfangen! Es war ein dummer Zufall. Ein altes Möbel hatte den Geist aufgegeben. Das hatte weder mit seiner Entscheidung noch seiner Großmutter zu tun!

»Möchten Sie ein Glas Wasser?« Dr. Petersen schien ehrlich in Sorge.

»Danke. Ich gehe jetzt besser.«

»Natürlich.« Der Mann trat zur Seite und machte Platz. »Und denken Sie nochmals über das Angebot Ihrer verehrten Großmutter nach. Sie hat immer nur gut von Ihnen gesprochen und sich sehr gewünscht, dass Sie Ihrer eigentlichen Berufung nachgehen. Aber ich kann auch verstehen, wenn Sie sich der Herausforderung nicht stellen wollen. Es ist bestimmt nicht einfach, einen Roman zu schreiben«, plapperte er, während er ihn zur Tür begleitete. Seine Worte lösten einen erneuten Gefühlsansturm in Timo aus. Er hörte zu, versteifte sich innerlich, und dann brach sich purer Trotz seinen Weg. Abrupt blieb er stehen und drehte sich um.

»Ich mache es«, blaffte er.

Überrascht sah Dr. Petersen ihn an.

3

Dana Model sah dem Taxifahrer sehnsüchtig hinterher, wie er davonbrauste und schließlich um eine Kurve hinter Büschen und Bäumen verschwand. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, was sie geritten haben mochte, diesen Job anzutreten. Was hatte sie sich davon erhofft? Aber jetzt war es für derlei Fragen eh zu spät. Sie war hier. Sie hatte es so gewollt, also musste sie es jetzt auch durchziehen.

Sie drehte sich um und blickte auf das Haus, das am Ende eines Fußwegs lag und für die nächsten Wochen und Monate ihre Bleibe sein sollte. Es sah richtig hübsch aus.

Ein großes Backsteingebäude mit schwarzem Ziegeldach, hölzernen Fensterläden und hellgrauen Fensterkreuzen. Die Haustür war ebenfalls hellgrau lackiert und schätzungsweise aus Holz. So genau konnte sie das von hier aus nicht erkennen. Die verschachtelte Bauweise verlieh dem Gebäude seinen ganz eigenen Charme. Ein langer Schornstein ragte auf der rechten Seite in die Höhe und wurde von großen Buchen und Kiefern, die im Hintergrund standen, ins Bild gesetzt. Sein Anblick ließ Dana auf einen kuschligen Kaminofen hoffen.

Der Wind blies ihr ins Gesicht und spielte mit einer widerspenstigen Locke, die sich aus ihrem straffen Haarknoten gelöst hatte. Der Saum ihres Rockes schmiegte sich an ihre Waden. Wie gut, dass er nur leicht ausgestellt war. Auf eine Darbietung à la Marilyn Monroe hatte sie wahrlich keine Lust.

Da es sie allmählich fröstelte, schnappte sie sich den Griff ihres Trolleys und setzte sich in Bewegung. Der erste Eindruck reichte ihr zunächst, den Rest würde sie später in Ruhe inspizieren können. Die kleinen Rollen des Koffers holperten über den gepflasterten Gehweg, und Dana hatte ernsthaft Mühe, das schwere Ding hinter sich herzuziehen. Ihre große Shoppertasche rutschte ihr von der Schulter und schwang zusätzlich gegen das Metallgestänge, bis sie schließlich am Griff landete. Unwillig schob sie sie wieder nach oben und konzentrierte sich auf den Weg. Sie war gespannt, ob man von der hinteren Seite des Hauses Blick aufs Meer hatte. Das war der eigentliche Grund, warum sie den Job hatte haben wollen.

Sie liebte das Meer und die frische salzige Luft. Die Aussicht, in einer Villa direkt an der Küste wohnen zu dürfen, hatte sie regelrecht beflügelt. Wann bekam man schon so eine Gelegenheit? Eine solche Möglichkeit konnte sie sich einfach nicht entgehen lassen! Das war seit jeher ihr Traum gewesen. Dafür nahm sie sogar in Kauf, mit jemandem unter einem Dach zu leben, den sie nicht einmal kannte. Aber vielleicht war dieser Timo Baier ja gar nicht so übel?

Ihr Onkel hatte sich in dieser Beziehung etwas bedeckt gehalten. Er kenne ihn selbst kaum, hatte er gemeint. Aber seine verstorbene Großmutter sei ein echter Engel gewesen, hatte er hinzugefügt und daraus gefolgert, dass der Enkel somit sicherlich nicht zum Fürchten sei. Trotzdem war er von Danas Enthusiasmus nicht überzeugt gewesen und hatte sie von der ganzen Sache abbringen wollen. Die Details des Jobangebots hatte sie ihm regelrecht aus der Nase ziehen müssen. Denn sie hatte nur durch Zufall von der zu besetzenden Stelle erfahren.

Ihr Onkel, Dr. Konrad Petersen, hatte es in einem ihrer wöchentlichen Telefonate nebenbei erwähnt. Im Plauderton. Eben so, wie man aus seinem Alltag erzählte. Damit, dass Dana hellhörig werden und schließlich gar versessen auf den Job sein würde, den er vergeben sollte, hatte er eindeutig nicht gerechnet. Und anfangs war er ganz und gar nicht begeistert von ihrer Idee gewesen, doch sie hatte ihn überredet. Sie konnte äußerst überzeugend sein, wenn sie wollte!

Ihr Leben war derzeit völlig aus der Bahn geworfen. Alles hatte begonnen, als ihre Mutter schwer erkrankt war. Als es schlimmer geworden war, hatte Dana schließlich ihren Brotjob geopfert, um ihre Mom zu pflegen. Es war nicht immer leicht gewesen. Vor einem halben Jahr war sie dann verstorben. Seitdem hing Danas Leben irgendwie in der Schwebe. Sie tat sich schwer wieder an alte längst vergangene Gewohnheiten anzuknüpfen und einem geregelten Alltag nachzugehen.

»Genau deshalb möchte ich den Job. Ich brauche wieder eine Aufgabe. Und ein Ortswechsel wird mir guttun. Du weißt, wie gerne ich immer bei euch an der Ostsee war«, hatte sie auf ihn eingeredet. »Und die Tätigkeit ist doch auf ein Jahr befristet, richtig? Ich hätte genug Zeit, um mich neu zu sortieren und über meine Zukunft nachzudenken.« Ja, sie war hin und weg gewesen von der Idee!

Irgendwann hatte er nachgegeben und gesagt: »Das mag schon stimmen. Ablenkung ist vermutlich genau das, was du momentan brauchst. Und der Job ist nicht sonderlich schwer. Du hast lange als Assistentin der Geschäftsleitung gearbeitet. Du würdest das vermutlich mit links machen«, und schließlich noch hinzugefügt: »Außerdem wohne ich ja mehr oder weniger um die Ecke. Falls du mich brauchst, bin ich gleich zur Stelle.«

Ob diese beruhigenden Worte mehr für ihn selbst gedacht waren? Dana jedenfalls hatte ihr Glück kaum fassen können und sofort alles Nötige in die Wege geleitet.

Doch nun stand sie da und war sich ihrer Sache auf einmal gar nicht mehr sicher.

***

Sie stellte ihren Koffer auf der schnuckligen kleinen Terrasse ab, die an die Haustür angrenzte. Aus dem Inneren des Gebäudes dröhnte laut Musik, und Dana musste mehrmals auf den Klingelknopf drücken. Timo Baier war also zu Hause.

In ihrem plötzlichen Anfall von Wankelmut bedauerte sie das fast. Wäre niemand da, hätte sie noch eine kleine Galgenfrist gehabt, um die Bekanntschaft mit ihren neuen Lebensumständen hinauszögern. Aber bevor sie sich darüber eingehende Gedanken machen konnte, wurde die Tür aufgerissen, und vor ihr stand ein Mann, der aussah wie die Sünde persönlich.

Das Erste, was ihr auffiel, war neben seiner Größe, dass er lediglich in Jeans steckte. Er trug weder Shirt noch Socken. Seine Haut war braungebrannt, und auf seiner muskulös definierten Brust kräuselten sich wenige feine, dunkle Härchen. Das Zweite war sein schmales und doch markantes Gesicht, das mit einem dunklen Bartschatten überzogen war, der das fast schwarze Haar perfekt ergänzte. Zwei dunkelbraune Augen bohrten sich in ihre, während die ebenfalls dunklen Brauen zusammengezogen waren.

»Ja bitte?«, brummte er angestrengt, die eine Hand am Türblatt, in der anderen hielt er lässig ein schweres Kristallglas mit bernsteinfarbener Flüssigkeit.

Dana brauchte eine Sekunde, um sich zu sammeln.

»Hallo, Dana Model«, stammelte sie endlich und streckte ihm ihre Hand entgegen.

Der Mann blickte nur darauf, dann wieder in ihr Gesicht. Er rührte sich nicht.

»Und?«, fragte er nur. Die laute Musik im Hintergrund hätte das einzelne Wort um ein Haar verschluckt.

»Ich bin Ihre neue Assistentin. Erwarten Sie mich nicht bereits?«

Jetzt bildeten seine Brauen einen einzigen Strich.

»Sie sind doch Timo Baier? Oder habe ich mich in der Adresse geirrt?«, fragte sie irritiert und klammerte sich an ihre Handtasche. Ihr Onkel hatte Andeutungen gemacht, dass ihr neuer Chef vermutlich nicht gerade überschwänglich vor Freude über ihr Erscheinen wäre, aber mit derartiger Ignoranz hatte sie nicht gerechnet.

»Schon«, sagte er, »aber ich habe keinen Schimmer, was Sie von mir wollen.« Seine Stimme besaß einen angenehmen warmen Bariton.

Dana holte tief Luft. »Dr. Konrad Petersen … Er wollte Sie anrufen.«

»Das hat er.« Er hob das Glas an die Lippen und blickte sie darüber hinweg an.

»Dann hat er doch mit Ihnen gesprochen …«

»Nein. Ich bin nicht rangegangen.«

Ihr klappte der Mund auf.

»Das ist … phantastisch«, murmelte sie verstört.

»Er hat mir also ein Mädchen besorgt?«, fragte Timo Baier nun spitz und musterte sie eingehend von oben bis unten, und Dana hätte schwören können, dass sein Blick eine Sekunde länger als nötig auf Höhe ihres Busens hängen geblieben war, ebenso wie an ihren Beinen und den Pumps.

Ihr Mund wurde trocken, und sie schluckte hart.

»Ich bin keine Hostess oder was auch immer Sie damit andeuten wollen«, brachte sie hervor. Als ob ihr Onkel ein Zuhälter wäre?!

Er nippte an der goldbraunen Flüssigkeit und ließ die Hand mit dem Glas wieder sinken. »So bieder, wie Sie aussehen, hätte mich das auch überrascht.«

Wie bitte? Sie schaute an sich herab. Graumeliertes Kostüm, der Rock leicht ausgestellt. Weiße Bluse, schlichte schwarze Pumps. Was gab es an ihrem Outfit auszusetzen? Businesslook eben. Gut, möglicherweise war der Schnitt nicht up to date, immerhin hatte sie die letzten Jahre nicht gearbeitet. Aber sie sah darin nach wie vor ordentlich und seriös aus.

Ganz im Gegensatz zu ihrem Gesprächspartner. Ihre bisherigen Chefs hatte sie nie obenohne herumlaufen sehen. Sie dachte an Herrn Münziger, für den sie zuletzt tätig gewesen war. Er hatte graues Haar besessen, war hager und kurz vor dem Rentenantritt gewesen. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er auch nur im Ansatz ähnlich ästhetische Brustmuskeln besessen haben mochte. Nein, ihn wollte sie sich jetzt auch nicht nackt vorstellen.

»Okay, nachdem wir das nun geklärt haben, kannst du gerne wieder dahin zurückgehen, wo du hergekommen bist«, sagte Timo, löste sich aus seiner Position und machte bereits Anstalten, die Tür zu schließen.

Geistesgegenwärtig streckte Dana die Hand aus und hielt ihn davon ab. Ihre Tasche plumpste dabei zu Boden und landete genau im offenen Spalt. Während er das Hindernis begutachtete, begann sie ihre kleine Rede.

»Herr Baier. Sie sind offenbar noch nicht offiziell informiert worden. Aber ich bin hier, um Sie zu unterstützen. Wenn Sie im Notariat Petersen anrufen, wird man Ihnen das bestätigen. Ich wurde für ein Jahr engagiert, habe eine lange Reise hinter mir und werde nirgendwo hingehen«, brachte sie so würdevoll hervor, wie es ihr unter diesen Umständen möglich war. Ihre Stimme klang fest, obwohl sie sich nicht so fühlte. Aber selbstbewusst aufzutreten hatte sie sowohl in ihrem Berufsleben als auch während der Pflege ihrer Mutter gelernt.

Er starrte sie einen Augenblick lang an. Aus dem Haus dröhnten jetzt lautes Getrommel und ein E-Gitarrensolo. Der Mann stand offensichtlich auf Hardrock.

Eine Windböe verfing sich im Hauseck und erfasste Dana von hinten. Die widerspenstige Haarsträhne wirbelte herum und legte sich über ihre Wange.

Timo zuckte mit den Schultern, dann drehte er sich einfach um und ließ sie stehen.

Dana runzelte die Stirn. Das sollte wohl eine Einladung sein, einzutreten. Sie griff ihren Monstertrolley, schmiss ihre Tasche darauf und zerrte beides hinter sich her.

Die Haustür fiel lauter als beabsichtigt ins Schloss. Doch Timo Baier hörte das vermutlich nicht einmal. Mit langen Schritten lief er durch den kleinen Flur geradeaus in einen Raum, der vermutlich das Wohnzimmer war, und drehte die Musik ab.

Plötzlich waren nur noch das Rollgeräusch ihres Koffers und das Klacken ihrer Absätze zu hören. Beides in Kombination ergab eine ganz eigene monotone Melodie. Sie stand im krassen Gegensatz zur Rockmusik, und Dana kam sich seltsamerweise vor wie eine Spielverderberin. Sie blieb im Türrahmen stehen.

Timo Baier drehte sich um und verschränkte die Arme vor der Brust. Sein Glas hatte er auf dem Tisch neben sich abgestellt.

»Also nochmal von vorn. Was wollen Sie?«

Dana unterdrückte ein Seufzen. Warum hatte ihr Onkel sie nur ins kalte Wasser geschmissen? Er sollte doch längst alles Nötige geklärt haben! Immerhin hatte er ihr sogar zugesagt, dass sie hier im Haus wohnen konnte. Es sei groß genug, hatte er gemeint, und sie hätte ihren eigenen Bereich.

»Ich wurde eingestellt, um Sie bei der Arbeit an Ihrem Buch zu unterstützen.«

»Von wem?«

»Notariat Petersen. Das sagte ich bereits. Trinken Sie immer schon während des Tages?«, konnte sie sich nicht verkneifen nachzufragen und zog die Stirn kraus. Es war immerhin erst vier Uhr nachmittags.

Er überging ihre Frage geflissentlich.

»Und inwiefern wollen Sie mir behilflich sein? Möchten Sie das Manuskript für mich schreiben?« Sein rechter Mundwinkel verzog sich spöttisch nach oben.

Das war eine gute Frage, und sie wusste es selbst nicht so genau.

»Natürlich nicht. Ich könnte Ihnen die Recherchearbeit abnehmen, Korrektur lesen und so weiter.«

»Aha. Der Haken daran ist nur, dass ich a) noch nicht einmal weiß, worüber ich schreiben werde, und b) keine Hilfe brauche«, meinte er finster. Sein Ton ließ keinen Zweifel an seinem Standpunkt und duldete kaum Widerspruch.

Sie tat es trotzdem.

»Tja, Ihr Pech! Dann sollten Sie sich schleunigst Gedanken machen. Denn ich bin hier und bleibe auch. Wo ist mein Zimmer?«, fragte sie und war selbst überrascht. Vermutlich lag es an der langen Reise. Fast sieben Stunden war sie von Frankfurt am Main hierher unterwegs gewesen. Sie hatte wegen Zugverspätung einen unliebsamen Zwischenaufenthalt einlegen müssen. Und die Nacht davor hatte sie auch nicht sonderlich gut geschlafen. Die Aufregung und das mulmige Gefühl, was auf sie zukommen würde, hatten sie wachliegen lassen. Aber anstatt sich darin nun bestätigt zu fühlen, war ihr im Moment so ziemlich alles egal.

»Ihr Zimmer?«, echote Timo.

Dana nickte. »Ja. Es gehört zur Vereinbarung, dass ich hier wohne.«

Seine Augen wurden erst groß, dann verengten sie sich regelrecht zu Schlitzen.

»Sie wurden demnach als meine Nanny angestellt. Sorry, aber ich brauche keinen Babysitter. Ich schaff das durchaus allein«, knurrte er und klang dabei fast bedrohlich.

Dana konnte ihm nicht folgen. Was meinte er damit? Dr. Konrad Petersen hatte eine Assistentin für diesen Schriftsteller gesucht. Wie konnte Timo Baier dann nichts davon wissen? War er betrunken? Sie musterte ihn angestrengt, auf der Suche nach Anzeichen, fand jedoch nichts. Demnach musste hier etwas gewaltig schiefgelaufen sein! Doch sie war schlau genug, keine Diskussion darüber zu beginnen.

Stattdessen straffte sie die Schultern. »Das können Sie sehen, wie Sie wollen. Ich für meinen Teil habe nicht vor, Ihr Kindermädchen zu spielen. Aber ich habe einen Vertrag, den ich einhalten werde.«

Sie starrten einander an wie zwei Kampfhähne.

»Dein Notar hätte besser mit mir gesprochen. Den Weg hättest du dir sparen können. Das letzte Wort in dieser Sache habe nämlich immer noch ich!«, zischte er. Dann drehte er sich um und griff erneut nach seinem Glas, um sich den restlichen Inhalt in den Rachen zu kippen.

In Danas Magen bildete sich ein Knoten. Vielleicht wäre es das Beste, erst einmal zu ihrem Onkel zu gehen. Sollte doch er die Sache bereinigen.

Andererseits … Sie kannte Timo Baier erst seit wenigen Minuten, aber sie war sich ziemlich sicher, dass sie bereits verloren hätte, wenn sie an der Hand ihres Onkels wieder bei ihm auftauchen würde. Sie war schließlich kein Kind mehr, das der Hilfe eines Erwachsenen bedurfte, um sich durchzusetzen. Und wie sie diesen Timo einschätzte, würde er das genauso aufnehmen. Sie hätte in den kommenden Monaten keine Chance mehr, von ihm ernst genommen zu werden. Sie hatte sich für diesen Job entschieden. Sie wollte und brauchte ihn, nun, da sie ihre Zelte in Frankfurt abgebrochen hatte. Dass sie jetzt bei ihrem Onkel im Gästezimmer unterkommen sollte, war für Dana keine Option.

»Sie sind ja immer noch da. Was muss ich tun, um dich wieder loszuwerden?«, riss Timo sie aus ihren Gedanken. Er wechselte permanent vom Sie zum Du. Das war zwar verwirrend, aber zweitrangig. Geschmeidig schob er das Glas wieder auf den Tisch. Als er den Blick hob, lag ein Funkeln in seinen Augen, das Dana sofort stutzig werden ließ. Über seinen Mund legte sich plötzlich ein verführerisches Lächeln. Er trat auf sie zu.

»Schnucki, ich habe dich weder eingestellt noch eingeladen bei mir zu wohnen«, meinte er mit einem Timbre in der Stimme, das ein Kribbeln in ihr auslöste. Hätte sie es nicht besser gewusst, sie hätte nie glauben können, dass immer noch derselbe Mann vor ihr stand. »Bist du dir sicher, dass du mit mir arbeiten möchtest?«

Schnucki? Dana blinzelte baff. Im Grunde hätte sie sich ärgern müssen. Doch dafür blieb ihr keine Zeit. Wie ein Tiger auf Beutezug pirschte er sich an sie heran. Da er barfuß war, waren seine Schritte kaum zu hören.

»Du kennst mich nicht.« Er blieb nur knapp vor ihr stehen. Ein wohliger Schauer lief ihr über den Rücken. Sie erschnupperte den Duft seines Duschgels, vermischt mit dem männlichen Geruch seiner Haut. Ihre Augen hefteten sich auf das kleine Muttermal, das etwas unterhalb seiner rechten Schulter lag. Es besaß die Form eines winzigen Sterns, schoss es ihr durch den Kopf. Mühsam wandte sie den Blick ab.

»Ich bin nicht leicht zufriedenzustellen«, raunte er, so nah, dass ihre Brille hätte beschlagen können.

Was wollte er ihr damit sagen?

»Du solltest dir gut überlegen, ob du wirklich hier wohnen willst. Mit mir – allein – in einem Haus.« Er bewegte kaum die Lippen.

Seine Worte waren eindeutig zweideutig. Ihr Mund wurde trocken. In ihr schrillte eine Alarmglocke. Sie sollte hier verschwinden. So schnell wie möglich! Doch sie war unfähig, sich zu rühren. Er war ein absoluter Badboy, das war ebenso klar wie der Umstand, dass jeden Morgen die Sonne aufging. Aber er hatte nichts an sich, was ihr ernsthaft Angst machte. Und auf einmal begriff sie, was er bezwecken wollte.

»Ich durchschaue Ihr Spiel.«

»Ach ja?« Seine linke Braue hob sich. Um seine Augenwinkel bildeten sich verschmitzte kleine Fältchen. Dann berührten seine Finger ihren Unterarm. Er ließ sie sanft vom Ellenbogen in Richtung ihrer Hand gleiten und hinterließ eine kribbelnde Feuerspur.

Dana bemühte sich, es nicht zu beachten.

»Sie glauben, wenn Sie den Zudringlichen mimen, laufe ich davon.« Abrupt hielt er inne. Ihre Blicke trafen sich. Sie reckte ihr Kinn hervor. »Das können Sie sich sparen. Ich bleibe!« Er war nicht betrunken, was den plötzlichen Stimmungswandel vielleicht hätte erklären können. Es war pure Berechnung!

Den Bruchteil einer Sekunde schien die Welt stillzustehen. Dann sackte seine Hand schlapp nach unten. Sein Kiefer mahlte.

»Bitte schön!«, bellte er und warf die Arme theatralisch in die Luft. »Wenn Sie unbedingt in Ihr Verderben rennen wollen! Ihre Entscheidung!« Funken sprühten regelrecht aus seinen Augen. Sein Verhalten hatte schon wieder eine komplette Kehrtwendung genommen. Sichtlich frustriert drehte er sich weg und starrte durch die breite Glastürenfront nach draußen. »Das Zimmer oben rechts ist frei«, knurrte er noch.

Dana nickte und schnappte sich ihre Sachen.